Seit 2005 sieht das Sozialgesetzbuch die Wahrnehmung des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung vor. Die Novellierung des SGB zielt darauf ab, dass Fachkräfte im Einzelfall besser eingreifen können. Das Gesetz sieht dabei vor, dass mehrere Fachkräfte zusammenarbeiten, um eine mögliche Gefährdung richtig einzuschätzen.
Doch wann sind Eingriffe in die elterliche Fürsorge durch das Jugendamt gerechtfertigt? Welche Hilfsangebote gehen einem solchen Schritt voraus? Und welche Schritte unternimmt das Jugendamt zuvor? Kathrin Braasch setzt sich in ihrer Publikation mit dem Thema Kindeswohlgefährdung und Kinder- und Jugendhilfe auseinander.
Im Mittelpunkt steht dabei die Problematik, das Kindeswohl von außen zuverlässig einzuschätzen. Braasch erklärt die Verfahrensschritte des Allgemeinen Sozialen Dienstes bei Verdacht einer Kindeswohlgefährdung sowie die Instrumente zur Risikoeinschätzung. Ihre Publikation klärt so, wie genau das Jugendamt eine potenzielle Gefährdungslage beurteilt, deckt aber auch Schwachstellen auf.
Aus dem Inhalt:
- ASD;
- Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz;
- Soziale Arbeit;
- Kinderschutz;
- Schutzauftrag
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Kindeswohl, Elternrecht und Staatliches Wächteramt 6
3 Kindeswohlgefährdung
3.1 Kindeswohlgefährdung nach §1666 Abs. 1 BGB
3.2 Erscheinungsformen von Kindeswohlgewährdung
4 Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe nach § 8A SGB VIII bei Kindeswohlgefährdung
5 Die Akteure und Handlungsmuster des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD)
5.1 AdressatInnen
5.2 Professionelle Kompetenzen und Arbeitsprinzipien von Fachkräften
5.3 Kooperationspartner
6 Umsetzung des Schutzauftrages in der Praxis durch den ASD
6.1 Verfahrensschritte des ASD bei Verdacht einer Kindeswohlgefährdung
7 Instrumente zur Risikoeinschätzung und ihre Grenzen bzw. Risiken
8 Perspektiven der Verbesserung der Einschätzung von Kindeswohlgefährdung durch den ASD
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Die vorliegende Arbeit thematisiert die Handlungsmöglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe bei Kindeswohlgefährdung. In meiner Tätigkeit als Erzieherin in der Kinder- und Jugendhilfe des Deutschen Roten Kreuzes kontaktierte mich das Jugendamt mehrfach, um Informationen über ein Kind zu erhalten. Hierbei wurde einerseits nach Auffälligkeiten in Bezug auf das Kind, aber auch nach möglichen Beobachtungen im Zusammenhang mit den Eltern gefragt. Zudem kam es in einem Fall dazu, dass ein Kind während der Ganztagsbetreuung von Fachkräften des Jugendamtes abgeholt und in Obhut genommen wurde. Dieser Eingriff in die elterliche Sorge hat die Frage aufgeworfen, welche Hilfsangebote zuvor bereitgestellt und welche Handlungsschritte bis zu diesem Punkt von Seiten des Jugendamtes unternommen wurden, die eine Inobhutnahme begründen. Im Mittelpunkt dieser Bachelorarbeit steht die Frage, wie sich eine Kindeswohlgefährdung durch die Kinder- und Jugendhilfe (Allgemeiner Sozialer Dienst) sicher einschätzen lässt. Ziel ist es, die Verfahrensschritte des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) bei Verdacht einer Kindeswohlgefährdung aufzuzeigen und Instrumente zur Risikoeinschätzung zu erläutern, mit deren Hilfe eine Beurteilung der Gefährdungslage erfolgt. Fragen über die möglichen Ursachen und Folgen einer Kindeswohlgefährdung würden den Rahmen der vorliegenden Arbeit überschreiten und werden außer Acht gelassen.
Im Rahmen der eingetretenen Novellierung des SGB VIII (Achtes Buch Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe) am 01.10.2005 wurde § 8a SGB VIII eingeführt, der „die Wahrnehmung des Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung“ (Meysen 2012: 25) beinhaltet. Die Konkretisierung des Schutzauftrages zielt darauf ab, dass Fachkräfte im Einzelfall das Kindeswohl noch besser schützen können und in die Lage versetzt werden, diesbezüglich noch bessere Beurteilungen vorzunehmen, indem sie angewiesen werden, Gefährdungseinschätzungen „im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte“ (Jordan 2008: 7) vorzunehmen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten (vgl. ebd.). Zu den Einschätzungsaufgaben gehören die erste Gefährdungsbeurteilung, die Sicherheitseinschätzung sowie das Nachgehen von Vermutungen hinsichtlich physischer und psychischer „Misshandlungen, Vernachlässigung oder sexuellen Missbrauch[s]“ (Meysen 2012: 28).
Die Frage der Arbeit lässt sich erziehungswissenschaftlich damit begründen, dass das professionelle Tätigkeitsfeld der Fachkräfte die Wissenschaft für ihre praktische Arbeit voraussetzt. Unter dem Begriff ‚Wissenschaft‘ ist hierbei die Absicht zu verstehen, Besonderheiten und „Zusammenhänge verstehbar und erklärbar zu machen“ (Dörpinghaus / Uphoff 2011: 10). Mittels einer methodischen Vorgehensweise drückt die Wissenschaft Wissen in Hinblick auf einen Sachbereich aus (vgl. ebd.). Erziehungswissenschaft, auch „wissenschaftliche Pädagogik“ (Tenorth / Tippelt 2007: 213) genannt, beinhaltet verschiedene Teilgebiete, die sich auf der einen Seite mit speziellen Fragen befassen, und auf der anderen Seite als Antwort auf soziale Problemsituationen und „Anforderung oder Zielsetzung“ (Dörpinghaus / Uphoff 2011: 9) betrachtet werden. Durch das Studium sollen „wissenschaftlich ausgebildete [P]rofessionelle“ (Schulze-Krüdener / Homfeldt 2001: 204) dazu befähigt werden, eine theoretisch begründete Reflexion der beruflichen Tätigkeit „in den Blick zu nehmen, diese wissenschaftlich zu (re)konstruieren“ (ebd.). Die Sicherheit und Fertigkeit, in der Praxis methodische und wissenschaftstheoretische Instrumente bedienen zu können, erzeugt eine sich fortentwickelnde Fähigkeit, pädagogische Handlungsplanung zu hinterfragen und aus eigens begründeten Untersuchungen Handlungsmöglichkeiten zur Behebung bestimmter Problemstellungen aus der beruflichen Praxis zu erarbeiten (vgl. ebd.: 204f.). Daraus lässt sich schließen, dass Fachkräfte des ASD über bestimmte Fähigkeiten verfügen müssen, die sie nur durch eine wissenschaftliche Ausbildung erlangen können. In der Praxis benötigen Fachkräfte wissenschaftliche Kenntnisse, um Theorien und Methoden anzuwenden sowie ihre Handlungen zu reflektieren und darüber hinaus komplexe Aufgaben durch eigene Deutungsfähigkeit lösen zu können (z. B. in der Einzelfallbearbeitung).
Um sowohl die Frage als auch das Ziel der Arbeit erarbeiten zu können, wurde eine Literaturarbeit als methodische Vorgehensweise gewählt. Hierbei wurden sowohl die Datenbank Fachinformationssystem Bildung des Fachportals Pädagogik als auch der virtuelle Campus-Katalog zur Suche der Literatur herangezogen. Um möglichst passende Literatur zu finden, wurden Schlagwörter wie ‚Kindeswohl‘, ‚Kindeswohlgefährdung‘, ‚Kinderschutz‘, ‚Kinder- und Jugendhilfe‘, ‚Allgemeiner Sozialer Dienst‘, ‚SGB VIII‘ und ‚Schutzauftrag‘ benutzt. Hierbei wurde darauf geachtet, möglichst keine Literatur auszuwählen, die älter als 2005 ist, um die Novellierung des SGB VIII in Bezug auf den Schutzauftrag inhaltlich und auf die Praxis bezogen aktuell wiedergeben zu können. Des Weiteren wurde nach relevanten Autoren gesucht, wie z. B. Deegener, der mit dem Thema Kinderschutz in Verbindung gebracht wird, sowie Meysen, Körner, Kindler, Jordan und Gissel-Palkovich. Durch diese Recherche wurde geeignete Literatur gefunden, mit der eine kritische Auseinandersetzung möglich war. Hierzu gehören u. a. das Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD) von Kindler et al. (2006), Kindeswohlgefährdung. Rechtliche Neuerungen und Konsequenzen für den Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe von Jordan (2008), Erfassung von Kindeswohlgefährdung in Theorie und Praxis von Körner / Deegner (2011), das Lehrbuch Allgemeiner Sozialer Dienst – ASD von Gissel-Palkovich (2011) sowie natürlich die entsprechenden Gesetzestexte.
Zu Beginn der Arbeit wird im zweiten Kapitel ein Überblick über relevante Begriffe zum Thema Kindeswohlgefährdung gegeben. Hierzu gehören ‚Kindeswohl‘, ‚Elternrecht‘ und ‚Staatliches Wächteramt‘, die definiert und durch Gesetze belegt werden. Im dritten Kapitel, das die Kindeswohlgefährdung thematisiert, wird der Begriff nach § 1666 Abs. 1 BGB definiert und das ‚Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls‘ erläutert. Außerdem werden drei Voraussetzungen für die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung beschrieben und Erscheinungsformen von Kindeswohlgefährdungen dargelegt. Im Zentrum des vierten Kapitels steht der Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe nach § 8a SGB VIII, indem erklärt wird, wer mit dem Schutz des Kindeswohls beauftragt ist und welche Gesetzesänderungen es im Jahr 2005 im Rahmen des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe gegeben hat. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit den Akteuren und Handlungsmustern des ASD, dessen Aufgabenfeld beschrieben wird. Außerdem werden die AdressatInnen des ASD benannt sowie das professionelle Selbstverständnis und die Arbeitsprinzipien der Fachkräfte dargelegt. Der letzte Punkt dieses Kapitels widmet sich den Kooperationspartnern sowie dem ganzheitlichen Leistungsauftrag des ASD. In Kapitel 6 folgt die Umsetzung des Schutzauftrages in der Praxis durch den ASD. Aufgezeigt werden hier die Handlungsschritte bei Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung, einschließlich der gewichtigen Anhaltspunkte einer Gefährdung sowie der Gefährdungseinschätzung. Nachfolgend schließt das siebte Kapitel mit einer kurzen Zusammenfassung und einem Ausblick auf die Perspektiven zur Verbesserung der Einschätzung von Kindeswohlgefährdung die vorliegende Arbeit ab.
2 Kindeswohl, Elternrecht und Staatliches Wächteramt
Um die Handlungsmöglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe bei einer Kindeswohlgefährdung aufzuzeigen, sei zunächst definiert, was ‚Kindeswohl`, ‚Elternrecht‘ und ‚staatliches Wächteramt‘ bedeuten. Schone (2008: 25) erklärt, dass der Begriff Kindeswohl ein unbestimmter Rechtsbegriff ist. Mit einem unbestimmten Rechtsbegriff werden nach Wiesner (2005: 289) Begriffe benannt, die weder von der Zeit noch vom Ort in eindeutige Gruppen von Rechtsgebieten einzuteilen sind, sondern Begriffskategorien, die sich durch ähnelnde Lebensumstände zuzuordnen lassen. Es gibt keine genaue Definition darüber, was ‚Kindeswohl‘ genau bedeutet „[…] was als gut für Kinder gilt, was also ihrem Wohl entspricht, [ist] nicht allgemeingültig bestimmbar, sondern immer auch von kulturell, historisch-zeitlich oder ethischen geprägten Menschenbildern abhäng[t]ig“ (Schone/Hensen 2011: 17;). Eltern bestimmen und verwirklichen eigenverantwortlich ihre Auffassungsgabe von dem Begriff Kindeswohl (vgl. Schone/Hensen 2011: 17). „Für die einen ist die Erziehung zur Konkurrenzfähigkeit, für die anderen zur Solidarität und Kooperation der oberste Maßstab einer dem Kindeswohl entsprechenden Erziehung“ (ebd.: 17). Der Staat gesteht Eltern trotz unterschiedlicher Sichtweisen das Recht zu, ihre Kinder nach eigenen Prinzipien und Normen zu erziehen (vgl. ebd.: 17). Diese individuelle Vorgehensweise räumt das Grundgesetz in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 den Eltern ein (Schmid/Meysen 2006: 2-3). Ebenso sind Erziehung und Wahrung des Kindeswohls im Grundgesetz Art. 6 Abs. 2 Satz 1 klar als Funktion der Eltern positioniert: „Pflege und Erziehung sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ (in Wiesner 2006:1-1). Dieses offizielle Recht und die daraus resultierenden Pflichten werden vom Bundesverfassungsgericht „als Eltern-verantwortung bezeichnet“ (BVerfGE 24, 119 145 in: ebd.: 1-1, Hervorh. im Orig.). Diese besteht, bis das Kind die Volljährigkeit erlangt hat (§1626 Abs. 1 BGB, in: Meysen 2012: 21). Eltern sind dafür verantwortlich, das Kind vor Gefährdungen zu schützen und für dessen Wohl zu sorgen (vgl. Wiesner 2006: 1-1). Diese Elternver-antwortung basiert auf einer Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, in der es bedeutungsgleich heißt, dass jemand, der einem Kind das Leben schenkt, auch dazu befähigt ist, Verpflichtungen wie Fürsorglichkeit und Erziehung des Kindes zu gewährleisten (vgl. ebd.: 1-1). Nachfolgend führt das Gericht die Rechte der Eltern auf das Wesentliche zurück, indem es sagt, dass das Wohlergehen des eigenen Kindes den Eltern wichtiger ist als allen anderen Menschen oder Organisationen (vgl. ebd.: 1-1). Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland bestimmt somit die Eltern „als [die] „ natürliche Sachwächter “ des Kindeswohls (vgl. BVerfGE 34,165 (184) in: Schmid/Meysen 2006: 2-2, Hervorh. im Orig.). Das Recht, im Interesse des Kindes zu agieren, ist laut Bundesverfassungsgericht ein fremdnütziges Recht, welches „um das Wohl des Kindes willen“ (Schmid/Meysen 2006: 2-3) existiert. Schmid und Meysen (ebd.) folgen der Auffassung von Langenfeld und Wiesner (2004: 48f. in: vgl. ebd.) „dass das Ziel der Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschafts-fähigen Persönlichkeit (vgl. auch § 1 Abs. 1 SBG VIII) am besten in der elterlichen Geborgenheit, im Rahmen der natürlichen Eltern-Kind-Beziehung erreicht werden kann“. Das Grundgesetz beinhaltet keine speziellen Grundrechte, die nur für Kinder und Jugendliche ausgelegt sind (vgl. Schmid/Meysen 2006: 2-2). Folgt man dem Gedanken von Schmid und Meysen (ebd.), so lässt sich mit entscheidenden Rechten in der Verfassung, der Begriff Kindeswohl genauer präzisieren. Demnach sind Kinder und Jugendliche Grundrechtträger
- „mit eigener Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG),
- mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG),
- mit dem Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG),
- die den Schutz ihres Eigentums und Vermögens genieß[t]en (Art. 14 Abs. 1 GG) (ebd.: 2-2).
Die aufgeführten Grundrechte sind nicht nur relevant im Bezug auf die Rechte, die Kinder und Jugendliche gegenüber dem Staat haben, sondern gelten in der Tat auch gegenüber den Eltern (vgl. ebd.). Daraus lässt sich ableiten, dass die Grundrechte von Kindern und Jugendlichen eine enorme Relevanz für die Begriffserläuterung des Kindewohls besitzen (vgl. ebd.). Wird das Kindeswohl beeinträchtigt, kann das Kind zu Schaden kommen und womöglich seine Individualität dadurch nicht frei entfalten (vgl. ebd.). Nach Schmid und Meysen (ebd.) ist die aus den Grundrechten abgeleitete Begriffsbestimmung des Kindeswohls sowohl ein zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhandener Zustand, als auch der Entwicklungsverlauf zur Individualitätsfindung. Daraus folgt, dass der Begriff Kindeswohl „gleichermaßen Gegenwarts- wie Zukunftsbezug“ (ebd.: 2-3) hat und zwei Zusammenhänge miteinbezieht: „Förderung und Schutz“ (ebd.). Kinder und Jugendliche sind auf eine bestmögliche Förderung sowie den Schutz vor Gefahren angewiesen (Langenfeld/Wiesner 2004: 50f. und 59f. in: Schmid/Meysen 2006: 2-3). Durch die bereits erwähnten Grundrechte eines jungen Menschen einerseits sowie das hieraus hergeleitete Kindeswohl andererseits lässt sich der wesentliche auszufüllende Rahmen des Elternrechts bzw. der Elternverantwortung festlegen und deren Grenzen aufzeigen (ebd.: 2-3).
Eltern sind laut der Gesetzgebung „ die ersten Anwälte für die Interessen und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen “ (Wiesner 2006: 1-1; Hervorh. im Orig.). Wiesner (ebd.: 1-2) erklärt, dass diese maßgebende Feststellung einen Kontrast zur Wirklichkeit darstellt. Einige Eltern gelangen aus den verschiedensten Ursachen an ihre Grenzen und sind dadurch nicht in der Lage, ihre Elternverantwortung dem Kindeswohl entsprechend umzusetzen (vgl. ebd.). Nach Wiesner (ebd.) entsteht dadurch ein erhöhtes Risiko, enormen Schaden oder auch dem Tod zu erleiden. Schindler (2011: 32) erklärt, dass es dem Staat prinzipiell verwehrt ist, in die Erziehung sowie in die soziale und emotionale Beziehung zwischen dem Kind und deren Eltern einzuschreiten. Das Kind ist davon abhängig, dass seine Eltern ihre Pflichten erfüllen und die Erziehung nicht vernachlässigen (vgl. ebd.: 36). Laut Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG wacht darüber die staatliche Gemeinschaft. Träger des sogenannten staatlichen Wächteramtes ist nach dem Grundgesetz der Staat mit seinen Institutionen (vgl. Wiesner 2008: 13). Der Staat ist dazu verpflichtet, darüber zu wachen und einzugreifen, wenn Eltern in der Ausübung des Elternrechts versagen (vgl. ebd.: 11). Wiesner führt auf, dass Eltern mit dem Staat nicht um die jeweils angemessenere Ausführung des Erziehungsauftrags konkurrieren (vgl. ebd.: 9). Die elterliche Erziehungsverantwortung hat Vorrang, der Staat bzw. das staatliche Wächteramt ist dieser untergeordnet (ebd.: 10f.). Wird die elterliche Sorge verletzt oder der Rahmen des Elternrechts überschritten, ist das Staat verpflichtet, einzuschreiten und die Gefährdung oder Schädigung aufzuheben (vgl. Schmid/Meysen 2006: 2-4). Wiesner (2008: 12) erläutert hierzu, dass die Ausübung des staatlichen Wächteramtes nicht dazu berechtigt, bei jedem Scheitern elterlicherseits, die Verantwortung der Eltern zu deaktivieren oder diese eigenhändig zu vollziehen. Dem Grunde nach hat der Staat den Eltern den Vorrang einzuräumen (vgl. ebd.: 12). Anzumerken ist hierbei, dass die Ausübung des staatlichen Wächteramtes „dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung [zu] tragen“ (Schmid/Meysen 2006: 2-4) hat. Der Begriff Verhältnismäßigkeit besagt nach Schmid und Meysen (ebd.), dass die eingesetzten Schutzmaßnahmen für das Kind geeignet, notwendig und in einem adäquaten Zusammenhang zum Elternrecht stehen müssen. Dabei wirkt der Staat unter Zwang zukunftsorientiert in das Elternrecht ein, um weitere kindeswohlgefährdende Umstände abzuwenden (vgl. Jestaedt 1995, Art. 6 Abs. 2 und 3 Rd.-Nr. 164 in: ebd.). Bereits aufgetretene oder eingesetzt habende Schäden am Kind reichen nicht aus; die Schädigung muss bevorstehen (vgl. Schone/Hensen 2011: 20). Umfang und Art des Interaktionsvorgangs sind abhängig von der Intensität des Fehlverhaltens der Eltern und was den Interessen des Kindes am besten dient (vgl. Wiesner 2008: 12). Der Staat ist primär verantwortlich dafür, eine zuverlässige Gestaltung der Elternverantwortung zu erwirken bzw. diese zu regulieren, indem er die Eltern in ihrer Verpflichtung anregt und behilflich ist (vgl. Schmid/Meysen 2006: 2-4). Ferner ist der Staat dazu berechtigt, den Eltern die Erziehungs- und Pflegerechte in dem Fall, dass sich die eingeleiteten Handlungsmaßnahmen zur Gefährdungsabwehr als ungenügend erweisen oder die nahegelegten Hilfeleistungen abgelehnt werden, zeitweise oder dauerhaft zu entziehen (ebd.: 2-4). Unter diesen Umständen ist der Staat unmittelbar dazu verpflichtet, günstigere Lebensumstände für ein natürliches Heranwachsen des Kindes zu ermöglichen (Langenfeld/Wiesner 2004, S. 60ff. in: ebd.: 2-4). Gemäß Art. 6 Abs. 3 GG ist die Trennung des Kindes von seinen Eltern nur zulässig, wenn sie infolge einer rechtmäßigen Grundlage vollzogen wird und ein Scheitern der Eltern zu Grunde liegt oder sich aus anderen Gründen eine Verwahrlosung des Kindes abzeichnet (vgl. Schmid/Meysen 2006: 2-4). Nach Schmid und Meysen (ebd.: 2-4). ist eine schwere gegenwärtige Gefahr für das Wohl des Kindes ausschlaggebend, um das Kind aus seinem familiären Umfeld herauszunehmen. Eine derartige Gefahr besteht, „wenn die körperliche, seelische und geistige Entwicklung des Kindes so weit unter der normalen Entwicklung bleibt“ (ebd.: 2-4), unter diesen Umständen ist eine Herausnahme aus dem häuslichen und familiären Umfeld unvermeidlich, um Schäden im Entwicklungsprozess zu vermeiden (Maunz et al. 2003, Art. 6 Rd.-Nr. 141 in: ebd.: 2-4). Ergänzend muss angemerkt werden, dass „[a]us der […] grundgesetzlichen Verpflichtung zum Schutz des Kindes (…) sich aber noch keine konkreten Befugnisse bzw. Handlungsaufträge für Gerichte oder Behörden zur Gegenabwehr [ergeben]“ (ebd.: 12). Die Verpflichtung des Staates in Art. 6 Abs. 2 Satz und Abs. 3 muss anhand von Gesetzen näher bestimmt werden (vgl. Schmid/Meysen 2006: 2-4). Dies erfolgt durch den Gesetzesgeber vor allem im BGB in Hinsicht auf die Aufgaben der Familiengerichte und im Achten Buch Sozialgesetzbuch – Kinder und Jugendhilfe (SGB VIII) in Hinsicht auf die Aufgabenbereiche der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Wiesner 2008: 12). Durch die am 01.10.2005 in Kraft getretene Ergänzung des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe wurde eine genauere Verfahrensregelung vorgenommen (vgl. ebd.: 12f.). Auf diese wird im weiteren Verlauf der Arbeit genauer eingegangen. Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass das staatliche Wächteramt auch weiteren Trägern und Berufsgruppen zufällt, wie z.B. der Polizei, Schule, Strafjustiz, Gesundheitsamt u.a. (vgl. Meysen 2012: 18).
3 Kindeswohlgefährdung
3.1 Kindeswohlgefährdung nach §1666 Abs. 1 BGB
Der Begriff der Kindeswohlgefährdung ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der nicht genau festgelegt ist (vgl. Schone 2008: 26). Schone und Hensen (2011: 20) heben hervor, dass Kindeswohlgefährdung „ein rechtliches und normatives Konstrukt“ ist, das sich nicht an Gegebenheiten oder Taten beobachten lässt. Dieses Konstrukt beruht darauf, dass objektive Betrachtungen und Einschätzungen der Lebenssituation anhand von Tatbestandsmerkmalen erfasst und Prognosen über eine Weiterentwicklung des Kindes aufgestellt werden (vgl. Schone 2008: 12).
Die gesetzlichen Regelungen sind in §8a SGB VIII und §1666 BGB verankert (vgl. ebd.:26). Die wichtigste Grundlage nach §1666 Abs. 1 BGB beinhaltet folgende gesetzliche Definition:
„Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind“.
Im Juli 2008 ist das Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls (KiWoMaG) in Kraft getreten (vgl. Unger 2008).
Bis vor dieser Gesetzesänderung galten folgende vier Ursachen als Gefährdungsgrundlage „die missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die Vernachlässigung des Kindes, das unverschuldete Elternversagen und das Verhalten eines/einer Dritten“ (Schorn 2011: 9). Diese Gefährdungsursachen „des elterlichen Erziehungsversagens“ (Nahrwold 2011: 150) wurden in §1666 Abs. 1 BGB gestrichen. Als Berechtigungsgrundlage für familiengerichtliche Maßnahmen werden nach der neuen Fassung nur noch zwei Tatbestandsmerkmale vorausgesetzt. Diese sind
- „Gefährdung des Kindeswohl und
- Mangelnde Bereitschaft / Fähigkeit der Eltern zur Gefahrenabwehr“ (ebd.).
Durch diese Gesetzesänderung ist das verschuldete oder unverschuldete Versagen der Eltern für das Tätigwerden des Familiengerichts zum Schutz des Kindes nicht mehr relevant (vgl. ebd.). Das Ziel ist, von schwer nachweisbaren Anschuldigungen des Erziehungsversagens, die in der praktischen Fallarbeit zu Erschwernissen führen abzusehen und dadurch einen schnelleren und effektiveren Schutz von gefährdeten Kindern zu erreichen (vgl. BT-Drs. 16/6815,14 in: Nahrwold 2011: 150). Durch den Wegfall von Vorwürfen „elterlichen Erziehungsversagens“ (Nahrwold 2011: 150) soll die Bereitwilligkeit der Eltern zur Mitarbeit gewonnen werden.
Durch das Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls, wird die Schwelle zur Eingriffsberechtigung in das Recht der Eltern nicht herabgestuft (vgl. BT-Drs. 16/6815,14 in: Nahrwold 2011: 156). Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang weitere Neuregelungen in Bezug auf §1666 BGB (vgl. Schone/Hensen 2011: 16). Zum einem wurden nach §1666 Abs. 3 BGB familiengerichtliche Maßnahmen näher bestimmt:
(3) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere
1. Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,
2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,
3. Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält,
4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen,
5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge,
6. die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge (§1666 Abs. 3 BGB).
Zum anderen ist „im neu formulierten Familienverfahrensgesetz (FamFG) (als Nachfolgegesetz des FGG) ein Vorrang- und Beschleunigungsgebot und eine besondere Rolle der RichterInnen bei der Erörterung der Kindeswohlgefährdung verankert“ (Schone/Hensen 2011: 16):
(2) Das Gericht erörtert in Verfahren nach Absatz 1 die Sache mit den Beteiligten in einem Termin. Der Termin soll spätestens einen Monat nach Beginn des Verfahrens stattfinden. Das Gericht hört in diesem Termin das Jugendamt an. Eine Verlegung des Termins ist nur aus zwingenden Gründen zulässig. Der Verlegungsgrund ist mit dem Verlegungsgesuch glaubhaft zu machen (§155 Abs. 2 FamFG).
Hierbei ist auch der § 157 FamFG zu erwähnen, der ausschließlich einen Termin zur Erörterung im Verfahren von Kindeswohlgefährdung mit allen Beteiligten vorgibt (vgl. Nahrwold 2011: 152):
(1) In Verfahren nach den §§ 1666 und 1666a des Bürgerlichen Gesetzbuchs soll das Gericht mit den Eltern und in geeigneten Fällen auch mit dem Kind erörtern, wie einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls, insbesondere durch öffentliche Hilfen, begegnet werden und welche Folgen die Nichtannahme notwendiger Hilfen haben kann (§157 Abs. 1 FamFG).
Durch die Absenkung von Tatbestandshürden sollen Jugendämter dazu angeregt werden die Familiengerichte eher anzurufen, um die Vielfalt von Unterstützungs-angeboten frühzeitig nutzen zu können (vgl. Nahrwold 2011: 157). Das Gericht ist im familienrechtlichen Verfahren durch das Vorrang- und Beschleunigungsgebot in der Pflicht, unmittelbar nach Verfahrensbeginn „den Erlass einer einstweiligen Anordnung zum Schutz des Kindes zu prüfen“ (ebd.: 152) und binnen eines Monats den Sachverhalt mit den Beteiligten ausführlich zu besprechen. Durch den Verfahrensschritt nach §157 FamFG findet ein sogenannter Erörterungstermin mittels „eines runden Tisches“ (ebd.: 152) statt. Das Familiengericht, die beteiligten Eltern sowie das Jugendamt und nach Möglichkeit auch das Kind bereden bei diesem Termin wie einer „mögliche[n] Kindeswohlgefährdung“ (ebd.) durch öffentliche Hilfen entgegengewirkt werden kann (vgl. ebd.).
[...]
- Quote paper
- Kathrin Braasch (Author), 2020, Handlungsmöglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe bei Kindeswohlgefährdung. Wie das Jugendamt potenzielle Gefährdungen richtig einschätzt, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/511648
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