Psychische Störungen sind weit verbreitet und führen oft bei den Betroffenen und deren Angehörigen zu sehr hohen Belastungen und Einschränkungen im beruflichen und privaten Leben. Auch gesellschaftlich stellt dies eine Herausforderung dar, weil immer mehr junge Menschen unter psychischen Störungen leiden. Das aktuelle Gesundheitssystem reicht dafür nicht aus. Betroffene müssen durchschnittlich fast fünf Monate auf eine Therapie warten.
Können internet- und mobilbasierte Interventionen diese Versorgungslücke schließen? Wie können sie in das Gesundheitssystem implementiert werden? Und wie würde eine wirksame Qualitätssicherung aussehen? Robert Lust stellt in seiner Publikation internet- und mobilbasierte Interventionen als flexible, ort- und zeitunabhängige Angebote vor.
Darüber hinaus untersucht er eine internetbasierte Kurzintervention auf Basis von EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) zur Aktivierung von internen Ressourcen auf ihre Wirksamkeit untersucht. Robert Lust erklärt die theoretischen Hintergründe und beschreibt den aktuellen Forschungsstand zum Thema. Mit seiner Publikation erweitert er die bisher überwiegend verhaltenstherapeutische Perspektive bei internet- und mobilbasierte Interventionen.
Aus dem Inhalt:
- IMI;
- Psychotherapie;
- Prävention;
- Nachsorge;
- Telemedizin
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Ressourcen und Ressourcenaktivierung
2.2 Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)
2.3 Internet- und mobilbasierte Interventionen (IMIs)
3 Fragestellung und Hypothesen
3.1 Ableitung der Hypothesen
4 Methoden der Studie
4.1 Stichprobe
4.2 Studiendesign und -planung
4.3 Durchführung und Ablauf
4.4 Messinstrumente und abhängige Variablen
4.5 Datenanalyse
5 Ergebnisse
5.1 Deskriptive Statistik
5.2 Statistische Prüfung der Hypothesen
5.3 Auswertung des Feedbackfragebogens
6 Diskussion
6.1 Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse
6.2 Kritische Reflexion der Studie
6.3 Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Impressum:
Copyright ©Science Factory 2020
Ein Imprint der Open Publishing GmbH, München
Druck und Bindung: Books on Demand GmbH, Norderstedt, Germany
Coverbild: Open Publishing GmbH
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2.1.1: Unterscheidungsmerkmale von Ressourcen
Abbildung 2.1.2: Ressourcenaktivierung als positiver Rückkopplungsprozess zwischen therapeutischen Interventionen, Therapiebeziehung und Prozessen aufseiten des Patienten
Abbildung 2.1.3: Aufwärtsspirale positiver Emotionen
Abbildung 4.1: Design und Ablauf der Untersuchung
Abbildung 5.1: Verteilung der angegebenen Belastungsarten
Abbildung 5.2: Verteilung der zwei benötigten Fähigkeiten
Abbildung 5.2.1: Mittelwerte der SUD-Skala zu beiden Zeitpunkten, getrennt nach Untersuchungsgruppe
Abbildung 5.2.2: Mittelwerte der MDBF Dimension „Gesamt“ zu beiden Zeitpunkten, getrennt nach Untersuchungsgruppe
Abbildung 5.2.3: Mittelwerte der MDBF Dimension „Gute – schlechte Stimmung“ zu beiden Zeitpunkten, getrennt nach Untersuchungsgruppe
Abbildung 5.2.4: Mittelwerte der MDBF Dimension „Wachheit – Müdigkeit“ zu beiden Zeitpunkten, getrennt nach Untersuchungsgruppe
Abbildung 5.2.5: Mittelwerte der MDBF Dimension „Ruhe – Unruhe“ zu beiden Zeitpunkten, getrennt nach Untersuchungsgruppe
Tabellenverzeichnis
Tabelle 5.1: Altersangaben nach Gruppenzugehörigkeit (eigene Darstellung)
Tabelle 5 2: Soziodemografische Angaben nach Gruppenzugehörigkeit (eigene Darstellung)
Tabelle 5.3.: Mittelwerte (Standardabweichung) von allen untersuchten abhängigen Variablen, getrennt nach Bedingung und Messzeitpunkt (eigene Darstellung)
Tabelle 5.2.1: Baseline-Test, unabhängiger t-Test (eigene Darstellung)
Tabelle 5.2.2: Innersubjekteffekte der SUD-Skala (eigene Darstellung)
Tabelle 5.2.3: Innersubjekteffekte der MDBF Dimension „Gesamt“
Tabelle 5.2.4: Innersubjekteffekte der MDBF Dimension „Gute – schlechte Stimmung“ (eigene Darstellung)
Tabelle 5.2.5: Innersubjekteffekte der MDBF Dimension „Wachheit – Müdigkeit“ (eigene Darstellung)
Tabelle 5.2.6: Innersubjekteffekte der MDBF Dimension „Ruhe – Unruhe“ (eigene Darstellung)
Tabelle 5.3.1: Deskriptive Werte des Feedbackfragebogens (eigene Darstellung)
Tabelle 5.3.2: Qualitative Bemerkungen der Probanden (eigene Darstellung)
1 Einleitung
Psychische Störungen sind weit verbreitet und führen oft bei den Betroffenen und deren Angehörigen zu sehr hohen Belastungen und Einschränkungen im beruflichen und privaten Leben. Sie zählen zu den Hauptursachen eines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Berufsleben sowie von Arbeitsunfähigkeit. Auch gesellschaftlich stellt dies zunehmend eine Herausforderung dar, weil gerade die jüngeren, produktiveren Altersgruppen unter psychischen Störungen leiden (vgl. Jacobi et al., 2014, S. 81). Hierzulande sind im Laufe eines Jahres etwa 18 Millionen Erwachsene im Alter von 18 bis 79 Jahren betroffen (vgl. Jacobi et al., 2014, S. 81), von denen aber nur 18,9 % Kontakt zum Versorgungssystem aufnehmen und sich in Behandlung begeben (vgl. Mack et al., 2014, S. 289–303).
Die Menschen, die sich in Behandlung begeben, müssen durchschnittlich fast fünf Monate (19,9 Wochen) auf eine Richtlinientherapie warten, was neben der zusätzlichen Belastung auch das Risiko erhöht, dass sich die Erkrankung verschlimmert und dass die Behandlung gar nicht erst begonnen wird. In ländlichen Regionen ist die Wartezeit besonders lang. (vgl. Bundespsychotherapeutenkammer, 2018, S. 14).
Internet- und mobilbasierte Interventionen (IMIs) haben möglicherweise das Potenzial, diese Versorgungslücke als flexible, ort- und zeitunabhängige Angebote zu schließen. Die vielversprechende Evidenzlage, die Kosteneffektivität und der mögliche Einsatz in Prävention, Therapie und Nachsorge geben IMIs eine immer höhere Bedeutung im deutschen Gesundheitssystem (vgl. Hedman, Ljótsson, & Lindefors, 2012, S. 759, Klein et al., 2016, S. 1 ff.). Dies wirft viele Fragen auf: beispielsweise wie IMIs ins Gesundheitssystem implementiert werden können, wie die Qualitätssicherung aussehen kann und wie IMIs optimiert werden können.
Als konzeptuelle Grundlage dienen u. a. die Konsistenztheorie des psychischen Funktionierens und die Wirkprinzipien der Psychotherapie nach Klaus Grawe mit dem Fokus insbesondere auf die Ressourcenaktivierung, der eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird (vgl. Grawe & Grawe-Gerber, 1999, S. 63 ff.). Entsprechend stellt Ressourcenaktivierung eine sinnvolle Option dar, die psychische Gesundheit zu fördern. Da alle Menschen, die psychisch Belasteten und die „Gesunden“, über Ressourcen verfügen, stellen Interventionen zur Aktivierung von Ressourcen im klinischen und nichtklinischen Kontext zur Prävention und Therapie eine besondere Relevanz dar.
Es soll in dieser Arbeit eine internetbasierte Kurzintervention auf Basis von EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) zur Aktivierung von internen Ressourcen auf Wirksamkeit untersucht werden. Ein weiteres Anliegen dieser Arbeit liegt darin begründet, die überwiegend verhaltenstherapeutische Perspektive bei IMIs um einen weiteren wissenschaftlichen und wirksamen Ansatz zu erweitern (vgl. Klein & Berger, 2013, S. 155).
Dazu werden zunächst der theoretische Hintergrund und der Forschungsstand aller relevanten Begrifflichkeiten erläutert. Es folgt die Fragestellung mit den aufgestellten Hypothesen sowie eine ausführliche Beschreibung der Methodik mit den Themen Stichprobe, Versuchsdurchführung, Messinstrumente und Datenanalyse. Danach werden die Ergebnisse dargestellt und abschließend diskutiert.
2 Theoretischer Hintergrund
In diesem Kapitel werden die relevanten theoretischen Grundlagen, welche zu den Themen Ressourcenaktivierung, EMDR und internetbasierten Interventionen in der Literatur bestehen, dargestellt und in Zusammenhang mit der untersuchten Intervention gestellt. Die Literaturrecherche erfolgt systematisch über PubPsych, PubMed, PSYNdex, Springerlink, Thieme eRef, Google Scholar und Ebsco. Die Suchbegriffe sind: internet- und mobilbasierte Interventionen, internetbasierte Interventionen, Internettherapie, onlinebasierte Interventionen, Onlinetherapie, Ressourcenaktivierung, Ressourcenorientierung, Ressourcenarbeit, Ressourcen, Wirkfaktoren Psychotherapie, Psychotherapieforschung, EMDR, Eye Movement Desensitization and Reprocessing, Absorptionstechnik und bilaterale Stimulation. Die Begriffe werden auch auf Englisch gesucht sowie mit einer UND/ODER Verknüpfung versehen.
2.1 Ressourcen und Ressourcenaktivierung
„Der Erfolg von Psychotherapie scheint in hohem Maße davon abzuhängen, inwiefern es gelingt, die beim Patienten vorhandenen gesunden und positiven Persönlichkeitsanteile, Fähigkeiten und Motivationen zu fördern und ihm dazu zu verhelfen, sich im Sinne seiner positiven Seiten erleben zu können.“ (Dick, Grawe, Regli, & Heim, 1999, S. 278)
Die wissenschaftliche Forschung ist in erster Linie von einer pathogenetischen Sicht geprägt, in der Gesundheitsstörungen analysiert werden, um eine Diagnose zu stellen und eine Therapie einzuleiten (vgl. Wachter & Hendrischke, 2017, S. 15). In den letzten Jahrzehnten wurden daneben vermehrt Behandlungsansätze entwickelt, die den Ressourcen und Potenzialen der Klienten neben den Symptomen einen höheren Stellenwert geben. Einer der ersten Ansätze ist das von Aron Antonovsky entwickelte Konzept der Salutogenese, welches sich mit der Gesundheitsentstehung und den gesundheitserhaltenden Ressourcen befasst, statt mit der Krankheitsentstehung (vgl. Antonovsky & Franke, 1997). Ein weiteres ressourcenorientiertes Konzept aus den USA, das auf eine Förderung des positiven Erlebens der Klienten ausgerichtet ist, nennt sich „Positive Psychologie“ und ist eng mit der Person Martin Seligmans verbunden (vgl. Seligman, 2003). Im Bereich der Psychotherapie gehören Milton H. Erickson (Erickson, Rossi, & Stein, 1997), der Begründer der modernen Hypnotherapie, Steve de Shazer (De Shazer & Stopfel, 2014), Begründer der lösungsfokussierten Kurzzeittherapie, und Virginia Satir (Satir & Baldwin, 2004), „Mutter“ der Familientherapie, zu den Pionieren ressourcenorientierten Arbeitens. In Bezug auf die psychotherapeutischen Richtlinienverfahren, die derzeit von den Krankenkassen übernommen werden, ist besonders die 2018 vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) anerkannte Systemische Therapie (vgl. Hecken, 2018) als ressourcenorientierter Ansatz hervorzuheben (vgl. Schlippe & Schweitzer, 2013, S. 209 f.). Zentrale Annahme dieser Ansätze ist, dass jeder Mensch über die wesentlichen Fähigkeiten und Potenziale bereits verfügt, die er zur Lösung seiner Probleme benötigt. Inwieweit diese Ressourcen bei Klienten aktiviert werden können, hat nach Grawe einen entscheidenden Einfluss auf den Erfolg einer Psychotherapie (vgl. Grawe & Grawe-Gerber, 1999, S. 63).
In den folgenden Teilabschnitten wird zunächst ein Definitionsversuch des Ressourcenbegriffs unternommen, bevor auf dessen Einbettung in die Konsistenztheorie psychischen Funktionierens nach Grawe eingegangen wird. Anschließend wird Ressourcenaktivierung aus motivations- und emotionspsychologischer Perspektive beleuchtet. Nach einem kurzen Überblick über einige Strategien in der Praxis wird auf den Forschungsstand eingegangen.
2.1.1 Beschreibung des Ressourcenbegriffs
Der Ressourcenbegriff ist im psychotherapeutischen Kontext sehr verbreitet und wird in erster Linie im deutschen Sprachraum als Synonym für „Stärken“, „Kraftquellen“ oder „Potenziale“ eines Menschen verwendet. „Probleme“ oder „Belastungen“ werden als Begriffe oft gegenübergestellt. Willutzki plädiert für eine getrennte Betrachtung der Ressourcen- und Problemseite, weil sie zumindest teilweise voneinander unabhängig seien. (vgl. Willutzki & Teismann, 2013, S. 6 f.)
Nestmann hat den Ressourcenbegriff mit folgender Definition sehr weit gefasst: „Letztlich alles, was von einer bestimmten Person in einer bestimmten Situation wertgeschätzt oder als hilfreich erlebt wird, kann als eine Ressource betrachtet werden“ (Nestmann, 1996, S. 362).
Grawe unterstreicht mit seiner Definition ebenfalls die große Bandbreite von Ressourcen: „Als Ressource können jeder Aspekt des seelischen Geschehens und darüber hinaus der gesamten Lebenssituation eines Patienten aufgefasst werden, also z. B. motivationale Bereitschaften, Ziele, Wünsche, Interessen, Überzeugungen, Werthaltungen, Geschmack, Einstellungen, Wissen, Bildung, Fähigkeiten, Gewohnheiten, Interaktionsstile, physische Merkmale wie Aussehen, Kraft, Ausdauer, finanzielle Möglichkeiten sowie seine zwischenmenschlichen Beziehungen.“ (Grawe & Grawe-Gerber, 1999, S. 66)
Weiterhin sind Ressourcen nach Grawe und Grawe-Gerber alle Möglichkeiten, die einem Menschen zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse zur Verfügung stehen (vgl. Grawe & Grawe-Gerber, 1999, S. 67). Letzteres nimmt Bezug auf die Konsistenztheorie psychischen Funktionierens, auf welche unter 2.1.2 näher eingegangen wird.
Willutzki unterscheidet auf inhaltlicher Ebene zwischen externen, interpersonellen und intrapersonellen Ressourcen, die in komplexer Wechselbeziehung stehen und sich oft gegenseitig begünstigen (vgl. Abbildung 2.1). Unter externen Ressourcen wird Hilfreiches der sozialen, kulturellen und physikalischen Umwelt subsummiert, z. B. Wohnung, Geld oder Status. Als intrapersonelle, interne oder personale Ressourcen werden in erster Linie Fähig- und Fertigkeiten bezeichnet. Und unter interpersonellen Ressourcen werden in Anlehnung an Karpel und Brauers (1986) hilfreiche Beziehungen und soziale Netzwerke verstanden. Die genannten Ressourcen können von der Person selbst (subjektiv), aber auch von externen Beobachtern wahrgenommen und bewertet werden. (vgl. Willutzki & Teismann, 2013, S. 4 ff.)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2.1.1: Unterscheidungsmerkmale von Ressourcen (Willutzki & Teismann, 2013, S. 4)
Zusammenfassend zeigt sich, dass keine einheitliche Definition des Ressourcenbegriffs vorliegt und sich nach Groß et al. drei wichtige Aspekte ableiten lassen:
- die Individualität bzw. Spezifität – es hängt von der Person ab, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Ressource als solche wirkt und erlebt wird
- die Funktionalität – Ressourcen helfen, individuelle Ziele zu erreichen
- die positive Bewertung von Ressourcen – Ressourcen werden durch den Betroffenen selbst oder einen Beobachter als hilfreich und positiv bewertet.
(vgl. Groß, Stemmler, & de Zwaan, 2012, S. 432)
Im klinisch-therapeutischen Setting empfiehlt sich vor der Anwendung ressourcenaktivierender Interventionen eine Ressourcendiagnostik. Die Erfassung kann mit Fragebögen zur Selbst- und Fremdbeurteilung sowie mit Interviews erfolgen. Eine Zusammenfassung möglicher Erhebungsinstrumente findet sich in Willutzki & Teismann, 2013 (vgl. Willutzki & Teismann, 2013, S. 21 ff.).
2.1.2 Ressourcenaktivierung als Wirkfaktor in der Psychotherapie
Unter Ressourcenaktivierung wird auf Therapeutenseite im Allgemeinen eine Fokussierung und eine Bezugnahme auf die Klientenressourcen verstanden. Auf Klientenseite meint Ressourcenaktivierung eine Förderung der Wahrnehmung, des Erlebens und der Nutzung eigener Ressourcen. (vgl. Groß et al., 2012, S. 433, 436)
Ressourcenaktivierung wurde von der Berner Forschergruppe um Klaus Grawe im Rahmen intensiver Untersuchungen zu allgemeingültigen Wirkprinzipien der Psychotherapie als wichtiger Wirkfaktor herausgestellt (neben Problemaktualisierung, motivationaler Klärung und Problembewältigung). Demnach wird dem Faktor „Klient“ mit seinen Ressourcen sowie der Ressourcenaktivierung als allgemeinem, schulenübergreifendem und diagnoseunabhängigem Wirkfaktor eine besondere Bedeutung für den Erfolg einer Psychotherapie beigemessen. (vgl. Znoj & Grawe, 2004)
Grawe integriert den Ressourcenfokus in seine Konsistenztheorie des psychischen Funktionierens, nach welcher menschliches Verhalten auf die Befriedigung der folgenden vier Grundbedürfnisse abzielt: Kontrolle und Orientierung, Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz, Bindung, Lustgewinn und Unlustvermeidung. Können Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden, so kommt es zu einem Inkongruenzerleben, was langfristig die psychische Gesundheit gefährdet. Ressourcenaktivierung kann nach Grawe und Grawe-Gerber einen Rückkopplungsprozess in Gang setzen (vgl. Abbildung 2.1.1), indem die Aufmerksamkeit gezielt auf die eigenen Ressourcen gelenkt wird, welche dann bewusst wahrgenommen werden. Dies kann zu bedürfnisbefriedigenden Erfahrungen (z. B. verbesserte Kontrollerfahrungen oder selbstwerterhöhende Wahrnehmungen) führen, was positive Auswirkungen auf das Wohlbefinden haben sollte. Folglich sollte hierdurch die Therapiebeziehung sowie die Aufnahmebereitschaft bzw. Mitarbeit der Klienten gestärkt werden, was eigene Problembewältigungsversuche begünstigt und idealerweise zu einer Symptomreduktion führt. (vgl. Grawe & Grawe-Gerber, 1999, S. 67 f.)
Flückinger spricht von einem allgemeinen Aufschaukelungsprozess zwischen Selbstwirksamkeitserwartung, Verhaltensexploration und positiver Stimmung (vgl. Flückinger, 2013, S. 183).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2.1.2: Ressourcenaktivierung als positiver Rückkopplungsprozess zwischen therapeutischen Interventionen, Therapiebeziehung und Prozessen aufseiten des Patienten (Grawe & Grawe-Gerber, 1999, S. 68).
2.1.3 Motivationspsychologische Aspekte
Wie unter 2.1.1 erläutert, sind Ressourcen mit den Zielen und Motiven einer Person verbunden, was eine Betrachtung aus motivationspsychologischer Perspektive sinnvoll macht. Nach dem Rubikonmodell der Handlungsphasen von Heckhausen und Gollwitzer wird eine Handlung bzw. ein Zielstreben in vier Phasen gegliedert: die prädezisionale Phase (Motivationsphase des „Wünschens und Wollens“), die präaktionale Phase (Planungsphase), aktionäre Phase (Handlungsphase) und die postaktionale Phase (Bewertungsphase) (vgl. Heckhausen & Gollwitzer, 1987, S. 116 ff.). Im Folgenden werden die einzelnen Phasen erläutert und in Verbindung mit ressourcenaktivierendem Vorgehen gebracht.
Prädezisionale Phase
Ob ein Mensch den Entschluss fasst, sich einer belastenden Situation zu stellen, hängt von drei Faktoren ab: Wert der Handlungserreichung (Wünschbarkeit), der Ergebniserwartung (Erwartung, das Ziel zu erreichen) und der Kompetenzerwartung (Überzeugung, es zu können). Ressourcenaktivierung setzt an diesen Faktoren an und fördert z. B. positive Affekte, indem vergangene zielführende Erlebnisse oder Verhaltensweisen erinnert werden, was die Wünschbarkeit fördert. Weiterhin kann durch die Erinnerung an den Bewältigungsprozess die Ergebniserwartung steigen. Durch ein detailliertes Erörtern der Verhaltensweisen, welche zum Ziel geführt haben, kann zudem die Kompetenzerwartung günstig beeinflusst werden. Diese positiven Erwartungen und Erinnerungen an eigene Fähigkeiten können die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die Person ihre Probleme aktiv angeht. (vgl. Willutzki & Teismann, 2013, S. 11 ff.)
Präaktionale Volitionsphase
Nachdem sich die Person entschieden hat, ein Ziel zu erreichen, folgt die Planungsphase, in der das Handeln vorbereitet wird. Ressourcenaktivierung dient einer optimistischeren Grundhaltung und der Kompetenzerwartung, indem der Kontakt zu positiven Erfahrungen und Affekten hergestellt wird. Positive Affekte gehen mit vermehrter Kreativität, Offenheit und Effizienz einher, was die Planungskompetenz schärft. (vgl. Willutzki & Teismann, 2013, S. 12 f.)
Aktionäre Volitionsphase
In der Handlungsphase ist es relevant, dass die Person ihr Handeln ausdauernd auf das Ziel ausrichtet und sich nicht durch andere Intentionen ablenken lässt. Durch eine Aktivierung von Ressourcen können Routinen aktiviert werden, die die aktuellen Handlungen weniger störungsanfällig machen. Die Fokussierung auf Fähigkeiten und Fertigkeiten werden handlungsorientierte Ansätze aktualisiert. (vgl. Willutzki & Teismann, 2013, S. 13 f.)
Postaktionale Motivationsphase
Nach der Handlung folgt die Bewertungsphase, in der die Person die Zielerreichung bzw. -nichterreichung bewertet. Durch ressourcenaktivierendes Vorgehen werden besonders die zielführenden Schritte hervorgehoben und die Anteile betont, die die Person selbst dran hat. (vgl. Willutzki & Teismann, 2013, S. 16 f.)
2.1.4 Die Bedeutung von Wohlbefinden und positiven Emotionen
In den letzten beiden Teilabschnitten wurde mehrfach auf die Bedeutung positiver Emotionen in Hinblick auf den Therapieerfolg und die Zielerreichung hingewiesen. Im folgenden Abschnitt soll die Relevanz von Emotionen im Rahmen der „Broaden and Built“-Theorie von Fredrickson dargestellt werden, welche dem Bereich der Positiven Psychologie zuzuordnen ist. Fredrickson konnte in verschiedenen Experimenten und Langzeituntersuchungen belegen, dass Menschen im Zustand positiver Emotionen wie z. B. Freude und Stolz besondere Denk- und Handlungstendenzen zeigen, wodurch wesentliche Ressourcen „gebildet“ werden, wie z. B. Kreativität, Offenheit und Effizienz sowie die Wahrnehmung von mehr Handlungsoptionen. (vgl. Fredrickson & Branigan, 2005, S. 313; vgl. Fredrickson, Cohn, Coffey, Pek, & Finkel, 2008, S. 1045 ff. vgl. Fredrickson & Nuber, 2011, S. 35 ff.)
Demnach verstärken sich eine positive Gefühlslage und Copingverhalten wechselseitig, wodurch eine positive Aufwärtsspirale entsteht, die sich durch die motivierenden positiven Emotionen von selbst fortsetzt (vgl. Abbildung 2.1.4.)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2.1.3: Aufwärtsspirale positiver Emotionen (vgl. Fredrickson, 2013)
Ressourcenaktivierung wirkt dem negativen Erleben bei psychischen Störungen entgegen und führt auf emotionaler Seite zu einen positiven Aufschaukelungsprozess, sodass mehr Optionen wahrgenommen werden. Die Betroffenen sind ausdauernder, erweitern ihre Fähigkeiten, was sich wiederum selbstwertsteigernd auswirkt. (vgl. Willutzki & Teismann, 2013, S. 18)
2.1.5 Ressourcenaktivierende Strategien in der Praxis
Ressourcenaktivierung nach Grawe und Grawe-Gerber kann aus verschiedenen Perspektiven stattfinden: der systemischen Perspektive (intra-, interpersonale Ressourcen) und der kommunikativen Perspektive mit der inhaltlichen Ebene (Ansprechen von Ressourcen) und prozessualer Ebene (Erlebbarmachen von Ressourcen). Weiterhin wird unter der Perspektive der Bedeutungsgebung zwischen potenziellen Ressourcen (z. B. Fähigkeiten) und motivationalen Bereitschaften (Ziele und Motive) unterschieden. (vgl. Grawe & Grawe-Gerber, 1999, S. 69 f.)
Es existiert ein sehr großes Angebot an praxisorientierten Methoden und Interventionen zur Ressourcenaktivierung auf allen Ebenen. Zum Beispiel ist in der lösungsfokussierten Kurzzeittherapie eine sehr bekannte Intervention etabliert, die Wunderfrage: „ Angenommen es wäre Nacht und Sie legen sich schlafen. Während Sie schlafen, geschieht ein Wunder und das Problem, das Sie seit längerer Zeit belastet, ist gelöst. Was wird Ihrer Meinung nach morgen früh das erste kleine Anzeichen sein, welches Sie darauf hinweist, dass sich etwas verändert hat?“ (vgl. De Shazer & Stopfel, 2014). Hier wird sehr schön die Orientierung auf das Ziel statt auf das Problem deutlich, was mit einer Aktivierung von Ressourcen einhergehen kann.
Auch im Bereich der Traumatherapie kommen eine Vielzahl ressourcenaktivierender Interventionen, z. B. in Form von Imaginationen, zum Einsatz, um Klienten zu stabilisieren und sie für eine Traumakonfrontation vorzubereiten. In der Praxis etablierte Ressourcenübungen sind: „Der innere sichere Ort“, die „Baumübung“ und die „Tresorübung“ (vgl. Reddemann, Engl, Lücke, & Appel-Ramb, 2014, S. 215).
Ebenfalls in der Traumatherapie angesiedelt sind Ressourcenübungen mit der wissenschaftlich anerkannten Methode Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR), welche Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist. Bei der Ressourcenarbeit mit EMDR werden bewährte Ressourcenübungen mit einer bilateralen Stimulation (meist Rechts-links-Augenbewegungen) verbunden, um das positive Erleben zu intensivieren und zu verankern (vgl. Rost, 2014, S. 9). Eine theoretische Auseinandersetzung mit EMDR findet im Kapitel 2.2 statt.
2.1.6 Wirksamkeit von Ressourcenaktivierung / -orientierung
Ressourcenaktivierung als transdiagnostischer und therapieschulenübergreifender Ansatz ist wegen unterschiedlicher Forschungskontexte (positive Psychologie, klinische Psychologie usw.) und konzeptueller Unklarheiten (z. B. einheitliche Definitionen) nicht so einfach aus der traditionellen Forschung der letzten Jahre zu untersuchen (vgl. Willutzki & Teismann, 2013, S. 72). Im Bereich der Prozessforschung liegen von der Berner Forschergruppe von Klaus Grawe eine Reihe von Videoanalysen vor, die zusammengefasst folgende Hinweise für die Praxis geben (vgl. Flückinger & Regli, 2007, S. 785):
- Wenn Ressourcenaktivierung überwiegend am Ende der Sitzung stattfindet, sind Therapiesitzungen weniger erfolgreich (vgl. Gassmann & Grawe, 2006, S. 8 ff.). Ressourcenaktivierung sollte daher von Anfang an (vor der Problemaktivierung) als kontinuierlicher Prozess angewendet werden und nicht erst bei schwierigen Sitzungsverläufen zum Einsatz kommen.
- Produktivere Sitzungen sind durch eine stärkere Ressourcenaktivierung gekennzeichnet. Wenn noch keine gute Therapiebeziehung aufgebaut ist und/oder wenige Ressourcen aktiviert sind, soll keine intensive Problembearbeitung stattfinden (vgl. Smith & Grawe, 2003, S. 283 ff.).
Im Bereich der Interventionsstudien konnten Hinweise gefunden werden, dass lösungsorientiertes Vorgehen genauso wirksam ist, wie andere therapeutische Vorgehensweisen. Ein systematischer Überblick zur Wirksamkeit der lösungsorientierten Kurzzeittherapie und der systemischen Therapie wurde von Sydow et al. veröffentlicht. (vgl. Sydow, 2007)
Zur Wirksamkeit von Ressourcenaktivierung mithilfe eines Ressourcentagebuchs von Wilz, Risch und Töpfer gibt es in den Bereichen Prävention und Therapie mehrere Evaluationen an unterschiedlichen Zielgruppen (vgl. Wilz, Risch, & Töpfer, 2017, S. 93 ff.). Im therapeutischen Kontext gibt es deutliche Hinweise darauf, dass die Schreibintervention in Form des Ressourcentagebuchs positive Effekte auf die Emotionsregulierung, Stimmung und die Depressivität hat (vgl. Risch & Wilz, 2013, S. 9 ff.; vgl. Wilz et al., 2017, S. 6 ff.)
In einer Pilotstudie lenkten Flückinger et al. zu Beginn von 28 Psychotherapien die Aufmerksamkeit der Therapeuten systematisch auf die Ressourcen der Klienten. Durch die globale Ressourcenaktivierung konnte die Therapiebeziehung nachhaltig verbessert und eine Problembearbeitung in einer frühen Phase gesteigert werden. (vgl. Flückinger, Frischknecht, Wüsten, & Lutz, 2008, S. 61)
Willutzki et al. verglichen in einer RCT-Studie eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung (KVT) bei sozialen Phobien mit einem kombiniert ressourcenorientierten Vorgehen (KROT). Die KROT-Gruppe profitierte mit höheren Effektstärken bzgl. der sozialphobischen Symptomatik mehr als die KVT-Gruppe: KROT= .1.18, KVT= .84. (vgl. Willutzki, Neumann, Haas, Koban, & Schulte, 2004, S. 47 ff.)
Haug et al. untersuchten eine Minimalintervention in Internetchat-Nachsorgegruppen mit psychosomatischen Patienten auf Wirksamkeit. In dieser randomisierten kontrollierten Studie wurde eine ressourcenaktivierende Schreibaufgabe in 52 von 102 Sitzungen zusätzlich zu der Nachsorgebehandlung angewiesen. Direkt nach den Chatsitzungen zeigten die Teilnehmer der Interventionsgruppe signifikant höhere Werte des Selbstwertgefühls, des Kontrollempfindens und des Wohlbefindens als ohne vorherige Ressourcenaktivierung. Diese Studie zeigt, dass schon kleine ressourcenaktivierende „internetbasierte“ Interventionen einen positiven Effekt haben können. (vgl. Gassmann & Grawe, 2006, S. 8 ff.)
Die Recherche ergab nur diese eine Studie als „internetbasierte“ Intervention im Bereich Ressourcenaktivierung, auch ist sie teilweise mit der vorliegenden Studie vergleichbar.
Abschließend lässt sich zu diesem Kapitel festhalten, dass die Arbeit mit und an den Ressourcen von Klienten eine wichtige Säule psychotherapeutischer Behandlung darstellt.
Ressourcenaktivierung ist ein therapeutischer Prozess, bei dem eine gezielte Fokussierung und eine Anknüpfung an die Ressourcen und Potenziale der Menschen stattfindet. Es gibt eine Vielzahl ressourcenaktivierender Interventionen verschiedener Schulen, die transdiagnostisch anwendbar und wirksam sind.
2.2 Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)
„Die eigentliche Ursache für unser Leiden liegt gewöhnlich darin, WIE unsere Erinnerungen an frühere Ereignisse im Gehirn abgespeichert worden sind – und genau das können wir verändern.“(Shapiro, 2015)
Im folgenden Kapitel wird die wissenschaftlich anerkannte Traumatherapie-Methode EMDR hinsichtlich der Entwicklung, der Theorie und des Ablaufs dargestellt und ein besonderer Fokus auf die Anwendung zur Ressourcenaktivierung gelegt.
2.2.1 Entwicklung und Beschreibung der EMDR-Methode
EMDR wurde 1987 von Dr. Francine Shapiro nicht (wie andere Verfahren) durch Forschungstätigkeit entdeckt, sondern zufällig bei einem Spaziergang im Park. Francine Shapiro, damals eine Forscherin am „Mental Research Institute“ in Palo Alto (Kalifornien), bemerkte, dass sich ihr psychisches Belastungserleben (infolge einer Krebserkrankung) reduzierte, während sie ihre Augen beim Gehen nach rechts und links bewegte (vgl. Hofmann & Barre, 2014, S. 29 f.). Sie erforschte das Phänomen der bilateralen (beidhirnigen) Stimulation unter anderem an Kriegsveteranen, Missbrauchsopfern und anderen emotional sehr belasteten Menschen und entwickelte daraus in den nächsten Jahren die EMDR-Methode (vgl. Tesarz, Seidler, & Eich, 2015, S. 17 f.). Dr. Hofmann brachte die Methode 1996 nach Deutschland und gründete 1998 den deutschen Dachverband EMDRIA (vgl. Böhm & Hofmann, 2016, S. 4). EMDR wurde in Deutschland 2006 vom wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie und 2014 vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zur Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bei Erwachsenen anerkannt (vgl. Hecken, 2014; vgl. Rudolf, 2006). Heute zählt EMDR zu den am besten untersuchten und wirksamsten Therapiemethoden im Bereich der PTBS, welche 2013 auch von der WHO als effektive Methode bei Erwachsenen und Kindern anerkannt wurde (vgl. Hofmann & Barre, 2014, S. 36; vgl. Watts et al., 2013; vgl. WHO, 2013; vgl. Zehl, 2017, S. 39 ff.). Daneben steigt die Zahl vielversprechender Studien bzgl. weiterer Indikationsbereiche wie z. B. Angststörungen, Alkoholabhängigkeit, affektive Störungen und Schmerzen (vgl. Gerhardt et al., 2016; vgl. Markus, de Weert – van Oene, Becker, & DeJong, 2015; vgl. Ostacoli et al., 2018; vgl. Richter, 2019, S. 194 ff.; vgl. Schubbe, 2016, S. 102). Obwohl sehr viel Forschungsarbeit zu EMDR geleistet wird und es mehrere Wirkhypothesen gibt, ist der tatsächliche Wirkmechanismus bislang nicht zu 100 Prozent geklärt (vgl. Hofmann & Barre, 2014, S. 90).
Für die Ausbildung in der EMDR-Methode, die nach den Richtlinien der Ärztekammer, der Psychotherapeutenkammer und der Kassenärztlichen Vereinigung konzipiert ist, sind die vom Dachverband zertifizierten Ausbildungsinstitute (u. a. das EMDR-Institut Deutschland von Dr. Arne Hofmann) und die EMDR-Ausbildung am Institut für Traumatherapie von Oliver Schubbe zu nennen. Die Teilnahme- und Zertifizierungsvoraussetzungen sind sehr hoch. So muss eine Ausbildung als Ärztlicher Psychotherapeut, Psychologischer Psychotherapeut oder Kinder- und Jugendpsychotherapeut nachgewiesen werden. Sonderzulassungen (wie beim Autor) sind z. B. für systemische Therapeuten in Einzelfällen möglich (vgl. Hofmann & Barre, 2014, S. 218 ff.; vgl. Schubbe, 2016, S. 18 ff.).
Kern der EMDR-Methode ist die Bearbeitung belastender Erinnerungen, indem der Klient sich auf diese fokussiert, während er gleichzeitig den Rechts-links-Fingerbewegungen des Therapeuten folgt. Durch diese duale Aufmerksamkeitsfokussierung der inneren Bilder/Gedanken/Empfindungen und äußerer Stimulation scheint ein Verarbeitungsprozess stattzufinden, der für viele Klienten eine schnelle Entlastung und Verblassung der Erinnerung zur Folge hat (vgl. Hofmann & Barre, 2014, S. 48; vgl. Tesarz et al., 2015, S. 19).
Neben der klassischen Stimulation mit Augenbewegungen werden auch taktile (über Berührungen) und auditive (über Hören) Stimulationen eingesetzt. Insbesondere die taktile Form wird als Alternative gerne angeboten. Dabei tippt der Therapeut abwechselnd auf beide Knie oder darauf liegende Hände des Klienten (vgl. Schubbe, 2016, S. 133). Sehr verbreitet und gut anwendbar ist auch die taktile Selbststimulierung über die Schmetterlingsumarmung (Butterfly Hug), bei der die Arme des Klienten vor der Brust überkreuzt werden und er sich selbst sanft rechts-links auf die Schultern/Oberarme tippt (vgl. Rost, 2014, S. 33). Die Schmetterlingsumarmung wurde für die Gruppenbehandlung von traumatisierten Kindern nach einem Erdbeben in Mexiko entwickelt (vgl. Jarero, Artigas, Montero, & Lena, 2008, S. 97). Da eine persönliche Fremdstimulation in der vorliegenden Onlinestudie nicht realisierbar ist, wird die Schmetterlingsumarmung mit dem Vorteil der Selbststimulation eingesetzt.
2.2.2 Das Modell der adaptiven Informationsverarbeitung
Francine Shapiro entwickelte das Modell der adaptiven Informationsverarbeitung (AIP-Modell) als Krankheitsmodell der EMDR-Methode. Die Annahme des AIP-Modells ist, dass es Informationsverarbeitungssysteme gibt, die neue Erfahrungen in bereits bestehende Gedächtnisnetzwerke speichern, was zu einer Verknüpfung von Wahrnehmung, Einstellungen und Verhalten sowie zu einer „Verarbeitung“ führt (vgl. Zehl, 2017, S. 6 f.). Demnach ist es im Menschen grundsätzlich angelegt, belastende Ereignisse adaptiv zu verarbeiten. Bei einer Störung der Verarbeitung, z. B. infolge eines traumatischen Ereignisses, kann sich ein eigenes „Traumanetzwerk“ bilden, sodass eine Integration zu anderen Gedächtnisnetzwerken und eine Verarbeitung nicht möglich sind. Die vom Alltagserleben abgetrennte Abspeicherung kann dazu führen, dass sie teilweise nicht willentlich erinnert werden kann. Sie können aber durch Auslösereize unbewusst aktiviert werden (Trigger) und zu den typischen kognitiven und affektiven Traumasymptomen wie z. B. Panikattacken und Albträumen führen (vgl. Rost, 2014, S. 17). Diese dysfunktional gespeicherten Erinnerungen stellen nach Shapiro die Grundlage vieler psychischer und psychosomatischer Störungen dar (vgl. Hofmann & Barre, 2014, S. 39). Mit der EMDR-Methode wird Zugang zu dieser dysfunktionalen Erinnerung gesucht, um sie zu aktivieren und mit bilateraler Stimulation zu verarbeiten, was eine Desensibilisierung der Erinnerung sowie eine Reduzierung der emotionalen Reaktionen zur Folge hat (vgl. Hofmann & Barre, 2014, S. 38).
Der EMDR-Behandlungsverlauf gliedert sich in acht aufeinanderfolgende Therapiephasen, die im nächsten Abschnitt näher beschrieben werden.
2.2.3 Die acht Behandlungsphasen des Standardprotokolls
Die EMDR-Methode besteht aus acht Behandlungsschritten bzw. -phasen, die erst in ihrer Gesamtheit die möglichen Effekte zeigen. Durch die klare Struktur ist die EMDR-Behandlung für Patienten und Therapeuten sehr verständlich. (vgl. Shapiro, 1998, S. 57).
Im Folgenden werden die acht Phasen kurz erläutert.
Phase 1: Anamnese und Behandlungsplanung
Es wird die Vorgeschichte erhoben, die Behandlungsindikation und Kontraindikationen werden geprüft und gemeinsam mit dem Klienten wird ein Behandlungsplan erstellt. (vgl. Hofmann & Barre, 2014, S. 48 ff.)
Phase 2: Vorbereitung und Stabilisierung
In dieser Phase wird der Klient über die EMDR-Methode und den Behandlungsplan aufgeklärt sowie durch Entspannungstechniken und imaginative Interventionen eine ausreichende Stabilität erarbeitet. (vgl. Hofmann & Barre, 2014, S. 64 ff.)
Phase 3: Bewertung der belastenden Erinnerung
In dieser Bewertungsphase wird eine mit der Symptomatik assoziierte belastende Erinnerung mit ihren einhergehenden visuellen, affektiven und sensorischen Komponenten angesprochen und der Belastungsgrad auf einer 11-stufigen Ratingskala (SUD-Skala) durch den Klienten bewertet. (vgl. Hofmann & Barre, 2014, S. 71 ff.)
Phase 4: Desensibilisierung und Durcharbeitung
In dieser Phase wird der Klient gebeten, sich auf das Erinnerungsbild, die sensorischen Eindrücke des Traumas und die negative Kognition zu konzentrieren. Währenddessen führt der Therapeut eine bilaterale Stimulation, meist über Augenbewegungen, durch. Einerseits wird die erlebte Belastung durch die Erinnerung getriggert, anderseits führt die bilaterale Stimulation zu einer stufenweise spürbaren Entlastung des Klienten, sodass der Prozess in der Regel gut kontrollierbar ist. Dieser eigendynamische Prozess wird von individuellen Assoziationen, wechselnden Eindrücken, Affekten und Gedanken beim Klienten begleitet. (vgl. Hofmann & Barre, 2014, S. 75 ff.)
Der wechselnde Aufmerksamkeitsfokus zwischen innerem Geschehen und äußerer Stimulation wird als eine Wirkhypothese diskutiert (vgl. Schubbe, 2016, S. 91).
Phase 5: Verankerung
Nachdem das Belastungserleben in Phase 4 gesunken ist, wird die positive Kognition aus Phase 3 oder eine neu erarbeitete positive Kognition aufgenommen, geprüft und durch ein weiteres Set an langsamen bilateralen Stimulationen verankert. Somit werden die erarbeiteten positiven Gedanken und die erreichte Belastungsreduktion gefestigt. (vgl. Hofmann & Barre, 2014, S. 78)
Phase 6: Körpertest
Im Rahmen des Körpertests wird nach verbliebenen sensorischen Erinnerungsfragmenten (Körpererinnerungen) gesucht die, wenn nötig, mit bilateralen Stimulationen so lange bearbeitet werden, bis sie sich aufgelöst haben. (vgl. Hofmann & Barre, 2014, S. 78 f.)
Phase 7: Abschluss
Der Sitzungsabschluss dient dem Nachbesprechen der eindrücklichen Erfahrungen und dem Vereinbaren von Interventionsregeln für die Zeit bis zur nächsten Therapiesitzung. Gegebenenfalls werden dem Klienten abschließend noch positiv wirkende Entspannungs- oder Imaginationsübungen angeboten. (vgl. Hofmann & Barre, 2014, S. 80 f.; vgl. Schubbe, 2016, S. 148 f.)
Phase 8: Nachbefragung
Am Anfang der nächsten Therapiesitzung wird um eine Rückmeldung vom Klienten über die Veränderungen der letzten Sitzungen gebeten, damit das weitere Vorgehen geplant werden kann. (vgl. Hofmann & Barre, 2014, S. 81)
2.2.4 EMDR zur Ressourcenaktivierung
Nachdem im Kapitel 2.1 die Bedeutsamkeit von Ressourcenaktivierung für den Erfolg einer Psychotherapie dargelegt wurde, soll nun die Ressourcenarbeit im Kontext der EMDR-Methode beschrieben werden. Ressourcenaktivierung mit der wissenschaftlich anerkannten Traumatherapiemethode EMDR wird in der Praxis immer öfter und erfolgreich angewandt, ist aber bisher, vor allem als Internetintervention, kaum untersucht (vgl. Rost, 2014, S. 9). Wie unter 2.2.2 dargestellt, basiert die Theorie (AIP-Modell) auf der Annahme von Gedächtnisnetzwerken. Unter einem Traumanetzwerk wird eine abgespeicherte negative Erfahrung verstanden. Es entsteht, wenn es für ein Problem derzeit keine denkbare Lösung gibt. Ein Ressourcennetzwerk dagegen stellt eine neuronale Speicherung einer positiven Erfahrung dar, in der die Bedürfnisse erfüllt sind und die mit angenehmen (evtl. neutralen) Emotionen einhergeht. (vgl. Rost, 2014, S. 15 f.)
Ziel der EMDR-Behandlung ist es, die beiden Netzwerke zu verbinden, sodass aus einem Traumanetzwerk ein Ressourcennetzwerk entstehen kann. Der Klient lernt so, durch die Ressourcenerinnerung Probleme besser zu bewältigen. Die bilaterale Stimulation verstärkt und verankert diesen Prozess. (vgl. Rost, 2014, S. 18)
Im Rahmen des Standardprotokolls findet Ressourcenaktivierung bei der Suche nach positiven Kognitionen in Phase 3 (ohne bilaterale Stimulation) und nach der Durcharbeitung während der Verankerung in Phase 5 sowie gegebenenfalls beim kognitiven Einweben statt. Mit dem kognitiven Einweben sollen stockende Prozesse (Blockaden) durch bestimmte Techniken, z. B. Fokussierung auf Ressourcen, wieder aufgelöst werden. Neben der Ressourcenaktivierung innerhalb des Standardprotokolls sind eine ganze Reihe spezifische Ressourcenprotokolle (z. B. die Absorptionstechnik 2.2.5) etabliert, die zur Stabilisierung vor einer Traumabearbeitung, aber auch außerhalb der Traumatherapie, z. B. zur Emotionsregulation oder alltäglichen Problemen, eingesetzt werden können. (vgl. Rost, 2014, S. 31)
2.2.5 Die Absorptionstechnik
Die praktische und problemzentrierte sowie ressourcenfokussierte Absorptionstechnik wurde von Dr. Hofmann auf Basis der aus den USA kommenden Wedging-Technik entwickelt (vgl. Kiesling, 1999; vgl. Tesarz et al., 2015, S. 238). Sie ist sehr breit einsetzbar und hat sich in der klassischen EMDR-Therapie zur Ressourcenaktivierung und zum schonenden Kennenlernen der EMDR-Methode gut etabliert. Ziel der Intervention ist es, eine psychische Belastung durch die Fokussierung auf die benötigten Ressourcenfähigkeiten und zeitgleiche bilaterale Stimulationen zu reduzieren. Es werden im Folgenden die einzelnen Schritte der Intervention aufgezeigt und mit Beispielen versehen.
Auswahl der Belastungssituation
Dabei wird ein aktuell spürbares Belastungserleben, das aus einem momentanen oder zukünftigen Erlebnis herrühren kann, fokussiert und auf der 11-stufigen SUD-Skala bewertet (0 = keine Belastung, 10 = maximale Belastung). Beispiele sind Konfliktsituationen im privaten oder beruflichen Bereich, Ängste vor wichtigen Anlässen wie Prüfungen usw. (vgl. Hofmann, 2014, S. 55)
Ressourcenauswahl
Daraufhin werden vom Klienten drei Ressourcen (Fähigkeiten) benannt, die bei der Bewältigung der Situation helfen können. Die Frage dazu lautet: „Welche spezifischen Fähigkeiten brauchen Sie, um mit dieser Belastung besser umgehen zu können?“. Beispiele sind Mut, Selbstvertrauen, Optimismus usw. (vgl. Hofmann, 2014, S. 55 f.)
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- Citation du texte
- Robert Lust (Auteur), 2020, Internetbasierte Kurzinterventionen in der Psychotherapie. Ressourcenaktivierung mit Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/512432
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