In der Geschichte der Literatur, der Musik und des Films gibt es nur wenige Figuren, wie z. B. Dr. Faustus oder Hamlet, die künstlerisch in so breiter Form bearbeitet wurden wie das Phantom der Oper, das 1911 von Gaston Leroux in dem gleichnamigen Roman erschaffen wurde. Wenn man allein die wichtigsten Adaptionen zusammenzählt, dann beruhen bis heute drei Romane, zehn Filme und fünf Musicals auf dem Stoff über den Mann mit der Maske - nicht zu vergessen weitere 29 Filme, die, auch wenn sie von der ursprünglichen Geschichte weit entfernt sind, zumindest den Begriff „Phantom“ in ihren Titeln tragen. Doch was ist an diesem Thema so faszinierend, dass es nicht nur inter- sondern auch intra-und transmedial dermaßen häufig aufgegriffen wurde?
Diese Arbeit wird sich im Speziellen mit der Intermedialität in den Musicals THE PHANTOM OF THE OPERA von Ken Hill (1976) und Andrew Lloyd Webber (1986) beschäftigen und das Zirkulieren bestimmter Zeichen bzw. Codes untersuchen, sowie sekundär intra- und transmediale Verweise zu anderen Medien aufzeigen. Jürgen E. Müller schrieb 1996: „ Das Zeitalter medialer Vernetzung produziert unzählige inter-mediale Hybriden, die mit ihren medialen Dynamiken und Transformationen überkommene und fixierte Texte und Zeichenbedeutungen fortwährend Metamorphosen in Anderes aussetzen.“Damit erklärt er zugleich, dass der Begriff der Intermedialität durch Sprache, Schrift, Druck, Foto- und Phonographie, Radio, Fernsehen und Video bedingt wird , und es somit zu einem Spiel zwischen den Medien kommt, die nicht nur aufeinander aufbauen, sondern sich zugleich auch abgrenzen, in dem sie gewisse Zeichen und/oder Ereignisse in einen anderen pragmatischen bzw. kognitiven Kontext stellen.
Diese Theorie bildet den Rahmen für meine Analyse bestimmter semantischer Symbole, Ikons und Indexe, die einer genaueren Betrachtung der beiden Musicals THE PHANTOM OF THE OPERA von Hill und Webber, folgen wird. Zuvor möchte ich in einem eigenständigen Kapitel die Adaptionsgeschichte des Stoffes um das Phantom der Oper darlegen und erläutern, da hierdurch die intermediale Verknüpfung bestimmter dramaturgischer und narrativer Elemente verdeutlicht werden kann.
Inhalt
1.0. Einleitung
2.0. Die Faszination des Maskenmannes
3.0. THE PHANTOM OF THE OPERA und Ken Hill
3.1. Die Entstehung
3.2. Die stofflichen Veränderungen im Vergleich zur Vorlage und die Auswirkungen auf das dramaturgische Konstrukt
3.3. Die Musik und ihre narrativen Elemente
4.0. THE PHANTOM OF THE OPERA und Andrew Lloyd Webber
4.1. Die Entstehung
4.2. Die stofflichen Veränderungen im Vergleich zur Vorlage und die Auswirkungen auf das dramaturgische Konstrukt
4.3. Die Musik und ihre narrativen Elemente
5.0. Die Oper bei Leroux, Hill und Webber
5.1. Die opernhaften Elemente bei Gaston Leroux
5.2. Die opernhaften Elemente bei Ken Hill
5.3. Die opernhaften Elemente bei Andrew Lloyd Webber
6.0. Hill und Webber im intermedialen Vergleich
6.1. Die Maske
6.2. Der Spiegel
6.3. Das Ende des Phantoms
7.0. Fazit
8.0. Bibliographie
9.0. Anhang
10.0. Erklärung
„Genug der faden Scherze!
Unsere Zuschauer sind schon gespannt wer gewinnt.
Meine Oper beginnt!“
- Das Phantom der Oper -[1]
1.0. Einleitung
In der Geschichte der Literatur, der Musik und des Films gibt es nur wenige Figuren, wie z. B. Dr. Faustus oder Hamlet, die künstlerisch in so breiter Form bearbeitet wurden wie das Phantom der Oper, das 1911 von Gaston Leroux in dem gleichnamigen Roman erschaffen wurde. Wenn man allein die wichtigsten Adaptionen zusammenzählt, dann beruhen bis heute drei Romane[2], zehn Filme und fünf Musicals auf dem Stoff über den Mann mit der Maske – nicht zu vergessen weitere 29 Filme, die, auch wenn sie von der ursprünglichen Geschichte weit entfernt sind, zumindest den Begriff „Phantom“ in ihren Titeln tragen.[3] Doch was ist an diesem Thema so faszinierend, dass es nicht nur inter- sondern auch intra- und transmedial dermaßen häufig aufgegriffen wurde?
Diese Arbeit wird sich im Speziellen mit der Intermedialität in den Musicals THE PHANTOM OF THE OPERA von Ken Hill (1976) und Andrew Lloyd Webber (1986) beschäftigen und das Zirkulieren bestimmter Zeichen bzw. Codes untersuchen, sowie sekundär intra- und transmediale Verweise zu anderen Medien aufzeigen. Jürgen E. Müller schrieb 1996: „ Das Zeitalter medialer Vernetzung produziert unzählige inter-mediale Hybriden, die mit ihren medialen Dynamiken und Transformationen überkommene und fixierte Texte und Zeichenbedeutungen fortwährend Metamorphosen in Anderes aussetzen.“[4] Damit erklärt er zugleich, dass der Begriff der Intermedialität durch Sprache, Schrift, Druck, Foto- und Phonographie, Radio, Fernsehen und Video bedingt wird[5], und es somit zu einem Spiel zwischen den Medien kommt, die nicht nur aufeinander aufbauen, sondern sich zugleich auch abgrenzen, in dem sie gewisse Zeichen und/oder Ereignisse in einen anderen pragmatischen bzw. kognitiven Kontext stellen.[6]
Diese Theorie bildet den Rahmen für meine Analyse bestimmter semantischer Symbole, Ikons und Indexe, die einer genaueren Betrachtung der beiden Musicals THE PHANTOM OF THE OPERA von Hill und Webber, folgen wird.[7] Zuvor möchte ich in einem eigenständigen Kapitel die Adaptionsgeschichte des Stoffes um das Phantom der Oper darlegen und erläutern, da hierdurch die intermediale Verknüpfung bestimmter dramaturgischer und narrativer Elemente verdeutlicht werden kann.
2.0. Die Faszination des Maskenmannes
Die Inspirationsquelle zu Gaston Leroux` Roman LE FANTÔME DE L`OPÉRA war zum einen das Opernhaus von Charles Garnier mit seinen architektonischen Besonderheiten, wie dem unterirdischen See, den man während der ersten Periode der 15 Jahre andauernden Bauarbeiten künstlich anlegen musste, um einen Seitenarm der Seine zu stauen. Zum anderen verwendet Leroux, der um die Jahrhundertwende auch als Theaterkritiker tätig war, das reale, aber dadurch nicht weniger dramatische Ereignis des Kronleuchters der Grand Opéra, der während einer Vorstellung am 20.Mai 1896 der 56jährigen Conièrge Mme Chomette auf den Kopf stürzte.[8] Als Kern der Liebesgeschichte in diesem Kriminalroman benutzt Leroux die damals schon zur Legende gewordene Begebenheit um einen Bühnenarbeiter, der sich unsterblich in ein Ballettmädchen verliebte. Nachdem er von ihr abgewiesen wurde, beging er Selbstmord und vermachte sein Skelett dem Operfundus, um der jungen Frau auch fortan nahe sein zu können.[9]
Trotz dieser spannenden und auch romantischen Geschehnisse wurde das Buch LE FANTÔME DE L`OPÉRA, das 1911 in Paris erschien, kein Erfolg[10], was sich aber bereits 1910 abzuzeichnen begann, als die Geschichte als Fortsetzungsroman in einer Pariser Zeitung erschien, ohne eine Resonanz bei den Lesern hervorzurufen.[11] Selbst die spannenden Ereignisse konnten den doch recht drögen und teilweise unbeholfenen Schreibstil Gaston Lerouxs nicht wettmachen. Der Roman geriet in Vergessenheit.
Erst als Leroux Carl Laemmle, den Präsidenten von Universal Pictures, der 1922 in Europa Urlaub machte, kennen lernte, wurde die Geschichte um das Phantom wiederentdeckt. Laemmle gestand Leroux, dass ihn die Pariser Oper sehr fasziniere und dieser gab dem Produzenten daraufhin seinen Roman zu lesen. Carl Laemmle verschlang das Buch in einer Nacht und erwarb sofort die Filmrechte für seine Produktionsfirma.[12] Zurück in Amerika führte er zähe und langwierige Verhandlungen mit dem konkurrierenden Studio Metro-Goldwyn-Mayer (MGM), da er sich nur Lon Chaney in der Rolle des Phantoms vorstellen konnte, der aber wiederum einen Vertrag mit MGM hatte. Chaney faszinierte das amerikanische Publikum zuvor als Glöckner von Nôtre Dame in der gleichnamigen Verfilmung des Victor Hugo-Klassikers und trug bereits den Beinamen „Meister der Maske“.[13] Laemmle verpflichtete den Regisseur Rupert Julian und begann Mitte 1924 mit den Dreharbeiten, die so langsam vorangingen, dass Edward Sedgwick als zweiter Regisseur hinzugezogen wurde. Sedgwick verwirklichte vor allem die imposanten Massenszenen am Ende der Handlung.[14] Der Film THE PHANTOM OF THE OPERA kam 1925 in die amerikanischen Kinos und wurde dort ein voller Erfolg. Als besonderer PR-Coup wurde an den Kinokassen kostenlos Riechsalz verteilt, da in den Vorführsälen viele Frauen beim Anblick des Phantoms in Ohnmacht fielen.[15] Der „Meister der Maske“ hatte also wieder zugeschlagen. Bis heute unerreicht verunstaltete Lon Chaney sein eigenes Gesicht durch einfache Mittel: Mit einem Drahtgestell zog er seine Nase hoch und erweckte dadurch den Eindruck, dass sie verstümmelt ist, mit Zelluloidscheiben, die er sich in die Backentaschen stopfte, konnte er seinem Kopf ein deformiertes Aussehen geben.[16]
Nach dem großen Erfolg von 1925 verschwand das Phantom für einige Jahre von der Leinwand. Der Stummfilm wurde zwar 1929 nachcoloriert, konnte die Zuschauerrekorde des Originals an den Kinokassen aber nicht brechen.[17] Erst 1943 entschloss sich wiederum Universal Pictures zu einem Remake. Diese Idee lag auf der Hand, denn die Kulissenbauten von 1925 waren so stabil, dass sie nicht demontiert werden konnten und noch im Studio 28 standen. Sie wurden somit auch für die neue Phantomversion verwendet.[18] Die Regie führte diesmal Arthur Lupin und als Phantom wurde der damalige Publikumsmagnet Claude Rains verpflichtet. Im Unterschied zum Stummfilm ist diese Version ein reiner Ausstattungsfilm, der die Leichtigkeit der Oper mit ihren Liebesränken statt die Seelenqualen des Phantoms in den Vordergrund stellt. Die Faszination an dem Mann hinter der Maske wird schon allein dadurch zerstört, dass gezeigt wird, wer das Phantom ist und wie er vor einem Säureunfall, der ihm das Gesicht entstellte, aussah. Auch wurden komplette Handlungsstränge weggelassen bzw. stark verändert um der Liebesbeziehung zwischen Christine und zwei Männern den Vorrang zu lassen. Dadurch verkommt der Stoff zu einer billigen Hollywoodschnulze und selbst Namen wie „Erik“ wurden zu Gunsten einer größeren Popularität umgewandelt.[19]
Bis in die 1980er Jahre tauchten nur noch sporadisch Phantom-Adaptionen auf. Zu nennen wäre hier z. B. der mexikanische Film EL FANTASMA DE LA OPERETA (1961) von Fernando Cortes, dessen Handlung sehr frei nach Leroux ins Groteske übersteigert wurde. Gleichzeitig kann man hier aber auch von einem Vorläufer der Musicals aus den 1980er Jahren reden, wurde diese Filmkomödie doch in bester Musicalart gestaltet.[20] Eine sehr eigenwillige und moderne Adaption des Stoffes bietet die amerikanische Parodie PHANTOM OF THE PARADISE (1974) von Brian De Palma. Eine Rockpopversion, die aber erstmalig die Faust-Motivik mit dem Phantom verknüpft und den Handlungsort in einen Musikpalast mit dem Namen „Paradise“ verlegt.[21]
Nach so vielen musikalischen Filmversionen des Phantomstoffes ist es nur eine logische Konsequenz, dass 1976 das erste Musical zu dem Thema Premiere hatte. Ken Hill hielt sich dabei im ersten Akt erstaunlich eng an das Original, während der zweite Akt extrem von Leroux abweicht und durch seine sehr interessante Figurenkonstellation neue Interpretationswege öffnet.[22]
Nicht unerwähnt bleiben darf der Fernsehfilm DAS PHANTOM VON BUDAPEST (1983) von Robert Markowitz, da er zum einen die Idee von De Palma aufgreift und die Handlung von Paris an einen anderen Ort – in diesem Fall Budapest – verlegt und sich von dem Film aus dem Jahr 1943 beeinflussen lässt, da hier die Geschichte der Entstellung des Phantoms ebenfalls gezeigt wird.[23]
1986 erschienen weltweit gleich zwei Musicals, die das Phantom als Thema hatten. In England feierte Andrew Lloyd Webbers THE PHANTOM OF THE OPERA eine triumphale Premiere, derweil in Amerika David Bishops THE PHANTOM OF THE OPERA – OR – THE PASSAGE OF CHRISTINE weithin unbeachtet blieb. Während Webber seinen Schwerpunkt auf die romantische und doch tragische Liebesgeschichte legte[24], stellte Bishop den Kriminalfall ins Zentrum seines Geschehens und scheiterte daran.[25]
Einen ganz eigenen Zugang zur Materie des Phantoms fand der Amerikaner Dwight H. Little mit seinem Film PHANTOM OF THE OPERA (1989). Er verlegte wie De Palma die Handlung in die Gegenwart (New York), vollzog dann aber einen Zeitsprung in das London Ende des 19. Jahrhunderts. Weiterhin übernahm er von De Palma die direkte Verknüpfung mit dem Fauststoff, doch legte dann den Schwerpunkt auf die Horrorelemente, die in Leroux` Roman vorkommen und überspitzte sie sogar, da er Parallelen zu Jack the Ripper aufwies. Die Adaption von Little ist die bei weitem blutigste. Nicht ohne Grund wird sein Phantom von Robert Englund verkörpert, der als „Freddy Krueger“ mit den Horrorfilmen NIGHTMARE ON ELMSTREET berühmt wurde.
Alle Phantomversionen, einschließlich des Originals, zeigten bis dato nur die letzten Monate bzw. Wochen im Leben des Maskenmannes. Inspiriert durch den Roman von Gaston Leroux und dem Musical von Andrew Lloyd Webber, schrieb Susan Kay mit ihrem Buch PHANTOM (1990) eine fiktive Biographie des Phantoms. Damit entstand nicht nur das erste intramediale Werk zum Thema, sondern Kay lieferte zugleich die doch recht oft vermisste Handlungsmotivation und erklärte somit die charakterlichen Grundzüge des Operngeistes. Geschickt lässt Kay in ihrem Roman nicht nur die Protagonisten der eigentlichen Handlung zu Wort kommen, sondern schickt Erzählungen der Mutter, eines Lehrmeisters und des, bei Leroux als Perser bekannten, Nadirs voraus. Damit legitimiert sie sämtliche Adaptionen, welche die Entstellung des Phantoms im Unklaren lassen und bereitet den Boden für eine Fortführung der Geschichte, in dem sie erwähnt, was mit Raoul und Christine nach dem Tod von Erik passiert.[26]
Wiederum eine neue Facette der Geschehnisse um das Phantom brachte der Fernsehzweiteiler THE PHANTOM OF THE OPERA von Tony Richardson 1990 zu Tage. Arthur Kopit schrieb das Drehbuch für die europäische Produktion[27], die als erstes und einziges von allen Filmen an den Originalschauplätzen, nämlich der Grand Opéra in Paris, gedreht wurde. Kopit griff in seinem Screenplay die Idee von Kay auf und begründete die Faszination des Phantoms an Christine nicht nur mit ihrer gesanglichen Leistung, sondern ließ die Sängerin wie die Mutter Eriks aussehen. Weiterhin variierte er die familiäre Verknüpfung von Ken Hill. Bei Hill war der Perser der Bruder des Phantoms. Kopit strich die Figur des Persers, stellte mit dem ehemaligen Operndirektor Gérard Carrièr dem Phantom aber einen Vater an die Seite. Einmalig an diesem Film ist, dass man zu keinem Zeitpunkt die Entstellung des Phantoms zu Gesicht bekommt und sie somit dem kollektiv Imaginären überlässt. 1991 änderte Arthur Kopit dieses Detail und fügte der Musicalversion seines Stoffes, der von Maury Yeston vertont wurde, eine Demaskierung hinzu. Yeston plante bereits seit vielen Jahren ein Musical zu dem Thema, scheiterte dann aber immer wieder bei der Suche nach einem geeigneten Librettisten. Obwohl Yeston und Kopit in ihren Metiers bereits anerkannte Größen waren, fand das gemeinsame Projekt in der Öffentlichkeit keinen breiten Anklang.[28]
Als durchaus interessant einzustufen sind die beiden intramedialen Werke von Nicholas Meyer und Frederick Forsythe. Meyer kombinierte die Geschichte des Phantoms mit dem Leben von Sherlock Holmes in dem 1994 erschienen Roman SHERLOCK HOLMES AND THE PHANTOM OF THE OPERA. Der literarische Kunstgriff ist hierbei, dass der Autor eine fiktive Person eines realen Schriftstellers (Sir Arthur Conan Dolye) aufgreift und ihn einen weiteren fiktiven Charakter eines realen Erzählers (Gaston Leroux) verfolgen lässt. Hierbei parodiert Meyer nur allzu oft die ursprüngliche Handlung, in dem er Sherlock Holmes vieles anstelle des Raouls erleben, oder z. B. Gaston Leroux in die Rolle des musikalischen Direktors der Pariser Oper schlüpfen lässt. Zum Ende des Romans findet sich sogar noch eine Parallele zu Kay, da das Phantom ohne seine Maske die Stimme verliert und anschließend erklärt, dass er diesen Komplex seiner Mutter zu verdanken hat.[29] Ganz anders wiederum und kaum auf Leroux aufbauend ist der Roman THE PHANTOM OF MANHATTEN (1999) von Frederick Forsythe, da seine Geschichte erst Jahre nach dem eigentlichen Ende beginnt. Damit hat Forsythe eine intramediale Fortführung der Phantomlegende verfasst, die nahtlos an alle Versionen, in denen das Phantom am Ende nicht stirbt, anknüpfen kann. Hierfür übernimmt der Autor das Ende von Susan Kay und verweist gleichzeitig direkt auf Webber. Das ist nicht weiter verwunderlich, teilte Webber Forsythe doch mit, dass er eventuell ein Fortsetzungsmusical plane. Dementsprechend tauchen viele Symbole und auch Stilelemente des Musicals in dem Roman auf.[30]
Andrew Lloyd Webber gab die Idee eines weiterführenden Musicals über das Phantom der Oper letztendlich auf, ließ dafür aber seinen Bühnenerfolg 2004 von Joel Schumacher verfilmen. Auch wenn für den Film einige Handlungsstränge verändert werden mussten und sich somit neue Sinnzusammenhänge ergaben, ist es neben dem Stück von Kopit und Yeston die einzige Filmadaption eines Musicals über das Phantom.[31]
Obwohl ich nur einen kleinen Teil der Phantomvarianten hier nennen konnte um einen Stoffüberblick zu gewährleisten, ist anhand der exemplarischen Beispiele klar geworden, dass sich fast alle Adaptionen unter- und miteinander bedingen. Da es zu weit führen würde alle hier genannten Verweise konkret zu analysieren, werde ich mich im Folgenden auf die beiden Musicals THE PHANTOM OF THE OPERA von Ken Hill und Andrew Lloyd Webber beschränken.[32]
3.0. THE PHANTOM OF THE OPERA und Ken Hill
THE PHANTOM OF THE OPERA von Ken ist das älteste Musical mit dem Phantomsujet. Natürlich lässt sich die Beachtung, die diesem Bühnenwerk zuteil wurde nicht mit der Version von Andrew Lloyd Webber vergleichen. Als das „Urmusical“ über das Phantom der Oper kann es aber als Grundlage für alle anderen Bühnenstücke gesehen werden, an denen sich Komponisten wie Maury Yeston und David Bishop oder Librettisten wie Arthur Kopit und sogar letztendlich Kathleen Masterson orientierten.
3.1. Entstehung
Das Konzept, mit dem sich Ken Hill ab 1975 beschäftigte war recht einfach: Er wollte Lerouxs Geschichte über das Phantom mit realen Operngeschehnissen jener Zeit der Jahrhundertwende kombinieren.[33] Zusammen mit Kathleen Masterson, die an den Dialogen mitwirkte, arbeitete Hill die Geschehnisse um den Mann mit der Maske in verschiedene Opernmelodien ein und verankerte so die Handlung in einen musikgeschichtlichen Kontext.
Das Musical THE PHANTOM OF THE OPERA wurde am 6. Juli 1976 in Lancaster/ England mit geringem Erfolg uraufgeführt. Nach nur einer Saison musste es aus dem Spielplan genommen werden, da die Publikumsresonanz zu niedrig war.[34] Daraufhin trennte sich Hill von Kathleen Masterson und überarbeitete sein Musical mit David Bishop.[35] Hill und Bishop konzentrierten sich vor allem auf die Passagen zwischen den einzelnen Opernmelodien und versuchten dort die Handlungsabläufe zu verdichten und somit für den Rezipienten flüssiger zu gestalten. Diese verbesserte Version kam am 5. Mai 1984 im Royal Theatre in London-Stratford unter der Regie von John Sharman auf die Bühne.[36] Ursprünglich sollte die Show von Andrew Lloyd Webber und Cameron Mackintosh am Stratford East Theatre produziert werden, doch nachdem ihnen Sharman von dieser Idee abriet, da das Musical zu unausgegoren sei, nahmen die beiden Gründer der Really Useful Group von der Finanzierungsidee Abstand.[37] Trotz der Bedenken, die selbst der Regisseur äußerte, kam das Bühnenstück diesmal beim Publikum an – wenn auch nur mit moderatem Erfolg. 1985 ging THE PHANTOM OF THE OPERA von Ken Hill auf eine Tournee durch die USA, wo es schließlich ab 1988 als En Suite Produktion in San Francisco lief.[38] Doch auch daran kann man erkennen, dass das Stück nur mäßig beim Publikum ankam, wurden die hitverdächtigen Musicals alle traditionell am Broadway gespielt, wohin es Hill zumindest als En Suite Musical nicht schaffte.
Der eigentliche Durchbruch gelang Hills PHANTOM OF THE OPERA dann auch erst im Jahr 1987, als es wieder in London ein festes Theater zugewiesen bekam und dort als Konkurrenz zu Andrew Lloyd Webbers gleichnamigen Musical lief.[39] Heute wird das Stück nicht mehr als En Suite Produktion aufgeführt, gehört aber neben dem Musical von Kopit und Yeston weltweit zu den beliebtesten Tourneeproduktionen.
3.2. Die stofflichen Veränderungen im Vergleich zur Vorlage und die Auswirkungen auf das dramaturgische Konstrukt
Von allen Phantommusicals hält sich der erste Akt von Ken Hill am dichtesten an die Romanvorlage von Gaston Leroux.[40] Er springt nur moderat durch die ursprünglichen Kapitel und gibt damit das grundlegende Handlungskonstrukt recht genau wieder. Erstaunlich hierbei ist allerdings, dass Hill z. B. kaum auf den Briefwechsel des Operngeistes mit den Direktoren eingeht, aber andererseits die Entführung des Pferdes Caesar zentral in eine Arie stellt, obwohl diese Begebenheit bei Leroux nur ein nützliches Detail ist. Wie bei allen Musicals endet der erste Akt mit dem Lüstersturz, der in diesem Fall aber verfremdet wird, da er nicht von der Decke des Zuschauersaals sondern von der Bühnenkulisse fällt. Somit verwendet Hill es nicht als coup de théâtre.
Der zweite Akt folgt in seinen rudimentären Elementen ebenfalls dem Original, was durch eine stark veränderte Figurenkonstellation aber überdeckt wird,[41] Stört es im ersten Akt kaum die Handlung, dass Raoul der Sohn eines der Operndirektoren ist, so ist die verwandtschaftliche Beziehung zwischen dem Phantom und dem Perser im zweiten Teil doch recht rabiat untergebracht worden, zumal man den Perser zuvor nur als den Garderobier Christines kennen gelernt hat. Durch die Information, dass das Phantom und der Perser Brüder sind, lässt sich das Ende des Musicals natürlich völlig frei gestalten. Hill wählt einen ganz eigenen Schluss in dem er das Phantom mit dem Dolch seines Bruders Selbstmord begehen lässt, nachdem er keine Möglichkeit zur Flucht vor dem rasenden Opernvolk sieht.[42] Nach dem Tod des Phantom wird es zum letzten Mal demaskiert, wobei Hill seinem Musical genau dort noch einen Richtungswechsel in der Ideologie gibt, da das entstellte Gesicht nun keine Furcht, sondern nur noch Mitleid auslöst und so zu einem Vergeben der Grausamkeiten führt. Das Phantom verliert also nicht durch seinen Tod an Schrecken, sondern weil die Menschen in sich gehen und die Geschehnisse reflektieren.
3.3. Die Musik und ihre narrativen Elemente
Hills PHANTOM OF THE OPERA setzt sich aus elf Bildern mit insgesamt 23 Szenen zusammen. In den Szenen erklingen 16 bis 18 in sich abgeschlossene Songs die als Solo, Duett, Terzett, Quartett oder Septett gesungen werden.[43]
Ken Hill adaptierte für sein Musical THE PHANTOM OF THE OPERA ausschließlich Stücke aus Opern.[44]
Um die Opernmelodien für sein Musical anzupassen, musste er einige Passagen aus Arien kürzen, bzw transponieren.[45] Fast immer musste er die Phrasierung und Agogik der ursprünglichen Melodien verändern, damit der Text zur Geltung kam. Bis auf drei Ausnahmen dichtete Hill für alle Lieder einen neuen Text, der die Handlung emotional und narrativ ergänzen und vertiefen sollte. Sonderfälle sind hierbei die Arien „Accursed Be All Ye Thoughts“, „What Do I See?“ und “Ah, Do I Hear My Lovers Voice?”, die sämtlich aus der Oper FAUST von Charles Gounod stammen. Hier behielt Hill die englische Übersetzung der originalen Texte bei, da die Oper FAUST als solches auch auf der Musicalbühne zu sehen ist.
Das Phantom hat zwei wichtige Leitmotive, die sich wie ein roter Faden durch das Musical ziehen und eine Charakterveränderung des Maskenmannes symbolisieren. Werden im ersten Akt entweder die vier Anfangstakte oder die drei ersten Gesangstakte von „Floating High“ angespielt, so sind dies im zweiten Akt die ersten vier Takte von „Ne`er Forsake Me“. „Floating High“ verdeutlicht die Sehnsucht des Phantoms, während das Thema von „Ne`er Forsake Me“ eher ein Sinnbild für seine Bitte nach erfüllter Liebe ist.
[...]
[1] Webber, Andrew Lloyd: Das Phantom der Oper. Klavierauszug der Hamburger Aufführung. Hamburg: Stella Opern Veranstaltungs GmbH, 1991.
[2] Vgl. Tabelle 1 im Anhang, S.42
[3] Vgl. Ziegenbalg, Ute: a.a.O. S.16
[4] Müller, Jürgen E.: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation. Münster: Nodus Publikationen, 1996. S.15
[5] Vgl. ebenda S.26ff
[6] Vgl. ebenda S.84/85
[7]Ich werde mich im Verlauf der Betrachtungen vorwiegend eher auf die pragmatischen Aspekte der Intermedialität stützen, da ich der Meinung bin, dass das Gesehene mit der Handlung in einen Kontext gesetzt werden muss, um eine sinnvolle Analyse, die den Überblick nicht verliert, für den Rezipienten gewährleisten zu können.
[8] Vgl. Walsh, Martin: Andrew Lloyd Webber. Der erfolgreichste Komponist unserer Zeit. München: Piper, 1994. S.346
[9] Vgl. ebenda S.331
[10] Vgl. Mühe, Hansgeorg: Die Musik von Andrew Lloyd Webber. Hamburg: Verlag Dr. Kovač, 1993. S.109
[11] Vgl. Forsythe, Frederick: Das Phantom von Manhatten. München: Wilhelm Goldmann Verlag, 2001. S.6
[12] Vgl. Perry, George: Alle über das Phantom der Oper. Wien: Kremayer & Scheriau, 1989. S.40
[13] Vgl. ebenda S.41
[14] Vgl. ebenda S.43
[15] Vgl. Forsyth, Frederick: a. a. O. S.8
[16] Vgl. Perry, George: a. a. O. S.44
[17] Vgl. Ziegenbalg, Ute: a. a. O. S.90
[18] Vgl. Perry, George: a. a. O. S.43
[19]„Erik“ ist der Name des Phantoms in Leroux` Original. In dem Remake von 1943 nannte Arthur Lupin das Phantom „Erique Claudin“. Die Namen sollte so französisch wie möglich klingen, damit eine noch stärkere Identifikation mit der Pariser Oper hergestellt werden konnte.
[20] Vgl. Bartosch, Günter: Das Heyne Musical Lexikon. München: Wilhelm Heyne Verlag, 1997. S.430
[21] Vgl. ebenda
[22]Die genaue Entstehung des Musicals THE PHANTOM OF THE OPERA sowie eine dramaturgische Analyse werden von mir weiter unten im Text( Punkte 3.1 und 3.2) genauer erläutert.
[23] Vgl. Bartosch, Günter: a. a. O. S.431
[24]Die genaue Enstehung des Musicals THE PHANTOM OF THE OPERA sowie eine dramaturgische Analyse werden von mir weiter unten im Text (Punkte 4.1 und 4.2) genauer erläutert.
[25] Vgl. Bartosch, Günter: a. a. O. S.428
[26] Kay, Susan: Das Phantom. Die bisher ungeschriebene Lebensgeschichte des „Phantoms der Oper“. Gütersloh: Bertelsmann Club GmbH, 1990
[27]Die produzierenden Länder waren Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Österreich
[28] Vgl. Ziegenbalg, Ute: a. a. O. S.110
[29] Meyer, Nicholas: Aus den Memoiren von John H. Watson – Sherlock Holmes und das Phantom der Oper. Bergisch Gladbach: Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, 1994
[30] Forsythe, Frederick: a. a. O.
[31]Eine genauere Analyse der Musicalverfilmung von Andrew Llyod Webber ist zu diesem Zeitpunkt leider noch nicht möglich, da der Film noch nicht als Kauf-DVD in Deutschland erschienen ist.
[32] Weitere Adaptionen sind in der Tabelle 1 im Anhang auf S.42 ersichtlich
[33] Vgl. Walsh, Martin: a. a. O. S318
[34] Vgl. Ziegenbalg, Ute: a. a. O. S.125
[35]Kathleen Masterson und David Bishop wiederum arbeiteten ein paar Jahre später an einer eigenen Fassung über das Phantom der Oper, die 1986 in Amerika uraufgeführt wurde und ebenfalls beim Publikum durchfiel.
[36] Vgl. Ziegenbalg, Ute: a. a. O. S.126
[37] Vgl. Walsh, Martin: a. a. O. S.317/318
[38] Vgl. ebenda S.318
[39] Vgl. Ziegenbalk, Ute: a. a. O. S.126
[40]Siehe hierzu die Tabelle 2(Inhaltsvergleich von Leroux, Hill und Webber) im Anhang S.46ff
[41]Vergleiche hierzu bitte Grafik 1 und 2 (Figurenkonstellation bei Leroux/Hill) im Anhang S.43/44
[42]Diese Verfolgung der Opernangestellten ist übrigens eine Anlehnung an den Stummfilm von 1925, da sie so im Original nicht vorkommt und von Sedgwick erstmalig in Szene gesetzt wurde.
[43]Die Anzahl der Liednummern scheint von Inszenierung zu Inszenierung zu variieren, da ich in der gesamten Literatur höchst widersprüchliche Angaben gefunden habe. Die oben genannten Zahlen wurden von mir als Richtwert ermittelt.
[44]Siehe hierzu eine genauere Betrachtung unter Punkt 5.2 weiter unten im Text
[45]Eine exemplarische Analyse dieser Veränderungen sind unter dem Punkt 5.3 zu finden.
- Quote paper
- Nicole Korzonnek (Author), 2005, Roman - Musical - Oper - Film: Zur Intermedialität in den beiden Musicals THE PHANTOM OF THE OPERA von Ken Hill (1976) und And-rew Lloyd Webber (1986), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/50650
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