Handelt es sich in „Sankt Petri Schnee“ um einen analytischen Kriminalroman, in dem der Arzt Georg Friedrich Amberg einer Verschwörung zum Opfer fällt? Oder haben wir es mit einem psychologisch fein ausgeklügelten Roman zu tun, in dem der Protagonist sich, um der Eintönigkeit seines Alltags entfliehen zu können, in eine Welt der Träume und Phantasievorstellungen flüchtet? Dieser Frage gilt es auf den nächsten Seiten auf den Grund zu gehen. Die im ersten Teil zu diskutierende Erzählerperspektive ist für diese Untersuchung nicht unerheblich. Da es sich, wie im Folgenden näher behandelt werden wird, um eine Ich-Erzählsituation handelt, wird der Leser noch stärker in das Geschehen mit einbezogen. Aus der Perspektive des Protagonisten erscheint es dem Leser zunächst sehr schwierig abzuwägen, welcher der beiden einander ausschließenden Versionen der Geschichte er glauben schenken soll. Diese Arbeit hat es sich zum Ziel gemacht, herauszuarbeiten wie der Autor es schafft diese beiden Versionen der Geschichte bis fast zum Ende des Romans so in ein Gleichgewicht zu bringen, dass es nahezu unmöglich erscheint sich für eine der beiden als die Wahre zu entscheiden.
1. Einleitung
Handelt es sich in „Sankt Petri Schnee“ um einen analytischen Kriminalroman, in dem der Arzt Georg Friedrich Amberg einer Verschwörung zum Opfer fällt? Oder haben wir es mit einem psychologisch fein ausgeklügelten Roman zu tun, in dem der Protagonist sich, um der Eintönigkeit seines Alltags entfliehen zu können, in eine Welt der Träume und Phantasievorstellungen flüchtet? Dieser Frage gilt es auf den nächsten Seiten auf den Grund zu gehen. Die im ersten Teil zu diskutierende Erzählerperspektive ist für diese Untersuchung nicht unerheblich. Da es sich, wie im Folgenden näher behandelt werden wird, um eine Ich-Erzählsituation handelt, wird der Leser noch stärker in das Geschehen mit einbezogen. Aus der Perspektive des Protagonisten erscheint es dem Leser zunächst sehr schwierig abzuwägen, welcher der beiden einander ausschließenden Versionen der Geschichte er glauben schenken soll. Diese Arbeit hat es sich zum Ziel gemacht, herauszuarbeiten wie der Autor es schafft diese beiden Versionen der Geschichte bis fast zum Ende des Romans so in ein Gleichgewicht zu bringen, dass es nahezu unmöglich erscheint sich für eine der beiden als die Wahre zu entscheiden.
2. Erzählperspektive
2.1. Stellung des Erzählers zum Geschehen
Der vorliegende Roman gliedert sich zunächst in vierundzwanzig Kapitel. Er ist in eine Rahmenerzählung, die von der Gegenwart der Krankenhaussituation besetzt ist, und eine Binnenerzählung, die in einer umfangreichen Analepse das Leben des Protagonisten und im besonderen die letzten fünf Wochen seines bisherigen Lebens zu beleuchten versucht, unterteilt. Dabei sind Rahmen- und Binnenerzählung durch zwei verschiedene Erzähltempi von einander getrennt. Die Rahmenhandlung zu Beginn des Romans, in die der Erzähler zwischendurch immer wieder zurückkehrt, ist im Präsens verfasst, während die Erinnerungen der Binnenerzählung im Präteritum geschildert werden. Anders als in klassischen Rahmen-Binnenerzählungen hat die Rahmenhandlung in diesem Buch keinerlei bestätigende Funktion für die Binnenerzählung. Sie ergeben zusammen kein geschlossenes Ganzes.
2.2.. Erzählsituation
„Ich heiße Georg Friedrich Amberg und bin Doktor der Medizin. Mit diesen Worten wird mein Bericht über die Ereignisse in Morwede beginnen, den ich eines Tages schriftlich niederlegen werden, sobald ich physisch dazu imstande bin.“[1] Mit diesen Worten stellt sich der Erzähler im zweiten Kapitel des Buches vor. Bis zu diesem Zeitpunkt wird der Leser über die Identität des Erzählenden im Unklaren gelassen. Mit diesen Worten wird auch schon angedeutet, dass Amberg der Erzähler, die Hauptfigur dieses Buches ist.
In „Sankt Petri Schnee“ liegt also eine Ich-Erzählsituation vor. Der Arzt Amberg tritt als Ich-Erzähler auf, ist also extradiegetisch-homodiegetisch und zugleich autodiegetische Erzählinstanz. In der weiteren Differenzierung nach Stanzel ist Amberg ein quasi-autobiographischer Ich-Erzähler. „Das charakteristische Merkmal einer quasi-autobiographischen Ich-Erzählersituation ist die innere Spannung zwischen dem Ich als Helden und dem Ich als Erzähler. Für diese beiden Phasen im Leben des Erzähler-Ich wurden in den Typischen Erzählsituationen die Begriffe „erlebendes Ich“ und „erzählendes Ich“ vorgeschlagen.“[2] Weiter spricht Stanzel von einer „Erzähldistanz“ die beide Phasen des Erzähler-Ich sowohl zeitlich als auch räumlich und psychologisch trenne. Diese Erzähldistanz sei das Maß für die Intensität des Erfahrungs- und Bildungsprozesses, dem das erzählende Ich unterworfen war, ehe es begann, seine Geschichte zu erzählen. Je kürzer die Erzähldistanz sei, umso geringer sei die Wirkung der Erinnerung als Katalysator.
Amberg beginnt seine Erzählung direkt nach dem Aufwachen aus seiner Ohnmacht. Die Erzähldistanz ist folglich sehr gering. Auch kann seine Erinnerung nicht als Katalysator wirken, da sie nur in geringen Anteilen wirklichen Tatsachen entspricht. Er beschwört seine Erinnerungen herauf, um der Ödnis des Alltags entfliehen zu können, um seinem Leben einen Inhalt zu geben. Es ist nicht sein Anspruch, die Vergangenheit zu reflektieren, sondern vielmehr dienen seine Phantasien als Grundlage für ein zukünftiges Leben. Er ist kein allwissender Erzähler.
„Er ist glücklich. Er lebt in einem Traum, und so ist sein Reichtum sicherer als jeder andere. Denn was man im Traum besitzt, kann einem keine Welt von Feinden nehmen. Nur das Erwachen, - aber wer wird so grausam sein, ihn aus seinem Traum zu wecken?“[3] In diesem Ausspruch Ambergs über den Fürsten Praxatin meint man, einen selbstkritischen Kommentar des Erzählers über sich selbst vor sich zu haben. Es scheint eine Charakterisierung seiner selbst zu sein, ein klarer Moment zwischen träumerischen Phantasien und der harten Realität seines Daseins. Es hat den Anschein, als könne der Erzähler mithilfe einer Projektion seiner eigenen Probleme auf eine andere Person eben diese Probleme realisieren und in Worte fassen. In Anbetracht der Tatsache kann doch von einer Entwicklung des Ich-Erzählers gesprochen werden. Auch die Erkenntnis, dass Bibiche nie seine Geliebte war, dass dies nur in seinen Fieberträumen stattgefunden hat, kann als eine Weiterentwicklung des Protagonisten gewertet werden. Auch wenn diese Erkenntnis durch das Auftreten des Pfarrers von Morwede wieder zunichte gemacht wird.[4]
[...]
[1] Perutz, S. 18
[2] Stanzel, S. 272
[3] Perutz, S. 74
[4] vgl. Perutz, S.178 f
- Citation du texte
- Anna Damm (Auteur), 2005, Leo Perutz, Sankt Petrie Schnee - Erzählperspektive und Wahrheitsfindung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/50933
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