Diese Arbeit stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Literaturepochen Romantik und Realismus in E. T. A. Hoffmanns "Des Vetters Eckfenster" aus dem Jahr 1822 verschmelzen und welchen Einfluss Hoffmanns Lebensumstände hierbei gehabt haben könnten. Um diese Fragen hinreichend beantworten zu können, ist es zunächst sinnvoll, beide Handlungsschauplätze, die Wohnung des Vetters und den Gendarmenmarkt, in Relation zu setzen und die Grenzen aufzuzeigen, die sich für einen "Romantiker" durch diese Konstellation ergeben. Von ebenso zentraler Bedeutung wird es anschließend sein, die bereits gemachten Beobachtungen in einen zeitlichen Kontext zu setzen und eine gemeinsame Metaebene zu schaffen. Auf dieser Metaebene sollte es schließlich möglich sein zu definieren, wie des Vetters Wirklichkeitsbildung funktioniert und welchen Realitätsanspruch "Des Vetters Eckfenster" tatsächlich hat. In einem abschließenden Fazit wird dann mit Hilfe der gewonnen Erkenntnisse versucht, eine befriedigende Antwort auf die Frage zu finden, ob es sich bei E. T. A. Hoffmanns letztem Werk um eine Abkehr von der Romantik, hin zum Realismus handeln könnte.
Der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Werks 46-jährige Hoffmann, der ebenso wie der Vetter gelähmt war, scheint in dieser Erzählung sich selbst und seine Gedanken als Invalide in einen literarischen Kontext zu setzen. Ein von "hartnäckiger Krankheit" geplagter Mann - Schriftsteller, Kunstkenner und vieles mehr, dem nicht nur die Beine, sondern auch die Finger den Dienst versagten. Alles was bleibt, ist ein wacher Geist und erprobte Augen, die in dieser Erzählung dazu genutzt werden, um das alltägliche Leben zu beschreiben und zu deuten. Die Wohnung des Vetters, hoch oben in einem Berliner Eckgebäude, dient hierbei als Aussichtsplattform, die den beiden Vettern einen Panoramablick auf den Gendarmenmarkt bietet. Die freie Sicht auf den Trubel eines Markttages und trotz allem abgeschieden in weiter Ferne. Zwar ist Hoffmann als einer der bedeutendsten Schriftsteller der Epoche der Romantik zuzuordnen, dennoch suggeriert das Stadtmotiv, so romantisch es auf den ersten Blick scheinen mag, in Kombination mit dem Motiv eines "Auges, welches wirklich schaut", eine gewisse Nähe zum Realismus. Darüber hinaus sind allerdings mindestens ebenso viele Motive der Romantik zu erkennen; darunter vor allem die Abgeschiedenheit, der Künstlerbegriff und die romantische Ironie, die typischer nicht sein könnten.
1. Einleitung und Hinführung
„Das Fixieren des Blicks erzeugt das deutliche Schauen“1, so die Aussage des Vetters in E.T.A Hoffmanns Erzählung Des Vetters Eckfenster, die nur kurze Zeit vor seinem Ableben im Jahre 1822 veröffentlicht wurde. Derzu diesem Zeitpunkt46-jährige Hoffmann, der ebenso wie der Vetter gelähmt war, scheint in dieser Erzählung sich selbst und seine Gedanken als Invalide in einen literarischen Kontext zu setzen. Ein von „hartnäckiger Krankheit“2 geplagter Mann - Schriftsteller, Kunstkenner und vieles mehr, dem nicht nur die Beine, sondern auch die Finger den Dienst versagten. Alles was bleibt ist ein wacher Geist und erprobte Augen, die in dieser Erzählung dazu genutzt werden, um das alltägliche Leben zu beschreiben und zu deuten. Die Wohnung des Vetters, hoch oben in einem Berliner Eckgebäude, dient hierbei als Aussichtsplattform, die den beiden Vettern einen Panoramablick auf den Gendarmenmarkt bietet. Die freie Sicht auf den Trubel eines Markttages und trotz allem abgeschieden in weiter Ferne.
Zwar ist Hoffmann als einer der bedeutendsten Schriftstellern der Epoche der Romantik zuzuordnen, dennoch suggeriert das Stadtmotiv, so romantisch es auf den ersten Blick scheinen mag, in Kombination mit dem Motiv eines „Auges, welches wirklich schaut“, eine gewisse Nähe zum Realismus. Darüber hinaus sind allerdings mindestens ebenso viele Motive der Romantik zu erkennen; darunter vor allem die Abgeschiedenheit, der Künstlerbegriff und die romantische Ironie, die typischer nicht sein könnten. Aus dieser Tatsache ergibt sich unweigerlich die Frage, ob und inwieweit beide Literaturepochen hier verschmelzen und welchen Einfluss E.T.A. Hoffmanns Lebensumstände hierbei gehabt haben könnten.
Um diese Fragen hinreichend beantworten zu können, ist es zunächst sinnvoll beide Handlungsschauplätze, die Wohnung des Vetters und den Gendarmenmarkt, in Relation zu setzen und die Grenzen aufzuzeigen, die sich für einen „Romantiker“ durch diese Konstellation ergeben. Von ebenso zentraler Bedeutung wird es anschließend sein, die bereits gemachten Beobachtungen in einen zeitlichen Kontext zu setzen und eine gemeinsame Metaebene zu schaffen. Auf dieser Metaebene sollte es schließlich möglich sein zu definieren, wie des Vetters Wirklichkeitsbildung funktioniert und welchen
Realitätsanspruch Des VettersEckfenster tatsächlich hat. In einem abschließenden Fazit wird dann mit Hilfe der gewonnen Erkenntnisse versucht, eine befriedigende Antwort auf die Frage zu finden, ob es sich bei E.T.A. Hoffmanns letztem Werk um eine Abkehrvon der Romantik, hin zum Realismus handeln könnte.
2. Der Raum
2.1 Das Zimmer des Vetters - romantische Abgeschiedenheit
Das erste räumliche Bild, welches vom Ich-Erzähler entworfen wird, ist das kleine niedrige Zimmer3 seines Vetters. Ganz in romantischer Manier wird dieses in ein stimmiges und positives Gesamtbild eingefügt - „im schönsten Teile der Hauptstadt“ und umringt von „Prachtgebäude[n]‘‘. Über das Zimmer selbst, das sich in einem Eckgebäude befindet, wird neben der niedrigen Decke lediglich der Panoramablick über den Marktplatz erwähnt. Ähnlich wie in einem Theater nehmen die Vetter eine „Beobachterposition im kleinen Kabinett des Vetters“4 ein. Die gesamte Erzählung über versuchen sie nun von dort aus das Treiben auf dem Gendarmenmarkt zu beschreiben und zu deuten. Das Fenstermotiv dient hierbei allerdings nicht dazu, den Innen- und Außenraum in Relation zu setzen, wie es in romantischen Texten üblich wäre, sondern erscheint viel mehr als unüberbrückbare Schwelle. Die hierdurch entstehende Abgrenzung zum alltäglichen Marktgeschehen, das zweifelsfrei zentraler Handlungsgegenstand ist, vermittelt andererseits aber umso mehr die Abgeschiedenheit und Einsamkeit des invaliden Vetters, der in seinem Zimmer und in seinem Körper gefangen ist.
Aufgrund dieser räumlichen Distanz ist es darüber hinaus nicht abwegig zu behaupten, dass der Platz am Eckfenster das eigentliche Zentrum realistischen Handelns ist und wirft die Frage auf, welchen Realitätsanspruch die Aussagen der beiden Vettern über den Marktplatz tatsächlich haben. Im Gegensatz zu einer Loge im Theater, die zweifelsfrei ausreichend ist, um einem inszenierten Stück folgen zu können, ist der Fensterplatz nicht dazu geeignet, ein exaktes Abbild der realen Welt zu ermöglichen. Aufgrund der Distanz zum Ort des Geschehens entstehen nämlich zwei Probleme für die Beobachter: Die erste Problematik ist die Akustik. Bestimmte Geräusche, beispielsweise das Klimpern des Kleingeldes in einer Geldbörse5, welches allgemeingültiger Teil der realen Welt ist, können ohne den Verlust an Objektivität bei einer Beschreibung ergänzt werden. Ein Problem ergibt sich aber bei der Deutung einzelner Gespräche - diese können nicht differenziert, geschweige denn belauscht werden. Sie können bei einer Beschreibung folglich auch nicht berücksichtigt werden, was eine realistische Darstellung der Interaktionen auf dem Marktplatz unmöglich macht.
Die zweite Problematik ist die Limitierung der Optik, welche durch die Verwendung eines Fernglases6 entsteht. Im Theaterkontext ist das äquivalente Opernglas eine gute Möglichkeit, um die einzige stattfindende Handlung besser ins Auge fassen zu können. Bei vielen simultan ablaufenden Geschehnissen geht das Gesamtbild im Zuge dessen allerdings verloren. Das Eckzimmer mag somit zwar einen Panoramablick bieten, ist durch die räumlich Distanz, die überbrückt werden muss, aber nicht viel mehr als Ausgangspunkt einer Rahmenschau nach aufklärerischem Vorbild7. Alle Aussagen, die über optische Aspekte wie Kleidung und das ungefähre Alter hinausgehen, werden folglich im Dialog der beiden Vettern durch auf Beobachtung basierende Schlussfolgerungen ergänzt. Dem Leser ergibt sich dadurch nicht mehr und nicht weniger als eine schlüssig wirkende Mauerschau8, bei welcher die Vettern die Augen des Lesers sind und diesem berichten. Es mag dabei zwar „kein Wörtchen wahr sein“9, sie verstricken sich aber nicht in unglaubwürdigen Deutungen und das Erzählte klingt durchaus schlüssig und plausibel.
Der Fakt, dass sich die beiden zudem in der gewohnten Umgebung des Vetters befinden und er in der Disziplin des Schauens als durchaus geübt gilt, verleiht ihm zudem eine hohe Glaubwürdigkeit, sodass kaum Zweifel an dessen Schlussfolgerungen aufkommen. Hierdurch gelingt es, andere Deutungsmöglichkeiten unmittelbar in den Hintergrund zu drängen und eine realistische Erzählung zu suggerieren Zwar erhebt der Vetter keinen Wahrheitsanspruch im eigentlichen Sinne, seine selbstsichere Gesprächsführung, der deutlich überwiegende Sprechanteil und die Beeinflussung des Ich-Erzählers als Lehrender erwecken aber durchaus diesen Eindruck. Das vom Leser natürlich entgegengebrachte Vertrauen ist in dieser Situation allerdings tückisch, weil bloße Deutungen und Vermutungen dem Wirklichkeitsanspruch eines Realisten nicht gerecht werden können.
2.2 Der Markt als Zentrum realistischen Handelns?
Der Markt erscheint dem Leser als eine Art reales Bühnenspiel, eine „mannigfaltige Szenerie des bürgerlichen Lebens“10, was neben der Zuschauerposition unter anderem durch die häufige Erwähnung des nahegelegenen Theaters geschieht. Der Zuschauer sieht, aber wird nicht gesehen, jedoch sind in diesem Kontext die Zuschauer nicht die Leser, sondern die Vettern. Im Gegensatz zu einem Theaterstück, welches zusätzliche Regieanweisungen besitzt und bei welchem eine Handlung für die Zuschauer möglichst verständlich aufbereitet wird, handelt es sich bei Des Vetters Eckfenster um eine Darstellung und Beschreibung des wirklichen Lebens. Die Tatsache, dass keiner der beiden Vettern Teil des eigentlichen Geschehens ist, ist hierbei die größte Hürde, die es zu überwinden gilt, um eine plausible Wahrheit für den objektiven Leser zu erzeugen. Aufgrund dessen scheint die Wahl eines Marktplatzes als Zentrum der Handlung, einem Schauplatz der alltäglicher nicht sein könnte, durchaus schlüssig. Es ist in dieser Konstellation schlicht und ergreifend irrelevant, ob die Deutungen der Vettern wahr oder falsch sind, weil es den Verlauf der Erzählung zu keiner Zeit beeinflusst. Eine Wahrheitsprüfung findet ohnehin nicht statt, sodass die gültige Wahrheit in diesem Kontext die höchst mögliche Plausibilität bleibt.
Der eigentliche Fokus wird durch die Vermeidung eines komplexen Schauplatzes, bei dem die Wahrheit nicht näher hinterfragt wird, auf die Beschreibungen der Personen gelegt. Bereits vor der ersten Beschreibung einer Person behauptet der Vetter, dass sein Geist beim Beobachten „eine Skizze nach der andern“11 entwirft, doch eine Skizze ist nicht detailgetreu genug, um die Realität abbilden zu können. Die Distanz, die zwischen Beobachter und Beobachtetem liegt, ermöglicht dabei nicht mehr als eine Reihe von vagen Bildern, die durch plausible Deutungen präzisiert werden sollen. Diese Aneinanderreihungen von Vermutungen und Behauptungen erinnern in diesem Kontext stark an einen Künstler, der einzelne Bilder zeichnet und beschreibt, dem Betrachter aber einen finalen Blick auf das Kunstwerk verwehrt. Selbst wenn man sich in diesem Fall auf das optisch Wahrnehmbare beschränkt und die Tatsache, dass Realität aus mehr als einzelnen Bildern besteht, in den Hintergrund drängt, ist die Kongruenz von Subjektivität und Objektivität vermeintlich gering.
Um dennoch die Illusion von Objektivität zu wahren, findet die Betrachtung des Marktplatzes in drei Stufen statt12, wodurch eine Regelmäßigkeit, eine Systematik und letztendlich ein voranschreitender (Lern-)Prozess impliziert werden. In der ersten Stufe wird zunächst versucht das Objekt der Beschreibung ausfindig zu machen; dies benötigt eine genauere Fokussierung, bei welcher voneinander unabhängige Bilder einer Person entstehen:
„Ei, wie der brennende gelbe Punkt die Masse durchschneidet. Jetzt ist sie schon der Kirche nah jetzt feilscht sie um etwas bei den Buden —jetzt ist sie fort — о weh! ich habe sie verloren — nein, dort am Ende duckt sie wieder auf — dort bei dem Geflügel — sie ergreift eine gerupfte Gans — sie betastet sie mit kennerischen Fingern. —“13
Diese ersten Darstellungen, die noch äußerst lückenhaft wirken und Verwirrung stiften, gilt es nun weiter zu differenzieren und in ein Gesamtbild zu setzen, um das Geschehen szenisch interpretieren zu können:
,,— ihr ganzer Kram in einem mäßigen Korbe vor sich ausgebreitet — die eine hält bunte Tücher feil, sogenannte Vexierware, auf den Effekt für blöde Augen berechnet, — die andere hält eine Niederlage von blauen und grauen Strümpfen, Strickwolle u. s. w. [,..]“14
Die erste Stufe des wirklichen Schauens besteht also aus der Erfassung von Personen innerhalb des Raumes, bei welcher durch die Fixierung des Blickes eine möglichst wertfreie Beschreibung stattfinden soll. Diese Stufe repräsentiert den in dieser Disziplin ungeübten Ich-Erzähler am Anfang der Erzählung, vermittelt aber gleichzeitig auch die größtmögliche Objektivität.
In der zweiten Stufe ergeben sich für den Ich-Erzähler die ersten Schwierigkeiten einer realistischen Darstellung. Es wird klar, dass Beobachtungen, je detaillierter sie sein sollen, durch die Distanz zum Geschehen an Objektivität verlieren. Hieraus ergibt sich eine Problematisierung des absoluten Wahrheitsbegriff, der Anlass zur Diskussion gibt:
„schon lange ist mirjener Mann aufgefallen und ein unauflösbares Rätsel geblieben, der eben jetzt dort an der zweiten entfernten Pumpe an dem Wagen steht [...] Doch, Vetter, hast du den Mann ins Auge gefaßt?,,15
[...]
1 E.T.A. Hoffmann: Des Vetterseckfenster.. Eine Geschichte. In: Gerhard Allroggen (Hg.): E.T.A. Hoffmann; Sämtliche Werke in sechs Bänden. Späte Prosa; Briefe; Tagebücher; und Aufzeichnungen; Juristische Schriften; Werke 1814-1822. Bd. 6. Berlin 2004, S. 473
2 Ebd.,S.468
3 Ebd., s. 469
4 Detlef Kremer: Fenster-Theater. Teichoskopie, Theatralität und Ekphrasis im Drama um 1800 und in E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster. In: Hartmut Steinecke (Hg.): E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch. Mittelungen der E.T.A.-Hoffmann Gesellschaft. Bd. 9. Berlin 2001, S. 75
5 Vgl. E.T.A. Hoffmann: Des Vetters Eckfenster, S. 490
6 Ebd., S. 472 1
7 Harald Tausch: "Die Architektur ist die Nachtseite der Kunst". Erdichtete Architekturen und Gärten in der deutschsprachigen Literatur zwischen Frühaufklärung und Romantik. Würzburg 2006, S. 412
8 Vgl. Detlef Kremer 2001, S. 75
9 E.T.A. Hoffmann: Des Vetters Eckfenster, S. 475
10 Ebd., s. 471
11 Ebd., S. 471
12 Lothar Köhn: Vieldeutige Welt. Studien zur Struktur der Erzählungen E.T.A. Hoffmanns und zur Entwicklung seines Werks. Tübingen 1966. S. 210
13 E.T.A. Hoffmann: Des Vetters Eckfenster, S. 472
14 Ebd., S. 473
15 Ebd., S. 482
- Citar trabajo
- Chris Zemmel (Autor), 2019, Inwiefern verschmelzen Romantik und Realismus in E. T. A. Hoffmanns “Des Vetters Eckfenster”?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/511654
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