Der Widerstreit zwischen Klarheit der Vernunft und Finsternis der Leidenschaften und Triebe diente als primäre künstlerische Inspiration der Aufklärungszeit. Stilistisch wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Aufgabe der frivolen Reize des Rokoko deutlich, zugunsten einer rationalen und schlichten Schönheit, die sich auf die Kraft der reinen Linie gründet. Gleichzeitig treten auch die Wirkungen der Farben in den Hintergrund. Die Abkehr vom affektierten Geschmacks des Rokoko wird als Rückkehr zu den eigentlichen Wurzeln der europäischen Kunst erlebt, das heißt als Hinwendung zur Einfachheit der Linien, wie sie vor allem durch Angelika Kauffmann zur Meisterschaft gebracht wurde.
Angelika Kauffmann – eine Salondame von Geschmack
Wolfgang Nedobity
Die Wahl des Themas lässt sich am besten mit Kant begründen: „Zur Beurteilung schöner Gegenstände, als solcher, wird Geschmack, zur schönen Kunst selbst aber, d.i. der Hervorbringung solcher Gegenstände, wird Genie erfordertGenie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt.“1 Kant war der Ansicht, dass ein Künstler beides braucht – und die Kauffmann hatte auch beide Qualitäten in hohem Maße.
Angelika Kauffmanns römischen Wohnsitz in der Via Sistina 72 können wir als einen der bedeutendsten europäischen Salons des 18. Jahrhunderts bezeichnen. Gemalt zu werden war ein gesellschaftliches Ereignis, das das Atelier der Malerin zu einer Art Salon machte, wo die Kunst der Konversation und des freien Gedankenaustausches sowie die Geselligkeit gepflegt wurde. Ihr Vetter Johann Kaufmann, der seit 1788 bei ihr in Rom lebte, berichtet in einem Brief über das Ausmaß der Gastlichkeit für “über 80 Personen verschiedener Kategorien, 1 Kardinal, 4 Prälaten, 1 Bischoff, Adelsleut, Geistliche und Künstler.“2 Die englische Schriftstellerin Hester Lynch Piozzi urteilt folgendermaßen: „Beside her paintings, of which the world has been the judge, her conversation attracts all people of taste to her house, which none can bear to leave without difficulty and regret.”3 Der Umstand, dass Angelika Kaufmann Teil einer Elite “mit Geschmack” war, wird auch in den Werken von Catherine Wilmot4 und Elisabeth Vigée-Lebrun5 attestiert. Sie war mit Geistesgrößen wie Goethe und Winckelmann befreundet, die sie beide portraitierte. Goethe nahm eine erste Lesung seiner „Iphigenia“ in ihrem Hause vor und berichtete an die Seinen: „Die zarte Seele Angelika nahm das Stück mit unglaublicher Innigkeit auf“.6 Ihre Korrespondentenliste liest sich wie ein Who’s who des 18. Jahrhunderts.7 Man behandelte eine Vielzahl von künstlerischen Themen, nicht zuletzt auch Kunsttheorie, wie sie etwa Johann Georg Sulzer vertrat, der folgendes feststellt: „Man sieht auf der andern Seite, daß Männer von Verstand und Genie, denen es am Geschmak fehlet, sich zu den Künstlern gesellen; aber ihre Werke sind nie wahre Werke der schönen Kunst. Sie können in Gedanken und Erfindung fürtrefflich seyn, aber die Würkung, die man von den Werken der Kunst erwartet, haben sie nicht.“8 Die Bedeutung von Angelika Kauffmanns Salon ist etwa mit der ihres Gönners Lord Hamilton vergleichbar, von dem Tischbein berichtet: „Sein Haus, der Sammelplatz aller Leute von Geschmack, war mit Kunstsachen aller Art ausgeziert. Allgemein berühmt ist seine Sammlung von Vasen, an die er viel wendete, um die Kenntnis von dem guten Geschmack griechischer Zeichnung zu verbreiten.“9
Seit der Aufklärung ist der „Geschmack“ einer der Schlüsselbegriffe der Ästhetik, mit dem sich durchwegs Ansprüche der Erkenntnis, Moral und sozialer Differenzierung verbinden.
Der Begriff des Geschmacks war, seiner Herkunft aus dem Bereich der Sinneswahrnehmungen entsprechend, eng mit dem Begriff der Empfindung und Empfindsamkeit verknüpft. Ursprünglich der Vernunft untergeordnet, wurde der Empfindung als der primären Instanz der Verarbeitung sinnlicher Wahrnehmungen im 18. Jahrundert zunehmend größere Bedeutung zugewiesen. Geschmack zu haben hieß für den Künstler, mit dem Wissen um die anerkannten Qualitätskriterien und ästhetischen Regeln zu schaffen, für den Kenner, auf der Grundlage dieser Regeln zu urteilen. Geschmack war das Resultat von Erziehung und Erfahrung einerseits sowie eines irrationalen Sensors für gesellschaftliche Trends andererseits. Tonelli fasst dies folgendermaßen zusammen: „In the course of the eighteenth century taste grows more and more independent of other factors: at that time aesthetics is being recognized as a particular science, and it tries to assert its individuality by claiming to rest on an original principle, not subordinated to those of other branches of knowledge.”10
In England ist es vor allem Shaftesbury, der den Geschmack zu einem Grundbegriff ästhetischen Philosophierens macht. Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, (1671-1713) setzt Geschmack und Tugend in eine fixe Korrelation und postuliert, dass die Gesellschaft nicht nur durch Prinzipien und Regeln regiert wird, sondern in gleicher Weise durch den "Geschmack".11 Dieser stellt nichts anderes dar, als die Fähigkeit einer Gesellschaft, das Gute, Schöne und Richtige zu erkennen. Die Tatsache, dass Shaftesbury in England eine Schule der Historienmalerei einrichten wollte, war einer der Beweggründe für Angelika Kaufmann nach London zu gehen.
In Deutschland erarbeitete Immanuel Kant im Rahmen seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft (1793) eine ausführliche erkenntnistheoretische Grundlage, die in einer Methodenlehre des Geschmacks gipfelte. Im Hinblick auf unser Thema hält er fest: „Nur in der Gesellschaft wird es interessant, Geschmack zu haben,...“ und er spricht vom Geschmack als einer Art „sensus communis aestheticus“.12 Weiters führt er den kunstgeschichtlich relevanten Aspekt der Geschmacks wie folgt aus: „In der Malerei, Bildhauerkunst, ja allen bildenden Künsten, in der Baukunst, Gartenkunst, sofern sie Künste sind, ist die Zeichnung das Wesentliche, in welcher nicht, was in der Empfindung vergnügt, sondern bloß was durch seine Form gefällt, den Grund aller Anlage für den Geschmack ausmacht. Die Farben, welche den Abriß illuminieren, gehören zum Reiz; den Gegenstand an sich können sie zwar für die Empfindung belebt, aber nicht anschauungswürdig und schön machen: vielmehr werden sie durch das, was die schöne Form erfordert, mehrenteils gar sehr eingeschränkt und selbst da, wo der Reiz zugelassen wird, durch die erstere allein veredelt.“13
Voltaire hingegen zieht mehrmals eine Parallele zwischen dem guten Geschmack in der Kochkunst und dem guten Geschmack in Literatur und Kunst: "Wie der schlechte Geschmack im Physischen darin besteht, den Gaumen durch zu pikante und zu gesuchte Gewürze reizen zu lassen, so besteht der schlechte Geschmack in den Künsten darin, nur an erkünstelten Ornamenten Gefallen zu finden, anstatt die schöne Natur zu empfinden."14 In Frankreich kommt es in der Auseineinandersetzung zwischen rationalistischen und sensualistischen Kunsttheorien zu einem verstärkten Interesse am „Geschmack.“.Für Herder, den Angelika Kauffmann 1788 in Rom kennenlernte, stellt es Frankreichs einziges Verdienst dar, wenn er sagt: „Die vornehmsten Künste waren erfunden oder zurückerfunden von den Italienern:was haben die Franzosen getan? nichts, als das Ding zugesetzt, was wir Geschmack nennen.“15
Dass diese Aussage nicht auf bloßem Chauvinismus beruht, beweist eine Textstelle der gebürtigen Schweizerin Madame de Staël, die das 14. Kapitel ihres Werks über Deutschland mit „Vom Geschmack“ überschrieb: „Auch kann es sich ereignen, daß sich eine ganze Nation als Aristokratie des guten Geschmacks andern gegenüber aufwirft, und sich als einzige gute Gesellschaft in Europa versteht oder auszumachen glaubt; dies läßt sich auf Frankreich anwenden, wo der Gesellschaftsgeist in so außerordentlichem Grade herschte, daß es wegen diese Anspruches wohl Entschuldigung verdiente.“16
Im Vergleich zu Frankreich hat England den Künstlern bessere Bedingungen für die Entfaltung eines aufgeklärten Geschmacks geboten. Als im Jahre 1760 König Georg III. im Alter von 22 Jahren den Thron besteigt, bemüht er sich zwar mit Hilfe der Tories um eine Wiederherstellung der königlichen Vorrechte, fördert aber den neuen neoklassischen Kunststil, der einen Bruch mit dem Geschmack der aristokratischen Whigs darstellt. Eine besondere Anziehungskraft übt er dadurch auf die englische Kolonie in Rom und anderen italienischen Städten aus. Auch Künstler anderer Nationalitäten, die in Italien tätig waren, haben sich nach und nach in London niedergelassen: z.B. der aus Frankfurt gebürtige Johannes Zoffany (1760), der aus Pennsilvania stammende Benjamin West (1763) sowie die Schweizer Füssli (1778) und Angelika Kauffmann (1766). Mit ihrem sanften, dekorativen Stil eines idyllischen Neoklassizismus traf sie den Geschmack der gehobenen englischen Gesellschaft und erschloss sich zusätzlich zur Portrait- und Historienmalerei weitere Einnahmequellen. Die angehende industrielle Revolution in diesem Land ermöglichte ihr neue Wege der Reproduzierbarkeit ihrer Darstellungen auf einer Vielzahl von Unterlagen. Diese reichen von den neoklassischen Deckenverzierungen für Matthew Boulton, bzw. dem Architekten Robert Adam bis zu den Steingutkreationen eines Josiah Wedgewood. Dies hatte zur Folge, dass der ursprünglich elitäre neoklassische Geschmack allmählich zum Massenphänomen wurde.
Der Widerstreit zwischen Klarheit der Vernunft und Finsternis der Leidenschaften und Triebe diente als primäre künstlerische Inspiration der Aufklärungszeit. Stilistisch wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Aufgabe der frivolen Reize des Rokoko deutlich, zugunsten einer rationalen und schlichten Schönheit, die sich auf die Kraft der reinen Linie gründet. Gleichzeitig treten auch die Wirkungen der Farben in den Hintergrund. Die Abkehr vom affektierten Geschmacks des Rokoko wird als Rückkehr zu den eigentlichen Wurzeln der europäischen Kunst erlebt, das heißt als Hinwendung zur Einfachheit der Linien bei den griechischen Vasen und Skulpturen sowie bei den frühen italienischen Malern. Man strebte nach dem Ideal einer Kunst, die universell gültige Wahrheiten der Natur abbildet, die den Betrachter erheben, entzücken und begeistern. Richard Payne Knight hat als Erster erkannt, dass die Erhabenheit eine entscheidende Komponente in der Geschmacksbildung der Aufklärung darstellt.17 Dass Geschmack auch für die Wertschätzung antiker Kunst unerläßlich ist, wird in den Werken von Alexander Gerard18 und Archibald Alison19 ausführlich dargelegt.
In der Praxis bewiesen dies auch zwei der führenden Köpfe der neuen Kunstbewegung, Anton Raffael Mengs (1728-1779) und Johann Joachim Winckelmann (1717-1768), die sich in den 1750er Jahren in Rom niederließen. Angelika Kauffmann, die sich bis zu ihrer Ankunft in Rom außer mit Correggio, Guido Reni und Guercino vor allem mit Werken von Raffael und Michelangelo auseinandergesetzt hat, konzentriert, angeleitet durch Winckelmann, ihre römischen Studien verstärkt auf Vorbilder aus dem klassischen Altertum, denn sie schätzte wie er, den griechischen Geschmack für die Schönheit der Formen. Bereits zu Beginn seines ersten großen Werkes, den 1755 verfassten „Gedancken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauerkunst“ beschäftigt sich Winckelmann mit Geschmacksfragen. Seine These lautet: „Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden.“20 Er gilt u.a. als Begründer der klassischen Archäologie und der neueren Kunstwissenschaft. Seine Schriften waren bahnbrechend für den Geschmackswandel vom Barock zum Klassizismus.
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1 Ernst Cassirer (Hg.): Immanuel Kants Werke. Berlin, 1914, Bd.5, S.386 u.382
2 Johann Kauffmann an J.A. Metzler, Brief v. 7. März 1794. Manuskript im Vorarlberger Landesarchiv. Bregenz
3 Hester Lynch Piozzi: Observations and Reflections Made in the Course of a Journey through France, Italy, and Germany. London, 1789, Bd.2, S.141
4 Catherine Wilmot: An Irish Peer on the Continent (1801-1803), edited by Thomas U. Sadleir. London, 1924, S.178
5 Elisabeth Vigée-Lebrun: Souvenirs de Madame Vigée Le Brun. Paris, 1891, Bd.1, S.156
6 Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise. In: Goethes Werke, hg. v. S.M.Prem. Leipzig, 1925, 21.Bd., S.131
7 Angelika Kauffmann: »Mir träumte vor ein paar Nächten, ich hätte Briefe von ihnen empfangen« Gesammelte Briefe in den Originalsprachen herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Waltraud Maierhofer. Lengwil 2001, 550 S.
8 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Leipzig, 1771, Bd. 1, S. 462
9 Heinrich Wilhelm Tischbein: Aus meinem Leben. Hg. von Kuno Mittelstädt. Berlin, 1956, S.288f.
10 Giorgio Tonelli: Taste in the history of aesthetics from the Renaissance to 1770. In: Philip P. Wiener (Hg.): Dictionary of the history of ideas. New York, 1973, Bd. 4, S.354
11 Anthony Ashley Cooper: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times , edited by Lawrence E. Klein, Cambridge, 1999
12 Cassirer, loc.cit., S.273, 367 u.369
13 ibid., S.295
14 Jean-Louis Flandrin: Der gute Geschmack und die soziale Hierarchie. In: Philippe Ariès und Roger Chartier: Geschichte des privaten Lebens. Frankfurt am Main, 1991, Bd.3, S.301f.
15 Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. In: Sturm und Drang. Dichtungen und theoretische Texte in zwei Bänden. Ausgewählt von Heinz Nicolai. München: Winkler, 1971, Bd.1, S.219
16 Anne Germaine de Staël: Über Deutschland. Hg. von Monika Bosse. Frankfurt am Main, 1985, S.229
17 Richard Payne Knight: An Analytical Inquiry into the Principles of Taste. London, 1805
18 Alexander Gerard: An Essay on Taste. London, 1759
19 Archibald Alison: Essays on the Nature and Principles of Taste. Edinburgh, 1790
20 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Hg. von Ludwig Uhlig. Stuttgart, 1969, S.3
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- Wolfgang Nedobity (Author), 2008, Angelika Kauffmann. Eine Salondame von Geschmack, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/506702