Die in diesem Band vorgelegten Artikel thematisieren exemplarische Vorgänge (aus den Epochen von Reformation, Aufklärung, Pietismus u.a.), um das kritische Gedächtnis zu stärken und die Instrumentalisierungstendenzen des Präsentismus zu unterlaufen. Zugleich geht es um die gesellschaftsprägende Kraft von Religion.
Seit der geopolitischen Wende im ausgehenden 20. Jahrhundert stehen in Ostmitteleuropa (u.a. Baltische Länder, [Ost-] Preußen) reiche Arbeitsfelder für kirchen- und kulturgeschichtliche Forschungen bereit. "Ehemalige Gegenwarten", Korrelationen in der deutschen Geschichte sind evident, rücken provozierend ins Bewußtsein. "Räume der Vergangenheit", die in Westeuropa vergessen, übersehen oder einfach unbekannt sind, weil sie an der Peripherie liegen, fordern heraus.
Im Fokus stehen die glaubwürdige Auslegung des Evangeliums im Wandel der Zeiten beziehungsweise die Hermeneutik des christlichen Ethos. Historie verstehen impliziert stets ein Sich-selbst-Verstehen. Analysierende und interpretierende Teilnahme an gewesener Wirklichkeit bietet nicht nur die Chance, die Leerstellen des Wissens zu verändern, sondern ermöglicht Resonanzen, die den Augenblick transzendieren.
Inhalt
Vorwort
Prolog: Über den Präsentismus hinaus
„Mutatio est dexterae excelsi“ Burkard Waldis (*um 1490, †1556) in Riga und in Hessen
Kurland im Horizont der Reformation: Resonanz – Korrelation – Interaktion*
Von Kurland nach Hessen
„Unse leve modder unde fruwe“. Charlotte Sophie von Kurland Äbtissin im Freiweltlichen Reichsstift Herford (1688-1728)*
„… gute, frohe und thätige Menschen bilden“ Zur Theologie des Volksaufklärers Gotthard Friedrich Stender (1714-1796)*
Herzog Albrecht von Preußen (1490-1568) als Theologe*
Von Königsberg nach Emden: Was eine Abendmahlskanne „erzählt“*
Im Kontext des Königsberger Jahrhunderts: Eine theologiegeschichtliche Lektüre zu Donelaitis (1714-1780)*
Religionskritik auf der Bühne: Luise Adelgunde Victorie Gottsched (1713-1762)*
Kunst, Religion und kulturelles Gedächtnis im europäischen Horizont: Richard Pfeiffer (1878-1962) und die Fresken in der Kirche von Heydekrug*
Der Calvinismus - „Hebamme“ der Moderne? Anmerkungen zur gesellschaftsprägenden Kraft religiöser Überzeugungen*
„Sakralität“ – Herausforderung der Spätmoderne. Oder: „Heilig ist das Gegenteil von egal“ *
Epilog: Begegnungen in „Königsberg“ 2010*
Vorwort
In diesem Band sind Aufsätze gesammelt, die Menschen, Ereignisse, Fragestellungen und geographische Räume vergangener Zeiten thematisieren. Als Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte beschäftigen sie sich mit Konstellationen, die unwiderruflich vergangen sind, die aber gleichwohl mit uns Gegenwärtigen in Verbindung stehen: „Absenz in Präsenz“ bzw. „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Achim Landwehr). Das historische und theologische Interesse in Recherche, Reflexion und Darstellung richtet sich auf die Begegnung der Zeiten, die Relation zwischen „Einst“ und „Jetzt“. Und zwar in der Hoffnung, dass gegenwärtiges Selbstverständnis sensibel für „geliehene Geschichte“ wird.
Die Aufsätze verdanken sich Gastdozenturen, der Teilnahme an Konferenzen und Diskussionen, in denen es um exemplarische Themen aus dem Horizont Nordostmitteleuropas ging. Für die vorliegende Veröffentlichung wurden die Texte durchgesehen, korrigiert und ergänzt, sofern es angebracht schien. An einigen Stellen sind Abbildungen und Hinweise auf neuere Literatur eingearbeitet worden. Nachweise zur Herkunft der Abbildungen sowie Literaturangaben finden sich in der Regel am Ende eines jeden Artikels. Gegenüber der Erstveröffentlichung wurden damalige Referenzen gestrichen.
Ich widme das Buch den Freunden in Riga, die in anregenden Begegnungen und Gesprächen die Bedeutung der „Pluritemporalität“ für das historische Denken haben erfahren lassen.
Marburg, Herbst 2019 Ulrich Schoenborn
Prolog: Über den Präsentismus hinaus
Über Jahrhunderte gehörte der kulturelle Dialog mit den Regionen des Baltikums, mit (Ost-)Preußen und Königsberg zu den unbestrittenen und anregenden Gegebenheiten der europäischen Geistesgeschichte. Kriege und ihre politischen Folgen haben dazu geführt, dass diese Welt, ihre Geschichte, Kultur, Literatur u.a. nicht nur an die Peripherie gedrängt, sondern vergessen wurden. Das Signifikante dieser Welt konnte nur noch „vom Gedächtnis des liebenden Herzens“ empfunden werden1. Dass politische Systeme anderen Konstellationen weichen müssen, Gesellschaftsformen sich verändern oder Ländergrenzen neu definiert werden, gehört zur Dynamik des Historischen. Man braucht nicht viel Phantasie, um die Auswirkungen derartiger Prozesse auf die Kultur und das Selbstverständnis der Involvierten zu erahnen. Da die individuellen Erinnerungen lebensgeschichtlich begrenzt sind, war es absehbar, wann aktuelle Interessen das kulturelle Gedächtnis überrollt haben würden. Zurück blieben Ruinenfelder bzw. weiße Landkarten des Wissens.
Mit der geopolitischen Wende im ausgehenden 20. Jahrhundert sind die Länder Nordostmitteleuropas jedoch für kirchen- und kulturgeschichtliche Fragestellungen wieder interessant geworden. Kommunikation und Interaktion wurde möglich in einer, verglichen mit der Zeit des Kalten Krieges, Atmosphäre der Gegenseitigkeit. „Räume“ der Vergangenheit, die in Westeuropa vergessen, übersehen oder einfach unbekannt waren, forderten heraus. „Ehemalige Gegenwarten“2 sprachen uns plötzlich an, weckten unsere Neugier. Zugleich entstand die Frage, ob der neuen Lage archäologische Verfahren genügten. Waren wir vorbereitet auf die Interaktion? Haben wir die Brechungen und Diskontinuitäten wahrgenommen, die das Überlieferte begleiteten, als es zu uns gelangte? Waren uns die Mechanismen bewußt, die unsere Wahrnehmung lenkten?
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Verbindendes Element in allen Artikeln ist die Intention, dem bewußten oder unbewußten Präsentismus Widerstand zu leisten. Was ist damit gemeint?
In der Theoriediskussion der Geschichtswissenschaft (wie auch der Theologie) wird mit dem Begriff „Präsentismus“ seit längerer Zeit die Auffassung bezeichnet, dass die Ergebnisse der Historiographie nur subjektiven und relativen Wert haben. Der „gesamte Forschungsprozess (ist) durch die Gegenwart des jeweiligen Forschers bestimmt“3. M.a.W., Geschichte wird bedeutsam nur durch den Gegenwartsbezug. In dieser Engführung wird jedoch übersehen, wie der historische Diskurs Denken, Gestimmtheiten, vermeintliche Plausibilitäten seiner Zeit in die Vergangenheit projiziert. Eine Bemächtigungstendenz erfasst das Gewesene und überformt es mit seiner Deutung. In letzter Konsequenz heißt das, dass „jede wahre Geschichte Geschichte der Gegenwart ist“4. Bzw. dass die Relevanz von Geschichte sich in ihrer gesellschaftlichen und ökonomischen Verwertbarkeit erweist5. Was sich nicht instrumentalisieren läßt, was keine Verwendung findet, was nicht der Vergänglichkeit oder dem Vergessen anheimgefallen ist, könnte höchstens einen Platz in Museen oder Archiven finden. Unter dem Diktat der Geschichtsverwertung ist ein widersprüchliches Interesse am Vergangenen entstanden. Mit derselben Intensität, mit der aus der ökonomisch bestimmten Umwelt ständig Aufforderungen zu Innovation, Modernisierung oder zum Updaten gestellt werden, wird mit selektiver Nostalgie Vergangenes beschworen und vereinnahmt. „Wir sammeln und archivieren, wir konservieren, edieren und klassifizieren eine unabsehbare Flut von Dokumenten aller Art, von Akten bis Zugwaggons. Keine Fassade darf angetastet werden, jedem noch so trivialen Gegenstand wird historische Bedeutung zugesprochen. Unsere Hochkultur ist ein Repetitorium ihrer eigenen Vergangenheit“6.
Auf dem Höhepunkt des Historismus hatte Friedrich Nietzsche seine „Unzeitgemäßen Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“7 entworfen. Gegen die konzeptuelle Beliebigkeit und die archivarische Nekrophilie suchte er dem kritischen Anredecharakter des Historischen Gehör zu verschaffen. Nietzsche ging es in der Begegnung mit dem Historischen immer darum, das Gegenüber in seiner Subjekthaftigkeit zu respektieren8, gelten zu lassen und als Korrektiv epochalen Größenwahns anzuerkennen.
Um eine hermeneutisch reflektierte Einstellung zur Vergangenheit bzw. um die Entfaltung der anamnetischen Vernunft geht es auch Paul Ricoeur. Sachgemäßer Umgang mit bzw. Verstehen von Geschichte impliziert immer das Sich-selbst-Verstehen. Das Kriterium in dieser Verschränkung heißt „Teilhabe“9. M.a.W., es ist der Weg, der von der Beschäftigung mit dem „Geschehenen“ (Exegese der Narrative, die das Gewesene vermitteln) in den Modus des „Geschehenden“ (Neuschreibung von Wirklichkeit wird Ereignis) überleitet: „Partizipation und Repräsentation“10. Ricoeur sieht die Dialektik von „Geschehenem“ und „Geschehendem“ in Gefahr durch eine bestimmte Form der Erinnerungskultur (Pflicht zum Gedenken), in der in Wahrheit Verdrängung und gelenkte Identitätskonstitution zur Herrschaft gelangt sind. Geschichte wird um ihr zukunftseröffnendes Potential gebracht. Gegen dersrtige Willkür legt er Widerspruch ein: „Die Geschichte ist kein Friedhof“11 und ermutigt dazu, das Unabgeschlossene, Offene und nicht selten Unterdrückte aufzudecken. Spätere stehen nicht nur jenseits der historischen Prozesse und können die Ergebnisse sehen, die den historischen Akteuren noch unbekannt waren. Sie können, ohne die Akteure von einst zu idealisieren oder sie moralisch zu verwerfen, „Spuren“ aus der Überlieferung aufgreifen und sich in einen Deutungshorizont „nach vorne“ bewegen12. Die „Fragmente zerbrochener Hoffnungen […] vertaner und verspielter Chancen“ (Henning Luther) im historischen Geschehen weisen über sich hinaus. Vor allem weist das Fragmentarische im historischen Geschehen über sich hinaus. Wer in die Spannung von lebensweltlicher Begrenzung und eschatologischer Sehnsucht gerät, der entdeckt für sich die Historie als unbegrenzte „Ermöglichung von Möglichkeit“ (Georg Picht). Auf diesem Weg wird das Vermächtnis der Früheren vor dem Vergessen bewahrt. Kritische Erinnerung der Gegenwärtigen verleiht den Vergangenen eine Stimme und pflanzt in die Lebenswelt durch die „Gegenwart des Abwesenden“13 humanisierende Weite.
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In die Diskussion um den angemessenen Umgang mit dem Vergangenen hat sich jüngst Achim Landwehr 14 eingeschaltet und das hermeneutische Vorgehen in der Geschichtsforschung kritisch reflektiert. Landwehr wirft dem Präsentismus vor, dass er naiv einer linearen Chronologie folge und die Vergangenheit zur Projektionsfläche gegenwärtiger Interessen degradiere. Wo „Geschichte“ als Sinnlieferant verstanden, zur Gegenwartsvergewisserung oder zur Konstitution kollektiver Identitäten verbraucht wird, dominiere ein „zeitlicher Manichäismus“ (S. 195), hinter dem in Wahrheit Geschichtsverachtung steckt. An die Stelle des linearen Zeitmodells mit dem Kollektivsingular „die Geschichte“ als absoluter Größe bringt Landwehr „das Historische“, verstanden als ein Geflecht von Relationen der Zeiten (S. 28; 52; 253; vgl. S. 118ff) ins Spiel15. Es kommt darauf an, „wie“ wir Vergangenheit haben bzw. „wie“ wir zu dem, was nicht mehr ist, in Beziehung treten. Historische Kritik basiert auf der Erkenntnis von „Pluritemporalität“ (S. 258) und „Chronoferenzen“ (S. 149ff), rechnet also mit der „Gegenwärtigkeit der Zeiten“ bzw. einer „Verschiedenheit der Verzeitungen“ (S. 290). Geschichtsschreibung kümmert sich nicht nur um das Faktische, sondern geht auch dem Möglichen nach. Sie will zeigen, „dass es auch immer anders gewesen wäre und damit immer noch anders möglich ist“ (S. 236; vgl. S. 231ff). Wie lassen sich aber „vergangene Möglichkeiten“ entdecken? – Landwehr entwickelt ein kategoriales Raster, das die Sensibilität für die „Vielzahl parallel existierender Wirklichkeiten in der Vergangenheit“ (S. 242) schärft. M.a.W., historische Kritik zeichnet sich dadurch aus, dass sie Respekt vor dem Eigenwert des Vergangenen praktiziert und das Denken in Relationen einübt (vgl. S. 143; 248ff). Die Arbeit am „historischen Thema“ o.ä. gilt darum den Bezügen zwischen anwesenden und abwesenden Zeiten bzw. dem „Potential dessen […], was anders wäre“ (S. 259; vgl. S. 150). Demnach besteht eine entscheidende Aufgabe des Historikers in der Wahrnehmung der chronoreferentiellen Verstrickungen der Zeiten16. Ausgestattet mit „Möglichkeitssinn“ (S. 237; vgl. 209ff) erschließt seine Beschreibung „Möglichkeitsräume“, präsentiert sich also nicht nur „konstatativ“. Einsicht in die „anwesende Abwesenheit“ von Vergangenheit und Zukunft gewährt nicht nur Sach-Kenntnis, sondern führt auch zur Übernahme von Verantwortung im Zeitraum „Gegenwart“ (vgl. S. 263ff).
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Die Skizze der hermeneutischen Problematik in der historischen Kritik liefert kein rezeptähnliches Anwendungswissen. Doch macht historische Kritik „sachkundig“ und „immunisiert“ gegen Schwärmerei und Fundamentalismus. „Vertrautheit mit historischen Problemen nährt eine heilsame Skepsis gegenüber den flotten Heilsversprechen und der flinken Erklärung aller Welträtsel“17. Darüber hinaus motiviert historisch geschultes Urteilsvermögen zu realitätsnaher Zeitgenossenschaft, bei der Menschenwürde, Gerechtigkeit und Freiheit nicht zu Worthülsen der Beliebigkeit verkommen.
Wie steht es nun um die theologische Dimension in den hier vorgelegten Artikeln? Explizit und implizit geht es immer um die Präsenz des Evangeliums in bestimmten temporalen und geographischen Horizonten. Das Theologische kommt darin zur Sprache, wie Menschen die vermeintliche Abgeschlossenheit ihrer Existenz transzendieren und Möglichkeitsräume im Rückgriff auf das Evangelium entdecken. Aus der Vielzahl historischer und geographischer Kontexte werden exemplarische Vorgänge (u.a. Reformationszeit, Epoche der Aufklärung und des Pietismus, frühes 20. Jahrhundert) aufgenommen. Auslegung des Evangeliums bedeutet nicht nur Wissenstransfer von West nach Ost bzw. von den intellektuellen oder institutionalisierten Zentren an die gemeindliche oder individuelle Peripherie. Auf dem Spiel steht die Glaubwürdigkeit der Nachfolge Jesu Christi in der jeweiligen Welt und das Grundvertrauen in den Gott, „der da lebendig macht die Toten und ruft dem, was nicht ist, dass es sei“ (Römer 4,17). In je eigener Weise lassen sich bei den hier vorgestellten historischen Akteuren (und in ihren Lebenszusammenhängen) Resonanzen des Himmels wahrnehmen. Das Auftreten dieser Akteure läßt das erkennen, was Dietrich Bonhoeffer in der Zeit des Kirchenkampfes den Christen in Deutschland als Weckruf zugemutet hat. Es geht in dem Weckruf, einem Plädoyer für die „Treue zur Erde“, um Zweierlei: den Status als „Gast“ auf der als „Lehen“ anvertrauten Erde zu erkennen. Und das Wissen um den transitorischen Status der Existenz weder in Weltflucht noch in Weltverachtung zu überführen, vielmehr der „Erde“ im Bewußtsein der empfangenen Güte verantwortlich18 verbunden zu bleiben.
„Mutatio est dexterae excelsi“ Burkard Waldis (*um 1490, †1556) in Riga und in Hessen
In dem nordhessischen Ort Abterode (heute: Werra-Meissner-Kreis) wurde am 13. September 1544 Burcardus Waldis, wie er sich selbst auf den Titelblättern seiner Dichtungen vorgestellt hat, als Propst und Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde eingeführt1. Bis zu diesem Datum hatte Waldis einen bewegten und wechselvollen Lebensweg durchschritten. Seine Person verbindet in bemerkenswerter Weise Hessen und Livland, genauer Riga. Wer sich mit der livländischen Reformationsgeschichte beschäftigt, wird auf ihn als einen aktiven Protestanten der ersten Phase stoßen. So überraschend diese Entdeckung sein mag, so ernüchternd ist die Quellenlage, die viele Fragen unbeantwortet läßt2. Auch erstaunt, dass neuere Forschungsliteratur zu Leben und Werk fehlt, obwohl Burkard Waldis zu den bedeutendsten Dichtern deutscher Sprache des 16. Jahrhunderts gezählt wird3. Diese Ausgangslage rechtfertigt den Versuch, text- und autorbezogene Perspektive miteinander zu verschränken.
1. Burkard Waldis wurde zwischen 1490 und 1496 in Allendorf an der Werra (heute: Bad Sooden-Allendorf; s. Abb. 1) geboren, wo die angesehene Familie der Waldis seit dem frühen 12. Jahrhundert urkundlich nachweisbar ist. Der Name „Waldis“ (oder Waldes) muß als Hinweis auf seine Herkunft verstanden werden und verweist auf einen Nachbarort am Fluß Werra, der einst „Waldesa“ hieß und dann „Wahlhausen“. Die Waldis gehörten zu den Familien, die an der Salzgewinnung und am Salzhandel beteiligt waren. Sie waren „Pfänner“ (d.h., Besitzer von Salzpfannen). Mitglieder der Familie saßen im Rat der Stadt, waren wiederholt Bürgermeister und trugen Verantwortung im Gemeinwesen. Von Beruf waren sie u.a. Zinngießer. Auf Bernhard Waldis, einen der vier Brüder, geht eine Armenstiftung zurück (1564), mit der er eine ältere „Stiftung seiner Eltern und Vorgesippten“ aufbessern wollte. Diese Einrichtung existiert bis in die heutige Zeit.
Über den Anfängen seines Lebens liegt Dunkel, weil alle Kirchenbücher, Urkunden u.a. bei der Zerstörung der Stadt Allendorf 1637 vernichtet wurden. In den historischen Quellen taucht Burkard Waldis erst 1522 auf und zwar in Riga, wo er als Angehöriger des Franziskanerordens im Dienst des aus Westfalen stammenden Erzbischofs Jasper von Linden steht. - War Waldis für den geistlichen Stand bestimmt worden? Oder hatte er zuvor einen säkularen Beruf erlernt? Evtl. in der väterlichen Werkstatt? Und war er vielleicht als wandernder Geselle nach Riga gekommen und erst dort in den Orden eingetreten? Was hat Burkard Waldis bewogen, in den Franziskanerorden einzutreten bzw. nach Livland zu gehen?
2. Vielleicht wird das Dunkel über seiner Biographie ein wenig gelichtet, wenn historische Daten über Auftreten und Profil des Franziskanerordens in Preußen und in Livland4 zusammengetragen werden. Dieser Versuch muß gewagt werden, auch wenn die Aussichten aufgrund der Quellenlage und erhaltenen Überlieferungen gering sind.
2.1 Die christlichen Missionsbestrebungen in dem genannten Gebiet reichen ins 11. Jahrhundert zurück5. Aber erst das Wirken des Ordens der Schwertbrüder und der Deutschordensritter hat die Voraussetzungen geschaffen, dass eine Infrastruktur für die Missionsarbeit vorhanden war. Feste Plätze wurden angelegt, städtische Anlagen wurden gebaut, in denen auch Klöster gegründet werden konnten. Nicht immer hat das Vorgehen der Ordensritter Zustimmung gefunden, weil die Ausbreitung des Christentums mit Gewaltanwendung verbunden war. Obwohl im Denkhorizont des Mittelalters der Kampf gegen das Heidentum als eine gerechte und von Gott gebotene Sache angesehen wurde, fehlte es nicht an Kritik in den eigenen Reihen. So schrieb der franziskanische Theologe Roger Bacon: „Der Glaube kam in die Welt nicht durch Waffen, sondern durch schlichtes Predigen“6.
In Livland wurde 1202/ 04 der sog. Orden der Schwertbrüder gegründet, der wesentlich an Unterwerfung und Bekehrung der einheimischen Bevölkerung (Liven) beteiligt war. Nach einer verheerenden Niederlage 1236 bei Schaulen/ lit. Šiauliai hatten sich die übriggebliebenen Ritter mit dem Deutschen Orden vereinigt. Von da an war er die tragende Macht in dem neuen Staatsgebilde. Gleichzeitig beanspruchte auch der Erzbischof von Riga die geistliche und weltliche Herrschaft. So entstand ein Dauerkonflikt um Besitz und Jurisdiktion, der sich durch die Geschichte Alt-Livlands zog. Es versteht sich von selbst, dass der Orden keine untergeordnete Stellung einnehmen wollte, zumal sich die realen Machtmittel in seiner Hand befanden. Als sich aber herausstellte, dass die Ordensritter ihre Prioritäten in die Politik verlegt hatten und der ursprünglichen Aufgabe, Missionierung, nicht nachkamen, war der Boden für neue Kräfte vorbereitet. „In den mittleren Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts erlebte der Ostseeraum eine rasche Expansion der Bettelorden“7, die auf der Grundlage der Kreuzzugs- und Missionspolitik des lateinischen Europa agierten.
In vorderster Linie standen neben den Dominikanern vor allem die Franziskaner. Noch zu Lebzeiten ihres Ordensgründers (1181/ 82-1226) waren nördlich der Alpen Niederlassungen gegründet worden. 1223 entstanden in Hildesheim, Braunschweig, Halberstadt, Goslar, Magdeburg und an verschiedenen Orten in Thüringen Konvente (Erfurt, Eisenach, Gotha, Mühlhausen, Nordhausen), von wo der Orden sich nach Osten hin ausbreitete. Begünstigt wurden diese Anfänge durch die Faszination, die von Auftreten, Kleidung, Verhalten und Botschaft der “fratres minores“, „Barfüsser“ oder „Grauen Brüder“, wie man die Angehörigen der neuen Gemeinschaft nannte, ausging. M.a.W., die Spiritualität der Fransziskaner antwortete auf Zeitstimmung und Forderungen der Menschen nach Reformen8.
Um 1239 traten die ersten Franziskaner in Preußen auf und wirkten unter dem Schutz des Deutschen Ordens. Organisatorisch standen die Fratres im Nordosten in enger Verbindung mit den Konventen im Westen des Reiches. Der geographische Raum der Provinz reichte von Kiel im Norden über Riga im Nordosten bis Eger im Süden und Bremen im Westen. Das Patronat „S.Crucis“ trug die sächsische Provinz, der zweite strukturelle Zusammenschluß neben der Rheinischen Provinz des Ordens. Die Zugehörigkeit zur Provinz Böhmen und Polen war nur vorübergehend. 1239 wurde das Kloster in Thorn eingerichtet. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte kamen Klostergründungen in Kulm, Neuenburg (Kreis Schwetz), Braunsberg, Wehlau, Wartenberg, Danzig u.a. dazu. „Im Anfang des 14. Jahrhunderts gehören sämtliche preußischen Minoritenkonvente zur Sächsischen Provinz“9. Um die Mitte des Jahrhunderts war die Provinz in 12 Kustodien eingeteilt und zählte 95 Konvente. Preußen war die zwölfte Kustodie.
Zwischen Ritterorden und Franziskanern (wie auch den anderen Bettelorden) herrschte gutes Einvernehmen. Das lag einmal an dem gemeinsamen Herkommen: Deutschland. Zum anderen kam dem geistlichen Orden das Armutsprinzip zugute. Denn der Deutschen Ritterorden war bestrebt, möglichst wenig Grundbesitz in die Verfügung der Klöster gelangen zu lassen. Darum wurden die besitzenden Orden (Praemonstratenser, Benediktiner u.a.) weniger berücksichtigt, dagegen die Bettelorden, vor allem die Franziskaner, favorisiert, die in Seelsorge und Predigt ihre Hauptaufgaben sahen. Folglich haben sie das äußere Erscheinungsbild der Mission im Baltikum geprägt. Die Akzeptanz in der Bevölkerung resultierte nicht zuletzt aus der franziskanischen Opposition gegen Verbürgerlichung, Klerikalisierung und Anpassung an weltliche Strukturen. Auch dadurch wuchs die Reputation der Franziskaner, dass sie sich um die regionalen Sprachen bemühten und Gegenden aufsuchten, die von den Rittern gemieden wurden.
Nach Riga kamen die ersten Franziskaner aus Lübeck im Jahre 1238. Ihnen wurden durch den Rat der Stadt alle Wege zur Klostergründung (1258) geebnet10. 1348 fielen fast drei Viertel der Brüder der Pest zum Opfer. Schwerwiegender war jedoch, dass der Orden vom Zeitgeist eingeholt wurde. „Die Anpassung an die allgemeine spätmittelalterliche Realität des Ordenslebens wurde buchstäblich auf Kosten des Ordensprofils erkauft“11. Der Konvent in Riga machte in der Folgezeit eher durch den Verfall der Ordensdisziplin und Auseinandersetzungen mit der Stadt von sich reden. Missionarische Impulse gingen kaum von ihm aus. Anlaß zu Klagen gab das Zusammenleben der Fratres und wirtschaftliche Mißstände. Der Guardian hatte Besitztümer des Ordens veruntreut, Schulden gemacht und willkürliches Verhalten an den Tag gelegt. Diese Umstände stießen auf Widerstand in den eigenen Reihen und weckten Veränderungswünsche. Unter Heinrich Holst, Frater im St. Katharinenkonvent von Riga wurden seit 1436 Reformen konzipiert. Holst schloß sich dabei der Ordenspolitik des Provinzials der sächsischen Provinz, Matthias Döring, an. U.a. wurde der Konvent gegenüber dem Vorsteher gestärkt und ein strenges Kontrollsystem im Wirtschaftsbereich eingeführt. Außerdem wurde die Verwaltung des Klostergutes dem direkten Zugriff der Brüder entzogen. Auch förderte der Provinzial die Erneuerung durch personelle Auswechslung. Umstrittene Fratres wurden versetzt und untadelige Brüder aus anderen Kustodien nach Riga gesandt12.
Um die Mitte des 15. Jahrhunderts drang vom Westen her eine ordensinterne Reformbewegung vor, die sog. „Observanz“. Aber auch nachdem die internen Kontroversen „beigelegt“ waren, blieben das franziskanische Selbstverständnis und die Auslegung der Tradition umstritten. Es ging darum, die „conventualitas“ zur „regularis observantia“ zurückzuführen. Die gegensätzlichen Meinungen konzentrierten sich in zwei Lagern. „Der wesentliche Unterschied zwischen Observanten und Konventualen im Minoritenorden lag [...] in der Stellung zur Ordensarmut: die Observanten hielten fest an der Eigentumslosigkeit in communi und verzichteten auf feste Einkünfte und liegende Güter, während die Konventualen gemeinsamen Besitz, Renten und Liegenschaften zuließen“13. Die kirchenpolitischen Aktivitäten und Interessensverschiebungen im Orden hatten zu einer „geistlichen Verwahrlosung“ beigetragen und indirekt auch das Anwachsen von antiklerikalem Unmut gefördert. Gegen diese Entwicklung wandte sich die Reformbewegung innerhalb des Ordens, die sog. Observanz. Sie suchte durch Rückgang auf das Armutsideal das Ordensprofil neu zu definieren. Ausgehend von Klöstern in Italien und Frankreich hat sich die Bewegung auch in den Ordensprovinzen jenseits der Alpen ausgebreitet. Mit der Einführung ihrer Interpretation der Ordensregel im Brandenburger Franziskanerkloster 1427/28 hatte die Observanz in der Saxonia einen ersten Erfolg. Ein Kerngebiet der Observanz innerhalb der Saxonia wurde die Custodie Thüringen, mit Erfurt als Zentrum theologischer Ausbildung. Dort kam es dann auch zu Zusammenstößen zwischen den „Observanten“ und den sog. „Konventualen“, die um ihre örtlichen/ regionalen Privilegien fürchteten. Der Provinzial M.Döring reagierte auf die ordensinternen Herausforderungen, indem er ein eigenes Reformmodell „sub ministris“ zu realisieren versuchte, in dem Armut und Gehorsam im Einklang stehen sollten. Dieses Reformmodell „von oben“, dann als „Constitutiones Martianae“ formalisiert, existierte bis zur organisatorischen Spaltung des Ordens neben dem radikalen Ansatz.
Die franziskanische Ordensprovinz Saxonia befand sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts in einer komplizierten und verfahrenen Situation. Richtungsgegensätze, interne Kontroversen und äußere Einflussnahmen kennzeichneten die Erscheinung des Ordens. Dem Wirken der Observanten ist es allerdings zu verdanken, dass die Glaubwürdigkeit des Franziskaner-Ordens nicht völlig destruiert wurde und die Klagen zurückgingen. 1463 übernahmen die Observanten im Rigaer Konvent die Führung. Seit dem Ausgang des 14. Jahrhunderts wurden verstärkt Schulen eingerichtet. Auch wurde angeordnet, dass den Gemeinden in der Volkssprache zu predigen sei bzw. die Hilfe von Dolmetschern in Anspruch genommen werden solle. Es ist keine Frage, dass die Sympathie der Bevölkerung sich den Observanten zuneigte und deren Aktivitäten gefördert wurden.
In Livland sind dem Wirken der Observanten die Verbreitung des erneuerten Armutideals und die Gründung von Klöstern in Dorpat/ est. Tartu, Fellin/ est. Viljandi, Lemsal/ let. Limbaži, Hasenpoth/ let. Hizpute, Kokenhusen/ let. Koknese u.a. zu verdanken. Zusammen mit dem Kloster in Riga bildeten sie die „Custodia Livoniae“. Als der Deutsche Orden jedoch politische Relevanz und militärische Macht verlor, schwand auch das Gewicht der Franziskaner-Observanten. Weitere Gründe für den Bedeutungsverlust sind einmal die Anlehnung an die (zweite) politische Macht, den Erzbischof von Riga, bzw. die Verdrängung der Ordensideale. Vor allem aber begannen sich Ideale und Zielvorstellungen in der Gesellschaft zu verändern. In dem Maße, wie die Städter an Selbstbewußtsein gewannen, lehnten sie religiöse Sondergemeinschaften ab. Sie erwarteten „Kleriker als Bürger“ (Bernd Moeller). Dass der Aktionsradius des Ordens schließlich durch das Vordringen der Reformation eingeengt wurde, war eine zwangsläufige Folge.
2.2 In vorreformatorischer Zeit hat es einzelne Minoriten gegeben, deren Auftreten im historischen Gedächtnis festgehalten wurde. Sie geben, auch wenn ihr Beispiel nicht generalisiert werden darf, Einblick in die von Umbrüchen, Ambivalenzen und hochgespannten Erwartungen geprägte Zeit.
Um 1500 starb in einem Eisenacher Kloster der Franziskaner Johann von Hilten 14 nach fast 25 Jahren Haft (1477-1500). Vor seinem Tode bat er die Brüder um Verzeihung für seine Taten, sofern diese Ärgernis verursacht hatten; seine theologisch-eschatologischen Diskurse wollte er jedoch nicht widerrufen. Bevor er inhaftiert wurde, hatte er sich in Riga (seit 1463) und vor allem in Reval bzw. Dorpat aufgehalten. Hilten soll in Thüringen geboren sein. Der Sprache nach stammte er jedoch aus dem Niederdeutschen15. Er hatte in Erfurt studiert und den philosophischen Magister erworben. Allerdings sucht man seinen Namen in den Universitätsmatrikeln vergeblich. In den Franziskanerorden muß er vor 1462 eingetreten sein. Denn im August jenes Jahres kam in Celle das Provinzialkapitel der sächsischen Observanten zusammen und bestellte eine Delegation für Livland. Durch den Vikar der sächsischen Provinz, Henning Sele, sind mehrere Brüder entsandt worden, um Reformen in den Klöstern durchzusetzen. Denn Klagen über den Zustand der Klöster waren seit langem aktenkundig. Der Gruppe gehörte auch Johann von Hilten an16. Er wird den Auftrag erhalten haben, im Geist der Observantenbewegung in Reval zu predigen und für den Neubau von Franziskaner-Klöstern zu werben.
Während seines Aufenthaltes in Reval hat Hilten aufgrund seiner rhetorischen Talente schnell eine Anhängerschar um sich gesammelt, die ihm blind ergeben war. Auch hatte er exzellente Verbindungen zu einflußreichen Mitgliedern im Rat der Stadt geknüpft und wahrscheinlich auch zum Deutschen Orden. Die Zeitumstände (Pest, Endzeitstimmung, Ängste, Konflikte zwischen den politischen Lagern u.a.) ließen ihn zu einem „Bußprediger mit reformatorischen Tendenzen“17 und asketischen Forderungen werden. Die biblischen Wurzeln seiner Predigt lagen in den apokalyptischen Schriften (Daniel, Offenbarung des Johannes), die er für seine Zeit aktualisierte. Sein Drang nach Macht und Einfluß brachte ihn vor allem mit den führenden Schichten der Stadt zusammen. Hiltens Eintreten für eine Reform der Kirche fand viel Zustimmung. Dass seine auf den apokalyptischen Schriften der Bibel beruhende Predigt auch indirekte Kritik am kirchlichen System implizierte, wird erst bei gründlichem Nachdenken erkannt worden sein. Ein Revolutionär war Hilten aber nicht. Sein Wirken in Reval hat jedoch zu Polarisationen geführt. So war er in einen Prozeß verwickelt, in dem einige seiner Anhänger und deren Gegner lange Jahre um die Besitzrechte an zwei Immobilien stritten18. Als er sich nicht mehr in Reval halten konnte, weil er die Unterstützung im Rat und beim Deutschen Orden verloren19 hatte, ist er nach Dorpat ausgewichen und hat im dortigen Kloster für gewisse Zeit eine Rolle gespielt (1472 Lektor)20. Seine theologisch-eschatologische Radikalität (Prophezeiungen, visionäre Schwärmereien, Schilderungen des Jüngsten Tages u.a.)21 und sein Eifer für die Ordensregel haben dann die Ordensoberen bewogen, ihn aus Livland abzuziehen und in „geistliche Haft“ zu setzen. Immerhin ist sein Beispiel so bekannt geworden, dass Luther22 es für wichtig hielt, über ihn Erkundigungen einzuziehen. - Johann von Hilten ist ein typisches Beispiel für den geistigen Umbruch um 1500. Er vertritt eine apokalyptische Perspektive, die im Mittelalter in vielen religiösen Gemeinschaften Anhänger gefunden hatte.
2.3 Nicht nur in der Observantenbewegung haben sich die Franziskaner engagiert. Im 15. Jahrhundert müssen sie sich zu einer Stütze der geistlichen Macht in Livland entwickelt haben. Damit verbunden war ohne Zweifel ein Zuwachs an Wohlstand und Macht. Es wundert also nicht, dass Teile des Ordens mit den Bischöfen die Ablehnung reformatorischer Veränderungen betrieben. Sie stellten ihre Agitation in den Dienst des Statusquo. So hat der Franziskaner Thomas Rehberg im Einverständnis mit dem Erzbischof von Riga die Bannbulle gegen Luther öffentlich bekannt gemacht, kaum dass der Beschluß dazu 1523 auf dem Prälatentag zu Ronneburg/ let. Rauna gefaßt worden war. Diese Einmischung in das politische Tagesgeschehen kostete den Orden viel Sympathie in der Bevölkerung. Im Zusammenhang mit gewalttätigen Übergriffen auf die Klöster (u.a. 1523 in Hasenpoth/ let. Aizpute) und Mönche wurde der Rigaer Konvent 1524 vom Rat der Stadt geschlossen, und die Franziskaner wurden ausgewiesen.
Als der Sturm gegen die Franziskaner in Riga ausbrach, hat Thomas Rehberg den Orden verlassen23. Ob durch Versprechungen verleitet oder aufgrund von aggressivem Druck, kann nicht eindeutig geklärt werden. Er widerrief alles, was er bisher gegen den reformatorischen Aufbruch und Luther gesagt hatte. Auch trat er als Prediger des Evangeliums auf. Sein Fall erregte beträchtlichen Ärger und Aufsehen und führte bei den Franziskanern zu Verhärtungen. Da er aber seine alten Gewohnheiten und Denkweisen nicht so einfach hat ablegen können, schickte ihn die Bürgerschaft über Lübeck auf die Universität Wittenberg zu einem Ergänzungs-Studium (um „die evangelische Sache zu hören und zu erlernen“). Am 11. August 1523 wurde er immatrikuliert und sogleich in das Studentenleben eingeführt. Doch kam der „weltfremd gewordene alte Mann“ mit der neuen Umgebung nicht zurecht und brach nach einem Monat das Experiment ab24. Auf dem Rückweg in die livländische Heimat kehrte er im Franziskanerkloster zu Lüneburg zur katholischen Kirche zurück.
2.4 Aus diesen historischen Streiflichtern lassen sich keine Schlußfolgerungen für die Biographie von Burkard Waldis ableiten. Allerdings ist es statthaft, Vermutungen zu äußern. So kann nicht bezweifelt werden, dass die Kunde von der franziskanischen Observantenbewegung im hessischen Umfeld des Burkard Waldis nicht verborgen geblieben ist. Das Gebiet der Saxonia S. Crucis und ihr Einfluss reichten weit über das Gebiet des heutigen Thüringen hinaus. Und vom westlichen Teil der Saxonia hat es immer eine Marschrichtung gen Osten gegeben. Möglicherweise hat das Beispiel Johann von Hiltens die Runde gemacht. Und dass Waldis über besondere intellektuelle (rhetorische und literarische) Talente verfügte, konnte er bald unter Beweis stellen. Sprachkompetenz sowie historische und theologische Kenntnisse lassen erkennen, dass Waldis eine gelehrte Ausbildung genossen bzw. eine hohe Schule besucht haben muß (vgl. Esopus IV, 23). Immerhin gab es seit dem 14. Jahrhundert in Allendorf in Verbindung mit der Pfarrkirche St. Crucis eine Lateinschule. Vielleicht hat er das Bildungszentrum der Franziskaner in Thüringen, Erfurt, besucht. Allerdings stand die Universität Erfurt der Observanz eher kritisch gegenüber, der wiederum Reserven gegenüber dem klassischen scholastischen Studienbetrieb nachgesagt wurden. - Hingewiesen sei noch auf ein anderes Detail. Denkbar ist auch eine Verbindung nach Eisenach. Dort besaßen die Franziskaner mehrere Niederlassungen. Zwischen Allendorf und Eisenach gab es insofern Beziehungen, als Landgraf Ludwig von Hessen dem franziskanischen Katharinenkloster in Eisenach die St. Cruciskirche von Allendorf als Allod geschenkt hatte.
Das nahe gelegene Reichenbach (heute: Stadt-Teil von Hessisch-Lichtenau) wurde 1207 aufgrund einer Schenkung eine der ersten Niederlassungen des Deutschen Ordens im Deutschen Reich. Die Präsenz des Ordens in der Region wurde von Thüringen aus unterstützt. Als Ordensniederlassung verlor Reichenbach nach einem Jahrhundert seinen Rang an Marburg als Sitz der Landkomturei25. Der Deutsche Orden hatte in Allendorf umfangreiche Besitztümer. Daher waren Waldis „die Brüder des Deutschen Hauses Marburg sicher von Jugend an vertraut, wenn sie in der Stadt erschienen, um vor Ort ihre Angelegenheiten bezüglich des dortigen Ordensbesitzes zu regeln“26.
Erwähnenswert sind auch die nachweisbaren Verbindungen zwischen Allendorf und Riga. Anfang des 16. Jahrhunderts besaß ein Allendorfer Bürger in Riga ein Haus. Er ist auch in die Würde des Bürgermeisters aufgestiegen. Im Dom wurde zu seinem Gedächtnis eine Plakette angebracht. Ferner hat ein in Riga ansässiger Mann aus Allendorf bis weit in das 16. Jahrhundert eine Pension für seine Tätigkeit als Salzsieder bezogen.
3. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts befand sich Alt-Livland in gärender Aufbruch- und Umbruchstimmung, die sich über vielerlei Stationen vorbereitet hatte. Spannungen zwischen dem Erzbischof und dem Deutschen Orden bestimmten jetzt die Tagesordnung. Dazu traten die Emanzipationsbestrebungen der Städte. Gedanken der Reformation hatten sich auch in Livland ausgebreitet und vor allem in den Städten Zustimmung gefunden. 1522 hatte Andreas Knopken mit seinen 24 Thesen einen markanten Anfang gesetzt. Im selben Jahr schrieb der Stadtsyndikus von Riga, Johannes Lohmüller, an Luther, Livland sei eine „candidata verbi fidei“ und bat um geistliche Unterstützung. Luther antwortete 1523 mit seinem Sendbrief an die Christen in Riga, Reval und Dorpat (WA XII, 143-150) und ließ im Jahr darauf eine Auslegung des 127. Psalms folgen (WA XV, 360-379). Die Anhänger der Reformation wollten Kirche und Gesellschaft mit Hilfe der evangelischen Lehre verändern. Ein Vorhaben, das den entschiedenen Widerstand der Vertreter des alten Systems provozierte. Es kam zu Unruhen und Aufruhr. Im Frühjahr 1523 schickte der Erzbischof von Riga drei Franziskanermönche, Antonius Bomhover (Bruder des 1518 verstorbenen Bischofs von Dorpat), Augustin Ulfelt und Burkard Waldis, nach Deutschland und Italien, um dort Unterstützung bei Kaiser und Papst zu erwirken27. Die Gesandtschaft erhielt vom kaiserlichen Stellvertreter in Deutschland, Markgraf Philipp von Baden, insofern Schützenhilfe, als er die Wiederherstellung der überkommenen Strukturen im Erzstift Riga anordnete und bei Nichtbefolgung der Stadt mit der Reichsacht drohte. Auch sollte der Bann gegen Luther öffentlich vollzogen werden. Dies meldeten die Boten umgehend nach Riga und zogen nach Rom weiter28, wo sie bis Ostern 1524 blieben. Über das, was Waldis dort erlebt hat (vgl. Esopus IV 1), läßt sich nur spekulieren. Denkbar ist aber, dass ihn in der Heiligen Stadt Zweifel am Sinn seines Tuns und seiner Glaubensüberzeugung überfallen haben. Auf dem Rückweg sprachen die Franziskaner noch auf dem Reichstag zu Nürnberg vor und baten um Hilfe bei den Glaubenskontroversen. Insgesamt war die Gesandtschaft wohl ein Fehlschlag, es gab kein autoritatives Mandat. Weder Papst Clemens VII. noch Kaiser Karl V. wollten sich im Norden Europas einmischen, denn angesichts der Türkengefahr rückten interne Auseinandersetzungen im Reich auf den zweiten Platz. So beschränkten sich die Anweisungen des päpstlichen Gesandten in Nürnberg, Kardinal Lorenzo Campeggi, auf verbales Strohfeuer. Unterdessen war das Schreiben der Franziskaner nach Riga abgefangen worden und hatte große Empörung beim Rat und in der Bürgerschaft ausgelöst29. Es kam zu Angriffen auf den Franziskanerkonvent und Aktionen von Bilderstürmern. Jedenfalls wurden Bomhover und Waldis bei ihrer Rückkehr verhaftet und eingekerkert. Der dritte Mönch hatte sich vorher in Sicherheit gebracht.
Nach sechs Wochen verließ Waldis das Gefängnis als freier Mann. Er trat aus dem Orden aus und bekannte sich zum evangelischen Glauben. Wie ist es zu dieser Wende gekommen? - Ohne Zweifel muß sie als Ergebnis eines längeren Reflexionsprozesses gewertet werden, der von den Erfahrungen in Deutschland und Italien angestoßen worden war. In manchen seiner späteren Fabeln finden sich Referenzen. So heißt es in der Fabel „Von einer römischen Reise“:
„Einst dachte ich zu werden fromm
und zog aus Deutschland hin nach Rom.
Doch wurd ich auf der Reis nicht bieder,
trug Zwiebeln hin, bracht Knoblauch wieder.
Denn das ist längst ein alte Weis,
- wie jeder wohl es selber weiß,
der dort je war, man darfs wohl sagen -:
Zu Rom kriegt man ein bösen Magen,
ein leeres Säckel, bös Gewissen
und wird gar oft ums Geld beschissen.“
Er begegnet einem ehemaligen Studiengenossen und tauscht mit ihm Erlebnisse und Erfahrungen aus. Nachdem das Gespräch auf das sittenlose Verhalten der Kleriker gekommen ist, heißt es in der Fabel mit Sarkasmus:
„Man sagt: Zu Rom kein Sünde schadt,
doch wenn einer kein Geld mehr hat,
das ist die allergrößte Sünd,
die nicht der Papst vergeben künnt [...]
Drum auch das Sprichwort wahrhaft ist:
Je näher Rom, je böser Christ“ (Esopus IV 24)30.
Auch die Pracht der Klosterkirche und des Ordenshauses der Franziskaner in Assisi wird mit bitteren Worten beschrieben:
„ [...] daß man sichs wohl verwundern möchte,
wies all durch Betteln zsammen gesucht [...]
so ist das Kloster von Asseis
über alle maße und aus der Weis
so köstlich an ein Berg gebaut
daß, wenn mans auch von fern anschaut,
so wärs einm türkischen Kaiser gnug,
drin zu wohnen nach allem fug [...]“ (Esopus III 100)31.
Im Gewand der Fabel, die spezielles Wissen über die Ereignisse im Franziskanerorden erkennen läßt, wird der Widerspruch zwischen franziskanischem Ideal und weltlicher Realität herausgestellt (vgl. Esopus IV 4). Was als religiöser Anspruch auftritt, ist in Wahrheit Täuschung und fällt unter die dichterische „Entzauberung“32. Mit Hilfe der Fabelfiktion wird die verstellte Wirklichkeit als solche durchschaubar, denn das Ereignis der Reformation stellt durch das Evangelium „Augen der Erkenntnis“ bereit.
4. Waldis blieb in Riga, ergriff einen bürgerlichen Beruf und wurde „kanngeter“/Zinngießer33. Auch diese Phase seiner Biographie läßt vieles im Dunkel. Die „Heftigkeit dieser Wandlung“ „verblüfft“: „der Mönch wird fast über Nacht Bürger, Ehemann und Handwerker“34. Eine solche Wende vollzieht sich nicht in einem Augenblick, weckt vielmehr Fragen und Spekulationen. Zur Ausübung seines Berufs bedurfte es sicher wichtiger Vorgaben, z.B. des Bürgerrechts und der Aufnahme in die Zunft der Zinngießer. Wer bzw. was hat den sozialen Aufstieg gefördert? - 1526 bewarb Waldis sich um die Meisterrechte und erhielt sie auch. Damals stand gerade die Werkstatt des verstorbenen Kannengießers Matthis Schulte zur Disposition. Ein Rentenkaufbrief aus dem Jahre 1533 nennt den genauen Standort von Werkstatt und Laden, nämlich das Eckhaus an der Schal- und kleinen Neustrasse am Markt35. Dort hat Waldis Kannen, Schüsseln, Teller und Pokale angefertigt (s. Abb. 4+5). Auch der Name eines Mitarbeiters wird überliefert: Cyriakus Klinth. 1915 befand sich noch eine Weinkanne aus Waldis‘ Werkstatt im Museum von Fellin (est. Viljandi). Johannes Gahlnbäck, ein Metall- Experte im Institut für archäologische Technologie in St. Petersburg, hat sie beschrieben36:
„Die Kanne ist von schlanker Form, der Griff leicht geformt. 304 mm hoch, ohne Deckel 255 mm. Deckel und Drücker an demselben sind gut gezeichnet.[...] Das Stadtzeichen gibt Riga als Herstellungsort an. Das Meisterzeichen daneben zeigt einen in zwei ungleiche Teile geteilten Schild: im grösseren, oberen Teil sieht man die gespreizt dastehende Gestalt eines Mönchleins in der Kutte mit ausgebreiteten Armen, das Haupt mit einem breitrandigen Hut bedeckt; im kleinen unteren Felde ist ein gotisch geformtes W zu sehen“. Alle Details weisen auf eine Werkstatt der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts.
Das Geschäft muß große Zuwächse gehabt haben, denn zum Vertrieb der Waren unternahm Waldis weite Geschäftsreisen nach Amsterdam, Lissabon, Lübeck, Breslau, Naumburg, Mainz und Frankfurt. Diese Städte erwähnt er ausdrücklich in seinen Fabeln (vgl. Esopus IV 13; II 18; IV 4). Reisen, Erfahrungen, Begegnungen mit allen Schichten der Bevölkerung haben in ihm einen Fundus angelegt, aus dem er bei seiner schriftstellerischen Tätigkeit schöpfen konnte; „seine Kannen brachte er auf die Messen und holte sich Schwänke heim“37. Vielleicht hat er 1535 Luther in Wittenberg getroffen.
5. Am 17. Februar 1527, dem Sonntag Septuagesimae, wurde in Riga sein Fastnachtsspiel „Vom verlorenen Sohn“ (s. Abb. 6) vermutlich in oder vor der Petrikirche aufgeführt38. Ein Drama, „das unkonventionell im Entwurf,
geschickt in der Bewältigung des Stoffes und grossartig in der Wirkung war und blieb“39. Zu den alten Gebräuchen in der Fastenzeit gehörte es, die religiöse Praxis der Menschen durch Mysterien- und Fastnachtsspiele zu begleiten. Waldis wollte den frivolen Schwänken der Karnevals- und Fastenzeit, die er u.a. aus Rom kannte, eine Alternative, die das Evangelium „schön traktiert“, entgegensetzen. Zu seiner Zeit war die äußere Situation in Riga durch ein erzbischöfliches Interregium und heftige Disputationen zwischen Vertretern des alten Systems (u.a. Antonius Bomhover) und evangelischen Theologen (Andreas Knopken; Nikolaus Ramme40 ) geprägt41. Darum erscheint das Stück auch als ein Beitrag zur protestantischen Kirchenpolitik. Nicht weniger als fünfmal gibt der Dichter der Grundthese Luthers, dass der Christ allein durch Glauben und ohne Zutun der Werke gerecht werde, Raum: „Aus rechter Gnad und eitel Gunst/ ohn all unser Zutun, Werk und Kunst“ (V. 85f, V. 183f, V. 1087f, V. 1564f, V. 1824f). Waldis „popularisiert in dramatischer Form, was Luther in seinem Schreiben formulierte“42. Ohne den Namen seines früheren Weggefährten Bomhover zu nennen, richtete sich die Polemik des Stücks gegen ihn und die römische Institution. Jedermann wußte, wer der mit dem „unreinen Mund“ gemeint war:
„Es ist allhier zu Riga geschehn,
daß wir haben alle zumal gesehn,
wo einer in der Gemeinde erstund
und täte auf seinen unreinen Mund.
Die Gottesgnade er belacht
und seine Barmherzigkeit veracht‘ .
Der Lästerung wollt‘ er sich nicht massen:
>Man sollte sich nicht zu sehr verlassen
auf Gottes Gnade, Barmherzigkeit,
auf daß es uns nicht werde leid<.
In solche Blindheit ihn Gott schlägt,
dieweil er sich auf Werke verläßt,
die doch vor Gott sind greulich genug
als ein beschmutztes, unrein Tuch„
(V. 1772ff; vgl. Milchsack 60).
Solchen Lästerern sollte der „Mund gestopft“ (vgl. V. 188ff) werden. Mit Polemik und Satire gelang es Waldis, die reformatorische Glaubensüberzeugung (Allein die Gnade rechtfertigt.) hermeneutisch adäquat (sola scriptura) und volksnah (in niederdeutscher Sprache) zu entfalten. Bei der dramaturgischen Präsentation und sprachlichen Verarbeitung des Jesusgleichnisses aus Lukas 15,11-32 war damit zu rechnen, dass die Zeitgenossen Vorkenntnisse mitbrachten. Denn die Parabel hatte schon immer Prediger und Künstler angeregt. Vielleicht kannte Waldis die vierzig Fastenpredigten des Baseler Franziskaners Johannes Meder über den Text43. Der biblische Stoff wird getreulich nacherzählt und für den aktuellen Augenblick instrumentalisiert. An einer Stelle weicht Waldis von seinem Referenztext ab. Der ältere Sohn reklamiert zwar seine Ansprüche (V. 28ff). Er meint aber, den Fundus seiner guten Werke vergrößern zu müssen und beschließt Mönch zu werden (vgl. V. 1481ff). Beim Aufbau des Stücks – erstmalig in der deutschen Literatur wird die Einteilung eines Dramas in Akte vorgenommen - orientierte sich Waldis am Ablauf des Gottesdienstes. Der Text präsentiert sich „in seiner Komposition“ wie „das Protokoll einer reich ausgebreiteten Liturgie“ (W.Brettschneider)44. Im Publikum bildet sich eine Gemeinde, wenn die Menschen die eingefügten Lutherchoräle, die in der Stadt wohlbekannt sind, mitsingen. Am Anfang des Dramas steht ein Gebet. Dann folgt die Verlesung des Evangeliums, vorgetragen von einem Kind. Ein „Actor“ (Spielleiter/ Regisseur) begleitet den Ablauf der Handlung mit Deutungen, die in predigtartige Passagen übergehen und mit typologischen Reflexionen auf die Applikation der Botschaft des Textes zielen. Seine Beiträge machen fast die Hälfte des Stückes aus. Am Schluß des ersten Aktes, der den Sohn im tiefsten Elend zeigt, wird eine Umdichtung des 13. Psalms gesungen (vgl. V. 1277). Zum Ende des zweiten Aktes, vor dem Fest, ertönt das Lied „Aus tiefer Not“ (vgl. V. 1934), nachdem der Schurkenwirt aus dem ersten Akt seine Sünden bekannt und der Actor noch einmal das reformatorische Leitmotiv (V. 1864-1869) in Erinnerung gerufen hat. Auf dem Höhepunkt der Darbietung, nachdem die Heimkehr des Verlorenen Sohnes vollzogen ist45, singen die Zuschauer das hussitische Abendmahlslied „Jesus Christus unser Heiland“ (vgl. V. 1375). Am Ende zieht der Actor Bilanz und richtet sich an die Zuschauer:
„Ein jedermann seh‘ ebenso zu,
dass er auch wie dieser Sünder tu,
mit reinem Herzen nach Haus mög gehen,
mit gutem Gewissen vor Gotte stehn.
Des helf‘ uns Christus durch sein Leiden,
der sei benedeit zu ewigen Zeiten!“ (V. 2015; vgl. Milchsack 67).
Das letzte Wort ist der aaronitische Segen, die „benedyunge“, wiederum erteilt von einem Kind. Mit seinem Stück greift Waldis in das aktuelle Zeitgeschehen ein und mutet den Zuschauern zu, eine religiöse Entscheidung mit politischer Tragweite zu treffen.
Ob Waldis vor dem „Verlorenen Sohn“ schriftstellerisch tätig war, ist nicht belegt. Sein Stück weist ihn jedenfalls als einen Dichter aus, der volksnahe Rhetorik (niederdeutsche Sprache), Sensibilität für den Kontext (Rigaer Kolorit; Schlemmerlied in der Zechszene (V. 703ff): „Wo soll ich mich ernähren, ich armes Brüderlein“; Spruchgut) und theologische Bildung (altkirchliche Exegese und lutherische Theologie) genial miteinander verbinden konnte. „Seine Sprache ist ein markiges, herbes und schlichtes Niederdeutsch mit mancherlei hochdeutschen Einschlägen, die teils seiner niederhessischen Heimat angehören, teils auch literarischer Herkunft sind. Seine vierhebigen Verse mit oft frei behandelten Senkungen lassen den gefälligen Einklang von Satzton und Verston selten vermissen, sie machen nirgends den Eindruck mühsamen Flickwerks, sondern einer ungezwungen sich ergießenden natürlichen Beredsamkeit“46. Zwar entschuldigt er sich bei seinem Publikum für die populäre Präsentation – „Dass unser Stilus ist so schlicht,/ mit Terentio gar wenig stimmt,/ noch mit Plauto übereinkümmt“ (V. 212ff) – doch ist sein „Verlorener Sohn“ das erste Drama in deutscher Sprache, das die antiken Gesetze des Theaters aufgreift47.
Ohne Zweifel hat Waldis mit seinem Werk die Position der evangelischen Seite gestärkt, sich als glaubwürdigen Vertreter lutherischen Denkens eingeführt und hohes Ansehen in der Stadt48 gewonnen. U.a. wurde er 1530 zum Geschäftsträger des Rates der Stadt beim Reichskammergericht in Speyer bestellt. Verschiedentlich holte man bei Finanzfragen sein kaufmännisches Urteil ein. Sowohl für den Ordensmeister wie für den Rat hat er Münzgutachten erstellt49. Ebenso war er beteiligt an der Ausarbeitung der Rigaer Kirchenordnung. In der zweiten Auflage von 1537, die ein Gesangbuch einschließt, hat er „Ein gebedt zu Gott“50 beigesteuert. Von ihm stammt auch der gereimte Text zum Eingang:
„Geistlich sanckbuechlen man mich nent,
Zu Riga in Lyfflandt wol kent,
Da selb byn ich Christlicher gemein,
Zu dienst wan sy syngen yn eynn
Und sunderlich der lieben Jugent,
Dye sich vleyst Christlicher tugent,
Vill neyer Psalmen und geseng,
Auch mit den Noten ich hie breng,
Mit wortten und orsachen,
Woruym man mich thet ney machen
Der halben geliebter leser sich,
Um eyn kleyn gelt kauffstu mich,
Und ich dyr gros nutzen kan,
Wie du wirst lesende wol vorstan“.51
6. Trotz dieser Erfolge war die Rigaer Zeit von unglücklichen Ereignissen überschattet. Seine Ehe mit der Witwe Barbara Schulthe aus Königsberg, deren Schulden er bei der Heirat bezahlt hatte, zerbrach, wozu sicher beide Seiten ihren Teil beigetragen haben. „Von den Flitterwochen ist nichts überliefert, umso mehr von den Bitterwochen. Er liebte den Wein und sie das Bier“52. Nachdem er seine Frau aus dem Haus vertrieben hatte, schwärzte sie ihn beim Ordensmeister an. Wahrscheinlich hat diese Episode zu bissigen Ausfällen gegen die „bösen Weiber“ geführt, von denen in manchen seiner Fabeln zu lesen ist.
„Es ist, glaub mir, zu aller Frist
kein größer Leid, daß einer ist
mit einem bösen Weib beladen.
Sie können einen in Leid und Schaden
Bringen mit Lüge und bösem Schwätzen,
damit sie die Leut zusammenhetzen.
Es sollte einer lieber Steine tragen
Auf die Mauer und alle Arbeit wagen,
denn daß einer seine Zeit vertreibt
in Leid mit einem bösen Weib,
und viel lieber des Todes sterben,
denn solch einen zähen Balg zu gerben,
und lieber der Welt Unglück haben,
denn solch ungeschmeidig Leder schaben.
Man sagt, wer blind sei, der sei arm,
ist billig, daß man sich seiner erbarm.
Doch ist der ein viel ärmerer Mann,
welcher sein Weib nicht zwingen kann“ (Esopus IV 67)53.
Die Probleme eskalierten unter dem erzbischöflichen Koadjutor Markgraf Wilhelm von Brandenburg, als die politischen Pläne des Stadtsyndikus Lohmüller, das Erzbistum nach dem Vorbild Preußens in ein weltliches Herzogtum umzuwandeln54 und so die Reformation zu sichern, an die Öffentlichkeit drangen. Der Politiker Lohmüller mußte sich nach Königsberg absetzen, verfolgte aber von dort aus seine politischen Pläne weiter. Waldis, der mit ihm befreundet war, verrichtete „Botengänge“ zwischen Königsberg und den übrigen Verschwörern. Als Waldis im Herbst 1536 in Bauske angeheiratete Verwandte besuchen wollte, ließ ihn der Ordensmeister Hermann von Brüggeney unter der Anklage ketzerischer Umtriebe, Verschwörung und Aufruhr gegen den Deutschen Orden verhaften. Während der Gefangenschaft war er brutaler Folter ausgesetzt, um Informationen zu verraten55. Die Haft in Bauske/ let. Bauska, Wenden/ let. Cēsis und Fellin/ let. Viljandi hat ihn in Todesnähe und große seelische Bedrängnis gebracht (vgl. Esopus IV 78). In dieser Zeit begann er, Psalmen in volkstümliche Sprache zu übersetzen und Kirchenlieder zu dichten, ganz sicher seine Art, die Umstände der Haft zu verarbeiten.
Psalm 25
„An allen Menschen gar verzagt
Zu dir mein Seel will geben,
Herr Gott, auf dich hab ichs gewagt
Erhalt mich bei dem Leben.
All mein Zuflucht stell ich an dich,
laß nicht zuschanden werden mich,
daß sich mein Feind nicht freuen.
Mein Augen sind allzeit zu dir,
o Herr mein Gott, gerichtet,
daß du helfst aus dem Netze mir,
dern, die mich han vernichtet.
Erbarm dich mein und sieh mich an,
denn arm bin ich, von jedermann
auch gar und ganz verlassen.
Meins Herzen weh richt mich jetzt hin,
komm, Herr, und tröst mich wieder,
schau, wie ich gar vernichtet bin,
im Elend lieg danieder,
darum vergib die Sünde mein,
sieh an, wie viel der feinde sein,
die mich ohn Grund verfolgen.“
Psalm 121
„Wenn ich in Angst und Nöten bin
und all mein Trost ist gar dahin,
so heb ich auf meine Augen hoch
zum Herrn um Hilf und denk ihm nach
und wart bis mir geholfen wird
von Gott des Himmels und der Erd.
Er hält mich auf der rechten Bahn
Und wird mein Fuß nicht gleiten lan.
Der Herr ist’s, der mich selbst behüt,
obgleich der Feind trotzt, tobt und wüt [...]
Zum Schutz ist stets der Herr bereit
Vor allem Übel allezeit,
den Trost verzieht er nicht zu lang,
behüt dein Ausgang und Eingang,
hilft dir zuletzt aus allem Leid
von nun an bis in Ewigkeit“56.
Unterdessen hatte seine Familie in Hessen über seinen Zustand Nachricht erhalten. Seine Brüder kamen 1538 nach Riga und erwirkten Hafterleichterung sowie die Zusage eines gerechten Prozesses. Als aber auch das vermittelnde Eintreten des hessischen Landgrafen Philipp (1540) keinen Fortgang des Verfahrens erreichte, kamen die Brüder eine weiteres Mal nach Riga und wurden zusammen mit dem Rat der Stadt und kräftiger Fürsprache des hessischen Landgrafen beim Ordensmeister vorstellig. Sie hatten Erfolg. Nach dreieinhalbjähriger Kerkerhaft wurde Waldis am 21. Juli 1540 entlassen. Am selben Tag erfolgten auch die besitzrechtliche Einigung mit seiner Frau und die Scheidung. In Riga fühlte Waldis sich nicht mehr sicher. Auch sah er geschäftlich für sich keine Zukunft. Daher übertrug er die Zinngießerei seinem früheren Mitarbeiter Cyriakus Kluth. Seine Gesundheit hatte während der Gefangenschaft Schaden gelitten, aber er hatte noch sein Leben. Nach der Freilassung schrieb er in einem Lied:
„Gott lob, dass uns jetzt wird verkündt
die Evangelisch Lehre.
Himmel und Erd mit vollem Mund
Erzählen Gottes Ehre“57.
7. Er kehrte in seine hessische Heimat zurück. Nachdem seine Gesundheit wieder hergestellt war, beschloß er Theologie zu studieren. Zunächst ist er in Marburg und im Winter 1541 als „Burchardus Vualdis Hessus“ an der Universität Wittenberg unter Rektor Jacobo Milichio immatrikuliert (Matrikel Wittenberg I, 192, Nr. 23). Hat er evtl. Vorlesungen bei Luther und Melachthon gehört? An die Studienzeit schloß eine längere Wartephase an, in der Waldis seine literarische Tätigkeit wieder aufnahm und vertiefte. Während des Schmalkaldischen Krieges (1546-1547) unterstützte er den hessischen Landgraf Philipp mit literarischen Werken. So griff er in die Auseinandersetzung mit Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel ein und betätigte sich als „politischer Dichter“58. Gegen diesen unangenehmen Zeitgenossen und erbitterten Gegner der Reformation veröffentlichte er 1542 drei derbe Pamphlete. Im Jahr darauf folgten drei satirische Streitgedichte gegen die katholische Geistlichkeit: „Ein warhafftige Historien von Zweyen Mewssen. So die pfaffen im Hüttenberge bey Wetzalar haben verbrennen lassen. Darumb das sie ein Monstrantzen Sacrament gefressen haben“. Dann erschien noch ein mit Reimen versehenes Bilderbuch über die alten Könige der deutschen Nation.
1543/ 44 wird Waldis urkundlich als zweiter Pfarrer an der Altstädter Kirche in Hofgeismar erwähnt59. Er verwaltete wohl schon seit 1542 die Stelle nach dem Tod von Pfarrer Dr. Johannes Westermann60, dessen Witwe er schließlich heiratete. Dem Paar wurden mehrere Kinder geboren. Aber auch diese Ehe scheint nicht besonders glücklich gewesen zu sein.
Im Herbst 1544 war Burkard Waldis endlich am Ziel seiner Wünsche. Der hessische Landgraf übertrug ihm die renommierte Pfarrei Abterode61, wo er der erste evangelische Pfarrer war. Zu dieser Regelung hatte beigetragen, dass der letzte fuldische Propst, Rudolf Schenk zu Schweinsberg, dem Landgrafen die Besetzungsrechte in Abterode übertragen hatte. So wurde Burkard Waldis evangelischer Propst und Pfarrer in einer Person. Mit Eifer und großem Ernst ging er seinen pfarramtlichen Aufgaben nach, mußte aber mit Rücksicht auf seine Gesundheit auswärtige Verpflichtungen (u.a. Gottesdienste in der Neustädter Kirche in Eschwege und auf dem Cyriakusberg) ablösen. Im gemeindlichen Zinsregister jener Jahre ist Waldis mit Einträgen und Unterschrift vertreten62.
[...]
1 Werner Bergengruen, Schnaps mit Sakuska. Baltisches Lesebuch, München 1993, S. 262.
2 Hans Puttnies in seinem Filmessay über das zerstörte Palmyra (2018).
3 Reinhold Hülsewiesche, Art. Präsentismus, in: Joachim Ritter u.a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 7, Darmstadt (1989), Sp. 1257-1259; 1257.
4 Hülsewiesche (wie Anm. 3), Sp. 1258; das Zitat stammt von Benedetto Croce.
5 Zum „Umkonzipieren“ als epochaler Signatur vgl. Reinhardt Brandt, Warum ändert sich alles?, München 2008, S. 71: „Das Subjekt hält sich für nichts, wenn es sich nicht in Objekten realisiert und die äußere Substanz in eine ichdependente Funktion verwandelt, jedes Ding perspektivisch vor sich bringt und für sich zurechtbiegt und verbraucht“.
6 Philipp Blom, in: DIE ZEIT Nr. 2 vom 3. Januar 2009, S. 39. Vgl. ders., Sammelwunder, Sammelwahn. Szenen aus der Geschichte einer Leidenschaft, Frankfurt/ Main 2004. – Im Jahr des Reformationsjubiläums 2017 hat Achim Landwehr eine Reise durch die deutsche Geschichtekultur unternommen und als herrschende Tendenz festgehalten: dem Vergangenen werden Fremdheitseffekte abgesprochen; ihm wird das Irritationspotential entzogen; „Vergangenheit wird mit Ähnlichkeit beschlagen“ (vgl. https://meinjahrmitluther.wordpress.com; Zugriff: 16.12.2017).
7 Leipzig 1874.
8 Nietzsches Plädoyer verliert nichts von seinem provokativem Wert, selbst wenn Landwehr die autoritäre Dominanz des selektiven Zeitdenkens bei Nietzsche in Frage stellt (vgl. Ders., Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt/ Main 2016, S. 251ff).
9 Dieses fundamentale Anliegen bildet das Zentrum u.a. in: Paul Ricoeur, Zeit und Erzählung III: Die erzählte Zeit, (frz. 1985) München 1991; ders., Das Rätsel der Vergangenheit: Erinnern-Vergessen-Verzeihen, Göttingen 1998; ders., Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, Paderborn 2004.
10 So die formelhafte Zusammenfassung der geschichtstheoretischen Reflexionen Paul Ricoeurs durch Doris Hiller (Integratives Geschichtsverstehen. Impulse der Geschichtstheorie Paul Ricoeurs zur Reflexion der Gottesgeschichte, in: Dietrich Korsch [Hg.], Paul Ricoeur und die evangelische Theologie, Tübingen 2016, S. 118-130, S. 118).
11 Vgl. das Interview mit Paul Ricoeur, abgedruckt in: DIE ZEIT Nr. 42 vom 08.10.1998 (= www.zeit.de/1998/42). Ferner: ders., Erinnerung und Vergessen (frz. 1999), in: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970-1999), Hamburg 2005, S. 295-315.
12 „Geschichte verharrt nicht länger in der Deskription vergangener Ereignisse, sondern geschieht als Fortschreibung auf Zukunft hin“ (Hiller [wie Anm. 10], S. 122).
13 Ricoeur (wie Anm. 11).
14 Vgl. Anm. 8. Zitate werden im Text nachgewiesen.
15 Erkennbar ist die alternative Bezugsgröße an paradoxalen Sprachwendungen wie „Absenz in Präsenz“ (S. 41), „anwesende Abwesenheit“ (S. 284) oder „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (S. 124; 289 u.ö.). Vgl. ders., Von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, in: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 1-34.
16 Landwehr zitiert den englischen Philosophen Michael Oakeshott: „Thus understood a record never lies; even if it does not mean what it says it may be made to say what it means“ (S. 332) und überträgt das Zitat: “Das Material mag nicht immer meinen, was es sagt, aber man kann es sagen lassen, was es bedeutet” (S. 206). Der Historiker steht demnach in einem „paradoxalen Zwischen“ (vgl. S. 40f; 307).
17 Hans-Ulrich Wehler, Aus der Geschichte lernen–Essays, München 1988, S. 11-18; 13.
18 Vgl. DBW X (1991), S. 341ff; XV (1998), S. 529f u.ö.
1 Erstveröffentlichung in: Ulrich Schoenborn, Mit Herz und Verstand. Biographie und Lebenswelt der Töchter Herzog Jakobs von Kurland in Hessen-Homburg, Herford und Hessen-Kassel, Hamburg 2010, S. 177-210. Überarbeitet in: Ieva Kalniņa (ed.), Literatūra un Reliģija. Svētie un grēcinieki, Riga 2018, p. 11-44. – Dankbar erwähnen möchte ich Frau Dr. Elisabeth Riegel/ Bad Sooden-Allendorf, Frau Agnes Huck/ Hessisch-Lichtenau, Herrn Gunther Rademacher/ Bad Sooden-Allendorf, Pater Dr. Werinhard Einhorn OFM/ Paderborn, Herrn Bernd Schmies/ Münster und Pfr. i.R. Armin Schmiedeberg/ früher Abterode, die mir seinerzeit sehr durch Hinweise, Literatur und Photos geholfen haben.
2 Vgl. FRIEDRICH WILHELM STRIEDER, Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten- und Schriftsteller-Geschichte. Von der Reformation bis 1806 Bd. 16, hrsg. von Ludwig Wachler, Marburg 1812, S. 423-429; 423: „Schwerlich wird mit Nachrichten von diesem Manne ins Reine zu kommen sein.“; LUTZ MACKENSEN, Waldis in Riga, in: Zur deutschen Literatur Altlivlands, Ostdeutsche Beiträge aus dem Göttinger Arbeitskreis Bd. 18, Würzburg 1961, S. 59-83; 59: „Waldis in Riga: das ist ein Kapitel voller Rätsel. Sie vermehren sich, je näher man ihnen kommt.“
3 Zur Werk- und Forschungsbibliographie vgl. LUDGER LIEB, Erzählen an den Grenzen der Fabel. Studien zum Esopus des Burkard Waldis, Frankfurt/ Main u.a. 1996, S. 240ff. Jetzt auch MARTIN ARNOLD, Burkhard Waldis als theologischer Schriftsteller, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde/ ZHG 119 (2014), S. 35-50. – Die Zitate aus Burkard Waldis‘ Werk folgen den Ausgaben von HEINRICH KURZ (Esopus. Erster und Zweiter Teil, hrsg. von Heinrich Kurz, Leipzig 1862) und GUSTAV MILCHSACK (Die Parabel vom verlorenen Sohn [1527], hrsg. von Gustav Milchsack, Halle 1881).
4 Vgl. LEONHARD LEMMENS, Urkundenbuch der alten sächsischen Franziskanerprovinzen, I: Die Observantenkustodie Livland und Preußen, Düsseldorf 1913; DERS., Geschichte der Observantenkustodie Livland und Preußen, in: Beiträge zur Geschichte der sächsischen Franziskanerprovinz vom Heiligen Kreuze 6 (1913), S. 5-67; FERDINAND DOELLE, Die Observanzbewegung in der sächsischen Franziskanerprovinz (Mittel- und Ostdeutschland) bis zum Generalkapitel von Parma 1529, Münster 1918; HANS NIEDERMEIER, Die Franziskaner in Preußen, Livland und Litauen im Mittelalter, in: Zeitschrift für Ostforschung 27 (1978), S. 1-31; BERND SCHMIES/ KIRSTEN RAKEMANN (BEARB.), Spuren franziskanischer Geschichte. Chronologischer Abriß der Geschichte der Sächsischen Franziskanerprovinzen von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. von DIETER BERG, Saxonia Franciscana-Sonderband, Werl 1999.
5 Vgl. MANFRED HELLMANN (HG.), Studien über die Anfänge der Mission in Livland, Sigmaringen 1989; bes. S. 7-36: DERS., Die Anfänge der christlichen Mission in den baltischen Ländern.
6 Zit. bei NIEDERMEIER (wie Anm. 4), S. 4; vgl. auch WILLIAM URBAN, Roger Bacon and the Teutonic Knights, in: Journal of Baltic Studies 19 (1988), S. 363-370.
7 ANTI SELART, Die Bettelmönche im Ostseeraum zur Zeit des Erzbischofs Albert von Suerbeer von Riga (Mitte des 13. Jahrhunderts), in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 56 (2007), S. 475-499.
8 Vgl. die Artikel in THOMAS T. MÜLLER/ BERND SCHMIES/CHRISTIAN LOEFKE (HG.), Für Gott und die Welt. Franziskaner in Thüringen, Paderborn u.a. 2008. – Die Quellenbasis zur Geschichte des Franziskanerordens in Livland ist leider sehr schmal; s.o. Anm. 4.
9 NIEDERMEIER (wie Anm. 4), S. 10.
10 Vgl. AUTBERT GROETEKEN, Die Franziskaner in Riga, in: Beiträge zur Geschichte der sächsischen Franziskanerprovinz vom Heiligen Kreuze 3 (1910), S. 76-92; SELART (wie Anm. 7), S. 485f.
11 SCHMIES, in: MÜLLER/ SCHMIES/ LOEFKE [HG.] (wie Anm. 8), S. 47.
12 Dazu ausführlich PETRA WEIGEL, Ordensreform und Konziliarismus. Der Franziskanerprovinzial Matthias Döring (1427-1461), Frankfurt a.a. 2005, S. 54ff. Ferner BERND SCHMIES, Ludwig Henning. Provinzialminister 1507 bis 1517, in: DIETER BERG (HG.), Management und Minoritas. Lebensbilder sächsischer Franziskanerprovinziale vom 13. bis zum 20. Jahrhundert, Saxonia Franciscana/ Beiheft 1, Kevelar 2003, S. 88-143.
13 HERIBERT HOLZAPFEL, Handbuch der Geschichte des Franziskanerordens, Freiburg 1909, S. 81. Als beide Lager immer stärker miteinander konkurrierten, eskalierte der Streit, so dass es 1517 zu einer organisatorischen und strukturellen Trennung kam (vgl. S. 147ff; 298ff). Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Franziskaner http://de.Wikipedia.org/wiki/Minoriten“ http:// de. Wikipedia.org/wiki/Armutsstreit“ (Zugriff 31.05.2008). Ferner: WALTER ZIEGLER, Die Franziskaner-Observanten, in: FRIEDHELM JÜRGENSMEIER/ REGINA ELISABETH SCHWERDTFEGER (HG.), Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1500-1700, Bd. 3, Münster 2007, S. 163-214; bes. 178ff.
14 Vgl. LEONID ARBUSOW JR., Die Einführung der Reformation in Liv-, Est- und Kurland, Leipzig 1921/ Neudruck Aalen 1964, S. 160ff; OTTO CLEMEN, Schriften und Lebensausgang des Eisenacher Franziskaners Johann Hilten, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte XLVII, NF X (1928), S. 402-442; LEONHARD LEMMENS, Der Franziskaner Johannes Hilten († um 1500), in: Römische Quartalschrift 37 (1929), S. 315-347; PAUL JOHANSEN, Johann von Hilten in Livland. Ein franziskanischer Schwarmgeist am Vorabend der Reformation, in: ARG 36 (1939), S. 24-50.
15 Hilten ist eine Ortschaft im Kreis Lingen.
16 Vgl. LEMMENS (wie Anm. 4), S. 33, Nr. 109.
17 JOHANSEN (wie Anm. 14), S. 49.
18 Einzelheiten dazu bei JOHANSEN (wie Anm. 14), S. 29ff.
19 Der Ordensmeister Johann Waldhaus von Heerse, dessen Zentralisierungstendenzen Hilten unterstützte, war von Gegnern innerhalb des Ordens 1471 gestürzt worden.
20 Ein später (wahrscheinlich 1494) formuliertes Gebet hält im Rückblick Anfeindungen und Verfolgungen durch den eigenen Orden fest; zitiert bei LEMMENS (wie Anm. 14), S. 344f.
21 Seine Schriften sind als cod. Pal.lat. 1849 in der Vaticana vorhanden: „Johannes Hiltenius, Opera omnia, quae iam reperiri possunt“. Vgl. die detaillierte Deskription von LEMMENS (wie Anm. 14), S. 323ff.
22 Als Luther 1498 bis 1501 in Eisenach zur Schule ging, muß er den Namen „Johannes von Hilten“ gehört haben (vgl. WA Tischreden Bd. III, S. 621). Dreißig Jahre später, auf dem Rückweg vom Marburger Religionsgespräch, erinnert er sich in Eisenach wieder daran. Er bittet darauf Friedrich Myconius (bis 1524 Franziskaner, dann Pfarrer in Gotha), über Hilten Nachforschungen anzustellen. Auch Melanchthon ist in diesen Vorgang einbezogen. Vgl. LUTHER, Briefwechsel 5, Nr. 1480: Luther an Friedrich Myconius in Gotha (17. Oktober 1529); Nr. 1501: Friedrich Myconius an Luther (2. Dezember 1529). In seiner Antwort berichtet Myconius über seine Erkundigungen, u.a. referiert er ein Gespräch mit einem Ordensbruder aus Langensalza, der die letzten Tage Johann von Hiltens in Eisenach erlebt hatte. Dazu vgl. CLEMEN (wie Anm. 14), S. 402ff; bes. 408; LEMMENS (wie Anm. 14), S. 318ff. Aufgrund dieser Aussage kann es als gesichert gelten, dass Hilten weder exkommuniziert, noch konvertiert, noch ermordet worden ist. Wenn er bisweilen in älterer Literatur als „Vorläufer“ der Reformation geschildert wurde, geschah das aus Unkenntnis der Quellenlage bzw. aus ideologischem Antrieb. Vgl. ferner ZIEGLER (wie Anm. 13), S. 186ff: Franziskaner und Lutherische Bewegung.
23 Zu dieser Episode vgl. ARBUSOW JR. (wie Anm. 14), S. 258f; 267f.
24 „Die ungewohnte Kost, der übermässige Fleischgenuss anstatt der bisherigen beobachteten Fastenzeiten machten ihn magenkrank; dann stellten sich Gewissensbisse über den Abfall ein“ (ARBUSOW JR, [wie Anm. 14]) , S. 268.
25 Vgl. Reichenbach. Kloster- und Deutschordenskirche, Große Baudenkmäler Heft 531, München/ Berlin 1998; VEREIN FÜR HESSISCHE LANDESGESCHICHTE. ZWEIGVEREIN HESSISCH-LICHTENAU (HG.), 1207 Reichenbach 2007, Kassel 2007.
26 AGNES HUCK, Persönlichkeiten der Region und ihre Beziehung zum Deutschen Orden, in: VEREIN FÜR HESSISCHE LANDESGESCHICHTE. ZWEIGVEREIN HESSISCH LICHTENAU (HG.), 1207 Reichenbach 2007, Kassel 2007, S. 82.
27 Vgl. OTTO POHRT, Reformationsgeschichte Livlands. Ein Überblick, Leipzig 1928, S. 39ff. Über die Romfahrt der Franziskaner schreibt ausführlich LEONID ARBUSOW JR., Des Rigaschen Franziskaners Burkard Waldis Romfahrt und seine nachmalige Rolle während der Reformation Rigas, in: Rigascher Almanach 1914, S. 107-133; bes.112ff. Vgl. DERS. (wie Anm. 14), S. 261ff. - Ganz sicher war Waldis kein unerfahrener und ungebildeter Anfänger im kirchendiplomatischen Geschäft.
28 GEORG BUCHENAU, Leben und Schriften des Burcard Waldis, Marburg 1858, S. 9 vermutet eine erste Romreise um 1500. Entsprechend muß er das Geburtsjahr Waldis‘ früher ansetzen.
29 Das Schreiben ist abgedruckt bei LEMMENS (wie Anm. 4), S. 61ff, Nr. 281. – Die romfeindliche Stimmung findet deutlichen Ausdruck in einem geflügelten Wort: wer Bannbriefe ins Land trage, verdiene, in einen Sack gesteckt und unter den Toren der Stadt aufgehängt zu werden (vgl. ARNOLD E. BERGER [HG.], Die Schaubühne im Dienste der Reformation, Darmstadt 1967, S. 119).
30 Übertragung von GÜNTER E. TH. BEZZENBERGER, Burkard Waldis Mönch, Zinngießer, Pfarrer und Dichter, Kassel 1984, S. 20f (vgl. KURZ [wie Anm. 3], S. 75ff). Diese Fabel läßt nichts an Eindeutigkeit zu wünschen. Die protestantische Perspektive über römische Verhältnisse und Pilgerfahrten nach Rom entfaltet Fabel IV 1 („Vom Wolffe, Fuchß und Esel“). Seine Erlebnisse in Nürnberg sind in Esopus IV 17 und 18 verarbeitet (vgl. BUCHENAU [wie Anm. 28], S. 11f). - Diese Wende in Analogie zur Biographie Luthers verstehen zu wollen, liegt verführerisch nahe, ist aber durch keine Informationen gedeckt. CARL SCHIRREN (Livländische Charaktere. Burchard Waldis, in: Baltische Monatsschrift Bd. 3, Riga 1861, S. 503-524; 504f) schlägt eine psychologisierende Deutung vor.
31 Übertragung von KARL STEINBACH/ ELISABETH RIEGEL, Burkard Waldis aus Allendorf an der Werra, in: Das Werraland 39, Heft 1, 1987, S. 1-3; 1; vgl. KURZ (wie Anm. 3), S. 417ff.
32 Vgl. LIEB (wie Anm. 3), S. 129ff; 136ff; 142ff.
33 Das ist die Selbstbezeichnung in der niederdeutschen Vorbemerkung zum Fastnachtsspiel über den Verlorenen Sohn: „Borchart Waldis, kangeter to Riga ynn Lifland, wünscht heyl allen ubnd jedern, den dith böchlin vorkommt“. In der „Anrede“ an den Leser stellt der Autor sich in einem Akrostichon vor. Der Bruch mit dem Mönchtum und der Eintritt in das bürgerliche Leben gehörte zu den signifikanten Erscheinungen der frühen Reformationszeit, betont ARNOLD (wie Anm. 3), S. 38. LUTHER hatte mit „De votis monasticis judicium“ (WA 8, S. 573-669) den Schritt theologisch legitimiert. – Vgl. das Glasbild im Dom zu Riga und OJĀRS SPĀRITIS/ INDRIKIS STURMANIS, Rigas Doma Vitrazas, Riga 1997, S. 25ff. – S. Abb. 2+3.
34 MACKENSEN (wie Anm. 2), S. 61.
35 Nach dem Rentenbuch des Rigaschen Rates; zitiert bei BUCHENAU (wie Anm. 28), S. 14.
36 JOHANNES GAHLNBÄCK, Eine Zinnkanne des Burchard Waldis, in: Mitteilungen aus der livländischen Geschichte Bd. 23 (1924-1926), S. 578-582; 579. Vgl. DERS., Zinn und Zinngiesser in Liv-, Est- und Kurland, Lübeck 1929.
37 SCHIRREN (wie Anm. 30), S. 507.
38 Vgl. ARBUSOW JR. (wie Anm. 14), S. 650ff; POHRT (wie Anm. 27), S. 61ff; 126ff; BUCHENAU (wie Anm. 28), S. 30f; BERGER (wie Anm. 29), S. 131ff; INGRID SCHRÖDER, „De parabell vam vorlorn Szohn“. Das Drama als Instrument reformatorischer Propaganda, in: De Kennung. Zeitschrift für plattdeutsche Gemeindearbeit, 25. Jhg., Heft 1 (2002), S. 21-43; 23. – Das Fastnachtsspiel des B.Waldis hat einen berühmten Vorläufer. Im Winter 1204/ 05 wurde in Riga ein „Prophetenspiel“ aufgeführt. Mit diesem geistlichen Theater wollte Bischof Albert die Anfangsgründe des Glaubens durch Veranschaulichung und Übersetzung verständlich machen „tam neophitis quam paganis“. Vgl. LUTZ MACKENSEN, Das „Rigaer“ Prophetenspiel von 1205, in: Zur deutschen Literatur Altlivlands, Ostdeutsche Beiträge aus dem Göttinger Arbeitskreis Bd. 18, Würzburg 1961, S. 10-20; REINHARD SCHNEIDER, Straßentheater im Missionseinsatz. Zu Heinrichs von Lettland Bericht über ein großes Spiel in Riga 1205, in: MANFRED HELLMANN (HG.), Studien über die Anfänge der Mission in Livland, Sigmaringen 1989, S. 107-121. Vgl. jetzt auch CORA DIETL, Zwischen Theologie, Laienunterweisung und Polemik. Die „Parabell vam vorlorn Szohn“ des Burkard Waldis im Kontext der Reformation in Riga, in: MICHAEL PRINZ/ JARMO KORHONEN (HG.), Deutsch als Wissenschaftssprache im Ostseeraum. Geschichte und Gegenwart, Frankfurt/ Main 2011, S. 203-216; ARNOLD (wie Anm. 3), S. 36ff.
39 MACKENSEN (wie Anm. 2), S. 63. Vgl. POLS MEDŽVIKS (ED.), Burkard Waldis – Parabola par pazudušo dēlu, Riga 2010 mit Beiträgen von Dieter Andresen und Ilze Šarkovska-Liepiņa.
40 Nikolaus Ramme stammte aus Riga, hatte in Rostock studiert und sich früh der Reformation angeschlossen. Er gehörte neben Lorenz von Scheden zu den Predigern für die Evangelischen lettischer Sprache.
41 Die Zusammenhänge schildert ARBUSOW JR. (wie Anm. 14), S. 646ff; vgl. auch THEODOR SCHIEMANN, Antonius Bomhower und Andreas Knopken. Eine Episode aus der Reformationsgeschichte Rigas, in: Baltische Monatsschrift Bd. 32 (1890), S. 351-360; FERDINAND HOERSCHELMANN, Andreas Knopken – der Reformator Rigas, Leipzig 1896.
42 SCHRÖDER (wie Anm. 38), S. 37.
43 So MACKENSEN (wie Anm. 2), S. 67ff. Vgl. BERGER (wie Anm. 29), S. 142: „Die Prodigus-Parabel gehört zu den Lieblingsstoffen des erziehungsseligen 16. Jahrhunderts“.
44 Vgl. auch DIETL (wie Anm. 38), S. 208ff; ARNOLD (wie Anm. 3), S. 40f.
45 Die Festszene nach der Heimkehr des verlorenen Sohnes wird auf das Abendmahl hin interpretiert; vgl. V.1700ff: „Dat gemeste kalff nu CHRISTUS ys, / De wert geslacht und geten gewyss“ (vgl. MILCHSACK 58ff).
46 BERGER (wie Anm. 29), S. 142. – Als bedeutsam muß ebenso gewertet werden, dass mit Waldis eine Laie die elementare Relevanz des Evangeliums thematisiert und so LUTHERS Ruf nach dem Priestertum aller Gläubigen erfüllt; vgl. WA 11, S. 408-416; ARNOLD (wie Anm. 3), S. 39.
47 Das Fastnachtsspiel wurde noch 1527 in Rostock gedruckt. Das einzig erhaltene Exemplar liegt in der Wolfenbütteler Bibliothek; ein Nachdruck wurde 1881 von GUSTAV MILCHSACK (= Neudrucke deutscher Literaturwerke Nr. 30) besorgt. Dem Druck sind sechs Kirchenlieder in niederdeutscher Sprache beigegeben, drei von Waldis selbst und drei von Andreas Knopken (Texte bei JOHANNES GEFFCKEN (HG.), Kirchendienstordnung und Gesangbuch der Stadt Riga. Nach den ältesten Ausgaben von 1530, Hannover 1862, XVIII; S. 103ff; 106f; 108ff). – Dass die neuere Literaturwissenschaft sich mit Burkard Waldis beschäftigt, zeigt neben LUDGER LIEB (vgl. Anm. 3) auch VOLKHARD WELS, Versuch einer dialektischen Analyse von Burkhard Waldis Parabel vom verlorenen Sohn (1527), in: Alexander Schwarz/ Laure Abplanalp (Hg.), Text im Kontext. Anleitung zur Lektüre deutscher Texte der frühen Neuzeit, Frankfurt/ Main u.a. 1997, S. 301-317.
48 LUTZ MACKENSEN (Gedanken über die Rigaer Zeit des Burkard Waldis, in: Zeitschrift für Volkskunde 46 (1936/ 37), S. 91-100) versucht das Dunkel über der Rigaer Zeit aufzuklären und kommt zu dem (hypothetischen) Ergebnis, dass Waldis in Riga die „Laufbahn eines geheimen Politikers“ eingeschlagen habe. Der bürgerliche Beruf sei Tarnung gewesen und mit städtischer Protektion erfolgt. Mit Geschäftsreisen habe Waldis seine politische Mission als Unterhändler und Agent getarnt. Mackensen sieht ihn als „Politiker“ und schließlich „Verschwörer“. Was sein literarisches Wirken angeht, so sei er „mehr Werkzeug als selbstschöpferischer Geist“ gewesen. Andreas Knopken habe ihn zur Abfassung des Fastnachtsspiels angeregt, um die eigene theologische Disputation mit Bomhover zu popularisieren. – Anhalt an den vorhandenen Quellen können diese Mutmaßungen kaum beanspruchen, auch wenn Einzelheiten Möglichkeitswert haben.
49 Vgl. BUCHENAU (wie Anm. 28), S. 16; 31. Der Titel der Denkschrift lautet: „Ene underrichtinghe, women best solde moghen kamen jn Lyfflande to gudem golde to macken, dat bestendich were“ (zit. bei MILCHSACK [wie Anm. 3], S. 18).
50 Text bei GEFFCKEN (wie Anm. 47), S. 150f.
51 Zit. bei GEFFCKEN (wie Anm. 47), S. 146. Es folgt noch ein Vorwort an die Leserschaft (vgl. S. 147-149).
52 SCHIRREN (wie Anm. 30), S. 508. In einem Brief an die Schwägerin Christina von 1531 beklagte er sich über die Schlechtigkeit und Undankbarkeit der Ehefrau (zit. bei Schirren 509 und MILCHSACK [wie Anm. 3], S. 21-23). – Legendenhaft überzeichnet sind die Nachrichten, Waldis habe seine Frau verhext, nachdem diese das gemeinsame Haus verlassen habe, um zurück nach Königsberg zu gehen. Es heißt, er habe sie verflucht: „sie solle nur mit dem Schiffe, Schiffer und anderen Kaufgesellen von hinnen ziehen, sie sollten noch sämtlich die Füße in der See waschen“. Trotz günstigen Wetters sei das Schiff nicht vorwärtsgekommen. Erst nachdem die Besatzung Gegenzauber eingesetzt habe, sei das Ziel wie im Augenblick erreicht gewesen. Waldis‘ Ruf in der Stadt habe unter diesen Vorkommnissen gelitten; vgl. CHRISTOPH SCHMIDT, Auf Felsen gesät. Die Reformation in Polen und Livland, Göttingen 2000, S. 248.
53 Übertragung von STEINBACH/ RIEGEL (wie Anm. 31), S. 3; vgl. KURZ (wie Anm. 3), S. 162ff. Bittere Erfahrungen stehen auch hinter Esopus IV 19, 123ff; vgl. KURZ (wie Anm. 3), S. 55ff und MILCHSACK (wie Anm. 3), S. 23; 29.
54 Über die „Verschwörung“ und ihre Vorgeschichte seit 1532 schreibt SCHIRREN (wie Anm. 30), S. 515ff.
55 Davon handelt ein verschlüsseltes Schreiben von Anfang Januar 1537 des Ordensmeisters an den Ordensvogt zu Bauske; zitiert SCHIRREN (wie Anm. 30), S. 519f. – Nach SCHIRREN sind die leidvollen Episoden in Riga das Resultat der Mischung „Mönchsklugheit und zünftischer Engherzigkeit“ (513). Dagegen sieht ARBUSOW in Waldis‘ politischen Aktivitäten naive Selbstüberschätzung am Werk. „Seine Rolle in der Reformation Rigas war ausgespielt, als er sich über die Grenzen hinauswagte [...] als er unternahm, nicht bloß die Seelen und Gedanken zu beeinflussen, sondern in den harten Gang der großen Dinge der Welt selbst einzugreifen“ (wie Anm. 14), S. 133.
56 Übertragung von BEZZENBERGER (wie Anm. 30), S. 88 und 98f. – Der 25. Psalm liegt auch in einer niederdeutschen Fassung von Andreas Knopken vor. Der Psalm findet sich in der Druckfassung von Waldis‘ Theaterstück und ist in die Rigaer Kirchenordnung von 1537 aufgenommen worden (vgl. GEFFCKEN [wie Anm. 47], S. 103ff). Die hochdeutsche Übersetzung von Waldis muß als eigenständige Version betrachtet werden.
57 Zit. bei HUCK (wie Anm. 26), S. 83. Das Manuskript befindet sich in der Universitätsbibliothek Kassel, Murhard Bibliothek, Handschrift 4˚ Ms.mus. 94[1, Nr. 20.
58 BUCHENAU (wie Anm. 28), S. 19; 32f: „Der Wilde Man von Wolfenbuttel“; „Hertzog, Heinrichs vonn Braunschweig Klage Lied“; „Wie der Lycaon von Wolffenbuttel, jcz newlich in einen Münch verwandelt ist“.
59 Zur Episode in Hofgeismar vgl. HELMUT BURMEISTER, „Gottes rechte Hand kann alles ändern“. Leben und Wirken des zeitweiligen Hofgeismarer Pfarrers Burkard Waldis, in: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte 99 (1994), S. 87-100; 90ff. Auf der Gedenktafel in der Altstädter Kirche Hofgeismars, die an alle Pfarrer erinnert, findet sich auch der Name Burkard Waldis.
60 Westermann stammte aus Münster. Nach geistlichen Studien im Wittenberger Augustinerkloster, wo er Luthers Bekanntschaft gemacht hatte, war er nach Westfalen (Lippstadt) zurückgekehrt. Dort verließ er bald der Orden, trat zum evangelischen Glauben über und wirkte im Geiste Luthers schließlich auch in Hofgeismar, wo der hessische Landgraf ihm eine Pfarrei verlieh. Während einer Reise nach Lemgo, wo er im Auftrag des Landgrafen einen Streit schlichten sollte, erkrankte er und verstarb bald. Zu Westermann vgl. JOCHEN DESEL, Pfarrergeschichte des Kirchenkreises Hofgeismar von den Anfängen bis 1980, Marburg 2004, S. 390f.
61 Im Jahre 1077 gründete Abt Ruthard von Fulda hier eine dem Bonifatius geweihte Propstei. Zwistigkeiten mit dem benachbarten Kloster Germerode führten zu Bedeutungsverlust. Im 15. Jahrhundert ging die Propstei ganz ein.
62 Die Akten liegen im Archiv der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck/ Kassel.
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- Prof. Dr. Ulrich Schoenborn (Autor), 2019, Unterwegs in gewesenen Wirklichkeiten. Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostmitteleuropas, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/509488
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