Die Natchez, eine Gruppe von amerikanischen Ureinwohnern, sind bekannt als eine der wenigen Vertreter der Mississippi-Kulturen, die bis in historische Zeit überlebten. Die Erforschung dieser indigenen Gesellschaft, die zu Beginn der 30er Jahre des 18. Jahrhunderts fast völlig vernichtet wurde, bietet die einmalige Gelegenheit, ihre politischen und sozialen Strukturen auch anhand historischen Quellenmaterials zu studieren.
Aus dem Inhalt:
Überblick über die Vorgeschichte und Entdeckung des nordamerikanischen Südostens, Produktion und gesellschaftliche Organisation bei den Natchez, politische Strukturen sowie Religion und Magie bei den Natchez, der leidvolle Weg in die Diaspora.
Inhalt
1. Modelle politischer Organisationsformen
1 1.1. Formen politischer Organisation bei John Beattie
1.2. Erklärungsansätze aus evolutionstheoretischer Sicht
1.2.1. Gesellschaftliche Entwicklung aus Sicht eines marxistischen Ansatzes: Ribeiro
1.2.2. Eine universalistische Erklärung der Evolution: Childe
1.2.3. Evolution als multilinearer Prozess: Parsons und Steward
1.2.4. Soziale Evolution als System- und Bewusstseinsveränderung
1.2.5. Ethnologisch orientierte Modelle: Fried, Sahlins und Service
1.3. Anhaltspunkte für eine Einschätzung gesellschaftlicher Differenzierungsvorgänge
2. Archäologie und historische Ethnologie
2.1. Archäologie als Anthropologie
2.1. Archäologie als Archäologie von Siedlungen
2.3. Grenzen einer sozialwissenschaflich orientierten Archäologie
2.4. Archäologie und das Studium der Natchez
3. Überblick über die Vorgeschichte und Entdeckung des nordamerikanischen Südostens
3.1. Vorgeschichte des Südostens
3.1.1. Paläoindianischer und archaischer Komplex
3.1.2. Waldland-Tradition
3.1.3. Spät-Waldland- oder Mississippi-Tradition
3.2. Vorgeschichte des unteren Mississippi-Gebietes
3.2.1. Tchefuncte und Marksville
3.2.2. Troyville, Coles Creek und Plaquemine
3.3. Die Natchez im Kontext vorgeschichtlicher Kulturtraditionen
3.4. Die Zeit der Entdecker
4. Der Lebensraum der Indianer des unteren Mississippi
5. Produktion und gesellschaftliche Organisation bei den Natchez
5.1. Anpassung der technologischen Ausrüstung, der Produktionsform und der
Arbeitsorganisation an die ökologischen Voraussetzungen am unteren Mississippi
5.1.1. Produktion der Nahrungsmittel
5.1.2. Arbeitsteilung, Gegenseitigkeit und Wiederverteilung
5.1.3. Die materiellen Kulturgüter und ihre Produktion
5.2. Verwandtschaftsgebundene Organisationsformen
5.3. Soziale Schichtung
5.3.1. Soziale Schichtung und Statusdifferenzierung
5.3.2. Das "Natchez-Paradoxon"
5.3.3. Status und soziale Gruppenzugehörigkeit
5.3.4. Hinweise auf sozial-strukturelle Veränderungen
6. Politische Strukturen bei den Natchez
6.1. Territoriale Untergliederungen
6.2. Politische Funktionen
6.3. Kriegführung
6.4. Dualismen
7. Religion und Magie bei den Natchez
7.1. Schamanismus und Krankenheilung
7.2. Religiöse Zeremonien und Feierlichkeiten
7.3. Sonnenkult
8. Anfänge eines Natchez-Staates
8.1. Merkmale zentraler gesellschaftlicher Organisationsformen und staatlicher Strukturen
8.2. Institutionalisierung und Säkularisierung politischen Handelns
9. Der leidvolle Weg in die Diaspora
Vorwort
Die ersten ausführlichen Berichte über die bis zu ihrer Vertreibung und Ausrottung im 18. Jahrhundert am Unterlauf des Mississippi lebenden Natchez stammen von französischen Reisenden, Militärs und Missionaren. Während die meisten der in jener Zeit der Entdeckungen entstandenen Beschreibungen fremder Kontinente geringschätzig, allenfalls mitleidig die Lebensumstände der einheimischen Bevölkerung schildern, bedienen sich die frühen Natchez-Chronisten einer Sprache und Darstellungsform, wie sie zur Erläuterung der Sitten am Hofe von Versailles nicht hätten besser geeignet sein können. Die Natchez-Gesellschaft wird zu einer hierarchischen Gesellschaft mit einer Aristokratie an der Spitze, geführt von einem absoluten König. Diese teilweise unangemessene und überzogene Sichtweise steht in auffallendem Kontrast zu der von Hudson (1978: 3) vermerkten, weit verbreiteten Unkenntnis über den nordamerikanischen Südosten und damit auch über die Natchez. Eine im Vergleich mit anderen Regionen des nordamerikanischen Kontinents nicht zu verkennende zeitweilige Zurückhaltung in der Beschäftigung der wissenschaftlichen Ethnologie mit den Südost-Gruppen mag ihren Teil zu dieser Situation beigetragen haben. Die Untersuchung der Natchez wurde zudem noch durch die frühe Ausrottung dieser Gruppe und fehlerhafte Beobachtungen durch die ersten europäischen Kontaktpersonen erschwert. Auch die Interpretationen Swantons, dem wir die umfangreichsten und exzellentesten Auswertungen des Quellenmaterials verdanken, vermochte nicht unbeeinflusst zu bleiben von den Irrtümern der Chronisten.
Dieser Sachverhalt erfordert eine Überprüfung ethno-historischer Quelleninterpretationen an Hand neuerer Daten, wie sie wohl nur von der Archäologie erwartet werden dürfen. Sollen Ergebnisse dieser Nachbarwissenschaft der Ethnologie und Sozialanthropologie gewinnbringend in das Studium der Natchez ein bezogen werden, so bedarf es einer klaren Definition des Stellenwertes, der archäologischen Schlussfolgerungen in einer ethnologischen Betrachtung zukommen soll. Die Möglichkeiten und Grenzen einer Umsetzung archäologischer Erkenntnisse in ethnologisch relevanten Aussagen müssen deutlich umrissen werden. Es müssen somit die Rahmenbedingungen abgesteckt werden, innerhalb deren Daten der Archäologie ethnologischen Erklärungswert haben können. Zur Einschätzung eines ethnologisch relevanten Erkenntnisgewinns durch archäologische Daten gehört auch eine Stellungnahme zum Verständnis von Archäologie, das dieser Einschätzung zugrunde liegt.
Die vorliegende Arbeit will einen Beitrag zur Systematik von Gesellschaftsstrukturen, die sich im Übergang befinden, leisten. Die Natchez-Gesellschaft bietet sich hierfür an, da sie einerseits noch verwandtschaftsgebundene Strukturen aufwies, andererseits aber trotz aller fehlerhaften Überlieferungen der französischen Chronisten zu Recht gesagt werden kann, dass sie einen sehr differenzierten, klar über Verwandtschaftssysteme hinaus reichenden Organisationsgrad erreicht hatte. Es ist die Frage zu stellen, wie weit die Natchez bereits den Weg zur Ausformung staatsähnlicher Gebilde gegangen waren.
Um dem hier formulierten Anspruch gerecht zu werden, muss ein auf modernen sozialwissenschaftlichen Theorien basierendes begriffliches Instrumentarium zusammengestellt werden, das in der Lage ist, gesellschaftliche Differenzierungsprozesse in allen wichtigen sozio-ökonomischen Bereichen zu erfassen. Soziale Veränderungen in einem Bereich einer Gesellschaft finden niemals unabhängig von Veränderungen in anderen Bereichen statt. Eine fortschreitende Institutionalisierung politischer Strukturen hat
Veränderungen in anderen Teilbereichen der Gesellschaft zur Folge oder ist von solchen abhängig. Staat und staatsähnliche Strukturen sollen als integraler Bestandteil einer Gesellschaft verstanden werden. Politische Handeln wird als Herrschaftshandeln begriffen, das auf die Aufrechterhaltung bestehender gesellschaftlicher Strukturen gerichtet ist. Ein so definiertes politisches Handeln ist nicht notwendigerweise an staatliche Strukturen gebunden. Es kann auch in anderen Bereichen der Gesellschaft stattfinden. Allerdings lässt der Grad der Institutionalisierung selbständiger, primär politischem Handeln dienender Organisationsformen Rückschlüsse auf die Differenziertheit einer Gesellschaft zu. Die Ausbildung sozialer Schichtungsverhältnisse und die Bewertung von Statuspositionen hängt eng mit der Ausübung politischer Herrschaft zusammen. Mit der zunehmenden Bedeutung von Organisationsformen, deren Zweck vornehmlich im Bereich politischen Handelns liegt, erfahren auch die Legitimation von Normen und die mit ihnen verbundenen Sanktionsmechanismen, die jetzt immer mehr dem politischen Handeln zugeordnet werden, einen Wandel. Der Produktionsbereich steht weniger in einer Abhängigkeitsbeziehung von den übrigen Bereichen der Gesellschaft, sondern übt auf diese und damit auch auf die politischen Organisationsformen eher determinierende Wirkung aus. Das angesprochene begriffliche Instrumentarium muss geeignet sein, Differenzierungen in den wichtigsten Bereichen eines gesellschaftlichen Systems festzuhalten, um auf diese Weise zu einer Beschreibung des Organisationsniveaus einer Gesellschaft zu gelangen.
Das Material zu einer solchen Beschreibung der Natchez-Gesellschaft müssen archäologische Daten und ethno-historische Quellen gemeinsam liefern. Ein Vergleich dieser Materialien miteinander kann zu einem realistischeren Bild der Natchez-Gesellschaft beitragen, als es uns die historischen Quellen alleine vermitteln.
1. Modelle gesellschaftlicher Organisationsformen
Die folgende Aufstellung von Erklärungsmodellen für unterschiedliche gesellschaftliche Organisationsformen hat den Zweck, an Hand von Kriterien der modernen Gesellschaftstheorie ein Instrumentarium zusammenzustellen, mit dessen Hilfe eine, den heutigen soziologischen Erkenntnissen gerecht werdende Eintaxierung des sozialen Systems der Natchez möglich werden soll. Zur Bereitstellung eines solchen Kriterienkatalogs bieten sich insbesondere, aber nicht ausschließlich, wie die Ausführungen Beatties zeigen, Evolutionstheorien an, da sich diese explizit mit Gesellschaftsordnungen unterschiedlicher Organisationsniveaus beschäftigen. Die Auswahl der vorgestellten Ansätze muss allein nach Maßgabe der genannten Zielsetzung erfolgen. Daraus ergibt sich, dass in keiner Weise der Anspruch eingelöst werden kann oder soll, einen Überblick über die Evolutionstheorien der Sozialwissenschaft oder auch nur eine erschöpfende Darstellung modernen entwicklungssoziologischen Denkens zu geben. Auch kann aus einer ausführlicheren Erörterung des einen oder anderen entwicklungstheoretischen Modells kein Hinweis darauf abgeleitet werden, dass hier ein Beitrag zu irgendeinem Evolutionsansatz geleistet werden soll. Mit der Auswahl der Ansätze soll eine möglichst kontroverse Diskussion ermöglicht werden, um über diese zu einem breiten Spektrum von Kriterien zu gelangen, die Aussagen über das Organisationsniveau einer Gesellschaft gestatten. So kommen neben materialistischen auch funktionalistische, neben universalistischen auch multilineare Erklärungen zu Wort. Außerdem werden vor allem Ansätze, die in verstärktem Maße die Belange der Ethnologie berücksichtigen, vorgestellt.
1.1. Formen politischer Organisation bei John Beattie
Beattie (1977: 140) unternimmt den Versuch, die an Hand westlicher Staatsgebilde entwickelten Kategorien der politischen Organisation und des politischen Handelns in der Weise auszufüllen, dass sie auch auf die Gesellschaftsformen anwendbar sind, die die Sozialanthropologie untersucht. Er geht dabei davon aus, dass jedes soziale Beziehungsgefüge soziale Regeln und Normen zu seiner Aufrechterhaltung braucht (Beattie, 1977: 141). Die Instanz, die die Kontrolle darüber ausübt, ob diese Normen von den Mitgliedern der Gesellschaft eingehalten werden, ist für Beattie (1977: 142) die politische Organisation. Die politische Organisation ist, und hier lehnt sich die Definition Beatties (1977: 142) an eine Formulierung von Radcliff-Brown an, "concerned with 'the maintenance . . . of social order . . . through the use, or the posibility of use, of physical force.´" Dieses politische Handeln ist verbunden mit Macht und Autorität. Sowohl Macht als auch Autorität müssen, nach Beattie (1977: 141), in einer politischen Organisation verwirklicht sein. Macht drückt die Fähigkeit aus, einen angebbaren Willen durchzusetzen. Dieses Durchsetzen muss aber mit Autorität und damit in der Vorstellung der Personen, gegenüber denen diese Macht durchgesetzt werden soll, mit dem Recht verbunden sein, Macht auszuüben. Die Gründe, weshalb ein Machtanspruch für rechtens gehalten wird, können von Gesellschaft zu Gesellschaft differieren.
Die genannten Bestimmungsgründe der politischen Organisation machen es Beattie (1977: 142 f.) möglich, unter diesem Begriff alle Arten von Gesellschaften zu fassen. In allen Gesellschaften gibt es Mechanismen zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung. In allen Gesellschaften ist die Anwendung physischer Gewalt zu diesem Zweck ein erlaubtes Mittel, auch wenn dieses nicht überall an eine Körperschaft wie etwa die Polizei gebunden zu sein braucht.
Zur Unterscheidung politischer Organisationen benutzt Beattie (1977: 144 f.) eine Einteilung in zentrale und nicht-zentrale Systeme. Diese Unterscheidung fragt danach, ob zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung eine zentrale Autorität vorhanden ist, oder, ob allein die Beziehungen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen untereinander die Einhaltung der Normen garantieren.
Beattie (1977: 145-151) nennt vier Arten nicht-zentraler Gesellschaften: die Jäger und Sammler, miteinander verbundene Dorfgemeinschaften, Altersklassensysteme und die segmentären Gesellschaften.
Die einfachste Form einer nicht-zentralen Gesellschaft ist die der Jäger und Sammler. Diese Gesellschaften bestehen aus einzelnen Familien oder Familienverbänden, die sich aus nahe miteinander verwandten Familien zusammensetzen. Ein über diese Organisationsebene hinausgehendes Prinzip der Gruppenbildung kommt nicht vor. Ihren Lebensunterhalt bestreiten diese Gruppen durch Ausbeuten der in ihrer Umwelt vorkommenden essbaren Naturprodukte. Beispiele für solche Gesellschaftsformen sind die Pygmäen, die Australiden oder die Eskimo. Die Sanktionsautorität liegt in solchen Gruppen in der Regel bei den älteren Gruppenmitgliedern.
An der Spitze der zweiten Form nicht-zentraler Gesellschaften, den aneinander gebundenen Dorfgemeinschaften, stehen sog. Ratsversammlungen. Zum Mitglied eines solchen Rates kann man auf Grund der Abstammung, aber auch wegen irgendwelcher besonderen Eigenschaften werden. Diese Dorfgemeinschaften können ein relativ komplexes Gesellschaftssystem bilden. Derartige Systeme findet man etwa unter den Ibo in Westafrika.
Das Prinzip der Altersklassen beruht darauf, dass die Angehörigen mehrerer aufeinanderfolgender Jahrgänge eine Altersklasse bilden. Wieviele Jahrgänge genau eine Altersklasse umfasst, kann von Gesellschaft zu Gesellschaft variieren. Die auf Grund des Lebensalters konstituierte Gruppe bleibt das ganze Leben zusammen. Da mit dem Altersklassensystem ein gesellschaftliches Rangsystem verbunden ist, nehmen alle Mitglieder einer Gruppe immer den gleichen sozialen Status ein. So nehmen sie etwa gemeinsam den Status der Krieger ein oder wechseln gemeinsam in den Status der Alten. Ein solcher gesellschaftlicher Status ist fest umrissen. Der Übergang von einem Status zum nächsten erfolgt somit nicht individuell und allmählich, sondern gemeinsam mit der Gruppe und sprunghaft. Der Eintritt in das Altersklassensystem erfolgt gewöhnlich als Heranwachsender und ist mit bestimmten Aufnahmezeremonien verbunden. Das Altersklassensystem hat drei wichtige Funktionen: Einmal gibt es mit seiner festen Statuszuweisung und seiner klaren Markierung der Übergänge jedem Individuum einen eindeutigen Platz in der Gesellschaft. Zum anderen kann es als politisches Entscheidungsinstrument dienen, indem diese politische Aufgabe einer ganz bestimmten Altersklasse übertragen wird. Meist trifft der Stand der Alten diese Entscheidungen, die auch mit Sanktionsmechanismen abgesichert sein können. Schließlich geben die Altersklassen die Möglichkeit, soziale Beziehungen über die eigene Gesellschaft hinaus aufzubauen. So kann eine Altersklasse mit einer entsprechenden Klasse einer anderen Gesellschaft, die nach dem gleichen Schema aufgebaut ist, in Kontakt treten. Altersklassen sind aus Ostafrika bekannt. Die Karimojong oder die Galla, die über ein außerordentlich kompliziertes System verfügen, können hier genannt werden.
Ein nicht minder wichtiges nicht-zentrales Ordnungsprinzip ist das der segmentären Gesellschaft. Die Gruppenzugehörigkeit wird hier durch die unilineare Abstammung definiert. Die Mitglieder einer Gruppe empfinden sich als Opposition gegenüber einer anderen nach dem gleichen Prinzip gebildeten Gruppe. Beim klassischen Typ der segmentären Gesellschaft, dem der Nuer im Sudan, ist die ganze Gesellschaft in eine Reihe von Segmenten untergliedert. Die Gesellschaft als ganze stellt letztlich ein, alle anderen Segmente übergreifendes, Segment dar. Dieses ist in Segmente unterteilt, die ihrerseits wieder aus Segmenten zusammengesetzt sind. Jedem Segment als politischem Organisationsprinzip entspricht auf Seiten der Verwandtschaftsgruppen ein Lineage. Um dieses Lineage herum bildet sich das Segment. Diese Lineages können nahe im Verwandtschaftsgrad beieinander oder weit auseinander stehen je nach dem, wie weit ihre Mitglieder in die Zeittiefe zurückgehen müssen, um einen gemeinsamen Vorfahren zu finden. Das bedeutet, dass auch die Lineages von einer Organisationsebene zur nächst höheren jeweils in dem nächst größeren Lineage aufgehen, bis schließlich auf der obersten Stufe der Clan übrig bleibt, dem auf der politischen Seite der Stamm entspricht. Das Verhältnis der Segmente und damit auch der Lineages zueinander ist durch die Prinzipien der Fission und der Fusion gekennzeichnet. Das bedeutet, dass alle die Segmente bei einem Angriff gegen eines ihrer Mitglieder zusammenstehen, denen der Angegriffene, nicht aber der Angreifer angehört. Umgekehrt stehen auf Seiten des Angreifers alle Segmente zusammen, denen dieser, nicht aber der Angegriffene angehört. Je nach dem, wie weit das Lineage des Angreifers im Abstammungskegel von dem des Angegriffenen entfernt ist, um so mehr Segmente vereinen sich zur gemeinsamen Verteidigung. Wird der Angriff von außerhalb des Clans gestartet, so stehen alle Clangenossen zusammen. Für die Zeit der äußeren Gefahr haben alle Segmente des Angegriffenen ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit und empfinden Opposition nur gegenüber den Segmenten, denen der Angreifer angehört. Das Sanktionsmittel, das bei einem Angriff in Aktion tritt, ist das der Blutrache. Dieses Mittel kann von jedem Mitglied der Gesellschaft in Anwendung gebracht werden. Der Unterschied zu zentralen Systemen wird hier deutlich. Dort darf nur die zentrale Autorität sich des Mittels der physischen Gewalt bedienen. Hier ist es das geschilderte Prinzip der segmentären Opposition, das über den Einsatz des Sanktionsinstruments wacht. Keine Gültigkeit hat die Blutrache innerhalb der Gruppe der nächsten Verwandten. Das Instrument der Blutrache erhöht die Gruppensolidarität, indem die Binnenstruktur der Kleingruppe nicht zerstört wird, aber auch, indem die Gruppe nach außen zusammensteht. Eine politische Führerperson gibt es in der Regel nicht und wenn doch, dann besitzt sie wenig Autorität oder ist nur vorübergehend in Funktion. Den allgemeinen sozialen Kontrollmechanismus, der in segmentären Gesellschaften die Ordnung aufrecht erhält, beschreibt Sigrist (1967: 115) als Reziprozität der sozialen Beziehungen. Verhält sich ein Individuum nicht normenkonform, so muss es mit dem Abbruch der Beziehungen rechnen.
Der Übergang von nicht-zentralen zu zentralen politischen Organisationsformen ist fließend und oftmals nur ein gradueller. So stellt sich Beattie (1977: 151) die Frage, ob die Gesellschaft der Nuer bei Dominanz eines Lineages und Beibehaltung der übrigen segmentären Struktur bereits als zentral organisiert angesehen werden müsste. Ähnlich verhält es sich mit verschiedenen Gruppen aus Tansania, die zwar als ganze keine zentrale Autorität haben, aber in Einheiten gegliedert sind, die jeweils von einem Häuptling geführt werden (Beattie, 1977: 152). Je nach dem, ob man von der einzelnen Einheit ausgeht oder von der Gesellschaft als ganzer, kann man von zentraler oder nicht-zentraler Organisation sprechen. Als eindeutiges Beispiel für den Übergang von der einen zu der anderen Organisationsform beschreibt Beattie (1977: 152 ff.) den Typus des sakralen Königtums, wie er bei den Shilluk existiert. Hier ist mit dem König eine zentrale Führerpersönlichkeit vorhanden, der von den Untertanen große Verehrung entgegengebracht wird. Der König besitzt jedoch praktisch keine politische Macht. Ihm sind keine Sanktionsmechanismen an die Hand gegeben. Die Blutrache muss daher weiterhin ihre Funktion als Kontrollinstanz erfüllen. Die Gruppenbildung erfolgt auch hier noch auf Grund der Abstammung. Die Bedeutung des Königs ist von symbolischer Art. Der König steht gewissermaßen für das ganze Land. Wenn seine Kraft nachlässt, schwindet auch die Kraft des Landes. In solchen Systemen wird daher, wenn die physische Leistungsfähigkeit des Monarchen abnimmt, heimlicher Königsmord praktiziert. In seiner symbolischen Gleichsetzung mit dem Land ist der König eine wichtige Identifikationsfigur für die Menschen, über die er regiert. Die genannten wie auch andere Übergangsformen zeichnen sich nach Beattie (1977: 156 f.) dadurch aus, dass der Herrscher an seinen Untertanen nicht nur als Krieger oder Arbeitskräfte, sondern auch an deren Person interessiert ist. Es bestehen persönliche Beziehungen zwischen dem Herrscher und den Untertanen. Ein solches Verhältnis kann sich natürlich nur in relativ kleinen und leicht überschaubaren politischen Einheiten erhalten. Es liegt allerdings auf der Hand, dass das sakrale Königtum, wenn dem König von außerhalb des traditionellen Systems neue Machtmittel gegeben werden, leicht zu einer zentralen Herrschaftsform werden kann. Als Beispiele dafür können neben den von Beattie (1977: 159) erwähnten Staaten der Moslems in Nordnigeria und den Bantu in Ostafrika die Kababisch im Kordofan des Sudans stehen. Ursprünglich war diese Gesellschaft in Verwandtschaftsgruppen, die in segmentären Beziehungen zueinander standen, organisiert. Als Führer gab es einen obersten Sheik, dessen Macht allerdings nicht klar umrissen war. Erst als die Kababisch, die im Übergangsbereich zwischen dem unter englischer Herrschaft stehenden Ägypten und dem aufständischen Südsudan siedelten, für die britischen Kolonialherren von Bedeutung wurden, wurde der Sheik von diesen mit militärischen Machtmitteln ausgestattet und damit in eine zentrale Machtposition gehoben.
Bei zentraler politischer Organisation stellt sich die Frage, weshalb die Untertanen die zentrale Autorität anerkennen. Beattie (1977: 160 ff.) sieht entsprechend der Kategorien von Max Weber charismatische, traditionelle oder legale Bestimmungsgründe der Herrschaft. Diese Bestimmungsgründe werden von den Untertanen anerkannt, weil sie an deren Gültigkeit glauben oder weil die zentrale Autorität in der Lage ist, ihren Geltungsanspruch durchzusetzen. Charismatische Herrschaft beruht auf einem Charisma, d.h. einer besonderen Fähigkeit oder außerordentlichen Eigenschaft, meist magisch-religiöser Art, der Führerperson. Die traditionelle Herrschaft leitet ihren Anspruch aus der angenommenen Richtigkeit einer althergebrachten Ordnung ab. Die legale Herrschaft schließlich gründet sich auf eine rationale, nach Abwägen von Zweck, Mittel und Nebenfolgen, bewusst geschaffene Satzung. Die Sozialanthropologie hat es in der Regel mit zentralen Gesellschaften charismatischer oder traditioneller Art zu tun. Hierbei gilt es zu beachten, dass sich erstere, will sie in der Zeit überleben, da sie an das Charisma einer vergänglichen Person gebunden ist, in eine traditionelle Herrschaft umwandeln muss. Um ihre Herrschaft manifestieren zu können, muss die zentrale Autorität wissen, über wen sie zu herrschen hat, d.h. sie kann ihre Herrschaft nur über Personen ausüben, die innerhalb eines mehr oder weniger klar definierten Territoriums leben. Die zentrale Autorität nimmt für sich das alleinige Recht der Anwendung physischer Gewalt bei der Ausübung sozialer Kontrolle in Anspruch. Die Herrschaft kann in der Regel nicht nur bei einer einzigen Person liegen. Es müssen Teile der Herrschaftsfunktionen an verschiedene Personen delegiert werden. Dies bedeutet jedoch keine Dezentralisierung. Nur jemand, der tatsächlich im Besitz der Macht ist, kann diese auch delegieren. Außer der zentralen Autorität oder dem Herrscher sind alle anderen Personen, auch wenn sie Herrschaft ausüben, selber der Herrschaft durch eine Andere Instanz unterworfen. Die Zentralinstanz steht somit an der Spitze einer Herrschaftshierarchie, die von oben nach unten immer breiter wird. Die Delegierung kann an unilineare Verwandte oder an Personen, die durch nicht-verwandtschaftliche Loyalitätsbande mit dem Herrscher verbunden sind, erfolgen. In zentralen Systemen bedarf es Regeln zur Lösung der Nachfolgefrage. Der Status des Herrschers kann durch die Erbfolge zugeschrieben werden oder in einem Wahlverfahren erworben werden. Schließlich muss es in zentralen Ordnungen Mittel zur Verhinderung oder Bekämpfung eines Autoritätsmißbrauchs geben. Hierzu können bestimmte Institutionen, etwa ein den Herrscher beratendes Gremium, eingerichtet werden.
1.2. Erklärungsansätze aus evolutionstheoretischer Sicht
1.2.1. Gesellschaftliche Entwicklung aus der Sicht eines marxistischen Ansatzes: Ribeiro
Ribeiro (1971: 20 f., 36 - 43) stellt die Fähigkeit des Menschen bei der Beherrschung ihrer natürlichen Umwelt in den Mittelpunkt seines Ansatzes. Gesellschaftliche Evolution ist bei ihm primär eine Veränderung in der Technologie der Nahrungsmittelgewinnung. Diese Veränderung verläuft von einfacheren zu komplexeren Formen. Alle weiteren gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungen sind abhängig von diesem technologischen Fortschritt. Ribeiro beschreibt eine Reihe fundamentaler Entwicklungen der Techniken zur Umweltbeherrschung und formt aus ihnen ein Modell einer die Geschichte menschlicher Gesellschaften kennzeichnenden Abfolge technologischer Revolutionen. Die allgemeinere sozio-kulturelle Veränderung, die durch eine technologische Revolution herbeigeführt wird, nennt Ribeiro zivilisatorischen Prozess. Parallel zu der Abfolge technologischer Revolutionen entsteht so eine Reihe zivilisatorischer Prozesse, die der jeweiligen Revolution zugeordnet werden. Jedoch bedingt für Ribeiro eine technologische Revolution nicht zwangsläufig einen ganz spezifischen, sondern kann verschiedene zivilisatorische Prozesse verursachen. So kann sich zum Beispiel die Agrarrevolution sowohl in einem mehr auf den Feldbau als auch in einem mehr auf Tierdomestikation gerichteten Prozess manifestieren. Auch können im Rahmen eines allgemeinen zivilisatorischen Prozesses ganz unterschiedliche konkret historische Entwicklungsstadien realisiert werden je nach dem, ob die Gesellschaft diesen Prozess in Autonomie oder in Abhängigkeit erlebt.
Am Anfang der von Ribeiro (1971: 55, 60 f.) beschriebenen Reihe technologischer Revolutionen steht die Agrarevolution, die die Menschen zu Züchtern der ihnen als Nahrung dienenden Pflanzen und Tiere werden lässt. Größere soziale Differenzierungen lassen diese Errungenschaften noch nicht zu. Die Gesellschaftsmitglieder sind alle gleichermaßen mit der Sicherung ihrer Subsistenz beschäftigt. Lediglich eine Arbeitsteilung nach Geschlechtern findet statt. Ordnendes und strukturierendes Element dieser Gesellschaften sind die verwandtschaftlichen Beziehungen ihrer Mitglieder untereinander.
Der nächste Schritt, die urbane Revolution, ist Ribeiro (1971: 64 f., 69, 79, 81, 83) zufolge durch die Bodendüngung, die Bewässerung der Felder und den Gebrauch des Pfluges gekennzeichnet. Auf der Grundlage dieser neuen Produktionsmethode entsteht eine Untergliederung der Gesellschaft in Mitglieder, die direkt, und solche, die nicht direkt an der Erzeugung der Nahrungsmittel beteiligt sind. Einem Teil der Bevölkerung wird es damit möglich, sich unabhängig von den ländlichen Produktionsstätten in größeren Siedlungskomplexen ansässig zu machen. Unter diesen Bedingungen verlieren die Verwandtschaftsbeziehungen allmählich ihren Wert als sozialer Integrations- und Organisationsmechanismus. Ribeiro nimmt an, dass die Bindung an das Territorium an ihre Stelle tritt. Zur Überwachung und Aufrechterhaltung der Normen und zur Organisation gemeinsamer Aufgaben muss jetzt eine eigene zentrale Autorität installiert werden, die keine andere Ordnungsmechanismen, wie sie etwa aus verwandtschaftsgebundenen Beziehungen resultieren können, neben sich dulden darf. Die politische Macht wird in den Händen einer kleinen Gruppe von Personen konzentriert. Um ihre Aufgabe wahrnehmen zu können, muss die zentrale Autorität die Gesellschaftsmitglieder verpflichten, Abgaben zu leisten.
Mit der Revolution der Bewässerung wird es möglich, so komplexe gesellschaftliche und politische Organisationssysteme zu formen, die sich über große räumliche Distanzen ausbreiten, dass Ribeiro (1971: 88 f.) ab diesem Stadium nicht mehr, wie bis dahin, von archaischen, sondern von regionalen Zivilisationen spricht. Diese können durchaus ganze Imperien entstehen lassen, wie etwa in Mesopotamien, Ägypten, Mexiko oder Peru geschehen. Kennzeichnend für diesen Zivilisationstypus ist die Schaffung künstlicher Bewässerungsanlagen, die mittels Kanälen ganze Städte versorgen können.
Als metallurgische Revolution bezeichnet Ribeiro (1971: 101 - 104) einen Vorgang, der zwar von den Bewässerungskulturen ausgeht, sich aber in jenen Gegenden und da in noch stärkerem Maße als in den Ursprungsgesellschaften durchsetzt, in denen die Bewässerung eine untergeordnete Rolle spielt. Die Bearbeitung von Eisenerzen steht hier im Vordergrund. Als Beispiele nennt Ribeiro Griechenland, Rom und Karthago. Wichtige Verbindungsfunktion in den expandierenden Reichen üben die Fernhandelskaufleute aus. Riesige Sklavenheere stellen die erforderlichen Arbeitskräfte.
Einige nomadisierende Völker, wie etwa die islamisierten Araber, werden nach Ribeiro (1971: 113 ff.) von einem weiteren revolutionären Prozess, der Hirtenrevolution, erfasst. Diese Völker machen sich die Produkte der metallurgischen Revolution zugunsten ihrer Reiterei zu nutzen und unterwerfen mit deren Hilfe große, zum Teil über die Grenzen eines Kontinents hinaus reichende Gebiete.
Die weiteren von Ribeiro (1971: 122 - 177) untersuchten technologischen Revolutionen, die merkantile und die industrielle Revolution, interessieren hier nur noch am Rande, da sie moderne oder an der Schwelle zur Moderne stehende Gesellschaften betreffen. Den vor Eintreten dieser beiden revolutionären Prozesse bestehenden feudalen Gesellschaften billigt Ribeiro (1971: 52 f., 87, 98 f., 108 - 112, 121) keinerlei Innovationsfähigkeit zu, sondern begreift sie als Regressionsstadien, die grundsätzlich nach jedem zivilisatorischen Prozess, wenn er nicht durch einen neuen abgelöst wird, eintreten könnten und in vorangegangenen Zeiten auch schon eingetreten seien.
1.2.2. Eine universalistische Erklärung der Evolution: Childe
Childe (1975: 27 f., 33 ff., 53, 59 f.) unternimmt den Versuch, zur Klärung der Frage beizutragen, ob die Archäologie mithelfen kann, jene Lücke in den evolutionstheoretischen Ansätzen zu füllen, die allein durch einen inter-kulturellen Vergleich nicht geschlossen werden kann. Diesem Versuch liegt der Gedanke zugrunde, dass bestehende Gesellschaften zunächst einmal nur aus sich selbst heraus verstanden werden können und nicht von vornherein als Vorstadien komplexerer Gesellschaften angesehen werden dürfen. Von der Vielzahl konkreten Fundmaterials sollen allgemeine Entwicklungsstufen abstrahiert werden, bestehend aus gesellschaftlichen Formationen vergleichbaren kulturellen Leistungsstandes. Das bedeutet für Childe auch, Aussagen über die Soziologie der jeweiligen Gruppen, die diese Leistung vollbracht haben, zu treffen.
Unter Anwendung dieser Prämissen und im Bewusstsein der Möglichkeiten und Grenzen dieses Verfahrens diskutiert Childe (1974: 7, 1975: 23, 34 f., 59-76) die von Morgan übernommenen Stadien der "Wildheit", der "Barbarei" und der "Zivilisation". Childe begreift diese Stadien lediglich als "provisorische Grundlage" seiner eigenen Arbeit. Als Kriterien zur Festlegung der Übergänge wählt Childe einmal die Nahrungsmittelerzeugung und zum anderen die Schrift sowie die Entstehung von Städten.
Die Kulturtypen des europäischen Palaeolithikums und Mesolithikums weist Childe (1975: 77 - 89) alle dem Stadium der "Wildheit" zu. Er muss allerdings zugestehen, dass das vorliegende archäologische Material keine tiefergehende soziologische Aussage erlaubt. Die diesem Stadium zugeschriebenen Charakteristika wie verwandtschaftsgebundene Organisationsformen der Gesellschaft oder eine Arbeitsteilung, die nicht über die nach Geschlechtern oder Alter hinausgeht, können archäologisch kaum belegt werden.
Die nächste Stufe wird durch jenen Vorgang, den Childe (1973: 176) "die neolithische Revolution" nennt, also durch den Übergang zum systematischen Anbau der Nahrungsmittel, von der ersten geschieden. Durch die Erfindung des Töpferns und des Webens und mit der Verwendung feiner Werkzeuge wird die materielle Ausrüstung sehr viel reichhaltiger als früher (Childe, 1973: 178). Diesem Stadium rechnet Childe (1975: 91 f., 97, 103) allerdings allein in Mitteleuropa eine große Zahl unterschiedlicher kultureller Formationen zu. Das Spektrum ihrer kulturellen Leistungen reicht von neolithischen Wanderfeldbau bis hin zur Feldbestellung mittels Pflug, von der, mehr oder weniger undifferenziert, durch alle Gruppenmitglieder erfolgenden Bereitstellung der benötigten technischen Werkzeuge bis hin zum, auf der Metallverarbeitung basierenden, handwerklichen Spezialistentum. Das Auftreten führender Persönlichkeiten, die er als Häuptlinge beschreibt, hält Childe (1975: 121) für Mitteleuropa ab der späten Bronzezeit für sicher. Weitergehende Aussagen über soziale Differenzierungen wagt er aber erst an Hand der Funde aus dem vorantiken Griechenland. Hier soll es in der Eisenzeit neben der Unterschicht eine Art aristokratische Oberschicht gegeben haben (Childe, 1975: 133). Spätestens das frühdynastische Ägypten kannte eine noch schärfere soziale Schichtung (Childe, 1975: 150). Bei dem Versuch, die Frage zu klären, wie das Königtum, möglicherweise aus einer Clanordnung heraus, entstanden ist, ist Childe (1975: 150 f.) weitgehend auf Spekulationen angewiesen. Eine Clanordnung allerdings hält er auf Grund gefundener totemähnlicher Pflanzen- und Tieremblemen für das vordynastische Ägypten für wahrscheinlich (Childe, 1975: 147). Zumindest in Mesopotamien war in jenem Stadium bereits ein ausgeprägtes religiöses Zeremoniell vorhanden, wie sich aus den großen Tempelanlagen dieser Region schließen lässt. Childe (1975: 161, 163) folgert hieraus, dass ein bedeutender Überschuss an Nahrungsmitteln erzeugt worden sein muss, da nur auf einer solchen Grundlage die Freistellung von Arbeitskräften zum Bau der Tempel und der Unterhalt einer Priesterschaft möglich gewesen sein konnte. Aber auch hier scheint das archäologische Material wieder nur recht geringe Anhaltspunkte zur Interpretation der sozialen Herrschafts- und Differenzierungsverhältnisse zu liefern (Childe, 1975: 164 f.).
Verglichen mit dem Übergang zwischen den beiden ersten Stadien kann die Archäologie den Übergang zu dem dritten der drei von Childe beschriebenen Stadien sehr viel klarer belegen. Die Überschussproduktion an Nahrungsmitteln wird mit Hilfe von Bewässerungsanlagen so weit ausgedehnt, dass sie jenen Vorgang ermöglicht, den Childe (1974: 9 f.) mit dem Ausdruck "urbane Revolution" belegt. Handwerkliche Spezialisten können sich jetzt ausschließlich ihrer speziellen Tätigkeit widmen, ohne um ihrer Versorgung mit den zum Leben notwendigen Gütern bangen zu müssen. So eröffnet sich einem Teil der Bevölkerung die Chance, sich auch räumlich von der ländlichen Produktionsbasis zu distanzieren und in städtischen Siedlungsformen zusammenzuleben. Solche Städte sind u. a. durch die Errichtung eines Abgabesystems gekennzeichnet, mit dessen Hilfe der Nahrungsmittelüberschuss eingesammelt und an jene Personen verteilt wird, die nicht direkt an der Nahrungsmittelproduktion beteiligt sind (Childe, 1974: 11). Die öffentlichen Prachtbauten der Städte dienen nicht zuletzt der Speicherung solcher Überschüsse.
1.2.3. Evolution als multilinearer Prozess: Parsons und Steward
Parsons (1975: 14 f., 19, 22 ff.) fasst Gesellschaft als Subsystem des menschlichen Handelns auf, das mit drei weiteren Subsystemen in Zusammenhang steht: dem kulturellen System, das die übergeordneten Werte bereitstellt, der Persönlichkeit, die in die Gesellschaft hineinsozialisiert wird, und dem Verhaltensorganismus, d. h. den individuell-physiologischen Bedingungen des konkreten Handelns. Die Zusammenhänge zwischen kulturellen Werten und Gesellschaft und zwischen Gesellschaft und Persönlichkeit, aus denen Parsons (1975: 48) seine Stadien der Evolution ableitet, werden als funktional in dem Sinne definiert, dass das kulturelle System die gesellschaftlichen Normen legitimiert (Parsons, 1975: 22), und dass die handelnden Personen sich an diese Normen zu halten haben und die Gesellschaft ihnen dafür ein Mindestmaß an Bedürfnisbefriedigung gewährt (Parsons, 1975: 24).
Parsons' (1975: 11 f., 46, 169) Evolutionsbegriff geht nicht von einem einzigen gesellschaftlichen Ursprung und einem einzigen Entwicklungstrend aus, sondern unterstellt, dass auf Grund der unterschiedlichen Bedingungen, unter denen gesellschaftliche Systeme funktionieren müssen, und der verschiedenen Umwelteinflüsse, die auf sie einwirken, die unterschiedlichsten Entwicklungswege realisiert werden können.
Ausgangspunkt in Parsons' (1975: 38) Ansatz ist der Begriff der Veränderung, der aus dem Begriff des sozialen Handelns abgeleitet wird. Jegliches soziale Handeln verändert zunächst einmal einen bis dahin bestandenen Zustand. Soll eine Veränderung evolutionäre Qualität erlangen, muss sie für Parsons (1975: 39 f.) geeignet sein, die sich verändernde Struktur in Bezug auf ihre Funktion für das ganze soziale System leistungsfähiger zu machen. Eine solche Veränderung bleibt nicht ohne Auswirkung auf die Gesamtstruktur. Diese muss sich nun ihrerseits auf die Veränderungen in einem ihrer Teilbereiche einstellen.
Drei Stufen gesellschaftlicher Entwicklung unterscheidet Parsons (1975: 46 - 49): die "primitive", die "intermediäre" und die "moderne" Stufe. Parsons legt die Definition dieser Stufen bewusst so breit an, dass innerhalb ihrer Grenzen eine Vielzahl von Möglichkeiten realisiert werden kann. Der Übergang von der "primitiven" zur "intermediären" Stufe ist durch die Entstehung der Schrift gekennzeichnet. Das Merkmal des Übergangs vom "intermediären" zum "modernen" Stadium ist die Zusammenfassung gesellschaftlicher Normen in Form von Gesetzen, die als höchste normative Autorität für alle Mitglieder der Gesellschaft Geltung haben. Die Kriterien zur Beschreibung der Übergänge von einem Stadium zum nächsten ergeben sich aus den Subsystemen des Handelns. Die Schrift verleiht den kulturellen Werten, das Gesetz den gesellschaftlichen Normen Unabhängigkeit von und Stabilität gegenüber den jeweiligen Interessenlagen.
Als Charakteristikum des "primitiven" Stadiums wertet Parsons (1975: 59 - 62) die Verwandtschaftsbeziehungen in ihrer strukturierenden Bedeutung für die Gesellschaft. Hinter diesen Beziehungen tritt eine Symbolik in Erscheinung, wenn beispielsweise dem Gründer eines Clans übernatürliche Qualitäten zugeschrieben werden oder wenn mythische Verbindungen zu irgendwelchen Naturobjekten hergestellt werden. Diese Symbole haben ordnende Funktion hinsichtlich der Beziehungen der Gesellschaftsmitglieder zueinander.
Aus einem solchen Sozialgefüge kann Parsons (1975: 71 f., 75 f.) zufolge durch Herausdifferenzierung privilegierter Untergruppen eine geschichtete Gesellschaft mit monarchischen Zügen entstehen. Als Beispiel für einen derartigen Gesellschaftstypus nennt Parsons (1975: 80) die auch von Beattie (s. o.) erwähnten Shilluk. Kennzeichnend für diese Form der Gesellschaft ist eine fortgeschrittene Zentralisierung der politischen Autorität, die meist mit religiöser Macht verbunden ist (Parsons, 1975: 76). Das Moment der Verwandtschaft tritt in den Hintergrund.
Die Schrift wird in Parsons' (1975: 85) Einteilung bei den "intermediären" Gesellschaften in der Anfangsphase noch nicht von allen Gesellschaftsmitgliedern, sondern nur von spezialisierten Gruppen beherrscht. Zu dem "intermediären" Gesellschaftstypus zählt Parsons (1975: 87 f., 101, 114, 123, 137) mit Ägypten, Mesopotamien, China, Indien und Rom sowohl Kulturen der Alten, als auch mit den Maya, Azteken und Inka solche der Neuen Welt. Die Sozialstruktur weist jetzt eine so starke Schichtung auf, dass Parsons (1975: 86) von einem Drei-Klassen-Muster, bestehend aus einer kleinen Spitze, einer Mittelgruppe und der großen Masse des Volkes, spricht. Für die religiösen Belange der Menschen ist meist eine spezielle "Tempel-Priesterschaft" (Parsons, 1975: 86) verantwortlich. Erst im fortgeschrittenen Stadium der "intermediären" Phase werden sakrale und profane Sphären deutlich voneinander getrennt (Parsons, 1975: 113).
Die weitere Verfolgung des Weges zur "modernen" Gesellschaft Parsons' ist im Zusammenhang mit einer Beschreibung gesellschaftlicher Organisationsformen von Indianern des nordamerikanischen Südostens nicht von Interesse.
Auch Steward (1955: 4, 16 f. 19, 28) versteht seine Erklärung evolutionärer Prozesse als einen multilinearen Ansatz, d. h. für ihn können unterschiedliche Kulturen auch unterschiedliche Entwicklungswege gehen. Die These, alle Kulturen müssten unabhängig voneinander gleiche Stadien durchlaufen, lässt er nur auf einer sehr allgemeinen Ebene wie der des "Jagens und Sammelns" als einer Vorstufe zu einer Ebene mit systematischen Anbaumethoden gelten. Zum Erlangen detaillierterer Folgerungen bedarf es nach Steward (1955: 19) der multilinearen Analyse. An diesem Punkt verhält sich Steward konsequenter als Parsons (s. o.) und verzichtet im Gegensatz zu diesem völlig darauf, irgendwelche allgemeingültigen Stufen zu formulieren. Er gibt lediglich Beispiele für Gesellschaften von unterschiedlich komplexer Organisation (s. u.).
Einen wichtigen Bestandteil im Konzept Stewards (1955: 36 - 39) bildet der Begriff der Ökologie. Er soll klären helfen, inwieweit Anpassungen von Gesellschaften an ihre Umwelt das Verhalten ihrer Mitglieder beeinflussen. Divergierende Umweltbedingungen können sich diesem Gedankengang zufolge auch bei gleicher technologischer Ausrüstung in unterschiedlichen sozialen Organisationsformen niederschlagen. Allerdings wird nicht angenommen, alle Teile einer Kultur unterlägen alle in gleicher Weise den Auswirkungen ökologischer Faktoren. Bestimmend für das Ausmaß der Abhängigkeit einer Kultur von ihrer Umgebung und für ihre Offenheit gegenüber Neuerungen ist in dieser Definition von Ökologie der jeweilige Entwicklungsstand der betroffenen Kultur.
Der Begriff der Ökologie ist zwar geeignet, kulturelle Unterschiede und Ähnlichkeiten im Vergleich festzuhalten. Er ist aber weniger hilfreich bei der Beobachtung prozesshafter Vorgänge im Zeitablauf. Um diesem Manko begegnen zu können, führt Steward (1955: 5) einen weiteren Begriff, den der sozio-kulturellen Integration, in seinen Ansatz ein.
Mit diesem Begriff hebt Steward (1955: 53 ff.) auf die mit der sozio-kulturellen Entwicklung zunehmende Komplexität gesellschaftlicher Organisationsstrukturen ab. Zur Darstellung dieses Vorganges bedient er sich des Bildes von unterschiedlich komplexen Integrationsebenen. Die niedrigste Ebene wäre beispielsweise die der Kernfamilie, eine höhere Ebene die aus mehreren Familien zusammengesetzte Folk-Gesellschaft, eine noch höhere die des Staates. Die Gruppen der nächst höheren Ebenen integrieren nicht nur Gruppen eines geringeren Organisationsgrades, sondern übernehmen auch neue Aufgaben, die vorher noch keine Rolle gespielt haben.
Beide Begriffe, den der Ökologie und den der sozio-kulturellen Integration, benutzt Steward (1955: 89) zur Definition seines Kulturtypus. Die einem Typus zuzurechnenden Kulturen sollen sich durch Ähnlichkeiten in der Anpassung an ihre Umwelt und durch ähnliche sozio-kulturelle Integrationsniveaus auszeichnen. Bei dieser Definition kommt es Steward (1955: 91 f.) darauf an, dass sowohl Form als auch Funktion beachtet werden. Einzelne Kulturelemente können durchaus unterschiedliche konkrete Ausprägungen haben und werden von Steward dennoch ein- und demselben Kulturtypus zugeordnet, wenn sie ähnliche oder gleiche Funktionen erfüllen. Seine Kulturtypen versteht Steward (1955: 28 f., 89) aber auf keinen Fall als universelle Kulturstadien, die alle Gesellschaften durchlaufen müssen. Sein Typus ist eher ein Mittel der Klassifizierung, um unterschiedliche kulturelle Traditionen miteinander vergleichen zu können.
Als Beispiel für eine soziale Integration auf de Ebene der Familie nennt Steward (1955: 101 - 103) die Shoshonen des großen Beckens in Nordamerika. Die einzige institutionalisierte gesellschaftliche Organisationsform stellte hier die, manchmal um nahe Verwandte erweiterte, Kernfamilie dar. Diese Zersplitterung in kleine Gruppen, die als Jäger und insbesondere Sammler von Pinyon-Nüssen und Grassamen ihr Dasein fristeten, sieht Steward (1955: 105 ff.) in Abhängigkeit von der kargen Umwelt, in der, bei geringen Möglichkeiten einer Bevorratung, größere Gruppen kaum eine ausreichende Lebensgrundlage finden könnten. Wesentlicher Grund für eine zeitweilige Kooperation mehrerer Familien war die Jagd auf solche Tiere, die von wenigen Personen nicht erfolgreich erlegt werden konnten (Steward, 1955: 109). Auch die Winterlager waren nur lose Gruppierungen von Familien, die weder in ihrer Zusammensetzung noch in der Wahl ihres Lagerplatzes Stetigkeit aufwiesen (Steward, 1955: 114 f.). Ebenso vorübergehend wie diese gemeinsamen Aktivitäten waren auch hieraus abgeleitete, über den familiären Rahmen hinausgehende Autoritätsbeziehungen.
Eine höhere Organisationsform stellen für Steward (1955: 122 - 127) die patrilinear organisierten Lokalgruppen ("bands") dar. Diese Gruppen werden als Gebilde definiert, die sich in der Regel aus exogamen Patri-Lineages zusammensetzen und eine Größe von durchschnittlich 50 Mitgliedern erreichen. Die ökologischen Bedingungen der Lokalgruppen zeichnen sich , dieser Definition nach, dadurch aus, dass zwar auch hier nur ein begrenztes Nahrungsangebot zur Verfügung steht, dass aber vornehmlich Wild als Nahrungsgrundlage dient, das nur in größerer Gemeinschaft gejagt werden kann. Jede Gruppe hat das Nutzungsrecht über ein bestimmtes abgegrenztes Territorium (Steward, 1955: 135). Diesen Unterschied gegenüber den Shoshonen, die keinerlei Nutzungs- oder gar Eigentumsrecht am Territorium kannten (Steward, 1955: 108), erklärt Steward (1955: 135) damit, dass Wild in sehr viel geringerer Stückzahl vorkommt als etwa Pinyon-Nüsse oder Grassamen und somit ein Wettbewerb um diese Nahrungsquelle entsteht. Auch die Begründung für die Patrilinearität leitet Steward (1955: 125 f., 136) aus den Umweltbedingungen ab. Er unterstellt, dass die für die Jagd verantwortlichen männlichen Gruppenmitglieder ihr Gebiet möglichst gut kennen wollen und daher zum Verbleib in der ihnen vertrauten Umgebung, also zur Patrilokalität, tendieren. Zusammen mit dem Gebot, den Ehepartner außerhalb der eigenen lokalen Gruppe zu suchen, das Steward (1955: 125 f., 136) mit dem Kleingruppencharakter dieser Organisationsform erklärt, wird hieraus eine patrilineare Regelung der Gruppenzugehörigkeit. Als Beispiele für Lokalgruppen werden die Buschmänner, Gruppen im Kongo und die Ureinwohner Australiens und Feuerlands genannt (Steward, 1955: 123).
Mit der zusammengesetzten Jagdgruppe ("composite hunting band") erwähnt Steward (1955: 143 f., 149 f.) eine Organisationsform, die zwar das gleiche Integrationsniveau wie die patrilinearen Lokalgruppen aufweist, sich aber in typologischer Hinsicht dennoch von ihnen unterscheidet, weil sie anderen ökologischen Faktoren unterliegt. Eine zusammengesetzte Jagdgruppe besteht aus mehreren Familien, deren Mitglieder allerdings innerhalb der Lokalgruppe heiraten dürfen. Ausschlaggebend für diese Art der Heiratsregelung ist der Interpretation Stewards (1955: 143 f., 149 f.) zufolge entweder die Größe der Gruppe, die wegen der Jagd auf große und wandernde Tierherden so unüberschaubar geworden ist, dass sie nicht mehr als Verwandtschaftsgruppe empfunden wird, oder soziale Verhaltensweisen, die zur Aufnahme fremder Familien in die patrilineare Gruppe geführt haben. Zusammengesetzte Jagdgruppen findet Steward (1955: 143 f., 149 f.) bei den Algonkin und Athapasken Kanadas.
Eine wiederum höhere Integrationsebene ist die einer, aus mehreren Lineages bestehende gesellschaftliche Organisationsform, die Steward (1955: 152 f.) allerdings nicht als Typus mißverstanden wissen will, da Lineage-Gesellschaften hierzu zu sehr voneinander differieren können. Dieser Ebene rechnet Steward (1955: 152 f.) sowohl die Lineage- als auch die Clanorganisationen zu. Auf diesem Integrationsniveau macht Steward (1955: 170 f.) neben ökologischen Momenten verstärkt soziologische und historische Faktoren für die Ausprägung bestimmter Organisationsformen verantwortlich. So wird zwar einerseits eine verbesserte Versorgung mit Nahrungsmitteln und die damit mögliche größere Bevölkerungsdichte als eine Ursache für die Entstehung komplexerer Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens genannt.
Darüber hinaus werden jetzt aber auch soziale Zwänge, wie sie etwa als Folge von Kriegen auftreten können, als Auslöser für die Vermischung von bis dahin selbständigen Bevölkerungsgruppen und somit auch für die Integration in umfassendere Gemeinschaften in Betracht gezogen.
Die Entstehung von Staaten oder staatsähnlichen Gebilden geht bei allen historisch bekannten frühen Hochkulturen einher mit einer, durch systematische Bewässerung erzielten, Überproduktion von Nahrungsmitteln in einem Maße, dass eine große Zahl von Arbeitskräften von der direkten Nahrungsmittelerzeugung freigestellt werden kann. In der Folge kommt es nach Steward (1955: 206) zu einer gesellschaftlichen Schichtung, in der in der Regel eine Priesterschaft die Kontrolle über die Gemeinschaft ausübt. Als Erklärung hierfür nennt Steward (1955: 201 f.) die zunehmende Bedeutung religiösen oder durch die Religion vermittelnden Wissens, etwa astronomische und mathematische Kenntnisse, und eine Art Integrationsfunktion der Priester, die eine soziale Zusammenarbeit gewährleistet.
1.2.4. Soziale Evolution als System- und Bewusstseinsveränderung
Hinter dem Ansatz zu einer Erklärung gesellschaftlicher Entwicklung unter den Aspekten von Systembildung und Bewusstseinsbildung steht der Versuch zu einer umfassenden Theorie der sozialen Evolution. Eine solche Theorie soll sowohl materialistische als auch funktionalistische Elemente in sich vereinigen können (Eder, 1973: 7). Bislang besteht dieser Versuch allerdings noch weniger aus einem einheitlichen Ansatz (Eder, 1980) als vielmehr aus einer Auswahl verschiedener Ansätze, die einen Beitrag zu einer solchen Theorie zu leisten vermögen (Eder, 1973). In diesen Ansätzen wird zur Veränderung der Produktionsstruktur, zur Veränderung von Herrschaftsstrukturen und zu Veränderungen im Bereich von Bewusstsein und religiösem Denken Stellung genommen.
Eder (1973: 16) geht vom demographischen Wachstum als der Variablen aus, die die Entwicklung einer archaischen Gesellschaft, hierunter wird eine auf Tauschwirtschaft basierende nicht-industrielle Gesellschaft verstanden, verursacht. Unter dieser Voraussetzung bedarf es neuer Integrationsmechanismen, die über die Tauschwirtschaft hinaus die Subsistenz der Gesellschaftsmitglieder sichern. Es muss eine "Zukunftsplanung auf der Basis intensiver Produktionsmethoden" (Eder, 1973: 17), es muss also eine Überproduktion von Nahrungsmitteln stattfinden, die in Form von Vorräten angesammelt werden kann. Daraus ergibt sich die Frage der Steuerung dieser Vorratswirtschaft.
Carneiro (1973: 164) arbeitet noch ein zweites Moment heraus, das zur Produktion von Überschuss beitragen kann: Bevölkerungsdichte und Knappheit des Bodens haben zur Folge, dass fremde Gruppen, die bei Streitigkeiten und Kriegen unterlegen sind, nicht mehr in unbesiedelte Gebiete ausweichen können, sondern in die Hände des Stärkeren fallen, was meist mit der Zahlung von Abgaben verbunden ist, die nur durch die Produktion überschüssiger Güter erwirtschaftet werden können. Der Begriff der Knappheit des Bodens wird dabei so weit gefasst, dass jede Abgrenzung auf Grund von Umweltbedingungen darunter fällt, auch wenn beispielsweise noch genügend Raum vorhanden wäre, der besiedelt werden könnte, der aber nicht die gleiche Anziehungskraft wie das verlorene Land ausübt und somit nicht als Ersatz für den Verlust angesehen wird (Carneiro, 1973: 169).
Für Moscovici (1973: 203 - 206) wird die gesellschaftliche Differenzierung durch zwei Faktoren bestimmt: Der eine Faktor ist das Vorhandensein von sog. Quasi-Ressourcen, worunter Fähigkeiten verstanden werden, die in der bestehenden Ordnung noch keine Anwendung finden, in der nächsten Entwicklungsphase aber von Wert sein können. Solche Fähigkeiten werden durch zusätzliche, über die Alltagsarbeit hinausgehende Betätigung angeeignet. Der andere Faktor besteht in der Bereitstellung überschüssiger Arbeitskräfte. Diese werden, wenn die Gesellschaft sie überhaupt ernähren kann, sich entweder den vorherrschenden Tätigkeiten zuwenden oder sich mit der Aneignung von Quasi-Ressourcen beschäftigen. Nur der zweite Fall ist im Zusammenhang mit der Erörterung der Entwicklung einer Gesellschaft von Interesse. Nur im zweiten Fall "bereitet sich die Menschheit auf das Leben in einer neuen Natur vor." (Moscovici, 1973: 205). Sind die neuen Fertigkeiten zur Bewältigung von Problemen, denen sich die Gesellschaft gegenübersieht, besser geeignet als die alten, so werden sie allmählich unentbehrlich. Sie erobern sich einen Platz neben den bisherigen Fähigkeiten und können diese auch verdrängen.
Das Mittel zur Erzielung eines Nahrungsmittelüberschusses ist in der Regel die systematische Bodenbebauung. Erst durch den systematischen Anbau kann mehr produziert werden, als zum sofortigen Verbrauch nötig ist, es kann also Vorrat angelegt werden. Erst er macht Sesshaftigkeit möglich, die die Voraussetzung zur Ausbildung einer politischen Struktur darstellt, die zur Steuerung des Überschusses notwendig ist. Erst jetzt können die Privatinteressen eines Haushaltes durch andere Interessenkonstellationen abgelöst werden. "Haushalte müssen," so Eder (1973: 19), "jetzt über den durch die familialen Interessen gesetzten Rahmen hinaus Güter produzieren." Es müssen nun nicht mehr alle Mitglieder einer Gesellschaft zur Nahrungsmittelproduktion herangezogen werden. Der Überschuss lässt die Alimentierung anderer, nicht mit der Nahrungsmittelproduktion verbundener Berufe zu. Es entsteht eine Unterteilung in Produzenten und Nicht-Produzenten von Nahrungsmitteln. Eder (1973: 19 f.) sieht in dieser Entwicklung, die den alten Tauschmechanismus des Zug-um-Zug-Tausches unmöglich macht, einen Anreiz zur Bildung von Eigentum an den Produktionsmitteln.
Die geschilderte, über die Verwandtschaftsgruppen hinausgreifende Produktionsweise verlangt nach Eder (1973: 21 f., 25 f.) die Ablösung von allein auf Verwandtschaftsbeziehungen beruhenden Herrschaftssystemen. Bei diesem Ablösungsprozess bildet das, bereits von Gesellschaften, die über eine weniger differenzierte Produktionsweise verfügen, bekannte, von Sellnow (1973: 83 f.) so genannte Senioritätsprinzip eine wichtige Stütze. Hierbei handelt es sich um ein Organisationsprinzip, das Gesellschaftsmitgliedern, die über ein großes Maß an Lebenserfahrung verfügen, eine herausragende gesellschaftliche Stellung beimißt. Es besteht hier, wie Sellnow (1973: 83 f.) sagt, ein Autoritätsgefüge, das zu sozialen Differenzierungen tendiert, die über die Verwandtschaftsgruppe hinausgreifen. Neben dem Senioritätprinzip nennt Sellnow (1973: 100) die Einteilung in Altersklassen, die zu einer Auflockerung des Verwandtschaftsprinzips beitragen kann. Auch das, mehrere Familienverbände unter einer gemeinsamen Führung zusammenfassende Territorialprinzip, ein Begriff, der ebenfalls von Sellnow (1973: 101) verwandt wird, bedeutet eine Ausweitung der ursprünglichen verwandtschaftsgebundenen Organisationsform. Für Sahlins (1973: 148 ff.) hat auch das segmentäre Prinzip eine ähnliche, in Richtung auf eine stärkere gesellschaftliche Differenzierung weisende Bedeutung. Solange die segmentäre Fusion aber immer nur im Falle einer äußeren Opposition in Erscheinung tritt, kann sich aus ihr noch keine dauerhafte Struktur entwickeln. Erst der Kontakt mit besser organisierten Gesellschaften lässt eine Konsolidierung des Systems nötig werden.
Veränderungen im Bewusstsein der Menschen lösen der Interpretation Eders (1973: 221) zufolge die bisherige "Naturwüchsigkeit der sozialen Evolution" ab. Diesen Vorgang der Bewusstseinsveränderung charakterisiert Eder (1980: 69 f.) als einen Lernprozess, der verbunden ist mit einer Veränderung der moralischen Orientierung des Handelns. Die neue Moralvorstellung ordnet Handeln dem Individuum zu und lässt einen Rechtsbegriff entstehen, der von der Individualhaftung eines jeden Gesellschaftsmitglieds ausgeht. Der Wandel im Lernprozess werde einmal durch den Übergang vom konkreten zum formalen Denken und zum anderen durch den Wechsel von der Interaktion auf der Ebene der Familie zur abstrakteren sozialen Interaktion gekennzeichnet (Eder, 1973: 217 f.). Es sei der Wandel in der "Art der Organisation der Beziehungen zur äußeren Natur wie (der) Art der Organisation des politischen Raumes der Gesellschaft" (Eder, 1973: 216), der die Ausnutzung einer als vorgegeben angesehenen Lernfähigkeit ermöglicht. Der Übergang vom konkreten zum formalen Denken werde durch die Veränderung der Produktionsstruktur hervorgerufen. "Die Struktur des Produktionsprozesses determiniert den Objektbereich des Denkens: In den archaischen Gesellschaften sind es die Pflanzen (qua Sammlertätigkeit) und die Tiere (qua Jagdtätigkeit) gewesen, die das Material des Denkens bereitgestellt haben." (Eder, 1973: 290). In den frühen Hochkulturen dagegen werde das Denken durch die "ersten abstrakten Formen der Naturerfahrung" (Eder, 1973: 290) bestimmt.
An den Anfang einer Entwicklung religiösen Bewusstseins stellt Döbert (1973: 344) das, von ihm als konservativ interpretierte, mythologische Denken. Dieses Denken wird als ein auf Anpassung an die gegebenen Umweltbedingungen und auf Erhaltung der bestehenden Verhaltensrichtlinien ausgerichtetes Moment interpretiert. Infolgedessen ist ein so verstandenes religiöses Handeln ein sehr pragmatisches, der Krankenheilung , der Wetterbeeinflussung o. ä., dienendes Handeln (Döbert, 1973: 346). Hier trifft sich Döberts Aussage mit Malinowskis (1954: 88) Unterscheidung von Magie und Religion. Während Magie einen ganz bestimmten Zweck verfolgt, hat Religion einen sehr viel allgemeineren und abstrakteren Charakter.
Die Religionen der archaischen Zivilisationen zeichnen sich nach Döbert (1973: 353 f.) durch eine Vielzahl personifizierter Gottheiten aus. Objekten der Naturumwelt wird dagegen zusehends ihre sakrale Bedeutung genommen. Das alltägliche Leben wird in diesem Stadium nicht mehr so detailliert vorgezeichnet wie noch durch das rein mythologische Denken. Andererseits erfordert der hierdurch gewonnene Freiraum eine Festlegung der religiösen Normen in Form einer theologischen Lehrmeinung.
1.2.5. Ethnologisch orientierte Modelle: Fried, Sahlins und Service
Fried (1967: X f.) teilt ein in egalitäre Gesellschaften, Ranggesellschaften, geschichtete Gesellschaften und geschichtete Gesellschaften mit staatsähnlicher Organisation. Unter egalitären Gesellschaften versteht Fried (1967: 28) Gesellschaften, die weder Positionen im Sinne von Ranggesellschaften, noch eine soziale Stratifikation aufweisen. Ranggesellschaften zeichnen sich durch die Existenz sozialer Positionen aus, die mit besonderem Prestige bewertet werden, aber zahlenmäßig so begrenzt sind, das sie immer nur wenig Gesellschaftsmitgliedern offen stehen (Fried, 1967: 109). Die Chancen, sich die für den Lebensunterhalt notwendigen Güter zu sichern, werden hierdurch nicht beeinträchtigt. Anders ist dies in geschichteten Gesellschaften, in denen nach Fried (1967: 186) die Zugriffsmöglichkeiten auf die grundlegenden Versorgungsgüter unterschiedlich verteilt sind. Wird in diesem Gesellschaftstypus das Recht, physische Gewalt auszuüben, in der Hand einer einzigen sozialen Einrichtung konzentriert, so spricht Fried (1967: 230) von einem Staat.
Egalitäre Gesellschaften sind nach der Definition Frieds (1967: 33) Gesellschaften, in denen es ebenso viele mit Prestige bedachte Statuspositionen gibt wie Gesellschaftsmitglieder, die in der Lage sind, diese Positionen auszufüllen. Die Wirtschaftsbeziehungen in solchen Gesellschaften sind Beziehungen auf unmittelbare Gegenseitigkeit im Sinne von Gabe und Gegengabe (Fried, 1967: 35, 63 ff.). Ihren Lebensunterhalt bestreiten Mitglieder egalitärer Gesellschaften durch Jagen und Sammeln (Fried, 1967: 58). Sie sind somit weitgehend von den natürlichen Umweltbedingungen abhängig, die in der Regel keine großen sozialen Gruppen zulassen (Fried, 1967: 54). Der Zugang zu den Produktionsmitteln, den Rohmaterialien für die Herstellung von Jagd- und Sammelgeräten, steht allen Gruppenmitgliedern gleichermaßen offen (Fried, 1967: 58). Eine über die Arbeitsteilung nach Geschlechtern hinausgehende Teilung der Arbeit besteht nur in Form mechanischer Solidarität im Sinne Durkheims, bei der alle Arbeitenden die gleiche Tätigkeit verrichten (Fried, 1967: 62). Als politische Organisationsform dieser Gesellschaften nennt Fried (1967: 66, 69) die, aus wenigen Familien bestehenden Lokalgruppen ("bands"). Er beschreibt diese Lokalgruppen als exogame face-to-face-Gruppen. Die Position der Anführer dieser Gruppen basiert auf Autorität und nicht auf physischer Gewaltanwendung (Fried, 1967: 83). Unter Autorität versteht Fried (1967: 13) die Fähigkeit, das Verhalten anderer Personen unter Ausschluss von Sanktionen oder Sanktionsandrohungen zu beeinflussen. Selbst bei kriegsähnlichen Auseinandersetzungen gibt es in den egalitären Gesellschaften Frieds (1967: 105) keine mit dem Gewaltmonopol ausgestatteten Führer. Die Gruppen besitzen keine deutlich voneinander getrennten Territorien (Fried, 1967: 96). Die Grenzen sind vielmehr fließend.
Ein wesentliches, wenn auch nicht unabdingbares Kriterium der Ranggesellschaften ist für Fried (1967: 111 f., 115) die systematische Erzeugung der Nahrungsmittel. Diese Voraussetzung lässt ein Anwachsen der Gruppengrößen möglich werden (Fried, 1967: 112 f.). Die Menschen können jetzt in Dörfern zusammenleben, die meist recht autonome, nur über Heiratsbeziehungen miteinander verbundene soziale Einheiten darstellen (Fried, 1967: 118 f.). Es ist im allgemeinen nur das Land, das zu einem Dorf gehört, das von den Dorfbewohnern klar umschrieben werden kann und von ihnen eindeutig als das ihre betrachtet wird (Fried, 1967: 175). Die Abgrenzung eines größeren Territoriums wird, wenn überhaupt, nur recht vage vorgenommen. Insgesamt ist der Bedarf an Grund und Boden wegen der andersartigen Produktionsweise relativ geringer als in egalitären Gesellschaften. Die Mitglieder der Dorfgemeinschaften, einschließlich der höherrangigen Personen, besitzen in der Regel Nutzungs-, aber keine Eigentumsrechte am Boden (Fried, 1967: 177). Allerdings gibt es immer noch keine über alters- und geschlechtsrollenspezifische Differenzierungen hinausgehende Arbeitsteilung (Fried, 1967: 114 f., 129 ff.). Selbst höherrangige Personen werden im allgemeinen nicht von der Produktion der Subsistenzmittel freigestellt. Ihre soziale Position innerhalb der Gruppe resultiert aus ihrer wichtigen Funktion bei der Wiederverteilung der gemeinschaftlich erzeugten Güter (Fried, 1967: 117 f.). In keiner anderen gesellschaftlichen Formation ist nach Einschätzung Frieds (1967: 120 f.) das Verwandtschaftssystem als soziales Organisationsprinzip von so entscheidender Bedeutung wie in Ranggesellschaften. Dabei fasst Fried (1967: 124 f.) unter Verwandtschaft sowohl genealogisch eindeutig nachweisbare, als auch klassifikatorische Systeme. Seine Stellung innerhalb des Abstammungssystem weist jedem Individuum gleichzeitig seinen sozialen Rang innerhalb der Gesellschaft zu (Fried, 1967: 126 f.). Soziale Kontrollmechanismen sind in der Regel auf das Verwandtschaftssystem bezogen (Fried, 1967: 148). Die Position höherrangiger Personen sieht Fried (1967: 134, 138, 140 f.) sowohl unter ökonomischen, als auch unter religiösen Gesichtspunkten. Ihr Ansehen beziehen die Anführer der Gemeinschaften meist aus ihrem religiösen Status und ihrer Stellung innerhalb der Abstammungshierarchie. Diese Stellung erlaubt es ihnen, als eine Art Einteilungsinstanz bei der Organisation der produktiven Tätigkeiten der Gesellschaftsmitglieder zu fungieren. Die nach Fried (1967: 1787 f.) für die Ranggesellschaften typischen Festlichkeiten bieten Gelegenheit, über die Dorfgemeinschaft hinausgehende soziale Bindungen anzuknüpfen. Die, von Fried (1967: 181 f.) als ziemlich kriegerisch beschriebenen, Ranggesellschaften kennen bereits eine Art militärische Organisation.
Das Stadium der geschichteten Gesellschaft ohne staatliche Institution stellt das problematischste der von Fried entwickelten vier Stadien politischer Evolution dar, da es für diesen Gesellschaftstypus bislang keinerlei empirische Belege gibt (Fried, 1967: 224). Dies hat damit zu tun, dass eine geschichtete Gesellschaft nach Fried (1967: 225 f.) ein recht ephemeres Gebilde ist, das dazu tendiert, das System der Schichtung mittels politischer Machtmechanismen zu verfestigen. Angesichts bis dahin nie gekannter Zwänge, die ein Schichtungssystem auf den Einzelnen ausübt, reichen die bestehenden Formen sozialer Kontrolle nicht aus, diese Gesellschaftsstruktur aufrecht zu erhalten (Fried, 1967: 186). Dieser Sachverhalt macht es schwierig, klare Charakteristika für diesen Gesellschaftstypus herauszukristallisieren. Eine Reihe sozialer, ökonomischer und demographischer Kriterien scheinen Hand in Hand zu gehen mit zunehmender sozialer Stratifizierung, spielen gleichzeitig aber auch eine Rolle bei der Institutionalisierung staatlicher Macht. Fried (1967: 203 f., 212, 215 f.) nennt u.a. die zunehmende Bevölkerungsdichte, die den bebaubaren Boden knapp werden lässt, die Errichtung großer Bewässerungsanlagen, die einen Teil der Bevölkerung von der direkten Produktionsarbeit abzieht, oder die Kriegführung unter speziell hierfür ausgebildeten Militärfachleuten.
Unter einem Staat versteht Fried (1967: 229 ff., 235) eine Form der gesellschaftlichen Machtausübung, die nicht mehr verwandtsdchaftsgebunden ist. Es ist jetzt der Staat, ein Motiv, das in fast allen Staatsdefinitionen, so auch in den bereits vorgestellten, wiederkehrt, der für sich allein das Recht in Anspruch nimmt, physische Gewalt gegenüber den Gesellschaftsmitgliedern anzuwenden, und der, neben ideologischen Mitteln (Fried, 1967: 238 f.),diese Gewalt auch einsetzt, um die bestehende soziale Schichtung zu erhalten. Für die in einem Staat lebenden Personen wird die Staatsangehörigkeit eindeutig geregelt (Fried, 1967: 236). Die Kontrolle der sozialen Normen wird von der Ebene der Verwandtschaft auf die des Staates verlagert (Fried, 1967: 236 f.). Einmal etabliert, muss der Staat danach trachten, Mittel in die Hand zu bekommen, um seine Bediensteten zu entlohnen (Fried, 1967: 239 f.).
Um den Bereich der politischen Macht sowohl auf einfache als auch auf komplexe Sozialstrukturen anwendbar zu machen, versucht Service (1977), seinen Begriff des politischen Handelns so allgemeingültig zu formulieren, dass von vornherein eine, gerade bei politischen Kategorien leicht mögliche, Zuspitzung auf moderne gesellschaftliche Gebilde ausgeschlossen ist. Für Service (1977: 36 ff.) konstituieren drei Momente den Begriff des politischen Handelns: "Verstärkung" meint, dass politisches Handeln darauf abzielt, seine eigene strukturelle Voraussetzung zu erhalten, "Führung" bedeutet, dass politisch handelnde Personen in irgendeiner Form geleitet werden, und "Vermittlung" schließlich hebt auf die Funktion politischen Handelns ab, als Schiedsinstanz bei Konflikten zu wirken.
Die Durchsetzung eines politischen Machtanspruchs kann nach Service (1977: 35) sowohl durch physische Gewalt als auch durch Anerkennung einer Autorität erfolgen.
Die auf diese Weise definierte Ausgangsposition erlaubt es Service (1977: 32 f.), in seinem Sinne institutionalisierte wie auch nicht-institutionalisierte Formen politischer Macht in seine Betrachtung einzubeziehen. Eine eindeutig institutionalisierte Form politischer Machausübung im Sinne von Service wäre der Staat, eine ebenso eindeutig nicht-institutionalisierte die der segmentierten Gesellschaften, die Service zu den egalitären Systemen zählt, und ein Übergangsstadium zwischen diesen beiden Formen bildeten die Häuptlingstümer (Service, 1977: 14, 38 ff.).
Service benutzt hier einen enger ausgelegten Institutionenbegriff, als er den meisten soziologischen und ethnologischen Veröffentlichungen zugrunde liegt. Gluckman (1967: 76 - 92) beispielsweise behandelt unter der Überschrift "Politische Institutionen" Verwandtschaftsbeziehungen in nicht-industriellen Gesellschaften. Die Autoren eines so grundlegenden ethnologischen Lehrbuches wie "Notes and Querries" (1971) verstehen unter politischen Systemen nicht nur hoch-differenzierte Administrationen, sondern auch verwandtschaftsgebundene Kleingruppen (1971: 132 - 157). Im Sinne dieser Definitionen wäre etwa ein Mechanismus wie die Blutrache der segmentierten Nuer-Gesellschaft, für Service eine Form nicht-institutionalisierter politischer Machtausübung, Ausdruck einer politischen Institution. Die Soziologen klassifizieren im allgemeinen so unterschiedliche Einrichtungen wie Brauchtum einerseits und Recht andererseits einheitlich als Institution. Auch Service (1977: 32 f.) scheint diesem Sachverhalt nicht grundsätzlich widersprechen zu wollen, da er davon ausgeht, dass die politischen Probleme, die sich in Gesellschaften unterschiedlichen Entwicklungsstandes stellen, durchaus miteinander vergleichbar sind. Dennoch ordnet er alle Gesellschaften, deren soziale Kontrolle allein nach Maßgabe von Brauchtum und Sitte funktionieren, nicht-institutionalisierten politischen Systemen zu (Service, 1977: 27, 32). Er zieht hier, offenbar aus Gründen der terminologischen Klarheit, einen eindeutigen Trennungsstrich. Der Begriff der politischen Institution wird von ihm bewusst mit einem so starken Grad an Organisiertheit versehen, dass er explizit in die Nähe bürokratischen Handelns rückt (Service, 1977: 106 f.). Für Service ist politische Macht erst dann institutionalisiert, wenn sie an Ämter gebunden ist, die auch ohne Rücksicht auf die jeweils amtierenden Personen Bestand haben. Damit wird die Frage nach der Institutionalisierung von politischer Macht weitgehend zur Frage nach dem Ursprung des Staates (Service, 1977: 33, 47), der auch bei Service (1977: 122) wieder mit Blick auf das Gewaltmonopol definiert wird.
Zu den egalitären Gesellschaften gehören für Service (1977: 80 f.) alle Gesellschaften unterhalb der Ebene der Häuptlingstümer. Unter egalitären Gesellschaften werden Systeme verstanden, die ihre politischen Probleme ausschließlich auf verwandtschaftlicher Basis lösen (Service, 1977: 81 ff.). Autoritätspositionen, die über diesen Rahmen hinausgehen, haben charismatischen Charakter und sind an die jeweilige Person gebunden. Die Überwachung der Normen erfolgt mittels sanktionierten Gewohnheiten (Service, 1977: 85). Die Vermittlung bei innergesellschaftlichen Konflikten geschieht meist durch den Spruch eines gemeinsamen Verwandten der Konfliktparteien oder der Öffentlichkeit (Service, 1977: 89 ff.). Bei Streitigkeiten mit anderen Gemeinschaften tritt in der Regel die Blutfehde in Aktion (Service, 1977: 89 ff.). Weitere Möglichkeiten, Beziehungen nach außen aufzunehmen, bestehen nach Service (1977: 94 f.) nur noch durch den Gabentausch und die Heirat.
Die politischen Organisationsformen auf der Ebene egalitärer Gesellschaften sind für Service (1977: 73) in Übereinstimmung mit Sahlins (1973: 116 f.) Lokalgruppen ("bands") und Stämme. Hiervon unterscheiden Sahlins (1973: 116 f.) und Service (1977: 73) die Häuptlingstümer und die Staaten. Später reduziert Sahlins (1973 b: 112 f.) sein Schema unter Eingliederung der Häuptlingstümer in die Kategorie des Stammes auf drei Stufen.
Lokalgruppen sind nach Sahlins (1973: 118) kleine Gruppen von Jägern und Sammlern, bestehend aus verwandten Familien.
Den Stamm charakterisiert Sahlins (1973: 118 - 123) demgegenüber als ein viel differenzierteres Gebilde. Er besteht aus gleichgewichtigen Segmenten, die ihrerseits aus Familiengruppen aufgebaut sind. Die Segmente sind meist politisch wie wirtschaftlich recht autonome Einheiten. In der Regel bewirken erst externe Gründe eine zeitweilige innere Konsolidierung des Stammes. Einige über die Segmente hinausgehende Einrichtungen, wie Heiratsvorschriften oder Altersklassensystem, fördern den Zusammenhalt des Stammes.
Die Herauskristallisierung von Häuptlingstümern aus egalitären Stämmen kann nach Service (1977: 109) über den Weg der Vererbung eines, zunächst nur charismatisch bedingten, herausgegebenen Status vonstatten gehen. Die Nachkommen eines Anführers haben unter Umständen Vorteile bei der Neubesetzung der Führungsposition gegenüber möglichen anderen Bewerbern und begründen dadurch die Weitergabe eines Status von einer Generation auf die nächste. In dem Maße, in dem die Führungsposition der Gruppe nützlich ist, und die Gruppenstabilität erhöht, wird sie gleichzeitig auch unentbehrlich für die Gemeinschaft.
Entsprechend der Zwischenstellung, die Häuptlingstümer im Schema von Service einnehmen, haben auch die rechtsähnlichen Sanktionsmechanismen der Häuptlingstümer den Charakter eines Zwischenstadiums. Es gibt jetzt mit der Person des Häuptlings zwar eine zentrale Autoritätsinstanz, es fehlt aber ein Monopol beim Gebrauch physischer Zwangsmaßnahmen (Service, 1977: 122). Die Autorität des Häuptlings gründet sich nach Service (1977: 128 f.) zum einen auf seine wichtige Funktion bei der Verteilung der Versorgungsgüter und zum anderen auf der ihm, als nahem Verwandten des Stammesgründers, gegeben gott-ähnlichen Stellung. Den Häuptling ist es möglich, große Verbände erwachsener Mitglieder der Gemeinschaft für Arbeitsleistungen oder zum Kriegsdienst auszuheben (Service, 1977: 134). Gemäß seiner Stellung ist er die Schiedsinstanz bei der Vermittlung in innergesellschaftlichen Streitigkeiten (Service, 1977: 137). Außenbeziehungen können unter der Leitung einer bei der eigenen Gruppe hohes Ansehen genießenden Person effektiver gestaltet werden als bei egalitären Gesellschaften (Service, 1977: 138).
Ein Kriterium, das bei der Herausbildung von Staaten aus Häuptlingstümern für Service (1977: 364) eine wichtige Rolle spielt, ist die Säkularisierung der Sanktionen. Der Herrscher nimmt mehr und mehr das Recht für sich in Anspruch, säkulare Zwangsmittel, meist zur Konsolidierung des eigenen Herrschaftsbereiches, einsetzen zu dürfen (Service, 1977: 372). Daneben wächst und verselbständigt sich der bürokratische Apparat (Service, 1977: 363, 372 f.). Immer mehr Verwandte des Häuptlings erlangen "Ämter", sodass eine Art Aristokratie und damit eine Schichtung der Gesellschaft entsteht.
Die Vorgänge bei der Entstehung erster Staaten sucht Service an Hand unterschiedlicher Beispiele aus West- (1977: 173 - 186) und Ostafrika (1977: 147 -172), aus dem Südosten der Vereinigten Staaten (1977: 187 - 195) und aus Polynesien (1977: 196 - 214) zu illustrieren. Das deutlichste Beispiel, das Service (1977: 192, 195) anführt, ist wohl das der Cherokee. Bei ihnen gab es sowohl differenzierte politische Ämter als auch, mit der Kriegsorganisation, eine über ein Gewaltmonopol verfügende staatliche Einrichtung. Leider standen aber die Cherokee von allen erwähnten Gruppen zu der Zeit, aus der die Beispiele stammen, am stärksten unter europäischem Einfluss. Die Aussagekraft dieses Beispiels wird hierdurch zweifelsohne beeinträchtigt. In ähnlich starkem Maße war dies bei dem Beispiel aus Hawaii zwar nicht der Fall, doch begann auch dort das, was Service (1977: 201) den "Aufstieg des Staates" nennt, erst nach kolonialem Kontakt. Kennzeichnend für diesen Aufstieg war nach Service (1977: 204 f.) die Vernachlässigung religiöser Tabuvorschriften aus rein machtpolitischen Erwägungen. In Uganda und Westafrika standen am Anfang offenbar Eroberungen im Vordergrund. Service (1977: 171, 183 ff.) betont aber, dass noch andere Faktoren in den geschilderten Fällen, Handelsbeziehungen und eine Art Lehensverhältnis zwischen Eroberern und Unterworfenen, hinzukommen mussten, um staatliche Gebilde entstehen zu lassen. Ein wichtiges politisches Prinzip im Zulustaat war beispielsweise die Überlagerung von Verwandtschaftsorganisationen durch Territorialgliederungen und die Einsetzung der Führer nach dem Willen des Zulu-Königs und nicht nach Abstammungskriterien (Service, 1977: 155 f., 158 f.).
Eine klare Abgrenzung früher Staatsformen gegenüber den Häuptlingstümern ist auf der Grundlage der vorliegenden Materialien, wie Service (1977: 375 f.) auch unumwunden einräumt, kaum möglich.
Im Vergleich mit den frühen Hochkulturen wird Unterschied natürlich sehr viel deutlicher. Service (1977: 22 f., 255 ff.) unterstreicht die für dieses Stadium entscheidende Bedeutung der Redistribution von Versorgungsgütern durch eine staatliche Bürokratie. In Verbindung mit einer starken regionalen Spezialisierung der Produktion, bedingt etwa durch entsprechende Umweltgegebenheiten, kann diese Verteilung lebensnotwendig werden für die an dem System beteiligten Gemeinschaften. Die unterschiedlichen Produkte ergänzen sich gegenseitig, sodass die verschiedenen Produzenten gewissermaßen in einer Art "Symbiose" (Service, 1977: 255 f.) voneinander abhängig werden. Diese Abhängigkeit braucht aber nicht zwangsläufig ökonomischer, sie kann auch technologischer oder militärischer Natur sein oder auf Arbeitsteilung beruhen (Service, 1977: 282 f., 297). Je komplizierter die Abhängigkeitsbeziehungen werden, umso unentbehrlicher wird die bürokratische Planungsinstanz. Die Vorteile, die aus der Zugehörigkeit zu einer bürokratisch organisierten Gesellschaft herrühren, überwiegen allmählich die Nachteile (Service, 1977: 369). Die dadurch auf den Staat einwirkende Integrationskraft hält Service (1977: 258, 378 f.) für wesentlich als rein repressive Maßnahmen.
1.3. Anhaltspunkte für eine Einschätzung gesellschaftlicher Differenzierungsvorgänge
Gesellschaftliche Differenzierung und die Ausformung staatsähnlicher Gebilde sind Anzeichen für Veränderungen einer Gesellschaft in unterschiedlichen sozio-ökonomischen Bereichen.
Der Unterschied zwischen einfacher und komplexer strukturierten Gesellschaften macht sich in der Produktionsweise in der Regel in Form einer Intensivierung durch systematischen Feldanbau und Tierzüchtung bemerkbar. Verbesserungen der technischen Ausrüstung, etwa durch den Einsatz des Pfluges oder durch die Errichtung künstlicher Bewässerungsanlagen, bringen eine weitere beträchtliche Steigerung der Nahrungsmittelproduktion. Die Erzeugung von Nahrungsmittelüberschüssen und damit Sesshaftigkeit werden möglich. Auf dieser Grundlage kann eine über eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung oder eine mechanische Solidarität hinausgehende Arbeitsteilung stattfinden. Ein großer Teil der Mitglieder einer Gesellschaft braucht nicht mehr an der Produktion der Subsistenzmittel beteiligt zu werden. Die Bildung größerer Siedlungskomplexe wird möglich, in denen Menschen leben, die ausschließlich einer speziellen Tätigkeit im Bereich von Handwerk, Religion, Administration im weitesten Sinne oder des Militärwesens nachgehen. Zusammen mit zunehmendem Bevölkerungswachstum und einer Verknappung des zur Verfügung stehenden Bodens kann die Überschussproduktion zu einem verstärkten Interesse an individuellen oder auf eine Gruppe bezogenen Nutzungs- und schließlich sogar Eigentumsrechten an den Produktionsmitteln führen. Das Verlangen der Gesellschaft oder der sie bildenden Gemeinschaften, ihr Territorium zu kennen und abzugrenzen, wird größer.
Die veränderte Form der Arbeitsteilung und die Notwendigkeit der Steuerung und Verteilung der Überschüsse bedingen eine soziale Schichtung, die nicht mehr nur an Verwandtschaftsstrukturen gebunden ist. In einer solchen Sozialstruktur scheinen Priestergruppen und Führerpersönlichkeiten, deren gesellschaftliche Positionen sich auf religiös-charismatische Momente gründen, eine privilegierte Rolle zu spielen. Das Wissen dieser Personengruppen ist in Bodenbau treibenden Gesellschaften von großer Bedeutung. Es liegt nahe, diesen Personengruppen auch bei der Wiederverteilung der gemeinsam erzeugten Produkte eine herausragende Rolle zuzuweisen. Als Gründe für die Verstetigung der daraus resultierenden hierarchischen Strukturen werden in der Literatur sowohl Zweckmäßigkeits- als auch Machtfaktoren genannt.
Begreift man politisches Handeln als Handeln, das auf die Etablierung oder die Aufrechterhaltung bestimmter gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse und Strukturen gerichtet ist, so kann festgehalten werden, dass im Laufe sozialer Differenzierung ein solches Handeln einem Prozess der Zentralisierung und Institutionalisierung im Sinne von Service unterliegt. Bereits in egalitären Gesellschaften angelegt, gewinnen zentrale Autoritätsinstanzen mit zunehmender Komplexität einer Gesellschaftsstruktur immer größere Bedeutung. Charismatisch begründete Herrschaft muss relativ rasch nach einer traditionellen oder rationalen Legitimation suchen, will sie in der Zeit überleben. Es entsteht eine bürokratische Struktur mit einem hierarchischen System der Delegation politischer Macht. Auch das Recht zur Anwendung physischer Gewalt gegenüber den Mitgliedern der Gesellschaft wird mehr und mehr zentralisiert und damit monopolisiert. Da mit der Überlagerung der Verwandtschaftsprinzipien durch andere Organisationsformen die früheren sozialen Zuordnungskriterien verloren gehen, hat die zentrale Autorität auch ein Interesse an der Abgrenzung des Territoriums, über dessen Bewohner Herrschaft beansprucht werden soll.
Die menschlichen Denkstrukturen werden in komplexen Gesellschaften in viel stärkerem Maße durch formale Logik und Abstraktheit geprägt als in egalitären Systemen. Damit kann in komplex strukturierten Gesellschaften religiöses Denken auch nicht mehr nur jene pragmatische, zweckgerichtete Qualität besitzen wie in egalitären Gesellschaften. Hieraus resultiert eine stärkere Unterscheidung zwischen weltlichem und sakralem Bereich. Eine Säkularisierung von Normen kann auch in solchen Gesellschaften eintreten, in denen eine Priesterschaft die politische Herrschaft ausübt. Machtpolitische Motive können als Begründung eines Herrschaftsanspruches die religiöse Beweggründe dominieren. Die Religion kann in den Dienst der politischen Herrschaft treten, indem diese religiös begründet wird.
2. Archäologie und historische Ethnologie
2.1. Archäologie als Anthropologie
Bei der Beschreibung selbst ganz unterschiedlicher gesellschaftstheoretischer Ansätze, die sich mit den Anfängen der Institutionalisierung politischer Organisationsformen beschäftigen, fällt auf, dass alle im Laufe ihrer Darlegungen einmal an den Punkt gelangen, an dem sie über ethnologisch/soziologische Perspektiven hinaus auch archäologische Forschungsergebnisse berücksichtigen müssen, um ihre Analyse wirklich vollständig werden zu lassen. Diese hierin zum Ausdruck kommende Nähe der Ethnologie zur Archäologie hat in den 60er und 70er Jahren des vergangene Jahrhunderts eine Reihe nordamerikanischer Autoren ausführlich reflektiert. Ein wichtiges Moment der hierdurch der Archäologie gewonnenen, vielfach als "New Archaeology" bezeichneten, Betrachtungsweise stellt der Versuch dar, archäologische Funde nicht einfach nur als totes Material zu sehen, sondern in Beziehung zu setzen zu den möglichen Verhaltensformen der Menschen, die diese Kulturgüter geschaffen haben.
An dieser Stelle muss aber angemerkt werden, dass diese "neue" Betrachtungsweise keineswegs so neu war, wie sie auf den ersten Blick anmuten könnte. Seit ende des 19. Jahrhunderts haben sich nordamerikanische Archäologen immer wieder der Frage zugewandt, auf welche Weise ihre Disziplin zu Erkenntnissen beitragen kann, die über das reine Studium materieller Kulturgüter hinausgehen (Eggert, 1976a: 56 und Binford, 1968: 5). Nach 1940 haben sich u. a. Childe (1946), Steward (1942) und Taylor (1948) mit diesem Problem auseinandergesetzt. Allerdings konnten auch 1958 die beiden Archäologen Willey und Phillips (Binford, 1968: 7) immer noch Klage darüber führen, dass dieser Aspekt der Archäologie noch nicht hinlänglich genug beleuchtet worden sei. Die in den Jahren danach einsetzende intensive Beschäftigung mit den Zusammenhängen zwischen Archäologie und Sozialanthropologie bzw. historischer Ethnologie soll Grundlage der weiteren Erörterung dieser Thematik sein.
In den Betrachtungen über die genannte Problematik spielen, wie Deetz (1970: 117 - 122) in einer Zusammenfassung der wesentlichen Trends der "New Archaeology" ausführt, drei methodische Gesichtspunkte eine besondere Rolle: Zum einen sollen verschiedene Teilbereiche einer Kultur nicht isoliert nebeneinander, sondern unter Berücksichtigung ihrer gegenseitigen Abhängigkeit voneinander betrachtet werden. Auf diese Weise sollen Rückschlüsse auf nicht-materielle Bereiche einer Kultur möglich werden. Zum anderen soll Abstand genommen werden von der in der traditionellen Archäologie üblichen Typologisierung von Fundstücken zugunsten einer Einbeziehung in einen Sinnzusammenhang und damit auch in einen Handlungszusammenhang, in den die jeweilige materiellen Güter gehören. Und schließlich sollen bei der Interpretation archäologischer Materialien Analogien zu Verhaltenssituationen, die die Ethnologie beschreibt, mitbewertet werden.
Binford (1968: 5 ff.) beschreibt drei Hauptziele archäologischer Forschungsarbeit, die in der Literatur häufig formuliert worden sind: Zur Aufgabe der Archäologie gehöre es, die Geschichte der Zivilisation zu untersuchen. Darüber hinaus soll die Archäologie versuchen, die Lebensformen der Menschen nachzuzeichnen, die für diese zivilisatorischen Leistungen verantwortlich waren. Und schließlich werde etwa seit den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts verlangt, die Archäologie müsse nach Erklärungsansätzen für die von ihr analysierten historischen Prozesse suchen. Erst diese, über die reine Darstellung historischer Ereignisse hinausgehende Erklärung prozesshafter Vorgänge wertet Binford (1972: 117 f.) als eigentliche Interpretationsarbeit des Archäologen. Auf diese Weise sollen Gesetzmäßigkeiten, die hinter den einzelnen Fakten stehen, herauskristallisiert werden. Binford (1972: 21) möchte Unterschiede und Ähnlichkeiten sowohl innerhalb eines einzigen als auch zwischen verschiedenen sozio-kulturellen Systemen aufzeigen. Dabei soll die räumliche wie auch die zeitliche Komponente mit in die Betrachtung eingeschlossen werden.
Von einer den genannten Zielen gerecht werdenden Archäologie erwartet Binford (1968: 17, 1972: 118) demgemäß eine schlussfolgernde Vorgehensweise, deren Hypothesen an Hand empirischer Daten überprüfbar sind. Die durchaus sozialwissenschaftlich anmutende Methode will also Ursache und Wirkung beobachteter Phänomene zunächst hypothetisch formulieren und danach durch Datenmaterial verifizieren oder falsifizieren.
Ähnlich sozialwissenschaftlich mutet auch das Verständnis von Kultur an, das Binford seinen Ausführungen zugrunde legt. Kultur begreift Binford (1972: 198 f., 236 f.) als die Gesamtheit aller Mechanismen, denen sich der Mensch bedient, um sich selber und damit auch seine soziale Gruppe an seine Umwelt anzupassen. Kultur wird damit zu einem multivariablen System zahlreicher Subsysteme, auch sozial-struktureller und institutioneller Art, die im Zusammenspiel miteinander funktionieren. In dem Moment, in dem dieses Gleichgewicht zwischen Umwelt und Anpassungsmechanismen gestört wird, bedarf es neuer oder der Veränderung vorhandener Faktoren zur Wiederherstellung des Gleichgewichtszustandes (Binford, 1968: 323 f.). Allerdings misst Binford nicht allen Bereichen der Umwelt gleiche Bedeutung in diesem Anpassungsprozess bei. Insbesondere spielen jene Teile der Umwelt eine Rolle, zu denen mehr oder weniger regelmäßige Verbindungen bestehen ("effektive environment"). Ebenso differenziert werden auch die der komplexen Organisation eines kulturellen Systems entsprechenden menschlichen Verhaltensformen gesehen (Binford, 1972: 198 f., 236). Veränderungen in Teilbereichen eines solchen Systems müssen zwangsläufig Veränderungen in anderen Bereichen nach sich ziehen (Binford, 1968: 286). Die archäologische Analyse sollte nach Binford (1972: 198 f., 236 f.) diese einzelnen Variablen einer Kultur und ihre Beziehungen zueinander ausfindig machen. Auf der Grundlage dieses Netzwerkes vieler Faktoren wäre dann ein Kategoriensystem der Archäologie zu entwickeln.
Exakt in dieses Bild von Kultur passt auch Binfords (1972: 21) Forderung nach Erklärung sozio-kultureller Ähnlichkeiten und Unterschiede unter Bezugnahme auf die strukturellen und funktionalen Gegebenheiten des ganzen Systems. Die materiellen Kulturgüter, mit denen sich die Archäologie beschäftigt, müssen demgemäß innerhalb des strukturellen Zusammenhanges gesehen werden, in dem sie funktionieren. Unterschiede zwischen sozio-kulturellen Systemen sind für Binford (1968: 324) entweder funktional oder strukturell bedingt. Im ersten Fall besetzen die jeweiligen Kultursysteme analoge Teilbereiche verschiedener ökologischer Regionen. Im zweiten unterliegen sie denselben Umweltbedingungen, nutzen diese aber auf unterschiedliche Art und Weise, haben also, um den von Binford benutzten Begriff zu gebrauchen, unterschiedliche "effective environments".
Mit der beschriebenen Interpretation von Kultur bedient sich Binford einer Betrachtungsweise, die in ihren gesellschaftwissenschaftlich relevanten Teilen derjenigen der struktur-funktionalistischen Ansätze der Soziologie nahe steht. Hinter Binfords Kulturbegriff steht letztlich die Frage nach der Struktur eines Kultursystems und danach, wie dessen Teile aufeinander bezogen sind und welchen Beitrag jeder einzelne Teil für das gesamte System leistet. Diese Auffassung kommt auch in der Interpretation der Beisetzungsriten als soziale Phänomene zum Ausdruck, deren Ausprägung von der Struktur der Gesellschaft und der Position, die der Verstorbene in ihr eingenommen hat, abhängig ist (Binford, 1972: 225 - 236). Allerdings soll an einen Denkansatz, der für die Archäologie entwickelt worden ist, kein Maßstab der Soziologie angelegt werden. Es soll hier nicht die in Bezug auf den Funktionalismus in den Gesellschaftwissenschaften berechtigte Frage gestellt werden, ob nicht zu sehr das Funktionieren einer Struktur zuungunsten ihrer kritischen Hinterfragung betont wird. Binfords Thesen müssen unter dem Blickwinkel gewürdigt werden, dass es in ihnen darum geht, ein Defizit bei der Erklärung sozio-kultureller Zusammenhänge mittels archäologischer Daten aufzuarbeiten und dass dabei sowohl in theoretischer als auch methodischer Hinsicht ein noch wenig begangenes Neuland betreten wird. Unter diesem Blickwinkel ist der Ansatz Binfords gerade für die Sozialanthropologie besonders interessant und wichtig.
Um zu Aussagen über den nicht-materiellen Teil einer Kultur zu gelangen, unterscheidet Binford (1972: 22 ff.) drei Arten archäologischer Funde: solche Funde, die allein ein Reflex auf die physische Umgebung, in der sie hergestellt worden sind, darstellen, solche, die sich in erster Linie aus dem sozialen Zusammenhang heraus, unter dem sie entstanden sind, verstehen lassen, und solche, die darüber hinaus Rückschlüsse auf das ideologische System der betreffenden Gesellschaft gestatten. Zur zweiten Gruppe wären etwa die verschiedenartigsten materiellen Statussymbole und zur dritten beispielsweise Darstellungen von Gottheiten zu zählen. Auf der Grundlage dieser Einteilung möchte Binford zu Aussagen von recht bemerkenswerter Tragweite gelangen. So soll etwa von Qualität und Quantität gefundener Statussymbole auf den Gesellschaftstypus geschlossen werden (Binford, 1972: 28).
Von großer Bedeutung sind bei diesen "neuen" Ansätzen Analogieschlüsse. Binford (1972: 34 ff.) weist jedoch darauf hin, dass es sich hierbei nicht einfach um Vergleiche ähnlicher Phänomene bei verschiedenen sozialen oder kulturellen Einheiten handeln darf. Vielmehr muss zunächst klargestellt sein, dass zwischen den verglichenen Einheiten nachweisbare Analogien bestehen. Erst dann darf von einem bei einer Einheit vorhandenem, bei einer anderen aber fehlendem Phänomen von ersterem auf letzteres geschlossen werden. Es liegt auf der Hand, dass derartige Rückschlüsse umso exakter werden, von je mehr Analogien ausgegangen werden kann. Darüber hinaus werden die Möglichkeiten zu Analogieschlüssen durch die Forderung eingeengt, dass zwischen den zu vergleichenden Einheiten einigermaßen bedeutsame Beziehungen bestehen müssen. Diese können etwa dadurch nachgewiesen werden, dass eine historische Kontinuität vorliegt, oder dadurch, dass ähnliche Umweltbedingungen, auf die in ähnlicher Weise reagiert wird, gegeben sind.
Binford (1972: 37 -45) gibt für das beschrieben methodische Verfahren ein Beispiel: Gesucht wird die Bedeutung von, vor allem am unteren und mittleren Mississippi gefundenen Gruben, die u. a. verkohlte Maiskolben, Äste und Baumrinden enthielten. Ethnologische Quellen berichten davon, dass im Südosten Nordamerikas solche Gruben angelegt wurden, um unter Benutzung von Maiskolben als Feuermaterial Tierhäute, die über die Grubenöffnung gespannt wurden, bearbeiten zu können. Die Analogie besteht hierbei für Binford in den sowohl von der Archäologie als auch der Ethnologie nachgewiesenen Gruben mit den darin befindlichen, der Feuerung dienenden Maiskolben. Die Schlussfolgerung wäre, dass auch die von den Archäologen entdeckten Gruben bei der Bearbeitung von Tierhäuten benutzt wurden.
Im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Nachbardisziplinen Archäologie und Ethnologie zeigt Binford (1972: 63 ff.), wie wichtig die gegenseitige Ergänzung beider Wissenschaften sein kann. Gerade die unterschiedliche Akzentsetzung durch beide Disziplinen sollen einen Anreiz zur Beschäftigung mit vergleichbaren Untersuchungseinheiten und -variablen geben. So müssen beispielsweise langfristige Phänomene mit prozesshaftem und evolutionärem Charakter der direkten ethnologischen Beobachtung in weit größerem Maße verschlossen bleiben als der archäologischen Analyse (Binford, 1972: 59 f.). Auch dürfte es schwierig sein, allein auf Grund ethnographischer Daten jenen von Binford (1972: 323 f.) erwähnten Unterschied zwischen evolutionären und nicht-evolutionäre Veränderungen kultureller Systeme angemessen zu erfassen. Strukturmodelle von Kultursystemen können nach Binford (1972: 60) dagegen sehr viel besser an Hand ethnologischer Untersuchungen erarbeitet werden. Die Überprüfung von Hypothesen auf ihre Stimmigkeit sollte nach Möglichkeit im Lichte von Datenmaterial beider Disziplinen erfolgen, wobei sich Binford (1972: 61 f.) völlig bewusst ist, dass die unterschiedlichen Materialien nicht jedem Sachverhalt in gleichem Maße gerecht werden können. So wird etwa bei Erklärungsansätzen über nicht mehr existierende Gesellschaften die Verlässlichkeit ethnologischer Daten anders zu bewerten sein als bei solchen über noch bestehende soziale Gruppen.
Deetz (Binford, 1968: 42 ff.) begreift materielle Kulturgüter als Funktion menschlichen Verhaltens. Folglich ordnet er sie sozialen Gruppen zu, in denen dieses Verhalten stattfindet, oder sieht sie als Ausdruck individuellen Verhaltens. Letzteres würde sich etwa bei der konkreten Ausprägung von Merkmalen an Einzelstücken manifestieren. Das Verhalten von Kleingruppen, wie Familien, Jagd- oder Geschlechtsgruppen, könnte sich in einer Kombination von Geräten widerspiegeln, die zur Ausübung der entsprechenden Gruppentätigkeit gebraucht werden oder bei deren Ausführung als Resultat entstehen. Die materielle Entsprechung zum sozialen Handeln noch größerer Gruppen wäre beispielsweise die Anordnung und Ausformung von Gebäuden. Die gesamte Gesellschaft könnte nur mit dem erfasst werden, was Chang (s. u.) als Siedlung beschreibt, und letztlich alle Materialien einer archäologischen Fundstätte einbezieht.
Um Hintergründe von Handlungsmustern prähistorischer Gemeinschaften aufzudecken, geht Deetz (Chang, 1968: 33 - 37) der Frage nach, warum Gegenstände mit bestimmten Eigenschaften und Merkmalen ausgestattet werden. Hierzu bildet er Gegensatzpaare, die jeweils sich gegenseitig ausschließende Gründe für eine Merkmalsausstattung nennen. Eigenschaften von Objekten können dieser Auflistung zufolge durch die Funktion, diese Objekte zu erfüllen haben, aber auch durch Momente bedingt sein, die nichts mit der Funktion dieser Gegenstände zu tun haben. Die Einführung neuer Merkmale kann auf Nachahmung, was Rückschlüsse auf soziale Kontakte mit anderen Gemeinschaften zuließe, oder auf Innovation beruhen. Bei der Ausgestaltung eines Gegenstandes kann der Hersteller frei oder durch andere, bereits vorhandene Eigenschaften des Objekts gebunden sein. Einer weiteren Einschränkung gegenüber einer allein an Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten orientierten Produktion kann der Hersteller auf Grund auf Grund vorgegebener, sozio-kulturell bedingter Verhaltensmuster unterliegen. Schließlich unterscheidet Deetz (Chang, 1968: 33 - 37) Gegenstände danach, inwieweit ihrer Bearbeitung durch Material und Technologie Grenzen gesetzt sind. Um unter den aufgezählten Faktoren jene herauszufinden, die für eine konkrete Merkmalsausprägung verantwortlich sind, vergleicht Deetz (Chang, 1968: 39 f.) Gegenstände einer Fundstätte miteinander. Kann eine hohe Merkmalsähnlichkeit festgestellt werden, so nimmt Deetz (Chang, 1968: 39 f.) Gründe wie Nachahmung, ähnliche Funktion oder ähnliche Verhaltensmuster an. Ein geringes Maß an Ähnlichkeit lässt ihn dagegen eher im Bereich von Gründen wie Innovation oder Funktionsunterschieden suchen.
Die Faktoren, die Deetz (Chang, 1968: 39 f.) als Gründe für Merkmalsausprägungen an materiellen Kulturgütern anführt, lassen sich zwei Gruppen von Kausalzusammenhängen zuordnen: Die eine Gruppe umfasst Faktoren funktional/materieller Art. Zu ihr gehören Bedingungen, die sich aus Funktion, Zweckmäßigkeit, vorhandenen Eigenschaften eines Gegenstandes oder Beschaffenheit des Ausgangsmaterials ergeben. Die zweite Gruppe besteht aus jenen Faktoren, bei denen, wie etwa im Falle der Nachahmung oder bei einer Orientierung an bestehenden Verhaltensmuster, soziale Komponenten im Vordergrund stehen. Wie sehr sich Faktoren beider Gruppen gegenseitig beeinflussen können, zeigt sich an den einer Gemeinschaft gegebenen Möglichkeiten zur Bearbeitung von Rohstoffen. Diese Möglichkeiten sind direkt abhängig von der zur Verfügung stehenden technologischen Ausrüstung, die ihrerseits bedingt wird durch den gesellschaftlichen Entwicklungsstand der Gemeinschaft.
Von der Verarbeitung von Merkmalen an Artefakten möchte Deetz (Chang, 1968: 38) auf Kontakte zwischen Kulturen schließen. Tauchen in zwei Kulturen häufig ähnliche Merkmale in ähnlichen Zusammenhängen auf, so liegt für ihn die Möglichkeit von Wanderungen oder Eroberungen nahe. Letztere vermutet Deetz (Chang, 1968: 38) insbesondere dann, wenn sich diese Ähnlichkeiten nur auf Gegenstände erstrecken, die üblicherweise von männlichen Gesellschaftsmitgliedern hergestellt werden. Betreffen Merkmalszusammenhänge nur Gegenstandsgruppen, deren Produktion im allgemeinen geschlechtsgebunden ist, so kann nach Deetz (Chang, 1968: 38) auch eine begrenzte Mobilität etwa in Form von Exogamie in Frage kommen.
Eine Reihe von Archäologen hat in Feldforschungen versucht, den methodischen Ansatz der "New Archaeology" in die Praxis umzusetzen (u. a Hill, 1966, Deetz, 1965, Longacre, 1964 und 1966, Martin, Longacre und Hill, 1967). Hill (Binford, 1968: 103 - 142) geht bei seiner Untersuchung über das Broken K Pueblo in Arizona zunächst von der unterschiedlichen Größe der bei den Ausgrabungen entdeckten Räume des Pueblos aus und vergleicht diese mit ethnologischen Daten über die räumlichen Gegebenheiten der Hopi- und Zuni-Pueblos. Sowohl das ethnologische als auch das prähistorische Material weist zwei unterschiedliche Raumgrößen pro Haushalt sowie spezielle Kammern, die gemeinsam von mehreren Haushalten genutzt wurden, aus. Auf Grund des archäologischen Materials kann geschlossen werden, dass in den großen Räumen die üblichen Alltagsaktivitäten ausgeführt wurden, während die kleineren Räume offensichtlich der Lagerung von Vorräten dienten. Dagegen sind die besonderen Kammern so grundlegend anders ausgestaltet als die übrigen Räume, dass angenommen werden muss, dass diese ganz speziellen Tätigkeiten vorbehalten waren. Bei den modernen Pueblo-Indianern dienen diese Spezialkammern, die Kivas, zeremoniellen Zwecken. In den größeren der Alltagsräumen bereiten die Pueblo-Indianer ihre Nahrung vor und verzehren sie und bewahren dort außerdem ihre Wasservorräte auf. In den kleineren Räumen werden meist Nahrungsmittel, aber auch die verschiedensten anderen Gegenständen gelagert. Hill (Binford, 1968: 103 - 142) erwartet nun, dass auch in den entsprechenden Räumen der Ausgrabungsstätte Zeugnisse gefunden werden, dass hier in prähistorischer Zeit ähnliche Tätigkeiten verrichtet wurden. Hill (Binford, 1968: 103 - 142) findet seine Erwartungen auf Grund des archäologischen Materials in der Tat im wesentlichen bestätigt. Da es hier nur darum gehen kann, die Grundzüge des beschriebenen methodischen Verfahrens aufzuzeigen, braucht nicht näher auf die zahlreichen von Hill untersuchten Artefakten und die von ihm vorgenommenen gründlichen statistischen Analysen eingegangen werden, mit denen Hill seine Thesen untermauert. Aus dem gleichen Grunde kommt es an dieser Stelle auch nicht darauf an darzustellen, in welchen Punkten Hills umfangreiche Hypothese verifiziert worden ist und in welchen nicht.
Um zu Aussagen über soziale Verhaltensweisen zu gelangen, beschäftigt sich Whallon (Binford, 1968: 227 ff.) mit stilistischen Variationen an Keramikarbeiten. Seiner Argumentation liegen die Gedanken zugrunde, dass Keramikwaren in der Regel von den weiblichen Gruppenmitgliedern gefertigt werden und dass die Variationsbreite an Stilmerkmalen innerhalb einer ganzen Region größer ist als etwa in einem einzigen Dorf. Findet Whallon (Binford, 1968: 227 ff.) nun an einem Ort ein hohes Maß an stilistischer Homogenität, so geht er davon aus, dass hier eine hinsichtlich der Hersteller der Töpferwaren, also der Frauen, in sich ziemlich geschlossene Gemeinschaft gelegt haben muss. Es müsste sich somit um eine matrilokale Gemeinschaft handeln. Umgekehrt würde eine große Heterogenität an stilistischen Merkmalen eine starke Fluktuation an weiblichen Gruppenmitgliedern und folglich Patrilokalität anzeigen. Die Frauen hätten in einem solchen Fall die verschiedenen Stilrichtungen, die an ihren bisherigen Wohnorten gepflegt werden, nach ihrer Heirat an den Wohnort mitgebracht und dort auch beibehalten. Noch einen Schritt weiter geht Whallon (Binford, 1968: 229, 236) in seiner Interpretation, wenn er von einer steigenden Heterogenität auf eine zunehmende Diffusion verschiedener Stilelemente und von da auf eine Verstärkung sozialer Kontakte zwischen den Gruppen schließt.
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- Citation du texte
- Karl-Hermann Hörner (Auteur), 2019, Die Natchez vom Unterlauf des Mississippi, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/505153
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