Inwiefern sich die Gruppierungen, der Artushof und die Gralsfamilie, in Wolframs von Eschenbach "Parzival" unterscheiden oder Ähnlichkeiten aufweisen und welche Rolle dabei der Protagonist Parzival einnimmt, soll in dieser Arbeit anhand der Aspekte der Erbfolge und der Gemeinschaftszugehörigkeit, der Geographie, der Gemeinschaftszentren und Gemeinschaftsaufgaben sowie der minne und der triuwe untersucht werden.
Nicht selten werden die beiden Gruppierungen in Kontrast zueinander gestellt, wobei jedoch zum Teil sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden. So werden besonders vor 1950 vermehrt Vergleiche gezogen, in denen die beiden Gesellschaften in Bezug auf die Stellung innerhalb der hierarchischen Ordnung unterschiedlich bewertet werden. Danach lassen sich weniger wertende, hierarchisch orientierte Sichtweisen sichten, das Konzept der Opposition der beiden Gesellschaftsmodelle und deren vermeintliche Unvereinbarkeit bleibt jedoch Gegenstand der mediävalen Forschung.
Artushof und Gralsfamilie: Zwei Gesellschaften in Wolframs von Eschenbach «Parzival» in einem Vergleich
In Anbetracht der umfangreichen Forschungsliteratur, die sich entweder mit Wolframs Artushof, mit dessen Gralsfamilie oder gar mit beiden befasst, lässt sich sagen, dass sowohl die Artus- als auch die Gralsgesellschaft prominente Untersuchungsgegenstände in der Mediävistik darstellen. Nicht selten werden die beiden Gruppierungen in Kontrast zueinander gestellt, wobei jedoch zum Teil sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden. So werden besonders vor 1950 vermehrt Vergleiche gezogen, in denen die beiden Gesellschaften in Bezug auf die Stellung innerhalb der hierarchischen Ordnung unterschiedlich bewertet werden. Danach lassen sich weniger wertende, hierarchisch orientierte Sichtweisen sichten, das Konzept der Opposition der beiden Gesellschaftsmodelle und deren vermeintliche Unvereinbarkeit bleibt jedoch das Gegenstand der mediävalen Forschung.1 Inwiefern sich die beiden Gruppierungen in Wolframs von Eschenbach «Parzival» unterscheiden oder Ähnlichkeiten aufweisen und welche Rolle dabei der Protagonist, also Parzival einnimmt, soll im Folgenden anhand der Aspekte der Erbfolge und der Gemeinschaftszugehörigkeit (I.), der Geographie (II.), der Gemeinschaftszentren und - aufgaben (III.) sowie der minne und der triuwe (IV.) untersucht werden.
I. Verwandtschaft und Herrschaftslegitimation durch Familienzugehörigkeit sind im Mittelalter von herausragender Bedeutung, so auch in beiden Gesellschaften in Wolframs «Parzival», jedoch mit unterschiedlichen Konsequenzen.2 Dass Artus durch einen Erbfolger ersetzt werden soll, wird in Wolframs Werk nie diskutiert, da der Artushof in einer Ausserzeitlichkeit existiert, die den Zerfall des Königs nicht kennt. Jedoch spielen Verwandtschaftsstrukturen auch bei Artus eine Rolle, da Sippenzugehörigkeit eine gute Voraussetzung für die Artusritterschaft ist (vgl. Gawan, Artus’ Neffe und dessen Sachverwalter). An Anfortas’ Hof ist die Frage der Erb- und Thronfolge sehr wohl präsent, da die gesamte Gralsgesellschaft, bei der überdies Familien- automatisch Gesellschaftszugehörigkeit bedeutet, auf den genetisch vorbestimmten Erben und Erlöser wartet.3 Parzival vereint durch sein Erbe beide Welten, gehört er doch väterlicherseits zu den Artusrittern, mütterlicherseits zur Gralssippe, ist bei Letzterer gar für die Übernahme der Herrschaft bestimmt.4
II. König Artus ist mit seiner Tafelrunde keineswegs bloss an einem singulären Ort verankert, reist er doch mitsamt seiner Rittergesellschaft in seinen drei Ländereien (Bretane (273,5), Engellant (735,16) und Löver (216,3 ff.)) umher, die alle bewohnt sind und in denen das bäuerliche und ritterliche Leben gleichermassen stattfinden. Aufgrund seiner Mobilität kann Artus im sechsten Buch auch zu Parzival ausreiten und muss ihm keinen Boten schicken, der ihn an seinen Hof einlädt oder dergleichen (280,1-18). Gar nicht mobil ist hingegen Anfortas, der Gralskönig, der Herrscher über das Reich Terre Salvaesche ist und seinen ewigen Sitz auf der Gralsburg Munsalvaesche hat. Um diese Burg sind in einem Umkreis von dreissig Meilen ausser den Einsiedlern keine anderen Anzeichen menschlichen Lebens sichtbar (225,19-22). Diese Voraussetzung, gepaart mit der Tatsache, dass nicht jeder Gralssuchende das Gralsreich findet, sondern nur vom Gral Auserwählte (468,11 ff.), lässt das Reich Anfortas’ - im Gegensatz zu jenem Artus’ - mystisch und nicht wirklichkeitsnah wirken. Die beiden Reiche und deren Herrscher geraten nie in geographische Überschneidung oder Interaktion, bleiben voneinander abgegrenzt. Einzig Parzival scheint durch sein Herumreisen als physischer Berührungspunkt der beiden zu existieren, so ist der doch an beiden Höfen Gast und zuletzt Mitglied der Ritterrunde oder gar (Grals-)König.
III. Am Artushof ist der König selbst klar der «strukturelle Mittelpunkt […] ebenso wie dessen Symbol».5 Artus bestimmt über die Aufnahme neuer Mitglieder der Tafelrunde, über die Reisen und über die Zukunft seiner Gemeinschaft. Als Parzival, benommen von den Blutstropfen im Schnee, umherirrt, wird klar, dass Artus das absolute Bestimmungsrecht über die Kämpfe seiner Ritter hat, da der kampfbegierige Segramor in Artus’ Zelt stürmt und ihn zuerst um Erlaubnis bittet, Parzival angreifen zu dürfen (284,28-285,14). Artus wiederum berät sich gerne mit den Rittern: Artûs was frouwen milte: sölher gâbe in niht bevilte. des was mit râte vor erdâht (730,11-13). Somit steht Artus im Zentrum der Artusgesellschaft und deren Mitglieder haben die Aufgabe, ihrem König mit Rat und im Kampf ehrenhaft beizustehen und ritterliche Heldentaten auszuführen.6 Im Gegensatz zu Artus ist Anfortas nicht so untrennbar mit seinem Amt und Hof verbunden, kann, ja soll auch (möglichst bald) durch einen neuen Gralskönig ersetzt werden, um den Hof von den Leiden Anfortas’ zu erlösen (483,19-484,13). Somit ist am Gralshof der Mittelpunkt nicht der Herrscher, sondern der Gral selbst.7 Die Zentralität dieser geheimnisvollen Instanz wird bei der Gralsprozession ersichtlich, bei der die Aufmerksamkeit aller auf das Erscheinen des Grals gerichtet ist, der dann wiederum in der Mitte des Saals platziert und schlussendlich zu einem scheinbar unendlichen Quell an Nahrung mutiert (235,20-239,7). Des Weiteren bestimmt der «lapis exillis» (469,7) durch eine aufglühende Inschrift über die Kinder, die in die Gralsgemeinschaft aufgenommen werden, über den nächsten Gralskönig und seine Frau sowie über weitere zukunftsweisende Entscheidungen (470,21-29, 478,13-14, 483,19-484,12). Die Aufgaben der Gralsgesellschaft beschränken sich auf das Beschützen des Grals und den Erhalt seiner Rituale und der Gralsgesellschaft durch die Aufnahme von auswärtigen Kindern. Beratung benötigt der Gral keine, was spätestens bei Trevrizents Ausführungen über den transzendentalen Ursprung des Grals Sinn ergibt (u.a. Kyotexkurs, IX. Buch). Parzival seinerseits strebt nach den jeweiligen Zentren der Artus- und Gralsgesellschaft, denn er möchte einerseits von Artus empfangen und zum Ritter der Tafelrunde ernannt werden (123,2-11 & 126,10-14), andererseits sucht er - nach der Gralsprozession und seinem Ausschluss aus der Gralsburg aufgrund der unterlassenen Mitleidsfrage - nach dem Gral: schildes abet umben grâl wirt nu vil güebet sunder twâl […] (332,27-30). Schlussendlich erringt der Sohn Herzeloydes das höchste Gut beider Höfe: das Rittertum der Tafelrunde sowie den Gral und somit das Gralskönigtum.8
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1 Vgl. Pratelidis, S. 28 f.
2 Vgl. Delabar, S. 36.
3 Vgl. Delabar, S. 189-191.
4 Vgl. Chiriac, S. 83.
5 Delabar, S. 187.
6 Vgl. Gürttler, S. 106-115.
7 Vgl. Delabar, S. 187.
8 Vgl. Brall, S. 298-304.
- Citation du texte
- Giulia Rossi (Auteur), 2017, Artushof und Gralsfamilie. Vergleich der zwei Gesellschaften in "Parzival" von Wolfram von Eschenbach, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/506946