Der erste Teil der Arbeit widmet sich den konzeptionellen Grundlagen von Populismus. Obwohl sich die Politikwissenschaft uneins darüber ist, was Populismus ist und wie er definiert werden kann, ist eine präzise Definition elementar für die Untersuchung des Phänomens. Um sich dem Konzept zu nähern, werden im ersten Teil zunächst drei historische Wellen von Populismus vorgestellt. Dabei handelt es sich um agrarischen Populismus, den Populismus in Lateinamerika, sowie europäischen Neo-Populismus. In einem weiteren Schritt sollen drei verschiedene theoretische Dimensionen von Populismus beleuchtet werden. So kann Populismus als Strategie, als Kommunikationsstil oder als Ideologie konzipiert werden. Dieser erste Teil der Arbeit stützt sich auf die umfangreiche politikwissenschaftliche Literatur zu Populismus. Politische und soziale Krisen werden oft als begünstigende Faktoren für das Entstehen populistischer Bewegungen betrachtet, daher soll im zweiten Teil der Arbeit auf die Geschichte Spaniens nach Franco eingegangen werden. Da der geschichtliche Kontext bedeutsam ist, um das Phänomen der Partei Podemos zu verstehen, wird der Fokus insbesondere auf die wirtschaftliche und politische Krise im Land gelegt. Diese trat ab Beginn der Finanzkrise 2007 offen zutage. Auch die Reaktionen in der Bevölkerung auf die Krisen sollen betrachtet werden, hierbei nimmt die Bewegung des 15. Mai eine Sonderstellung ein.
Im dritten Teil dieser Arbeit soll die Partei Podemos näher vorgestellt werden. Dabei wird ihr Entwicklungsprozess aufgezeigt, von den Vorläuferprojekten, bis hin zu den nationalen Parlamentswahlen am 26. Juni 2016. Zusätzlich soll die Partei ideologisch verortet werden und auf die Organisationsstruktur eingegangen werden. Da diese Arbeit hochaktuell ist und Entwicklungen beinhaltet, die erst kurz vor der Erstellung der Arbeit eingetreten sind, gibt es hierzu bislang keine wissenschaftliche Literatur. Stattdessen werden in der Arbeit Zeitungsartikel, Primärquellen der Partei, sowie soziale Netzwerke wie Twitter verwendet um ein vollständiges und aktuelles Bild der Partei skizzieren zu können. [...]
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Populismus
2.1 Begriffsgeschichte
2.1.1 Populismus aus historisch-geographischer Perspektive
2.1.1.1 Agrarischer Populismus
2.1.1.2 Populismus in Lateinamerika
2.1.1.3 Europäischer Neopopulismus
2.1.2 Theoretische Konzeptionen
2.1.2.1 Populismus als politische Strategie / Organisation
2.1.2.2 Populismus als Kommunikationsstil
2.1.2.3 Populismus als Ideologie
2.1.2.4 Vergleich der drei Dimensionen
2.2 Forschungsstand
2.2.1 Minimaldefinition
2.2.2 Vermessung von Populismus
2.2.3 Podemos und Populismus
3 Geschichte Spaniens
3.1 Transition
3.2 Strahlendes Boomjahrzehnt
3.3 Wirtschaftskrise
3.3.1 Austeritätspolitik
3.3.2 Bankenkrise
3.3.3 Soziale Folgen
3.4 Regimekrise
3.4.1 Korruption
3.4.2 Territorialfrage
3.5 Reaktionen der Bevölkerung
3.5.1 Demonstration 15-M
3.5.2 Ausdifferenzierung der Indignados-Bewegung
4 Podemos
4.1 Entfaltung von Podemos
4.1.1 Organisationale Vorläufer: Izquierda Anticapitalista, Medienprojekte, Akademikerkreis
4.1.2 Parteigründung von Podemos
4.1.3 Von den Europawahlen zum Gründungskongress
4.1.4 Superwahljahr 2015 mit Verlängerung am 26-J
4.1.4.1 Kommunal- und Regionalwahlen 2015
4.1.4.2 Nationale Parlamentswahlen
4.2 Organisationsstruktur
4.2.1 Horizontale Strukturelemente
4.2.1.1 Die Circulos
4.2.1.2 Asamblea Ciudadana
4.2.1.3 Technopolitik
4.2.2 Podemos als vertikale Partei
4.3 Programmatik und Ideologie
4.3.1 Programmatik
4.3.2 Territorialfrage
4.3.3 Ideologie
4.3.3.1 Oben versus unten statt links-rechts
4.3.3.2 Patriotismus
4.4 Parteiströmungen
4.5 Struktur der Anhängerschaft
5 Podemos als populistische Partei?
5.1 Forschungsdesign
5.1.1 Forschungsfragen und Hypothesen
5.1.2 Methodik
5.2 Ergebnisse der Untersuchung
5.2.1 Ist Podemos populistisch?
5.2.2 Veränderungen im Zeitverlauf?
6 Diskussion der Ergebnisse
7 Literaturverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Populismustypen nach Canovan
Tabelle 2: Merkmale von Populismus nach Taggart
Tabelle 3: Regierungen in Spanien seit 1979
Tabelle 4: Anhänger spanischer Parteien / Spitzenkandidaten in sozialen Netzwerken
Tabelle 5: Kernmerkmale von populistischem und pluralistischem Diskurs im Vergleich
Tabelle 6: Bewertung der Reden von Pablo Iglesias
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Arbeitslosigkeit in Spanien 2006-2015
Abbildung 2: Organigramm der Parteistruktur von Podemos
Abbildung 3: Populismus im Zeitverlauf
1 Einleitung
„Better to write for yourself and have no public, than to write for the public and have no self."
-Cyril Connolly
In der Politik ist ersteres keine sinnvolle Strategie. Letzteres hingegen macht es dem Betrachter unmöglich, Politik in das klassische rechts-links Schema einzuordnen. In einem Versuch das zu Benennen, was ohne „self“ geschrieben – oder im Sinne dieser Arbeit gesagt – wurde, findet das Konzept Populismus dennoch häufig Verwendung, sowohl in der Populär- als auch der akademischen Wissenschaft. Populismus wird gebraucht, um politische Phänomene zu beschreiben, die scheinbar nicht in unser pluralistisches politisches System passen. Ein solches politisches Phänomen, das von mehreren Kommentatoren als populistische Partei erachtet wurde, ist Podemos (Kioupkiolis 2016: 100, Mudde 2015, Kaltwasser/Hawkins 2016). Die spanische Partei wurde im Januar 2014 gegründet. Es dauerte weniger als zwei Jahre bis Podemos 20 % der Stimmen bei den nationalen Parlamentswahlen im Dezember 2015 erreichen konnte. Dieses Ergebnis konnten sie sechs Monate später, im Juni 2016 wiederholen. Gleichzeitig beendete die Partei damit den 33 Jahre andauernden bipartidismo, das Zweiparteiensystem in Spanien. Dieser immensen Erfolgsgeschichte und der Frage, ob Podemos eine populistische Partei ist, wird sich diese Arbeit widmen. Um diese Frage beantworten zu können, gliedert sich diese Arbeit in fünf Teile.
Der erste Teil der Arbeit widmet sich den konzeptionellen Grundlagen von Populismus. Obwohl sich die Politikwissenschaft uneins darüber ist, was Populismus ist und wie er definiert werden kann, ist eine präzise Definition elementar für die Untersuchung des Phänomens. Um sich dem Konzept zu nähern, werden im ersten Teil zunächst drei historische Wellen von Populismus vorgestellt. Dabei handelt es sich um agrarischen Populismus, den Populismus in Lateinamerika, sowie europäischen Neo- Populismus. In einem weiteren Schritt sollen drei verschiedene theoretische Dimensionen von Populismus beleuchtet werden. So kann Populismus als Strategie, als Kommunikationsstil oder als Ideologie konzipiert werden. Dieser erste Teil der Arbeit stützt sich auf die umfangreiche politikwissenschaftliche Literatur zu Populismus. Politische und soziale Krisen werden oft als begünstigende Faktoren für das Entstehen populistischer Bewegungen betrachtet, daher soll im zweiten Teil der Arbeit auf die Geschichte Spaniens nach Franco eingegangen werden. Da der geschichtliche Kontext bedeutsam ist, um das Phänomen der Partei Podemos zu verstehen, wird der Fokus insbesondere auf die wirtschaftliche und politische Krise im Land gelegt. Diese trat ab Beginn der Finanzkrise 2007 offen zutage. Auch die Reaktionen in der Bevölkerung auf die Krisen sollen betrachtet werden, hierbei nimmt die Bewegung des 15. Mai eine Sonderstellung ein.
Im dritten Teil dieser Arbeit soll die Partei Podemos näher vorgestellt werden. Dabei wird ihr Entwicklungsprozess aufgezeigt, von den Vorläuferprojekten, bis hin zu den nationalen Parlamentswahlen am 26. Juni 2016. Zusätzlich soll die Partei ideologisch verortet werden und auf die Organisationsstruktur eingegangen werden. Da diese Arbeit hochaktuell ist und Entwicklungen beinhaltet, die erst kurz vor der Erstellung der Arbeit eingetreten sind, gibt es hierzu bislang keine wissenschaftliche Literatur. Stattdessen werden in der Arbeit Zeitungsartikel, Primärquellen der Partei, sowie soziale Netzwerke wie Twitter verwendet um ein vollständiges und aktuelles Bild der Partei skizzieren zu können.
Der vierte Teil bildet die Analyse des Populismus von Podemos und damit den Hauptteil dieser Arbeit. Die Populismusdefinition von Hawkins wird angewandt, um die Wahlkampfreden von Pablo Iglesias, dem Generalsekretär der Partei, bei den letzten vier Wahlen zu untersuchen. Dabei wird die Methode des holistic grading angewandt und eine quantitativ empirische Inhaltsanalyse durchgeführt.
Im letzten Teil sollen die Ergebnisse diskutiert werden und ein Ausblick auf die Partei, Spanien und Populismus gegeben werden.
2 Populismus
„ Populismo es hoy en día una palabra marcada por su uso mediático y en la batalla política cotidiana, que lo asemeja a una forma engañosa, mesiánica,demagógica y nunca plenamente democrática de ejercer el poder político.“
(Errejón 2015: 132)
„Der Populismusbegriff ist heutzutage von seiner Benutzung in den Medien und dem Kampf des politischen Tagesgeschäfts geprägt. Dies führt dazu, dass der Begriff einer trügerischen, messianischen und demagogischen, jedoch niemals einer gänzlich demokratischen Form ähnelt.“
(Errejón 2015: 1321)
Diese Populismusdefinition von Inigo Errejon zeigt die Verwendung des Terminus als Kampfbegriff (Rensmann 2007: 59). In der Tat lassen Medien und Politik selten Zweifel daran, was ihre Meinung von Populisten und populistischer Politik ist. So warnte der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Baroso im Jahr 2011: „Populistische Bewegungen stellen die größten Errungenschaften der Europäischen Union infrage – den Euro, den Binnenmarkt, ja sogar den freien Personenverkehr“ (zitiert nach Hartleb 2011: 338). Auch Jean Claude Juncker, aktueller Kommissionspräsident formuliert seine Sorgen folgendermaßen: „Ihr dürft Euch nicht durch populistische Gedanken blenden lassen, die in allen Ländern präsent sind“ (zitiert nach Spiegel 2015).
Die Verwendung des Begriffs von Populismus im medialen und politischen Diskurs ist meistens negativ konnotiert. Der Populist wird konzipiert und präsentiert als jemand, der dem Volk „nach dem Munde redet“. Vorurteile und Ängste werden von Populisten sowohl verwendet als auch geschürt. Oft wird eine vereinfachende, an Emotionen appellierende und stark manipulierende Agitation unterstellt. Auch der Vorwurf, opportunistische Politik zu betreiben, und sich die damit die Gunst der Wähler zu erschleichen ist nicht unbekannt (Wielenga/Hartleb 2015: 11, Priester 2007: 11).
Der Grund für diese vor allem in Deutschland und Europa vorherrschende negative Betrachtung des Populismus liegt sicherlich auch in der Verwendung von populistischen Elementen durch die faschistischen Regierungen vor und während dem zweiten Weltkrieg. So zeigt Spier (2007: 45) wie die NSDAP kontinuierlich einen Diskurs mit populistischen Elementen verwendete. Auch die faschistische Regierung in Italien bediente sich verschiedener populistischer Elemente (Cavazzo 2012: 236). In den Vereinigten Staaten von Amerika hingegen wird Populismus zuweilen anders rezipiert. So spielt Patriotismus in der US-amerikanischen Populismuskonzeption eine große Rolle. Der Populismus steht in der Tradition politischer Führer wie Thomas Jefferson und Andrew Jackson, und wird dadurch durchaus auch positiv konnotiert (Mudde 2014a: 445).
Auch in der politikwissenschaftlichen Debatte ist Populismus zu einem aktuellen und relevanten Konzept geworden. Der Begriff des Populismus ist keinesfalls ein neuer Begriff der Politikwissenschaft. Allerdings hat die Beschäftigung mit Populismus in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen.
Zurückzuführen ist dies einerseits auf den Erfolg populistischer Bewegungen in Lateinamerika. Andererseits geht die Konjunktur des Begriffs auch auf das Entstehen von populistischen Bewegungen in Europa, die in den allermeisten Fällen Extrem- oder Radikalrechte Parteien waren, zurück. Diese konnten in mehreren Ländern in die nationalen Parlamente ziehen, in wenigen erzielten sie sogar eine Beteiligung an der Regierung (Mudde 2007, Levitsky/Roberts 2011, de la Torre 2000, 2007). Trotz jahrzehntelanger Forschungsarbeit von einer immer wachsenden Anzahl an Wissenschaftlern besteht nach wie vor kein Konsens darüber, wie man Populismus konzeptionalisieren kann und soll. Konsens besteht vor allem darin, dass das Konzept vage ist und keine gemeinsam geteilte Definition existiert (Hawkins 2009: 1041, Mudde/Kaltwasser 2013a: 149, Kriesi/Pappas 2015: 4, Deegan-Krause/Haughton 2009, Laclau 2005, Taggart 2000).
Um sich dem Konzept zu nähern, soll folgendermaßen fortgefahren werden. Da sich alle Wissenschaftler darüber einig sind, dass es in der Vergangenheit populistische Bewegungen, Parteien oder Politiker gab, soll zunächst ein Unterkapitel zur Begriffsgeschichte (2.1) folgen. In dem Unterkapitel wird zuerst auf die prominentesten Beispiele von populistischen Vorkommnissen in der Geschichte eingegangen. Im Anschluss widmet es sich den einflussreichsten theoretischen Konzeptionen zu Populismus.
Daraufhin folgt ein zweites Unterkapitel über den aktuellen politikwissenschaftlich Forschungsstand zu Populismus (2.2). Als erstes wird es auf die in dieser Arbeit verwendete Minimaldefinition von Populismus eingehen. Daraufhin sollen zweitens die verschiedenen politikwissenschaftlichen Methoden vorgestellt werden, die in den letzten Jahren entwickelt wurden, um Populismus empirisch nachweisen zu können. Daraufhin soll drittens kurz auf die wenigen existierenden Untersuchungen über den Populismus von Podemos eingegangen werden.
2.1 Begriffsgeschichte
Einer der ersten Versuche, dem Begriff systematisch näher zu kommen, besteht in dem Sammelband: Populism. Its meanings and national characteristics den Ionescu und Gellner 1969 herausgegeben haben2. Obwohl der Sammelband wahlweise als „ground-breaking “ (van Kessel 2015: 5) oder „ the definite collection on populism“ (Taggart 2000: 15, kursiv im Original) bezeichnet wird, ist es den Wissenschaftlern die an der Konferenz teilnahmen, nicht gelungen sich auf eine Definition zu einigen. So schreiben Ionescu und Gellner in ihrem Sammelband einleitend:
„There can, at present, be no doubt about the importance of populism. But no one is quite clear just what it is. As a doctrine or as a movement, it is elusive and protean. It bobs up everywhere, but in many and contradictory shapes. Does it have any underlying unity? Or does one name cover a multitude of unconnected tendencies?“ (Ionescu/Gellner 1969: 1)
Hier wird die Uneinigkeit sichtbar, die in den Wissenschaften darüber herrscht, was Populismus überhaupt ist Eine Bewegung? Eine politische Doktrin? Es wird die Frage aufgeworfen, ob die verschiedenen Populismen, die „überall auftauchen“ überhaupt einen gemeinsamen Kern haben. Diese Frage beantwortet Canovan (1982) negativ. Im „ehrgeizigsten Versuch, Populismus in den Griff zu bekommen“3 kommt sie zu dem Ergebnis, dass es unmöglich sei, eine Theorie zu erarbeiten, die Populismus erklären kann. Diese „would be either too wide-ranging to be clear or too restricive to be persuasive (ebd.: 544). Seitdem sind über drei Jahrzehnte vergangen, doch die große Mehrheit der Wissenschaftler die sich mit Populismus beschäftigen, heben immer noch ihre definitorische Uneinigkeit hervor (Gidron/Bonikowski 2013: 1, Moffitt/Tormey 2014: 383).
Um sich dem Begriff nähern zu können, sollen in diesem Unterkapitel nun zunächst die historischen Vorkommnisse von Populismus vorgestellt werden. In Anlehnung an Mudde und Kaltwasser (2012: 3f) sowie Jagers und Walgrave (2007: 321) sollen dabei drei verschiedene „Wellen“ von Populismus unterschieden werden. In einem ersten Schritt soll auf den sogenannten Agrarischen Populismus eingegangen werden. Daraufhin wird der Populismus Lateinamerikas beleuchtet werden, um in einem dritten Abschnitt auf den sogenannten Neo-Populismus einzugehen, der zumeist in Europa verortet wird4. Nach Abschluss dieser historisch-geographischen Unterscheidung folgt die Besprechung der unterschiedlichen theoretischen Populismuskonzeptionen. Hierbei kann zwischen drei verschiedenen Dimensionen unterschieden werden. So gibt es strategische Populismuskonzeptionen, die Konzeption von Populismus als Kommunikationsstil, sowie die Auffassung, das Populismus am besten als Ideologie oder Diskurs verstanden werden kann.
2.1.1 Populismus aus historisch-geographischer Perspektive
Die folgenden historisch-geographischen Unterscheidungen von populistischen Erscheinungsformen werden in der politikwissenschaftlichen Literatur als die wichtigsten angesehen. So unterscheiden Mudde und Kaltwasser (2013b: 507) drei populistische Idealtypen: „ agrarian populism in Russia and the USA at the turn of the nineteenth century; socio-economic populism in Latin America in the mid-twentieth century; and xenophobic populism in Europe in the late twentieth and early twenty-first centuries“. Die selbe Einteilung nimmt auch Poblete (2015: 201f) vor, bei ihm heißen die drei Typen Agricultural Populism, Latin American Populism und Neopopulism. Auch Taggart (2000) erwähnt diese historischen Typen, ebenso Puhle (2003).5
Allerdings sollte nicht unerwähnt bleiben, dass diese Einteilung in drei Typen keinesfalls einen Anspruch auf Vollzähligkeit erhebt, und Populismus selbstverständlich ein Phänomen ist, das auf der ganzen Welt auftritt. So halten Lucardie (2011: 17f) und Puhle (2003: 27) fest, dass auch Afrika und Asien nicht frei von Populismus sind6.
2.1.1.1 Agrarischer Populismus
Beim Agrarischen Populismus können drei größere Bewegungstypen voneinander unterschieden werden, die People's Party in den USA, die narodniki im zaristischen Russland, sowie die Bauernbewegung in Mittel- und Osteuropa (Canovan 1982: 550).
Die US-amerikanische People’s Party ist wohl das meistzitierte Beispiel einer populistischen Partei und gilt, gemeinsam mit den narodniki, als eine der frühesten populistischen Bewegungen (Schmidt 2015: 33, Mudde/Kaltwasser 2012: 3). Erstere wurde 1890 gegründet, um landwirtschaftliche Interessen gegenüber den zwei großen Parteien, den Demokraten und den Republikanern, durchzusetzen (Spier 2006: 40). Dabei stand die Bewegung für eine Ideologie, die das landwirtschaftliche Leben als das bessere propagierte und gegen Banken, die politische Übermacht der großen Städte und die deflationistische Währungspolitik der Regierung kämpfte. Stattdessen befürwortete sie die agrarische Demokratie, welche mehr Partizipation ebenso fordert, wie mehr direkt-demokratische Elemente. So bestanden ihre politischen Forderungen beispielsweise in der Direktwahl der Senatoren, einer Einführung von offenen Vorwahlen und einer Erweiterung des Wahlrechts auf Frauen. Auch die Möglichkeit der Abwahl von Politikern und eine progressive Einkommenssteuer waren Ziele, für die die People's Party eintrat (Puhle 2003: 20). Die Partei erfuhr die größte Unterstützung im Süden und Westen der USA und erlebte ihren elektoralen Höhepunkt zwischen 1892 und 1894. So konnte sie bei den Präsidentschaftswahlen 1892 8,5 % und 1894 bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus immerhin 10% der Stimmen erzielen. Bei den Präsidentschaftswahlen 1896 unterstützten die Populisten den unterlegenen demokratischen Kandidaten und gingen in der Folge gänzlich in der demokratischen Partei auf. Ein Grund hierfür war, dass der Konjunkturaufschwung 1897 die Protestbereitschaft der Farmer stark dämpfte. Die zentralen Forderungen der populistischen Partei wurden jedoch von den beiden Großparteien aufgegriffen und die meisten schließlich von ihnen umgesetzt (Puhle 2003: 20, Priester 2007: 85).
Ebenfalls im ausgehenden 19. Jahrhundert entstand im zaristischen Russland eine relativ kleine Bewegung, die die bäuerliche Lebenswelt idealisierte und die ebenfalls als populistisch bezeichnet wird. Die russischen narodniki (zu deutsch: Volksfreunde, oder Volkstümler) wollten eine Verbesserung der Lebensbedingungen der armen Landbevölkerung erzielen.7 Im direkten Kontrast zur US-amerikanischen People's Party entstammte die Bewegung der narodniki allerdings nicht dem bäuerlichen Milieu. Vielmehr waren es städtische Intellektuelle, die eine romantische Vorstellung des Landlebens pflegten. Sie traten für eine Wiederbelebung und Stärkung der obshchina, der Dorfgemeinschaft ein. Diese „russischste aller Strukturen“ (Taggart 2000: 48) war eine bäuerliche egalitäre Gemeinschaft, die den Landbesitz des Dorfes teilte und sich selbst verwaltete. Zudem verfolgten die narodniki das Ziel, die Bauern für revolutionäre Ideen zu begeistern8 (ebd.: 47f). Somit waren sie nie eine Massenbewegung von unten, sondern wurden vor allem von Studenten getragen, die von den Städten aufs Land zogen, um „ins Volk zu ziehen“. Die narodniki konnten ihre Ziele jedoch nur in begrenztem Maße durchsetzten. Zu unterschiedlich waren die Lebensumstände der urbanen Intelligenzija und diejenigen der Bauern. Trotz der immensen Armut unter den Bauern war der Zar sehr beliebt. Die revolutionären Ideen der Intellektuellen stießen auf Unverständnis, Misstrauen und Ablehnung (Spier 2006: 43). Letztendlich gescheitert war die Bewegung spätestens dann, als die zaristische Polizei bis 1877 1600 narodniki verhaften ließ (Taggart 2000: 51).
Der dritte und letzte Typus agrarpopulistischer Bewegungen wird als Peasantism (Puhle 2003: 23) oder Peasant Populism (Canvoan 1982: 551) bezeichnet. Gemeint sind damit bäuerliche Parteien und Bewegungen, die in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen in Skandinavien und Ost- und Zentraleuropa entstanden. Ideologisch waren sie stark durch die narodniki, sowie die romantisierende Agrarideologie von Herder beeinflusst (Puhle 2003: 23). Gemein war den Bewegungen laut Mudde, dass sie sich gegen die urbanen Eliten richteten, gegen die Tendenzen zur Zentralisierung und gegen den Kapitalismus. Um der Ausbeutung durch die Feudalherren ein Ende zu bereiten, propagierten sie eine Stärkung von kleinen Agrarbetrieben, sowie die Etablierung von selbstverwalteten Kooperativen (2000: 35). Dem entgegen werden sie heute in der Regel als konservative Bewegungen beschrieben, die in einigen Fällen auch nationalistische Politik betrieben (Puhle 2003: 23).
Diese mit dem Sammelbegriff „grüne Erhebung“9 bezeichneten Bewegungen gab es Anfang des 20. Jahrhunderts auch in den baltischen Ländern, der Tschechoslowakei, in Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, sowie in Serbien und Kroatien. Diese Gruppierungen und Parteien erlebten ihren Höhepunkt zu Beginn des 20. Jahrhundert. Die autoritären und totalitären Regierungen in den 1920er und 1930er Jahren führten zu einer Schwächung der Bewegungen, da diese sich oftmals spalteten. Ein Teil der Bewegung unterstützte die neuen Regierungen, während der andere gegen sie kämpfte. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wurden die osteuropäischen populistischen Parteien in die kommunistischen Landesparteien eingegliedert oder existierten nur noch als Block,- oder Satellitenparteien (Mudde 2000: 40) .
Zwar wurden nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kommunismus einige der ehemaligen agrarpopulistischen Parteien neu gegründet, allerdings konnten sie nie große Wahlerfolge verbuchen. Die Rolle des agrarischen Populismus, sowohl in Osteuropa als auch im Westen, hat mit der Industrialisierung und der damit einhergehenden Abnahme der bäuerlichen Bevölkerungschichten seine Bedeutung verloren.
2.1.1.2 Populismus in Lateinamerika
In Lateinamerika sind populistische Bewegungen im Laufe des 20. Jahrhunderts fast schon zur Normalität geworden. Werz (2003: 45) diagnostiziert dem Kontinent einen „konsolidierten Populismus“ und spricht von „Lateinamerikas stärkster politischer Kraft im 20. Jahrhundert“.10 So gab es in den meisten Ländern der Region im vergangenen Jahrhundert mindestens eine bedeutsame populistische Bewegung; in vielen Ländern stellten sie auch zeitweise die Regierung (Poblete 2015: 202, Mudde/Kaltwasser 2013a: 156). Einige der populistischen Bewegungen in Lateinamerika wurden als Diktaturen eingeordnet, wie beispielsweise Getúlio Vargas in Brasilien. In der Populismusliteratur über Lateinamerika werden drei Wellen von populistischen Bewegungen voneinander unterschieden: klassischer Populismus, neoliberaler Populismus und radikaler Linkspopulismus.
Der klassische Populismus wird normalerweise auf die Zeitspanne zwischen den 1940er und 1960er Jahren datiert. Populistische Politiker gelangten in Argentinien (Juan Domingo Perón), Brasilien (Getúlio Vargas) und Ecuador (Jose María Velasco Ibarra) an die Macht. Diese neue Generation von Politikern adressierte ihre Politik nicht mehr an die Arbeiterklasse, sondern schmiedete klassenübergreifende Koalitionen und appellierte an das pueblo (Volk). Maßgeblich für die von ihnen benutze Volkskonzeption waren die städtischen und ländlichen armen Bevölkerungsteile. Es ist umstritten, inwiefern diese erste Welle populistischer Politiker es tatsächlich schaffte, finanzielle Resourcen nach unten umzuverteilen. Nichtsdestotrotz waren sie bei großen Teilen der Bevölkerung, die zuvor weitgehend von der Gesellschaft unbeachtet geblieben waren, sehr beliebt. Als Feindbild diente ein Teil der nationalen Elite; die Oligarchie, die im Verdacht stand, mit ausländischen imperialistischen Ländern zusammenzuarbeiten. Alle die, die sich gegen die Nationalisierung von Kernbereichen der Wirtschaft, gegen protektionistische Handelspolitik und gegen den Ausbau des Staates äußerten, wurden als feindliche Elite wahrgenommen (Kaltwasser 2014: 497). In den 1960er und 1970er Jahren wurden viele Länder Lateinamerikas von Militärdiktaturen heimgesucht, die das „Vaterland“ vor den populistischen Führern retten wollten. Damit war die erste Welle an populistischen Bewegungen beendet. Nachdem viele Länder Lateinamerikas in den 1980er Jahren Re-demokratisierungsprozesse durchliefen und die Diktatoren ihrer Macht enthoben wurden, erwartete man eine Festigung der Parteisysteme (Werz 2003: 53, Kaltwasser 2014: 498).
Aufgrund dessen kann der Erfolg verschiedener populistischer Führer Anfang der 1990er Jahre als überraschend bezeichnet werden. Die nun folgende, zweite Welle populistischer Bewegungen wird als neoliberaler Populismus bezeichnet. Ihm zugeordnet werden Carlos Menem in Argentinien, Fernando Collor de Mello in Brasilien sowie Alberto Fujimori in Peru (Weyland 1996: 3). Obwohl sie neoliberale Wirtschaftsreformen in ihren Ländern durchsetzten, waren sie vor allem bei der armen Bevölkerung beliebt. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass es ihnen gelang die Hyperinflation abzuschaffen. Zudem führten sie zahlreiche Kürzungen bei den Staatsausgaben durch, die die Mittelschicht begünstigt hatten. Das von ihnen postulierte Feindbild wich von demjenigen der klassischen Populisten ab. Stattdessen wurde die korrupte Elite als der Teil der Bevölkerung dargestellt, die von dem Wirtschaftsmodell der hohen Staatsausgaben am meisten profitierten. Auch die Teile der Bevölkerung, die sich gegen die Öffnung der Märkte stemmte, wurde als Feind konstruiert. Eine Öffnung sollte doch ausländische Investoren anlocken und Arbeitsplätze schaffen (Kaltwasser 2014: 498).
Die dritte und letzte Welle populistischer Bewegungen in Lateinamerika begann Ende der 1990er Jahre und kann als radikaler Linkspopulismus charakterisiert werden. Der Erfolg Hugo Chavez' in Venezuela führte zum Aufkommen ähnlicher Bewegungen in Bolivien unter Evo Morales, sowie in Ecuador unter Rafael Correa. Diese Bewegungen entstanden unter Anderem als Kritik an der neoliberalen Wirtschaftspolitik ihrer Vorgänger. Sie vertreten die These, dass Lateinamerika von imperialistischen Ländern, allen voran den USA, ausgebeutet werde. Deswegen sehen sie sich als Verfechter der Interessen der armen Bevölkerung gegenüber denen der korrupten neoliberalen Elite. Im Kontrast zu den ersten zwei Wellen werden in diesen Bewegungen auch die indigenen Bevölkerungsteile als Bestandteile des pueblo gesehen. Da Venezuela, Ecuador und Bolivien in den letzten Jahren stark von Rohstoffexporten, insbesondere dem Handel mit Erdöl, profitieren konnten, waren sie in der Lage, eine Sozialpolitik zu finanzieren, die die Lebensbedingungen der armen Bevölkerungsteile erheblich verbesserte (ebd.: 499).
2.1.1.3 Europäischer Neopopulismus
Unter europäischen Neopopulismus werden populistische Parteien zusammengefasst, die in Europa ab den 1980er Jahren entstanden und ideologisch rechts einzuordnen sind (Mudde 2007, Betz/Immerfall 1998, Taggart 2000, Betz 2005, Decker 2000)11. Sie greifen Ängste und Vorurteile in der Bevölkerung auf und fokussieren ihre Programmatik meist auf Themen wie Einwanderung, Steuern, Kriminalität und Nationalismus. Typische Vertreter in Westeuropa sind die FPÖ in Österreich unter Jörg Haider und Heinz Christian Strache, die SVP in der Schweiz unter Christoph Blocher, sowie der Front National in Frankreich unter Jean-Marie Le Pen sowie seiner Tochter Marine Le Pen. Des weiteren in Belgien der Vlaams Blok, sowie in den Niederlanden die Partei für die Freiheit unter Geert Wilders und die Liste Pim Fortuyn. Auch in Nordeuropa gibt es in mehreren Ländern rechtspopulistische Parteien. Zu nennen sind die norwegische Fortschrittspartei, die dänische Volkspartei, sowie die Wahren Finnen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der folgenden Demokratisierung, kam es auch in Osteuropa zur Rückkehr von populistischen Parteien, die oftmals rechtspopulistisch waren. Zu nennen sind beispielsweise Polen (Recht und Gerechtigkeit), Ungarn (Jobbik), die Slowakei (Slovakische Nationalpartei), sowie Bulgarien (Ataka). Auch in Südeuropa gibt es neopopulistische Parteien; die prominenteste ist die Lega Nord in Italien (Mudde 2013, Betz 2005, Učeň 2007, Southwell/Lindgren 2013, Van Kessel 2015). Die Parteien propagieren einen ausschließenden Populismus12. Dieser beinhaltet ein Volk, das als kulturell oder ethnisch homogene Gruppe konzipiert wird und die nachrangige Behandlung von Migranten und nationalen Minderheiten. Die historischen Errungenschaften der europäischen Kultur und Zivilisation müssten vor externen oder internen Bedrohungen geschützt werden. Externe Bedrohungen werden in einer Islamisierung Europas gesehen. Auch Globalisierungsprozesse werden kritisch betrachtet. Das bestehende politische System wird als interne Bedrohung aufgefasst. So haben in der Logik der Populisten die etablierten Parteien, sowie die nationalen Eliten es versäumt, diesen Bedrohungen entgegen zu wirken. Oftmals werden Politiker als korrupt dargestellt (Betz 2002: 253f, Betz 2005: 93). Ihnen wird unterstellt, kollektiv „Hinterzimmerabsprachen“ zu treffen, und dabei einen „Pakt des Schweigens“ geschlossen zu haben, um Politik gegen den Willen des wahren Volkes betreiben zu können (Mudde 2013: 7).
Kriesi et al. (2012) führen die Entstehung dieser Parteien auf eine Folge von wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Globalisierungs- und Denationalisierungsprozessen zurück. Diese Prozesse haben zum Entstehen einer neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie beigetragen, die „Globalisierungsgewinner“ von „Globalisierungsverlierern“ trennt. Die rechtspopulistischen Parteien vertreten demnach die Interessen der „Verlierer“, von denen wiederum sie gewählt werden.
Wie bereits eingangs erwähnt, kann und soll diese Aufzählung von historisch- geographischen Fällen von Populismus keinen Anspruch auf Vollzähligkeit erheben. Vielmehr sollte verdeutlicht werden, dass Populismus in den verschiedensten Kontexten auftauchen kann. Was genau Populismus ist und wie er theoretisch unterschieden werden kann, wurde hier jedoch nur begrenzt deutlich. Dieser Frage wird sich der folgende Teil der Arbeit widmen.
2.1.2 Theoretische Konzeptionen
Die Populismusforschung hat in mehr als 40 Jahren, die seit dem Erscheinen des Sammelbandes von Ionescu und Gellner (1969) vergangen sind, eine große Zahl an Publikationen hervorgebracht, welche versuchen, das Wesen des Populismus zu erfassen. In den ersten Jahrzehnten dominierte vor allem Uneinigkeit und die Theorien divergierten sehr stark. Ionescu und Gellner kamen zu dem Schluss, dass es (noch) keinen gemeinsamen Nenner gebe, auf den sich die Wissenschaftler, die sich mit dem Begriff beschäftigten, hätten einigen können (Van Kessel 2011: 5). Ein Grund hierfür war sicher, dass an der dem Sammelband vorausgehenden Konferenz Personen aus diversen Sozialwissenschaften teilnahmen. So stellte Wiles (1969: 166) fest: “to each his own definition of populism, according to the academic axe he grinds“.
Tabelle 1: Populismustypen nach Canovan
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung nach Canovan (1982: 550)
Eine einflussreiche Konzeption stammt von Canovan (1982). Sie unterscheidet agrarischen von politischem Populismus und erstellte eine Typologie mit sieben Typen, die sie entweder dem agrarischen oder dem politischen Populismus zuordnet (Vgl. Tabelle 1). Obwohl diese Typologie vielfach kritisiert wurde13, stellen einige der von Canovan formulierten Aspekte auch heute noch relevante Forschungsfragen. Die drei Typen des agrarischen Populismus wurden bereits oben vorgestellt. Die vier Formen des politischen Populismus sind: Populismus der Politiker, populistische Demokratie, populistische Diktatur und reaktionärer Populismus. Die beiden Ersteren werden in Kapitel 2.1.2.2 unter dem Stichwort Populismus als Kommunikationsstil genauer behandelt. Populistische Diktaturen traten unter Anderem in Lateinamerika auf, wie oben bereits beschrieben. Zuletzt ist auch der Reaktionäre Populismus ein hochaktuelles Thema; so wird beispielsweise die Tea-Party-Bewegung in den USA als reaktionäre Populismusbewegung gesehen (Burack/Snyder-Hall 2012: 339).
Knapp 20 Jahre nach Canovans Typologie identifiziert Taggart (2000: 2) in einem Versuch, den Populismus näher zu präzisieren, sechs Merkmale14 (vgl.: Tabelle 2). Er versteht die so etablierten Kategorien als einen Idealtyp nach Max Weber: keine existierende Partei würde alle Merkmale auf sich vereinen. Auf einige dieser Merkmale, die von anderen Autoren aufgegriffen wurden, soll später noch einmal zurückgegriffen werden.
Tabelle 2: Merkmale von Populismus nach Taggart
1. Ablehnende Haltung gegenüber der repräsentativen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung nach Taggart (2000: 2)
Die ablehnende Haltung gegenüber der repräsentativen Politik meint, dass Populisten oftmals eine politische Elite identifizieren, die sie als korrupt brandmarken und der sie antagonistisch gegenüberstehen. Der Begriff des heartland beschreibt die Tatsache, dass Populisten vorgeben, die Interessen des Volkes zu vertreten. Dabei wird das Volk in einer idealisierten Form als homogene Gruppe konzipiert, die gesund, rein oder gut 15 ist. Ihm werden einheitliche Interessen unterstellt, die von den Populisten verteidigt und vertreten werden. Dieses Volk wird von Populisten in unterschiedlichen historischen und geographischen Kontexten jedoch immer anders gesehen und konstruiert. Daher verwendet Taggart den Begriff heartland, der diesem idealisierten Volk entspricht. Populismus selbst hat keine Werte; er kann von Demokraten, Autokraten, von linken und rechten Politikern gleichermaßen verwendet werden. Deshalb spricht Taggart von einem empty heart des Populismus, dem Fehlen zentraler Werte. Zudem geht er davon aus, dass Populismus ein selbst-begrenzendes und episodisches Phänomen ist. Es hat eine kurze „Haltbarkeitsdauer“, da populistische Bewegungen oftmals an eine charismatische Führungsperson gekoppelt sind. Nicht selten führt das Ausscheiden des Führers zum Scheitern der Bewegung. Eine weitere Komponente der Selbstbegrenzung von Populisten besteht darin, dass sie, sobald sie gewählt werden, Teil jenes demokratischen Systems sind, dass sie zuvor so vehement kritisiert haben. Dies verringert ihre Glaubwürdigkeit. Als letzten Aspekt nennt Taggart den chamäleonhaften Charakter des Populismus. Dies bezieht sich darauf, dass Populismus, bedingt durch sein leeres Herz, sich immer an seinen jeweiligen Kontext anpasst und in Bezugnahme auf diesen Kontext Themen und Ideologien aufnimmt. Taggart geht auch davon aus, dass Populismus eine Reaktion auf extreme Krisen ist. Dabei ist es irrelevant, ob es sich um „reale“ politische oder wirtschaftliche Krisen handelt, oder ob diese lediglich von den Populisten oder einer sozialen Gruppe als eine solche empfunden wird (ebd.: 3f). Der letzte Aspekt, Populismus als Reaktion auf eine Krise ist für diese Arbeit bedeutsam, und soll daher noch etwas präzisiert werden. Auch neuere Publikationen erwähnen den Zusammenhang zwischen dem Auftreten populistischer Bewegungen und sozialen Krisen (Mudde 2004: 547, Hawkins 2009: 1055) Insbesondere Kriesi und Pappas elaborieren in ihrem Buch European Populism in the Shadow of the Great Recession (2015) den Zusammenhang der aktuellen europäischen Wirtschaftskrise mit populistischen Phänomenen in Europa. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass eine schwere ökonomische oder politische Krise das auftreten populistischer Bewegungen stark begünstigt. Daher soll im nächsten Kapitel über die Geschichte Spaniens ein besonderer Fokus auf die Krise im Land gelegt werden.
Aktuellere Veröffentlichungen über Populismus identifizieren mit großer Übereinstimmung drei voneinander abgrenzbare analytische Dimensionen, unter denen Populismus verstanden werden kann. Diese sind Populismus als politische Strategie, Populismus als Kommunikationsstil und Populismus als Ideologie16 (Gidron/Bonikowski 2013: 5, Moffitt/Tormey 2014: 382, Priester 2011: 190, Woods 2014: 9, Pauwels 2011: 99).
2.1.2.1 Populismus als politische Strategie / Organisation
Als Strategie wird Populismus vor allem als Mittel des Machterwerbs und des Machterhalts betrachtet (Priester 2011: 192, Woods 2014: 14) verwendet. Hierbei wird oftmals die direkte Verbindung zwischen Führer und Volk untersucht. So definiert Weyland (2003: 1097) Populismus folgendermaßen:
„A political strategy through which a personalistic leader seeks or exercises government power based on direct, unmediated, uninstitutionalized support from large numbers of mostly unorganized followers.”
Viele Wissenschaftler, die diese Sichtweise teilen, legen einen starken Fokus auf die Führung populistischer Bewegungen durch eine charismatische Person. So hebt Kriesi (2014: 363) hervor, dass es charakteristisch für Populismus ist, das Volk und die Entscheidungsträger durch einen charismatischen Führer miteinander in Verbindung zu bringen. Üblicherweise handelt es sich dabei um einen politischen outsider, um jemanden der keine parteipolitische Vergangenheit hat und daher besser in der Lage ist, die Interessen des Volkes zu identifizieren und zu repräsentieren. Auch Barr (2009: 44) hebt in seiner Definition von Populismus den Outsidercharakter des populistischen Führers hervor. Demnach ist Populismus: „a mass movement led by an outsider or maverick seeking to gain or maintain power by using anti-establishment appeals and plebiscitarian linkages”.
Der Führer gilt bei diesen strategischen Konzeptionen von Populismus als die Personifizierung des Volkes, das ihm seine Stimme leiht. Vertreter dieser Sichtweise gehen davon aus, dass populistische Bewegungen durch eine geringe Institutionalisierung geprägt sind. In Abgrenzung zu klassischen politischen Parteien spielt die Parteiorganisation keine große Rolle. Stattdessen liegt dem charismatischen Führer viel daran, eine direkte Beziehung zwischen ihm und dem Volk herzustellen. Problematisch an dieser Konzeption ist, dass es historisch durchaus einige populistische Bewegungen gab, die durch starke Parteidisziplin und Parteiorganisation geprägt waren.17 Zudem würde eine Vielzahl von sozialen Bewegungen anhand dieser Definition als populistisch identifiziert werden, die klassischerweise nicht als Populismus gelten. So haben auch religiöse oder millenaristische Bewegungen charismatische Führer, geringe Institutionalisierung, sowie teilweise den Anspruch, das politische System zu verändern (Hawkins 2010: 168). Moffitt und Tormey (2014: 386) verweisen zusätzlich darauf, dass durch die Fokussierung auf den Führer die Analyse des Volkes ins Hintertreffen gerät.
Die Konzeption von Populismus als politischer Organisation bezieht sich vor allem auf Lateinamerika. So gab es historisch mehrere populistische Bewegungen, die aus einer Allianz von unterschiedlichen sozialen Klassen bestand. Durch wirtschaftliche Transformationsprozesse konnten neue, klassenübergreifende Bewegungen entstehen, die sich in Opposition zu alten Eliten positionierten. Demnach definiert Di Tella (1965: 47, zitiert aus Pappas 2016: 20) Populismus folgendermaßen:
“A political movement which enjoys the support of the mass of the urban working class and / or peasantry but which does not result from the autonomous organizational power of either of these two sectors. It is also supported by non-working-class sectors upholding an anti-status quo ideology.“
Oft konnte sich ein populistischer Führer an die Spitze der Bewegung setzen und diese stärker vereinen. Der Hauptfokus der Organisationstheorie besteht jedoch darin, dass populistische Bewegungen sich an sehr heterogene soziale Gruppen oder Allianzen richten. Kritisiert wurde an dieser Sichtweise, dass die klassenübergreifenden Eigenschaften nicht als definierendes Merkmal für Populismus gesehen werden sollten, schließlich richten sich auch europäische Volksparteien christlicher oder sozialdemokratischer Prägung an breite Bevölkerungsschichten (Kaltwasser 2014: 496, Mudde/Kaltwasser 2012: 5, Pappas 2016: 4).
2.1.2.2 Populismus als Kommunikationsstil
Eine weitere Sichtweise auf den Populismus ist jene, ihn als Kommunikationsstil zu sehen. Diese Sichtweise vertritt im lateinamerikanischen Kontext Carlos de la Torre (2000: 4). Er definiert Populismus als „a rhetoric that constructs politics as a moral and ethical struggle between el pueblo [dem Volk] and the oligarchy.“
Demnach ist auch bei dieser Sichtweise die Konfrontation zwischen dem Volk und der Oligarchie relevant. Im Unterschied zur Konzeption als politische Organisation oder Strategie wird hier der Fokus auf die verbale Rhetorik gelegt. Kazin (1995: 1) zufolge ist Populismus
„A language whose speakers conceive of ordinary people as a noble assemblage not bounded narrowly by class, view their elite opponents as self-serving and undemocratic, and seek to mobilize the former against the latter.“
Übereinstimmend mit der oben genannten Definition von de la Torre geht Kazin in seiner Analyse von Populismus in den USA von einer antagonistischen Beziehung zwischen einfachen Leuten und Elite aus. Die einfachen Leute sind auch hier nicht an eine einzelne Klasse gebunden. Sie mobilisieren gegen eine undemokratische, sich selbst bereichernde Elite. Zudem bezeichnet er Populismus als Sprache, die von Linken ebenso wie von Rechten, und von Liberalen und Konservativen gleichermaßen verwendet wird (ebd.: 2).
Jagers und Walgrave unterscheiden eine schwache („thin“) und eine starke („thick“) Variante von Populismus (2007: 322). Während die starke Variante der weiter unten erläuterten Definition von Mudde ähnelt, ist die Schwache eine minimalistische Definition von Populismus als Diskursstil. So sei Populismus „a communication style of political actors that refers to the people“. Jagers und Walgrave sehen Populismus demnach als Kommunikationsstil, den jeder politische Akteur anwenden kann. Damit nehmen sie das weiter oben erwähnte Konzept des politicians populism von Canovan auf. Sie gehen davon aus, dass nicht nur Populisten populistische Politik betreiben, sondern auch Politiker des Mainstreams. Auch Peter Mair (2002: 88) sieht einen Trend hin zu einerseits einem Erfolg populistischer Parteien und andererseits dem Gebrauch populistischer Rhetorik durch Politiker traditioneller Parteien. Dies bezeichnet er ebenfalls, in Anlehnung an Canovan, als populistische Demokratie. Als Beispiel nennt er New Labour unter Tony Blair. Auch Gerhard Schröder wurde ein solcher populistischer Stil attestiert (Jun 2006, Korte 2003: 209). Dieser Politikstil beinhaltet das Abzielen auf Umfrageerfolge bei der Regierungspolitik. Die direkte Verbindung zwischen Führer und Volk führte dazu, dass die Partei vernachlässigt wurde (Mair 2000: 26), oder sogar soweit, dass Politik gegen die eigene Partei, statt mit ihr gemacht wurde, und „Politik für das Volk“ vor die Interessen der Partei gestellt wurde (Mudde/Kaltwasser 2012: 6).
2.1.2.3 Populismus als Ideologie
Die Konzeption von Populismus als Ideologie gewann vor allem in Publikationen der letzten Jahre an Popularität. Populismus verstanden als Ideologie ist aktuell das dominanteste theoretische Paradigma (Aslanidis 2016: 89). Ideologie wird dabei verstanden als ein „relatively stable set of interrelated ideas“ (Knight 2006: 623). Diese Ideen strukturieren das Handeln und Denken von Populisten. Die bedeutsamsten Ideen, die das Handeln von Populisten prägen, sind die Sicht auf das Volk sowie die Elite. Die einflussreichste Definition zu Populismus in der jüngeren Vergangenheit stammt von Cas Mudde (2004: 543). Er definiert Populismus folgendermaßen:
„[...] an ideology that considers society to be ultimately separated into two homogeneous and antagonistic groups, ‘the pure people’ versus ‘the corrupt elite’, and which argues that politics should be an expression of the volonté générale (general will) of the people“.
Populisten haben also ein manichäisches Weltbild, jedem Aspekt wird eine moralische Komponente zugeschrieben. Man befindet sich in einem Kampf Gut gegen Böse. Gut sind die kleinen Leute, während die korrupten Eliten böse, gleichsam der Quell allen Übels sind. Dieses Weltbild romantisiert die einfachen Leute und kritisiert das Establishment. Sowohl das Volk als auch die Eliten werden monistisch konzipiert. Das macht es einfach, den einen Willen des Volkes zu identifizieren, den man gegenüber der homogenen korrupten Elite durchsetzen muss. Diese Aufgabe übernehmen die Populisten im Auftrag des Volkes (Kaltwasser 2014: 496, Hawkins 2010: 33).
Populismus als Ideologie kann jedoch nicht nur top-down verstanden werden. Auch soziale Gruppierungen und Bewegungen können ein manichäisches Weltbild annehmen und die Gesellschaft antagonistisch entlang von Volk und Elite trennen. Populismus als Ideologie kann also auch bottom-up Bewegungen erklären (Kaltwasser 2014: 497).
Die meisten Autoren, die Populismus als Ideologie konzipieren, weisen darauf hin, dass dies mit Schwierigkeiten verbunden ist (Hawkins 2009: 1045, Woods 2014: 12, Mudde/Kaltwasser 2012: 9, Rooduijn/Pauwels 2011: 1273). Anders als Sozialismus oder Liberalismus liefert uns Populismus keine Interpretationen und Antworten für „the major political concepts attached to a general plan of public policy that a specific society requires“ (Stanley 2008: 99). Während Hochideologien genau das tun, konzentrieren sich dünne Ideologien auf einige Kernkonzepte, die ungenügend sind, um „Antworten auf all die Fragen zu geben, die Gesellschaften formulieren“ (Freeden 1998: 750). Genau dies ist der Grund, warum Populismus in so unterschiedlichen Formen in Erscheinung tritt: In Lateinamerika aktuell vorrangig als Linkspopulismus, in Europa in der jüngeren Geschichte meist als Rechtspopulismus.18 Kriesi (2014: 363) fügt hinzu, dass auch ein Populismus fernab von Links-Rechts Schemata möglich ist. Welche Form der Populismus letztendlich annimmt, hängt davon ab, welche Wirtsideologie er sich zu eigen macht. Populismus ist in diesem Sinne parasitär, er tritt immer mit einer anderen Hochideologie auf. Dies entspricht der oben erläuterten Beschreibung von Taggart, der Populismus als chamäleonhaft und „empty hearted“ beschreibt.
Eine weitere Populismusdefinition, die hier erwähnt werden soll ist die von Hawkins. Demnach ist Populismus ein manichäischer Diskurs, der Gut mit einem einheitlich Volkswillen und Böse mit einer konspirierenden Elite identifiziert. Institutionelle Veränderungen sind erforderlich, damit der Wille des Volkes wieder herrscht (Hawkins 2010: 5).
Obwohl Hawkins von Diskurs spricht, ist seine Definition von den Konzeptionen von Populismus als Kommunikationsstil zu unterscheiden. Er versteht Diskurs in einem postmodernen und diskurstheoretischen Sinne. Diskurs bezieht sich nicht auf verbale Akte der Kommunikation, seien sie oral oder schriftlich. Vielmehr formt und gründet discourse unsere Grundannahmen. Er legt unsere tiefer liegenden Überzeugungen bloß, ohne dass wir uns dessen bewusst wären, oder dies beabsichtigen würden (Hawkins 2010: 30). Die Definition von Populismus als Diskurs oder Ideologie kann erklären, warum Populismus in so unterschiedlichen Kontexten auftritt. Elite und Volk sind sozial konstruierte Kategorien und werden abhängig vom gesellschaftlichen Kontext immer anders zusammengestellt (Kaltwasser 2014: 497). Der Unterschied zur Ideologie besteht darin, dass Ideologien ein Komplex an zusammenhängenden Ideen kennzeichnet, die bestimmte Präferenzen darüber artikulieren, welche Politik ein Akteur verfolgen soll. Auch dünne Ideologien, gekoppelt an ihre Wirtsideologie, formulieren politische Richtlinien. Beim Diskurs hingegen geht Hawkins davon aus, dass es sich um latente Ideen handelt, die zum Teil unterbewusst vorhanden sind (ebd.: 31). Nichtsdestotrotz heben mehrere Wissenschaftler hervor, dass sich die Konzeptionen von populistischer Ideologie und populistischem Diskurs sehr ähnlich sind (Mudde 2014a: 433, Kaltwasser 2014: 496, Hawkins 2010: 1043).
2.1.2.4 Vergleich der drei Dimensionen
Im folgenden sollen die drei unterschiedlichen Populismuskonzeptionen miteinander verglichen werden. So gibt es teilweise bedeutsame Überschneidungen, nichtsdestotrotz hat jede Perspektive auch ihr Alleinstellungsmerkmal. Dies soll hier verdeutlicht werden. So kann Populismus als Kommunikationsstil als das Mittel verstanden werden, mit der populistische Strategien durchgeführt werden. Die Rhetorik oder Sprache, die verwendet wird, hilft darin, eine direkte Beziehung zwischen populistischem Führer und Volk herzustellen. Auch kann mittels der Rhetorik eine klassenübergreifende Allianz geschaffen werden, indem die Elite als korrupt dargestellt und somit als Feind etabliert wird.
Ähnlich verhält es sich mit der Beziehung zwischen Ideologie und Strategie. So führt Barr (2009: 40) an, dass ein wichtiger Aspekt von populistischer Ideologie darin besteht, den Willen des Volkes zu vollziehen. Um dies zu erreichen sind populistische Bewegungen geneigt, eine starke Führungsperson zu installieren und den Einfluss intermediärer Instanzen gering zu halten. Dies entspricht der Konzeption von Populismus als Strategie. Auch Kriesi und Pappas (2015: 6) betonen, dass die Definition von Populismus als Strategie hilfreich ist, um die Existenz und Bedeutung von charismatischen Führungspersonen an der Spitze von populistischen Bewegungen zu erklären. Sie nehmen sowohl die Definition als Kommunikationsstil, als auch die Definition von Populismus als Strategie als komplementär zu der Konzeption als Ideologie.
Die Dimensionen Ideologie und Kommunikationsstil haben gemeinsam, dass sie die gleichen Aspekte betonen. Beide gehen von einem Antagonismus zwischen Volk und Elite aus. Da die Ideologie nur schwer empirisch messbar ist, wird häufig der Kommunikationsstil zugrunde gelegt, um populistische Akteure als solche zu identifizieren (ebd.: 5, Aslanidis 2016: 92).
Alle drei Definitionen bieten Aspekte, die die jeweils anderen nicht bieten. Deshalb ist es hilfreich, alle drei beizubehalten und sie zueinander in Beziehung zu setzen (Kriesi 2012: 1, zitiert aus Wirth et al. 2016: 39). Wie bereits erwähnt, kann die Konzeption von Populismus als Strategie uns helfen, die Rolle von charismatischen Führungspersonen in populistischen Bewegungen zu identifizieren und untersuchen. Die Konzeption von Populismus als Ideologie oder Diskurs19 kann überzeugend erklären, dass Elite und Volk sozial konstruierte Kategorien sind, die zeitlich und geographisch variieren können. Das manichäische Weltbild kann sowohl von politischen Führern als auch von sozialen Bewegungen geteilt werden. Die Definitionen, die Populismus als Kommunikationsstil verstehen, haben gegenüber den anderen zwei Dimensionen den Vorteil, dass sie auch den Populismus von Politikern und Parteien des Mainstream erklären können. Es könnte beispielsweise bestritten werden, dass Tony Blair und Gerhard Schröder in gleichem Umfang ein populistisches Weltbild teilen wie Geert Wilders und Jörg Haider. Trotzdem ist es möglich, die populistische Rhetorik der Politiker zu untersuchen (Rooduijn 2013).
Nachdem das Konzept des Populismus aus historisch-geographischer Perspektive dargestellt, und damit die Vielfalt populistischer Erscheinungsformen verdeutlicht wurde, konnten daraufhin drei unterschiedliche theoretische Dimensionen voneinander unterschieden werden. Obwohl aktuellere Publikationen zu einem großen Teil die Definition von Cas Mudde teilen und Populismus als Ideologie definieren, haben auch die anderen Dimensionen ihre Relevanz, da sie unterschiedliche Foki setzen. Ein Ansatz besteht darin, die drei Dimensionen als komplementär zu betrachten. Im folgenden Teil der Arbeit soll auf den aktuellen Forschungsstand eingegangen werden, der für die Analyse von Podemos relevant ist.
2.2 Forschungsstand
Dieses Kapitel soll den aktuellen Forschungsstand der Populismusforschung näher bringen. Insbesondere drei Aspekte werden hierbei betrachtet. Zunächst wird das Konzept einer populistischen Minimaldefinition erläutert. Damit soll die Populismusdefinition vorgestellt, die in der Untersuchung des Populismus von Podemos verwendet werden wird. Daraufhin folgt eine Übersicht über die unterschiedlichen Methoden, die in jüngeren Publikationen verwendet wurden, um Populismus zu messen. Der dritte Teil dieses Kapitels widmet sich den wenigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die Populismus in Spanien untersuchen.
2.2.1 Minimaldefinition
Wie im begriffstheoretischen Kapitel gezeigt wurde, besteht große Uneinigkeit darüber, wie Populismus definiert werden sollte. Diese Differenzen gehen so weit, dass einige Experten davon abraten, das Konzept Populismus überhaupt zu verwenden. Beispielsweise entscheidet sich Ignazi (2003: 29) bei seiner Untersuchung von radikalen rechten Parteien in Europa, Populismus nicht als Kategorie zu verwenden, da dies „nicht zum Erkenntnisgewinn beiträgt: weder für die Definition noch für die Erforschung solcher Parteien“ (Kaltwasser 2012: 253). Auch Roxborough (1984: 11) warnt bei seiner Untersuchung klassischer populistischer Regime in Lateinamerika vor einer leichtfertigen Verwendung des Begriffs. Dies würde Gemeinsamkeiten unterstellen, die höchst fragwürdig seien (Kaltwasser 2012: 253). Ein Teil der Schwierigkeit liegt darin, dass unterschiedliche Aspekte als zentral angesehen werden. So gehen Definitionen, die Populismus als Strategie begreifen beispielsweise davon aus, dass ein charismatischer Führer eine große Rolle spielt und populistische Parteien einen niedrigeren Organisationsgrad aufweisen als traditionelle Parteien. Bei der Konzeption als Kommunikationsmittel wird nur die Sprache untersucht, ohne die dahinter liegenden Ideen in Betracht zu ziehen. Wie Kaltwasser (ebd.: 256) betont, führt „die Identifizierung verschiedener Eigenschaften, die nicht als notwendige und hinreichende Bedingungen eines Konzepts angesehen werden, [...] mehr zur Konfusion als zur Klärung des Populismusbegriffs.“ Aus diesem Grund plädieren eine Vielzahl von Autoren für die Verwendung einer Minimaldefinition (Kaltwasser 2012, Hawkins 2009, Jagers/Walgrave 2007, Pappas 2016, Weyland 2001). Die Aspekte, die in den meisten Untersuchungen eine Rolle spielen, sind das Volk und die Elite (Woods 2014: 3, Jagers/Walgrave 2007: 322). Das Volk wird hierbei als homogen verstanden, ohne interne Differenzen20. Es wird als pur oder rein bezeichnet und als Gut angesehen. Die Elite auf der anderen Seite wird als korrupt und Böse verstanden. Die zwei Gruppen stehen sich antagonistisch gegenüber. Eine Minimaldefinition, die genau diese Konzepte beinhaltet und miteinander verbindet, ist die von Kirk Hawkins (2010: 5, 29). Er definiert Populismus wie bereits oben erwähnt als:
„A Manichaean discourse that identifies Good with a unified will of the people and Evil with a conspiring elite. […] Institutional change is required in order to restore the will of the people.“
Zwei weitere einflussreiche Minimaldefinitionen stammen von Kurt Weyland und Cas Mudde (Kaltwasser 2012: 258). Obwohl auch sie oben schon erwähnt wurden, sollen sie hier erneut kurz vorgestellt werden, um daraufhin die Vorzüge der Definition von Kirk Hawkins für diese Arbeit zu verdeutlichen.
Die Minimaldefinition von Kurt Weyland (2001: 3) ist insbesondere in der Forschung zu Populismus in Lateinamerika sehr einflussreich geworden. Demnach ist Populismus „eine politische Strategie, mit der ein personalistischer Führer, gestützt auf direkten, nicht mediatisierten und uninstitutionalisierten Massen, Regierungsmacht erstrebt oder ausübt“ (ebd.: Übersetzung übernommen aus Kaltwasser 2012: 257). Durch den Fokus, den die Konzeption von Populismus als Strategie auf den Führer legt, werden andere Faktoren nur unzureichend betrachtet. Einerseits wird die Rolle des Volkes unterschätzt. Dass das Volk auch populistische Einstellungen teilen sollte, um populistische Bewegungen zu begünstigen, wird missachtet21. Auch die Konzeption, dass populistische Bewegungen uninstitutionalisierte Massen sind, birgt Schwierigkeiten. Damit werden einige Bewegungen, die durchaus populistische Züge haben oder von manchen Autoren als populistische Parteien eingeordnet werden, übersehen.22
Cas Mudde (2007) entwickelte seine Minimaldefinition mit dem Ziel, Rechtspopulismus in europäischen Parteien zu untersuchen. Sein Anspruch war es, eine Definition zu formulieren, welche die empirische Forschung unterstützt. Er definiert Populismus als eine dünne Ideologie („thin-centered ideology“), der zufolge die Gesellschaft letztlich in zwei homogene, antagonistische Gruppen geteilt sei, nämlich das lautere Volk und die korrupte Elite. Politik solle demnach Ausdruck des allgemeinen Volkswillens (volonté générale) sein (Mudde 2014b: 17). Diese Definition ist derjenigen von Hawkins sehr ähnlich. Beide gehen davon aus, dass Populismus vorrangig mit Ideen zu tun hat. Mudde und Hawkins betonten, dass sich Ideologie und Diskurs sehr ähnlich sind (Hawkins 2009: 1043, Mudde/Kaltwasser 2012: 9). Beide gehen von einer Unterscheidung der Gesellschaft in ein gutes Volk und eine korrupte Elite aus, die in einer antagonistischen Beziehung zueinander stehen. Und beide betonen, dass es Ziel sei, den Willen des Volkes wiederherzustellen. Der Hauptunterschied besteht darin, dass Mudde Populismus als Ideologie konzipiert, während Hawkins ihn als Diskurs bezeichnet. Wie einige aktuellere Publikationen hervorheben, führt die Konzeption von Populismus als Ideologie zu einigen Schwierigkeiten in Bezug auf die empirische Untersuchung (Aslanidis 2016: 92, Pauwels 2011: 98, Gidron/Bonikowski 2013: 1). So kann Ideologie nur binär erfasst werden: entweder ein Politiker teilt eine populistische Ideologie, oder er tut es nicht. Es erscheint jedoch wenig überzeugend, Politiker wie Gerhard Schröder und Tony Blair in der Anwendung eines populistischen Diskurses auf die selbe Stufe zu stellen wie Jörg Haider oder Jean-Marie Le Pen. In Übereinstimmung mit Pauwels (2011: 98) wird in dieser Arbeit Populismus deshalb so konzipiert, dass er auch graduell gemessen werden kann.
Die Definition von Hawkins ist zudem den Zugängen von Populismus als Kommunikationsstil oder Strategie überlegen. So können beide Dimensionen auch mit der diskursiven Definition erklärt werden. Hawkins beschreibt die anderen Konzeptionen als „products of the underlying set of ideas“ (2010: 39). Er führt fort: „It is only when we see ideas as the core attribute of populist movements that we can identify the underlying logic of these other definitions and the very real connections among them“ (ebd.: 40). So sind die anderen Definitionen nicht zwangsläufig falsch, aber der Fokus den sie legen, ist der falsche. Eine Stärke der Diskurs-Definition stellt dar, dass sie zudem die wesentlichen Aspekte der anderen Definitionen enthält (ebd.: 14).
2.2.2 Vermessung von Populismus
Aufgrund der Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien in Europa, sowie linkspopulistischer Bewegungen in Lateinamerika, ist das Forschungsinteresse an Populismus in den letzten Jahren enorm gewachsen. Wie in dem Kapitel über die verschiedenen Konzeptionen von Populismus gezeigt wurde, beschäftigen sich einige Publikationen mit der Frage, wie Populismus definiert werden kann. Aber auch das Interesse an der Methodik von Populismus ist gewachsen. Viele jüngere Publikationen erörtern die Frage, wie Populismus systematisch und vergleichbar untersucht werden kann (March 2015: 11). So wird von einigen Wissenschaftlern bemängelt, dass ältere Untersuchungen Populismus oftmals by fiat vorraussetzungslos zuschrieben (Hawkins 2009: 1041). Pauwels (2011: 100) bemerkt: „It is not uncommon that scholars use the term populism without any definition or criteria at all – the term pops up unexpectedly and is attached to certain parties or politicians without any justification“.
In jüngeren Publikationen wird jedoch oft eine präzise Definition erarbeitet, anhand derer Populismus untersucht wird. Einflussreich war hierbei die bereits erwähnte Minimaldefinition von Cas Mudde (2007). Er entwickelte seine Definition mit dem Ziel, Rechtspopulismus in europäischen Parteien zu untersuchen. Dabei wendet er eine qualitative Inhaltsanalyse an und untersucht offizielle Parteiveröffentlichungen auf ihren Populismusgehalt. Der geläufigste Untersuchungsansatz ist nach wie vor, minimale Kriterien in einer qualitativen Inhaltsanalyse zu identifizieren. Dies birgt allerdings die Schwierigkeit, dass nicht immer klar ist, welche Quellen bei der Untersuchung verwendet wurden. Zudem kann bei solchen Untersuchungen nicht nachvollzogen werden, ab wann eine Partei populistisch ist. Reicht eine Referenz auf das korrupte politische System im Parteiprogramm aus, um eine Partei als populistisch einzustufen, oder müssen mehrere Fälle vorgefunden werden? Zudem wird Populismus dabei oft binär untersucht: Entweder eine Partei ist populistisch, oder sie ist es nicht. Zwischentöne können somit nicht identifiziert werden (March 2015: 11).
Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, beschäftigte sich in der jüngeren Vergangenheit eine Reihe von Publikationen damit, das Ausmaß an Populismus im Diskurs von Parteien und Politikern systematisch und empirisch zu messen. Parteiprogramme, Reden oder parteipolitische Sendungen werden inhaltlich quantitativ analysiert (Jagers/Walgrave 2007; Deegan-Krause/Haughton 2009; Hawkins 2009; Pauwels 2014; Rooduijn et al. 2014).
Eine der ersten systematisch quantitativ empirischen Analysen stammt von Jagers und Walgrave (2007). Sie unterscheiden schwachen („thin“) von starkem („thick“) Populismus und messen den schwachen Populismus (Kriterium: Referenzen an das Volk) in parteipolitischen Fernsehbeiträgen23 belgischer Parteien. Anschließend untersuchen sie ebenso quantitativ den starken Populismus (Kriterien: Anti- establishment und Ausschluss von Minderheiten vom Volksbegriff). Auch Rooduijn (2009) verwendet eine quantitative Inhaltsanalyse, indem er die einzelnen Absätze von Parteiprogrammen auf drei Dimensionen (Betonung auf homogenes Volk, Anti- Elitismus, Ausschluss von Minderheiten) kodiert (Pauwels 2011). Ein weiterer Ansatz, der ebenso der quantitativen Inhaltsanalyse zuzuordnen ist, wird von Kirk Hawkins (2010) verwendet, um den Populismus von über 40 Staatsoberhäuptern zu messen. Dabei verwendet er die Methode des holistic grading. Diese soll in dem Kapitel zur Methodik näher erläutert werden, da dies die Methode ist, mit der der Populismus im Diskurs von Podemos in dieser Arbeit untersucht werden soll.
Auch computerbasierte Textanalysen wurden in jüngeren Publikationen angewandt, um Populismus zu messen. So verwenden Pauwels (2011), sowie Rooduijn und Pauwels (2011) einen Wörterbuchansatz. Sie definieren bestimmte Wörter als populistisch24, und messen daraufhin den Anteil der populistischen Wörter in der Parteiliteratur verschiedenener Parteien. Je größer der Anteil von populistischen Wörtern in der Parteiliteratur, als desto populistischer wird die Partei erachtet.
Während die soeben beschriebenen Methoden den Populismus von Parteien und Politikern verorten möchten, gibt es neuere Ansätze, die den Versuch unternehmen, populistische Einstellungen in der Bevölkerung zu messen (Hawkins et al. 2012, Akkerman et al. 2013, Anduiza/Rico 2016). Mithilfe von Meinungsumfragen wird die Zustimmung zu populistischen Thesen abgefragt.25
Im nun folgenden Abschnitt zum aktuellen Forschungsstand folgt nun ein kurzer Literaturüberblick zu der die Frage, ob Podemos populistisch ist.
2.2.3 Podemos und Populismus
Wie im Kapitel über die historisch-geographischen Erscheinungsformen dargelegt, entstehen in Europa seit den 1980er Jahren in vielen Ländern populistische Bewegungen. Meist handelt es sich dabei um rechtspopulistische Parteien. Spanien war hiervon lange ausgenommen. Alonso und Kaltwasser weisen darauf hin, dass Spanien mit Portugal gemeinsam, das einzige Land in Europa ist, in dem eine rechtspopulistische Partei nie über ein Prozent der Stimmen bei nationalen Wahlen erzielen konnte. Den Platz einer populistischen Partei in Spanien hätte stattdessen Podemos eingenommen (Alonso/Kaltwasser 2015). Sowohl in den Medien, als auch in der wissenschaftlichen Literatur, wird Podemos als populistisch beschrieben (Bassets 2015, Bosco 2015, Müller 2014, Hernández 2014). Jedoch wird das Attribut des Populismus der Partei meistens by fiat zugeschrieben, es findet keine Untersuchung des Populismus statt. Eine Ausnahme hiervon ist Kioupkiolis (2016). Er untersucht Podemos als linkspopulistische Partei. Dabei schreibt er Podemos drei populistische Kernmerkmale zu, die er qualitativ untersucht26. Allerdings lässt er offen, wie genau er diese identifiziert, und welche Quellen er untersucht. Auch präzisiert er die populistische Rhetorik nicht näher. Eine weitere Untersuchung des Populismus von Podemos stammt von Gómez-Reino und Llamazares (2016). Die Autoren argumentieren, dass das akademische Führungspersonal der Partei jahrelang Forschungen über Populismus betrieb. Zudem konnten sie vielfältige realpolitische Erfahrungen bei populistischen Bewegungen in Lateinamerika, vor allem in Venezuela, sammeln. Dieser Hintergrund führte zu der bewussten Anwendung einer populistischen Strategie (ebd.: 22). Aber auch Gomez- Reino und Llamazares untersuchen nicht systematisch den populistischen Diskurs der Partei. Diese Forschungslücke soll mit der vorliegenden Arbeit geschlossen werden.
3 Geschichte Spaniens
Um den Werdegang der Partei Podemos verstehen zu können, bedarf es eines Grundwissens der geschichtlichen und politischen Bedingungen, die die spanische Gesellschaft prägen. Im folgenden Teil soll daher in Grundzügen die Geschichte des Landes seit dem Tod Francisco Francos erläutert werden. Dabei wird auf das Boomjahrzehnt eingegangen, das Spanien ab Mitte der 1990er Jahre durchlief. Auch die Wirtschaftskrise und die Regimekrise im Land sollen dargestellt werden. Zuletzt soll auf die Reaktionen der Bevölkerung auf die Regime- und Wirtschaftskrise eingegangen werden, da das Entstehen der Partei Podemos durchaus im Zusammenhang mit diesen Reaktionen gesehen werden kann.
3.1 Transition
Die Transition bezeichnet in Spanien die Zeit des Übergangs von der Diktatur zur liberal-parlamentarischen Demokratie nach Francisco Francos Tod im Jahr 1975.
Die Besonderheit der spanischen Transition besteht darin, dass der Demokratisierungsprozess von den franquistischen Institutionen geleitet und kontrolliert wurd und sich der Regimewandel formal innerhalb der von Franco errichteten Legalität vollzog (Bernecker 2004: 693).
Die Analysen der Transition dominierte bis vor kurzem ein Diskurs, der den Übergang als modellhaften und nahezu einzigartigen historischen Erfolg darstellte. Demnach entstand eine moderne Demokratie mit einem funktionierenden parlamentarischen System. Dabei erfolgte der Aufbau eines Wohlfahrtsstaates, der den Abbau sozialer Ungleichheiten bewirkte. Außerdem kam weitgehend zu einer Trennung von Kirche und Staat. Vor allem aber ermöglichte die Transition das Ende der internationalen Isolierung Spaniens und eine Integration des Landes in westliche supranationale Strukturen (ebd.: 694). So stellte Spanien im Jahr 1977, relativ schnell nach dem Tod Francos einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Im Januar 1986 trat es gemeinsam mit Portugal der EWG bei (Zelik 2015: 48). Außerdem ermöglichte erst das Ende der Diktatur eine Mitgliedschaft in der Nato, da einige Nato-Mitgliedsstaaten ein demokratisches politisches System zur Bedingung einer Mitgliedschaft machten. Im Zuge der Demokratisierung wurde Spanien 1982 NATO-Mitglied (Rodrigo Luelmo 2011: 2).
In neuerer Zeit sind jedoch kritischere Sichtweisen auf den Transitionsprozess aufgekommen. So konstatiert beispielsweise Zelik (2015: 28), dass dieser „historische Konsens“, an dem die alten Staatseliten der Diktatur sowie die sozialdemokratische Partido Socialista Obrero Español (PSOE), die Kommunistische Partei (KP) mitsamt dem ihr nahestehenden Teil der Gewerkschaften, sowie die konservativen Regionalparteien Kataloniens (CiU Convergència i Unió) und des Baskenlandes (PNV – Partido Nacionalista Vasco) mitwirkten, weder eine von den beteiligten Parteien frei verhandelte Vereinbarung, noch ein formal geschlossener Pakt war. Vielmehr bestehe die Grundlage der Transition aus zwei Abkommen, die unter der Führung des 1977 in den ersten allgemeinen freien Wahlen zum Ministerpräsident gewählten Adolfo Suarez ausgearbeitet wurden. Bernecker (2004: 696) bemerkt, dass die „Hauptspielregeln“ von Anfang an von der konservativen Suarez Regierung vorgegeben waren. Um überhaupt nur am Reformprozess teilhaben zu können, mussten alle beteiligten Akteure bestimmte Eckpunkte akzeptieren. Diese waren eine monarchische Staatsform, ein parlamentarisches System, sowie der Verzicht auf Strafverfolgung des Polizeiapparates und der Verbrechen, die während der Diktatur begangen worden waren. Bernecker zitiert den spanischen sozialistischen Politiker Pablo Castellano mit den Worten: „Der Postfranquismus wurde im Wesentlichen anhand der noch im Franquismus erarbeiteten Strategien geplant und von den Postfranquisten nach ihrem Gutdünken gestaltet“ (ebd.: 696).
Der „hochgelobte Konsens“ so Bernecker (ebd.: 695) sei mit einer Tabuisierung der Vergehen der Diktatur einher gegangen. Die Vergangenheit sei regelrecht verschwiegen worden. Es gab in Spanien weder eine juristische Verfolgung der Verbrechen der Diktatur, noch eine breite gesellschaftliche Debatte über die Franco-Zeit. Laut Zelik (2015: 30) blieben die Massenerschießungen und Folterungen, sowie die Einrichtung von Konzentrationslagern durch das Militärregime ungesühnt. Kein Amtsträger der Diktatur musste sich bis heute vor einem Gericht für diese Taten verantworten.
Allerdings mehrten sich bereits in den 1990er Jahren kritische Stimmen, die der Demokratie in Spanien bestimmte Mängel attestierten, die auf die besondere Art des Übergangs von Diktatur zu Demokratie zurückzuführen seien. So ließe sich beispielsweise eine Abhängigkeit der Rechtsprechung von den politischen Parteien erkennen, auch seien die Massenmedien in besonderem Maße von der Regierung beeinflusst (Bernecker 2004: 695f.).
Auch das in Spanien seit dem Übergang zur Demokratie existierende Zweiparteiensystem, das in Spanien als bipartidismo bekannt ist, lässt sich auf das in der Transition geschaffene Wahlrecht zurückführen. Noch bevor in Spanien 1977 die ersten demokratischen Wahlen nach der Diktatur stattfanden, wurde das Wahlsystem in seiner heutigen Form per Regierungsdekret verordnet. Die Intention bestand darin, nachhaltige demokratische Institutionen zu etablieren, um ein Maximum an politischer Stabilität zu erzielen. Dementsprechend sollte das Wahlsystem eine allzu große Zerklüftung des Parlaments verhindern, um eine einfache Regierungsbildung zu unterstützen (Fernández Garcia 2005: 7). Allerdings führte diese Maßnahme dazu, dass die zwei größten Parteien, die PSOE und die UCD, beziehungsweise später die AP/PP 27, massiv gegenüber kleineren Parteien bevorzugt wurden. Zurückzuführen ist dies einerseits auf das bei Wahlen in Spanien angewandte d'Hondtsche Auszählungsverfahren, sowie die Tatsache, dass in den meisten der 52 Wahlkreise Spaniens nur eine einstellige Zahl an Abgeordneten gewählt wird. Dies benachteiligt insbesondere kleinere Parteien wie die Linkspartei Izquierda Unida (IU) und UpyD, da sie keine regionalen Hochburgen haben, sondern sich ihre Stimmen auf das ganze Land verteilen (Medina 2015: 5). Die Folgen des spanischen Wahlrechts beschreibt die Politikwissenschaftlerin Anna Bosco (2015: 66), indem sie die Kontinuität des spanischen bipartidismo hervorhebt. Wie auch aus Tabelle 3 hervorgeht, wechselten sich die PSOE und die PP in ihrer Regierungstätigkeit ab. Zudem erreichte die meist gewählte Partei in fast der Hälfte der Wahlen eine absolute Mehrheit. Durch Enthaltungen oder Unterstützung von kleineren nationalistischen, beziehungsweise regionalen Parteien, waren die Regierungsparteien auch dann regierungsfähig, wenn sie eine Minderheitsregierung stellten. Im Gegenzug ermöglichten die PP oder PSOE den National- oder Regionalparteien in den jeweiligen Regionalparlamenten Minderheitsregierungen (Medina 2015: 6). Letztendlich resultierte all dies darin, dass es in Spanien in der über 35-jährigen demokratischen Geschichte auf nationaler Ebene nie eine Regierungskoalition, sondern ausschließlich Einparteien-Regierungen gab (Vgl.: Tabelle 3).
Tabelle 3: Regierungen in Spanien seit 1979
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Verändert nach Medina 2015: 6.
Ein letztes Aufbäumen der alten Kräfte der Diktatur vollzog sich im Februar 1981. Am 23. Februar 1981 scheiterte der Tejero-Putsch, ein Putschversuch, bei dem eine Gruppe rechter Militärs versuchte, die Macht zu erlangen. Zwei Hundertschaften der Guardia Civil besetzten unter Führung des Oberstleutnant Antonio Tejero die Cortes – das spanische Parlament – und nahmen alle Regierungsmitglieder und Parlamentsabgeordneten als Geiseln. Da sich jedoch sowohl König Juan Carlos, sowie die Armeeführung entschieden auf die Seite der Demokratie stellten, konnte der Putsch nach nur wenigen Stunden für beendet erklärt werden (Busquets 2010: 78f, Bernecker 2010: 166).
Bei den im folgenden Jahr stattfindenden Wahlen brach die bis dahin regierende konservative UCD völlig ein und erreichte lediglich 6,8 Prozent. Die konservativen Stimmen wanderten zur AP, die sich später in PP umbenannte, welche damit 26,4 Prozent erreichte. Wahlsieger wurde jedoch die PSOE, welche mit 48,1 Prozent der Stimmen und 57 Prozent der Abgeordneten über eine absolute Mehrheit im Parlament verfügte. Felipe González, der Generalsekretär der PSOE wurde anschließend zum Ministerpräsidenten gewählt, ein Amt, das er bis 1996 bekleidete (Zelik 2015: 42).
Dem demokratischen Machtwechsel 1982 wird in der Literatur eine bedeutsame Rolle im Konsolidierungsprozess zugeschrieben. Die von der PSOE erreichte komfortable absolute Mehrheit mündete, verbunden mit dem desaströsen Wahlergebnis der UCD, sowie der Fragmentierung der konservativen sowie linken Oppositionsparteien, in eine Zuversicht, über mehrere Legislaturperioden die Regierung stellen zu können. Es herrschten also hervorragende Bedingungen, notwendige Reformen durchzuführen, ohne größeres Risiko, bereits bei den nächsten Wahlen abgestraft zu werden. Somit markierten die Wahlen von 1982 das Ende der Transition (Kraus/Merkel 2010: 208). In der Tat erlebte das Land nach der Transition eine rasante Veränderung, die mit einer starken Liberalisierung der Wirtschaft und der Gesellschaft einherging. Die spanische Wirtschaft befand sich durch den Preisanstieg von Erdöl, die ökonomische Öffnung des Landes, sowie die damit verbundenen Auslagerung von Industrien in Niedriglohnländer in einer Krise. Dies veranlasste die PSOE in der ersten Hälfte der 1980er Jahren dazu, die R econversión Industrial durchzuführen. Diese Strukturreform konzentrierte sich auf die Bereiche Textilindustrie, Eisen- und Stahlerzeugung, sowie Schiffbau. Als Konsequenz kam es vor allem im Norden des Landes verstärkt zu Arbeitsplatzverlusten. Abgemildert wurde diese Entwicklung durch den Ausbau der sozialen Sicherheitssysteme (durch die PSOE) WEG. Zudem sah die Strukturreform vor, eine Reindustrialisierung in als zukunftsträchtig erachteten Industrien zu vollziehen. Die Bilanz des Strukturwandels fällt gemischt aus. So konnten zwar Produktivitätssteigerungen verzeichnet werden, diese wurden jedoch vor allem durch Entlassungen erreicht (Nohlen/Hildenbrand 2005: 24, 55f).
Mit dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1986, kommt es in Spanien zu einem Wirtschaftsboom. Von 1986 bis 1991 stieg das BIP durchschnittlich um über 4 Prozent28, und damit höher, als das der anderen EWG-Staaten. Auch das BIP pro Kopf stieg in der Anfangsphase der EWG-Mitgliedschaft stark an. Entsprach es 1985 noch 70,4 Prozent des Durchschnitts der EWG-Länder, so stieg es bis 1991 auf 79,3 Prozent des EWG Durchschnittswertes an. Auch die Staatsausgaben stiegen, einerseits durch einen weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaates, sowie andererseits durch die Dezentralisierung und den damit verbundenen Aufbau von Regierungs- und Verwaltungsapparaten. Während dieser Zeit profitierte die spanische Regierung auch in hohem Maße von den europäischen Strukturfonds. In den 1980er und 1990er Jahren wurden in ganz Spanien mehrere Autobahnen, Straßen und Flughäfen mit europäischen Fördergeldern gebaut (Nohlen/Hildenbrand 2005: 24, Zelik 2015: 49).
Ab 1992 bekam auch Spanien die gesamteuropäische Rezession stark zu spüren. Die hohen Zinssätze für Staatsanleihen in ganz Europa, führten in Spanien zu einer angespannten Haushaltslage. Dies führte zu einer starken Reduktion des Wirtschaftswachstums, zum Sinken der Industrieproduktion und zu einer höheren Arbeitslosigkeit (Nohlen/Hildebrand 2005: 26).
3.2 Strahlendes Boomjahrzehnt
Ab Mitte der 1990er Jahre wuchs Spaniens Wirtschaft erneut sehr stark an. Mit 3,8 Prozent (1995-2006) lag das durchschnittliche Wachstum des BIP deutlich über dem Wirtschaftswachstum der Euro-Zone (2,2 Prozent). Auch die Arbeitslosigkeit sank im gleichen Zeitraum stark, von knapp 20 Prozent auf lediglich 8 Prozent (Köhler 2008: 219). Spaniens Wirtschaft profitierte zudem massiv von der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und der Einführung des Euros. So führen Estrada et al. (2009: 83) das erneute starke Anwachsen des BIP pro Kopf in den Jahren zwischen 1995 und 2007 von 79 auf 95 Prozent des Durchschnittswertes der Länder der Wirtschaftsunion hierauf zurück. Auch der starke Anstieg der Zahl der Erwerbstätigen hing stark mit der Einführung des Euros zusammen .
Das „strahlende Boomjahrzehnt“ (Köhler 2008: 219), das bis 2006 anhielt, lässt sich auch mit weiteren Faktoren erklären. So haben sich einige Regionen auf moderne Metallverarbeitung, Maschinen- und Fahrzeugbau spezialisiert, andere auf den Export von Nahrungsmitteln und Getränken. Spanische Banken und Versicherungen sind zu Global Players aufgestiegen, und mehrere ehemalige spanische Staatsunternehmen im Bereich Energie und Telekommunikation dominieren Teile der lateinamerikanischen Märkte. Die Hauptquellen des enormen Wachstums liegen jedoch im Tourismus- und Baugewerbe. So steigt seit vielen Jahren die Anzahl der Touristen an, mittlerweile sind es über 60 Millionen Ausländer, die jedes Jahr vor allem nach Katalonien, Andalusien, sowie auf die Inselgruppen Balearen und Kanaren reisen. Die Bedeutung, die der Fremdenverkehr nicht nur für Spanien, sondern für den Tourismus in Europa hat, zeigt auch die Tatsache, dass allein die Insel Mallorca mehr Unterkünfte für Touristen bereithält als ganz Griechenland (Köhler 2008: 221, Haubrich 2010: 5).
Auch der Immobiliensektor in Spanien hat eine extrem starke Wachstumsphase durchlaufen. Die Preise für Häuser sind von 1998 bis 2007 um knapp 200 Prozent angestiegen, die Bauinvestitionen wuchsen ab 1998 bis 2007 um jährlich 6,5 Prozent. In diesem Zeitraum wurden in Spanien jedes Jahr 800.000 Wohneinheiten fertiggestellt, was einem höheren jährlichen Wert entspricht, als der von Deutschland, Frankreich und Italien zusammengenommen. Dementsprechend wuchs auch der Anteil des Bausektors am BIP stark an. Einen vorläufigen Höchststand erreichte er 2006, wobei er mit 17,8 Prozent beinahe doppelt so hoch wie in Deutschland oder Frankreich lag (Bergheim 2007: 10, Köhler 2008: 221).
Raul Zelik beschreibt die Funktionsmechanismen dieser „Voodoo-Ökonomie“ (2015: 52) folgendermaßen: Das Geschäftsmodell sah vor, dass Spanien sich seine geographische Lage zunutze macht und den europaweiten Markt an Zweitwohnungen bedient. Durch die Einführung des Euros als „Hartwährung“ sanken die Zinsen auf einen Tiefststand, der auch Spaniern mit geringem Einkommen die Finanzierung einer Eigentums- oder Zweitwohnung ermöglichte.29 Auch ohne oder mit nur sehr geringem Eigenkapital gaben die Banken freigiebig Kredite für einen Immobilienerwerb, da die Wohnungs- und Hauspreise kontinuierlich anstiegen. Dies hatte zur Folge, dass man die Immobilie etwa bei einem Jobverlust mit Gewinn veräußern, und damit die aufgenommenen Schulden begleichen konnte. Bereits vor der Weltwirtschaftskrise ab 2007 realisierten die Märkte, dass für die Immobilien keine reale Nachfrage mehr bestand, und, dass eine Immobilienblase angewachsen war.
3.3 Wirtschaftskrise
Die Finanzkrise, die im Sommer 2007 in den USA als Subprimekrise begann, brachte schließlich auch die spanische Immobilienblase zum platzen, wenn auch mit etwas zeitlicher Verzögerung. So ging die PSOE-geführte Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero davon aus, dass es sich bei der leicht steigenden Arbeitslosigkeit Ende 2007 um ein kurzfristiges Phänomen handelte. Im Februar 2008 konstatierte der Ministerpräsident Zapatero, dass sich Spanien keineswegs in einer Rezession befinde, sondern lediglich in einem „temporären wirtschaftlichen Abschwung“ (Domenech et al. 2015: 44). Dementsprechend unternahm die Regierung den Versuch, diesen Abschwung durch ein antizyklisches Konjunkturprogramm abzufedern, um die steigende Zahl der Arbeitslosen zu senken. Durch Steuersenkungen (Abschaffung der Vermögenssteuer, 400€ Pauschalnachlass bei der Einkommenssteuer) und höhere Sozialausgaben (Erhöhung der „Babyprämie“ auf 2500€, Einführung von 420€ „Sozialgeld“ für Arbeitslose, deren Anspruch auf Arbeitslosengeld ausgelaufen war), sollte die Konjunktur wieder angekurbelt werden. Es bestand die Hoffnung, dass Spaniens Wirtschaft stärker sei, als die der anderen südeuropäischen Länder, die so stark von der Finanzkrise betroffen waren. Der Versuch, dem Abschwung entgegenzuwirken, war jedoch halbherzig und kam zu spät (Cordero/Montero 2015: 359, Banyuls/Recio 2012: 208f.). Durch die rasant ansteigenden Staatsschulden, sowie die strukturellen Probleme der spanischen Wirtschaft, mit ihrer Fokussierung auf den Tourismussektor und die Bauindustrie, war dieser Versuch wenig erfolgversprechend. In der Tat scheiterten die Maßnahmen. Die sich zunehmend verschärfende Situation auf dem Immobilienmarkt, herbeigeführt durch fallende Preise und unbezahlte Kredite, führte zu Problemen im Finanz- und Bankenwesen. Der rapide Rückgang von Immobilientransaktionen führte zu einer großen Einnahmelücke im öffentlichen Haushalt und, in Verbindung mit der expansiven Ausgabenpolitik zu einem stark wachsenden Defizit der öffentlichen Haushalte (Banyuls/Recio 2012: 209).
3.3.1 Austeritätspolitik
Im Mai 2010 vollzog die Regierung Zapatero daher eine radikale Kehrtwende. Gómez-Reino und Llamazares (2016: 6) erklärten den Wechsel in der Fiskalpolitik mit dem wachsenden Druck, den andere Länder der EU auf die spanische Regierung ausübten. Diese sorgten sich, dass Spanien ebenso in finanzielle Schwierigkeiten geraten würde, wie zuvor Griechenland.30 So hatte die Eskalation der Schuldenkrise in Griechenland im April und Mai 2010 zu einer außerordentlichen ECOFIN-Sitzung am 9. Mai 2010 geführt. Die schlechten Daten der spanischen Wirtschaft im Jahr 2009 bereiteten den Finanz- und Wirtschaftsministern der EU Sorgen. Die Arbeitslosigkeit war auf knapp 19 Prozent gestiegen, das BIP war um 3,9 Prozent gefallen und das öffentliche Haushaltsdefizit belief sich auf 55,2 Prozent des BIP. Die spanische Ministerin für Wirtschaft und Finanzen, Elena Salgado, stimmte zu, einen Plan zur Reduzierung des spanischen Defizits zu erarbeiten, und diesen dann beim nächsten ECOFIN-Treffen, am 18. Mai 2010 vorzustellen (European Commission 2010).
Nur wenige Tage später, am 12. Mai 2010, stellte die Regierung Zapatero ihr Sparprogramm vor. Die darin enthaltenen wirtschaftlichen Anpassungsmaßnahmen wurden von einem Kommentator der Tageszeitung El País als die härtesten und unpopulärsten Maßnahmen der jüngeren spanischen Geschichte bezeichnet, die zuletzt auch Zapateros bisher verfolgten sozialen Kompromiss in Frage stellten (Romero 2010). Innerhalb der nächsten eineinhalb Jahre sollten demnach 15 Milliarden Euro eingespart werden, um das Haushaltsdefizit zu reduzieren. Dies sollte die Finanzmärkte beruhigen und die Zinsen für Staatsanleihen, welche enorm gestiegen waren, nachdem diverse Ratingagenturen Spanien schlechtere Kreditwürdigkeit attestiert hatten, wieder senken. Die angekündigten Maßnahmen beinhalteten eine Kürzung der Beamtenlöhne um 5 Prozent im Jahr 2010, sowie keinerlei Erhöhung derselben im Jahr 2011. Des weiteren wurden die Gehälter der Regierungsmitglieder um 15 Prozent gekürzt. Der erst kurz zuvor eingeführte Cheque Bebè, die Babyprämie von 2500 Euro, wurde wieder gestrichen, und die Renten sollten im Jahr 2011 nicht steigen. Zudem wurde die Entwicklungshilfe um 600 Millionen Euro gekürzt. Der größte Posten betraf jedoch Einsparungen bei den Infrastrukturinvestitionen, die in den Jahren 2010 und 2011 um 6 Milliarden Euro gekürzt werden sollten (Tremlett/Moya 2010, Garea 2010).
Weitere wirtschaftliche Reformen folgten in kurzer Abfolge. Die Privatisierung von Flughäfen und den staatlichen Lotteriegesellschaften wurde vorangetrieben. Im Juli 2010 wurde der Mehrwertsteuersatz von 16 auf 18 Prozent angehoben. Im Herbst 2010 legte die sozialdemokratische Regierung eine Arbeitsmarktreform vor. Auf der einen Seite sollten befristete Arbeitsverträge reduziert werden, auf der anderen Seite wurde es Firmen gleichzeitig vereinfacht, Tarifverträge zu umgehen. Zudem wurde der Kündigungsschutz gelockert. Auch 2011 wurden die wirtschaftlichen Reformen weitergeführt. Im Februar verabschiedete die Regierung eine Rentenreform, hob das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre an und verlängerte die Beitragsjahre, die für die Berechnung der Rente relevant sind von 15 auf 25 Jahre (Banyuls/Recio 2012: 211, Éltető 2011: 46).31 Schließlich änderte die Regierungspartei PSOE mit Unterstützung der PP als größter Oppositionspartei die Verfassung und verankerte eine Schuldenbremse. Sowohl die Zentralregierung als auch die Regionalregierungen müssen ab 2018 in den jeweiligen Haushalten vorrangig Schulden begleichen und die Neuverschuldung auf 0,4 Prozent des BIP begrenzen. (Domenech et al. 2015: 45, Banyuls/Recio 2012: 210).
Diese Maßnahmen führten zu einem enormen Vertrauensverlust in das Regierungspersonal und die gesamte PSOE. In diesem Klima entstand die Bewegung des 15-M32, auf die im folgenden noch genauer einzugehen sein wird. Kurz zusammengefasst, handelte es sich dabei um soziale Proteste in deren Folge in vielen Städten öffentliche Plätze besetzt wurden. Nach Daten des Centro de Investigaciones Sociológicas (CIS), eines öffentlichen Forschungsinstituts, waren zu Beginn der zweiten Amtszeit Zapateros im April 2008 noch 20,9 Prozent der Befragten mit der Arbeit der Regierung wenig oder gar nicht zufrieden. Gegen Ende dieser Amtszeit im Oktober 2011 traf dies auf 66,3 Prozent der Befragten zu. Dies schlug sich auch in den Wahlen zum Nationalparlament am 20. November 2011 nieder. Die PSOE verlor über 15 Prozentpunkte und erfuhr mit lediglich 28,7 Prozent der abgegebenen Stimmen ein Wahldebakel und das schlechteste Wahlergebnis seit der demokratischen Transition. Nutznießer hiervon war in moderatem Rahmen die Linkspartei IU, welche ihr Wahlergebnis um 3 Prozent steigern und damit fast verdoppeln konnte. Wahlsieger wurde die PP, die sich um 4,7 Prozent verbessern konnte und mit 44,6 Prozent der Stimmen eine absolute Mehrheit der Sitze im Parlament erreichte (Medina 2015: 4).
Mariano Rajoy, der Spitzenkandidat der PP, hatte während des Wahlkampfs für moderate Steuersenkungen plädiert sowie eine Linderung der Sparmaßnahmen in Aussicht gestellt. Er ließ sich publikumswirksam in einer Schlange vor dem Arbeitsamt fotografieren und versprach, die Arbeitslosigkeit zu senken (Domenech et al. 2015: 46, Pfeiffer/Werz 2015: 8). Diese Versprechen sollte die neue Regierung nicht halten können. Bereits wenige Wochen nach der Amtsübernahme an Weihnachten 2011 verabschiedete sie ein Sparpaket im Umfang von 15 Milliarden Euro. Neun Milliarden davon sollten durch Kürzungen eingespart werden. Betroffen hiervon waren viele Ministerien, Unternehmen der öffentlichen Hand (Bahn, Fernsehen) sowie die politischen Parteien. Zudem blieben die Beamtenlöhne eingefroren, bei gleichzeitiger Anhebung der Wochenarbeitszeit von 35 Stunden auf 37,5 Stunden. Einnahmen sollten dadurch erzielt werden, dass die Einkommenssteuer angehoben wurde, ebenso die Steuern auf Kapitalerträge. Nur kurze Zeit später, im Februar 2012, legte die Regierung Rajoy eine weitere Arbeitsmarktreform vor, die die Regierung selbst als radikal bezeichnete. Die Verhandlungs- und Entscheidungsmacht der Arbeitgeber sollte massiv gestärkt werden. Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten sollten einfacher angepasst werden können, auch Gehaltskürzungen wurden erleichtert. Der Kündigungsschutz wurde nochmals gelockert. Mitte April 2012 kündigte die Regierung weitere Sparmaßnahmen an. Diese betrafen das Bildungssystem und das Gesundheitswesen. Insgesamt sollten weitere 10 Milliarden Euro eingespart werden. Im Bildungswesen sollten die Studiengebühren an den Universitäten ebenso erhöht werden, wie die Klassengröße in öffentlichen Schulen. Im Gesundheitsbereich sollten beispielsweise sin papeles, also sich illegal im Land befindende Migranten, sowie Gesundheitstouristen von der steuerfinanzierten Gesundheitsversorgung ausgeschlossen werden. Ebenso sollten die Leistungen, die von den Krankenkassen übernommen werden reduziert, und die Zuzahlungen der Patienten selbst erhöht werden. Die Kürzungspolitik setzte sich immer weiter fort. Witte (2012: 3) bezeichnet das Maßnahmenpaket, das am 11. Juli 2012 verabschiedet wurde, als „eigentlichen Paukenschlag“. Zusammengenommen sollten die darin angekündigten Sparmaßnahmen der Staatskasse 65 Milliarden Euro bescheren. Als Haupteinnahmequelle kündigte die Regierung eine erneute Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes von 18 Prozent auf 21 Prozent an. Auch die Beamten mussten weitere Lohnkürzungen in Form einer gestrichenen Sonderzahlung im Dezember in Höhe von 7% des Gehalts hinnehmen. Auch die Urlaubstage der Beamten wurden gekürzt (Witte 2012: 2ff).
3.3.2 Bankenkrise
Im Jahr 2012 herrschte noch die Meinung vor, Spaniens Banken würden nur bedingt von den Folgen der Immobilienkrise und der Finanz- und Wirtschaftskrise betroffen sein. Man ging davon aus, dass die spanische Regierung die Banken nicht retten müsste (Neal/García-Iglesias 2013: 341). Jedoch trug im Endeffekt auch die sich ab 2011 vergrößernde Bankenkrise zu dem wachsenden Haushaltsdefizit bei. Weil mehrere hunderttausend Immobilienkredite nicht mehr bedient werden konnten, aber dennoch in den Büchern der spanischen Banken standen, hatten diese ein Kreditproblem. Laut Zelik (2015: 66) führte auch Druck aus Brüssel und Berlin dazu, dass sich die spanische Regierung im Rahmen der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) bis zu 100 Milliarden Euro leihen konnte, um bankrotte Privatbanken zu retten. Mit SAREB33 gründete die spanische Regierung im August 2012 eine bad bank. Die Abwicklungsbank erwarb für 50 Milliarden Euro faule Kredite von spanischen Banken. Obwohl auch private Bankinstitute Anteile an SAREB halten, haftet hauptsächlich der spanische Staat für die Risiken. Wie hoch diese genau sind, lässt sich nicht schätzen, allerdings erzielte SAREB allein im Jahr 2015 einen Verlust von 472 Millionen Euro (De Barrón 2016, Brendel/Jost 2013). Somit war die Bankenrettung mitverantwortlich dafür, dass die Schuldenquote Spaniens enorm anstieg. Lag diese 2007, vor Ausbruch der Krise, bei lediglich 35,5 Prozent des BIP,34 verdreifachte sie sich beinahe innerhalb von nur sieben Jahren und stieg auf 99,3 Prozent des BIP im Jahr 2014 (Eurostat 2015a).
3.3.3 Soziale Folgen
Die Wirtschaftskrise hatte auch verheerende Konsequenzen für die spanische Bevölkerung. Die Arbeitslosenzahlen spiegeln die Entwicklung der spanischen Wirtschaft wider. Während des Boomjahrzehnts sank die Arbeitslosigkeit auf unter 10 Prozent, im Jahr 2007 mit 8,2 Prozent sogar auf den niedrigsten Wert seit der Transition. Allerdings stieg der Wert seitdem kontinuierlich, und erreichte mit 26,1 Prozent im Jahr 2013 den höchsten Wert der jüngeren Geschichte Spaniens. Auch die Jugendarbeitslosigkeit stieg enorm an. Nohlen und Hildebrand schrieben bereits vor Ausbruch der Wirtschaftskrise, (2005: 30) dass Spaniens Jugendarbeitslosigkeit eines der Hauptprobleme der spanischen Wirtschaft sei und in Spanien europaweit die dritthöchste Jugendarbeitslosigkeit herrsche. Wie aus Abbildung 1 erkennbar ist, stieg diese nach Beginn der Krise stark an, wobei sie im Jahr 2009 bereits bei sehr hohen 37,7 Prozent gelegen hatte. Im Jahr 2014 erreichte sie 53,2 Prozent, und lag damit höher als in jedem anderen Land in Europa (Simsa et al. 2015: 9, Eurostat 2015c). In Spanien redet man daher auch von einer „verlorenen Generation“ (Rodríguez Yebra 2016). Sechs von zehn Jugendlichen sehen auf dem spanischen Arbeitsmarkt für sich keine Zukunft und wollen daher auswandern (Pfeiffer/Werz 2015: 9).
Abbildung 1: A rbeitslosigkeit in Spanien 2006-2015
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellungnach Eurostat 2015b, Eurostat 2015c
Insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit erreichte besorgniserregende Werte. Ab 2013 waren über die Hälfte der Arbeitslosen mindestens zwölf Monate auf Arbeitssuche und damit langzeitarbeitslos. 30 Prozent der Arbeitslosen waren schon seit zwei Jahren oder länger auf Arbeitssuche. Diese Zahlen deuten auf eine Zukunft mit hoher struktureller Arbeitslosigkeit hin, auch wenn die Krise komplett überstanden ist, da die Reintegration in den Arbeitsmarkt sich bei lang anhaltender Arbeitslosigkeit bedeutend komplizierter gestaltet (Mateos/Penadés 2013: 162, Eurostat 2015d).
Auch die soziale Ungleichheit in Spanien stieg durch die Krise enorm an. Laut einer OECD-Studie aus dem Jahr 2015 ist in Spanien die Ungleichheit der Einkommen zwischen den obersten 10 Prozent und dem untersten Einkommenszehntel so stark auseinandergegangen, wie in keinem anderen Land der OECD. Demnach sind seit Beginn der Wirtschaftskrise die Löhne der unteren 10 Prozent um durchschnittlich 22 Prozent gesunken, während die Löhne der obersten 10 Prozent nahezu unverändert geblieben sind (OECD 2015: 158, Dahms 2015). Auch das Armutsrisiko in Spanien ist im europäischen Vergleich hoch. Im Jahr 201435 lag das Armutsrisiko mit 29,2 Prozent knapp 5 Prozent über dem Durchschnittswert der EU. Noch übertroffen wurde diese Rate von derjenigen der Kinderarmut. Mit 35,8 Prozent lag sie erheblich über dem Durchschnitt der EU von 27,7 Prozent. Lediglich Ungarn, Bulgarien und das krisengebeutelte Griechenland hatten höhere Kinderarmutsraten (Eurostat 2015e). Ein besonderer Aspekt der spanischen Krise bestand in den desahucios, Zwangsräumungen von Wohnungen. Zu Beginn der Krise nahmen die Pfändungen von Wohnungen nur langsam zu. 2006 wurden 16,000, 2007 17,000 und 2008 20,500 Wohnungen zwangsgeräumt. Mit Fortschreiten der Krise stiegen die Zahlen jedoch schnell an. 2012 wurden phasenweise über 500 Wohnungen am Tag geräumt (Zelik 2015: 60f). Auch wenn die genauen Zahlen umstritten sind und auch unklar ist, wie hoch der Anteil von Zweitwohnungen bei den Räumungen ist, schätzt das Netzwerk PAH (Plattform für die Betroffenen von Hypotheken), dass in den Krisenjahren zwischen 2008 und 2012 mindestens 400 000 Wohnungen geräumt wurden (Muñiz 2012). Eine Besonderheit des spanischen Immobilienrechts verschlimmerte die Implikationen für die Betroffenen. Anders als in den meisten anderen Ländern Europas ist in Spanien die Hypothekenschuld mit der Übergabe der Immobilie an die Bank nicht getilgt. Vielmehr wurden die Wohnungseigentümer nicht nur wohnungslos, sondern schuldeten der Bank weiterhin hohe Summen, häufig über 200 000 Euro (Zelik 2015: 62).
3.4 Regimekrise
Die Krise in Spanien beschränkte sich allerdings nicht auf die Wirtschaft. Auch der Politik wurde von vielen Spaniern eine Krise attestiert. So wird der Politik, vor allem den politischen Eliten, vorgeworfen, den Herausforderungen der Wirtschaftskrise, sowie denen der Territorialfrage36 in Spanien nicht gewachsen zu sein. Wie oben gezeigt wurde, führte die Wirtschaftskrise zu größerer Armut, Arbeitslosigkeit und Ungleichheit. Dies kann zum einen damit erklärt werden, dass in Spanien der Haushalt verstärkt durch Ausgabenbeschränkungen saniert werden sollte. In anderen Ländern, die ebenfalls von der Wirtschaftskrise betroffen waren, wurde in stärkerem Maße auch auf Steuererhöhungen zurückgegriffen (Martínez 2014). Das bedeutet, dass viele Spanier für die Wirtschaftskrise und besonders für deren Folgen die politische Elite und die politischen Parteien verantwortlich machen. Dementsprechend führten einer Umfrage des CIS zufolge im November 2010 die Spanier politische Eliten und Parteien als das drittgrößte Problem des Landes an. Lediglich Arbeitslosigkeit und die Wirtschaftskrise wurden als dringendere Probleme erachtet (Anduiza et al. 2014: 752). Für viele Bürger war es unverständlich, dass für die Banken Finanzhilfen von bis zu 100 Milliarden Euro bereitgestellt wurden, für die letztendlich der Steuerzahler die Haftung trägt, während zeitgleich zehntausende Menschen aus ihren Wohnungen geräumt wurden. Die Zufriedenheit mit der politischen Situation nahm rapide ab. Bewerteten 2008 noch ca. 20 Prozent der Befragten die politische Situation als gut oder sehr gut, sank diese Zahl auf wenige Prozentpunkte im Jahr 2014. Auch die Einschätzungen zur Demokratie verschlechterten sich enorm. Während im Jahr 2008 noch knapp 60 Prozent der Befragten angab, mit dem Funktionieren der Demokratie in Spanien zufrieden zu sein, waren es im Jahr 2014 lediglich 20 Prozent (Cordero/Montero 2015: 360). Große Bedeutung für die Regimekrise hatten vor allem die Korruption in Spanien, sowie die Territorialfrage. Auf diese zwei Aspekte wird im Folgenden näher eingegangen.
3.4.1 Korruption
In Spanien gab es seit der Transition immer wieder große Korruptionsskandale, in die meistens Politiker der PSOE oder der PP verwickelt waren. Das postindustrielle Wirtschaftsmodell Spaniens mit seinem starken Fokus auf dem Bausektor ermöglichte auf verschiedene Arten politische Korruption.
Der wohl größte Korruptionsskandal wurde als Caso Malaya bekannt. An der Costa del Sol in Südspanien wurde 2006 ein Korruptionsnetzwerk aufgedeckt, das im Verdacht steht, über 2,6 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern veruntreut wurden. Über einen Zeitraum von über 10 Jahren hinweg wurden Bestechungsgelder gezahlt, um an öffentliche Bauaufträge zu kommen und die Erteilung von Baugenehmigungen zu bewirken. Über 100 Personen wurden im Zuge der Ermittlungen verhaftet (Reinbold 2010, Cruzado 2009).
Ab 2007 wurden Ermittlungen im sogenannten Informe Gürtel 37 öffentlich. Der Hauptangeklagte, Rafael Correa, wies auf die Existenz landesweiter Korruptionsnetzwerke im Bausektor hin. Wie 2009 herauskam, war auch die Parteizentrale der PP darin involviert. Der Schatzmeister der PP, Luis Bárcenas, wurde 2013 verhaftet, das Gerichtsverfahren gegen ihn ist für Oktober 2016 angesetzt. Bereits belegt ist, dass die PP seit den 1990er Jahren Parallelkassen unterhielt, die aus Bestechungsgeldern gefüllt wurden (Zelik 2015: 58).
Im Oktober 2014 wurden im Rahmen der Operacion Púnica Wohnungen und Büros ehemaliger und aktueller Politiker, Beamter und Geschäftsleute durchsucht. Beschuldigt wurden sie der aktiven und passiven Bestechung bei Bau- und Dienstleistungsaufträgen. Im Raum stehen mindestens 250 Millionen Euro an Bestechungsgeldern, die im Zusammenhang mit der Vergabe von öffentlichen Aufträgen gezahlt wurden. Wieder waren die meisten beschuldigten Politiker Mitglieder der PP (Pfeiffer/Werz 2015: 10).
Die Gründe für diese Korruptionsskandale liegen zum Teil in dem enormen Bauboom, den Spanien erlebt hat. So vergaben Politiker die Aufträge für öffentlich finanzierte Verkehrs- und Infrastrukturprojekte, erteilten Baugenehmigungen, insbesondere solche, die für den Bau von Ferien- und Zweitwohnungsanlagen benötigt wurden, und gaben die Umwandlung von Industrievierteln in Shopping-, Tourismus- oder Freizeitareale in Auftrag. Auch die Infrastrukturausgaben der öffentlichen Hand wuchsen in den vergangenen Jahrzehnten enorm. Sie betrugen 1989 ca. 2,7 Milliarden Euro und 1997 ca. 3,7 Milliarden Euro. Danach begann ein rasantes Wachstum. Innerhalb von nur fünf Jahren verdoppelten sich die Bauausgaben des öffentlichen Sektors auf 7,4 Milliarden im Jahr 2001. Auch in den folgenden fünf Jahren verdoppelten sie sich erneut nahezu, sodass sie im Jahr 2006 in der Hochzeit des Immobilienbooms 13,24 Milliarden Euro betrugen. Auch bei der Umwandlung von Brachen zu Bauland kam der Politik eine große Rolle zu. Umweltschutzbestimmungen und Flächennutzungspläne setzten Bauvorhaben Grenzen, die in Abstimmung mit den regierenden Parteien jedoch von diesen modifiziert werden konnten (Zelik 2015: 56f).
Doch die Korruptionsfälle beschränkten sich nicht auf den Immobiliensektor.
Im Jahr 2010 begannen Ermittlungen gegen Iñaki Urdangarin, den Ehemann der Königstochter Cristina. Ihm wurde die Unterschlagung öffentlicher Gelder in Höhe von 16 Millionen Euro sowie Geldwäsche vorgeworfen (Pfeiffer/Werz 2015: 10).
Die spanische Antikorruptionsbehörde eröffnete 2012 Ermittlungen gegen 86 leitende Angestellte und Aufsichtsratsmitglieder der Bankia, der viertgrößten Bank Spaniens. Diese hatten von der Bank sogenannte Tarjetas Black bekommen. Diese Kreditkarten erlaubten den Inhabern, auf Kosten des Geldinstituts einzukaufen und Geld abzuheben, Vorgänge, die nicht vom Fiskus registriert wurden. Besonders viel Aufsehen erregte der Skandal der Tarjetas Black auch deswegen, weil nicht nur Politiker der zwei Staatsparteien PP und PSOE daran beteiligt waren, sondern auch Repräsentanten der Linkspartei Izquierda Unida (Ebid.: 10, Zelik 2015: 63).
Zusätzlich zu den zahlreichen Korruptionsskandalen, von denen hier nur die prominentesten skizziert wurden, haben viele Spanier den Eindruck, dass eine mangelnde Distanz zwischen den politischen Parteien und großen Unternehmen und Banken besteht. Auch die Tatsache, dass alle etablierten Parteien mit Ausnahme von Podemos hohe Schulden bei den Banken haben, schafft diesen Eindruck. Da die Parteien auf günstige Kreditkonditionen angewiesen sind, geraten sie leicht in den Verdacht, von den Banken abhängig zu sein, und daher finanzfreundliche Politik zu betreiben (Ebid.: 11).
Die starke Präsenz von Korruptionsfällen in den Medien führte dazu, dass Spanier Korruption als immer größeres Problem betrachteten. Ab Oktober 2009 gaben immer mehr Spanier an, dass die Korruption eines der drei größten Probleme des Landes sei. Dieser Anteil erhöhte sich von unter 5 Prozent zwischen den Jahren 1995 und 2009 auf ca. 10 Prozent zwischen Oktober 2009 und Oktober 2012. Danach stieg die Zahl rapide an und pendelte zwischen 35 Prozent und 45 Prozent bis Oktober 2014 (Medina 2015: 12). Im Juli 2011 gingen 87 Prozent der Befragten davon aus, dass Korruption bei politischen Eliten sehr verbreitet oder ziemlich verbreitet sei (Anduiza et al. 2015: 752).38
3.4.2 Territorialfrage
Eine weitere Komponente der Regimekrise Spaniens besteht in den schwierigen Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie. Die Unabhängigkeitsambitionen verschiedener Regionen, aktuell vor allem des Baskenlandes, Galiziens und Kataloniens, haben tiefe historische Wurzeln. Im Zuge der Transition wurden den Autonomiegemeinschaften zwar Freiheiten in der Kultur-, Sprach- und Sozialpolitik gewährt, die nationale Einheit aber durfte und darf bis heute nicht in Frage gestellt werden. So ist das Abhalten eines Referendums über die Unabhängigkeit in Katalonien oder dem Baskenland nach wie vor eine Straftat (Zelik 2015: 33f).
Im Jahr 2006 hatte es den Anschein, als würde die Zentralregierung unter Zapatero die Nationalitätenfrage neu behandeln. Er nahm Verhandlungen mit der ETA sowie der baskischen Linkspartei Batasuna auf. Nachdem die Verhandlungen ergebnislos verliefen, und die ETA daraufhin im Dezember 2006 einen Anschlag auf den Madrider Flughafen verübte, wurden die Gespräche wieder beendet. Auch in Katalonien, einer der reichsten Regionen Spaniens, wird die Zugehörigkeit zum spanischen Nationalstaat zunehmend als Belastung empfunden. Finanziell sind die Zuwendungen an den Nationalstaat erheblich höher, als die Gelder die aus Madrid wieder zurück nach Katalonien fließen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Katalanen den Eindruck haben, die eigene Sprache und Kultur werde nur ungenügend gewürdigt. Noch 2004 hatte Zapatero zugesagt, dass Madrid einer demokratisch legitimierten Neuregelung des Autonomiestatuts nicht widersprechen würde. Nachdem eine solche in einer Volksabstimmung am 18. Juni 2006 bestätigt wurde, beriet sich das Verfassungsgericht vier Jahre lang, um dann das neue Statut im Juni 2010 als verfassungswidrig zu erklären. Dies führte dazu, dass die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien, die lange vor allem durch radikale linke Gruppen geprägt war, großen Zulauf aus allen Bevölkerungsschichten erfuhr. Auch die bürgerlichen Parteien, vor allem in Form der konservativen CiU, schwenkten auf die Pro-Unabhängigkeitsposition um. Die katalanische Regierung sowie große Teile der Gesellschaft scheinen fest entschlossen, Katalonien in die Unabhängigkeit zu führen. Um diese voran zu treiben, ließ Artur Mas, der von Dezember 2010 bis Januar 2016 Präsident von Katalonien war, am 9. November 2014 ein unverbindliches Referendum39 abhalten, in dem die Bevölkerung über die Unabhängigkeit Kataloniens vom spanischen Staat abstimmen sollte. 81 Prozent der Wähler plädierten für die volle Unabhängigkeit Kataloniens. Da ein offizielles Referendum verboten war, erhob die Autonomieregierung die Regionalwahlen im September 2015 zu Wahlen mit „plebiszitärem“ Charakter. Nach den Wahlen fand sich schnell eine parlamentarische Mehrheit, die eine Resolution verabschiedete, wonach Katalonien sich innerhalb von 18 Monaten von Spanien loslösen, und zu einem unabhängigen Staat werden sollte. Nur drei Tage später entschied das spanische Verfassungsgericht jedoch einstimmig, dass die Resolution verfassungswidrig sei. Hiervon ließ sich die Regierung Kataloniens nicht beeindrucken und kündigte an, den Abspaltungsprozess fortzuführen (Marti/Cetrá 2016: 108, Wieland 2015a, Wieland 2015b). Somit ist das Thema der Territorialfrage weiterhin hochaktuell und brisant. Sollte Katalonien sich tatsächlich von Spanien abspalten, wäre die „Unteilbarkeit der spanischen Nation“, wie sie in Artikel 2 der spanischen Verfassung festgeschrieben steht, beendet. Dies würde auch die Sezessionsbestrebungen in Galizien und im Baskenland neu beleben. Letztere hat ohnehin durch die Haftentlassung des linken Politikers Arnaldo Otegi40 im März 2016 an Dynamik gewonnen, würde aber durch ein unabhängiges Katalonien noch stärker revitalisiert werden.
3.5 Reaktionen der Bevölkerung
Die Wirtschaftskrise und insbesondere die auf die Krise folgende Austeritätspolitik, führten zu einem massiven Vertrauensverlust in die Regierungspartei PSOE, in die größte Oppositionspartei PP, sowie in die politischen Institutionen generell. Cordero und Montero (2015: 360) zeigen, dass ab 2008 die Bewertungen der Bevölkerung sowohl zur wirtschaftlichen, als auch zur politischen Situation rapide sanken. Auch die Arbeit der Regierung wurde ab 2008 schlechter bewertet. Selbst das Vertrauen in das Europäische Parlament sank, und das Funktionieren der Demokratie in Spanien wurde von den Befragten schlechter bewertet.
Die Unzufriedenheit der Menschen spiegelte sich allerdings nicht nur in Umfragen wider, sondern führte auch zu sozialen und politischen Protesten. Im Februar 2009 wurde die bereits erwähnte PAH (Plattform für die Betroffenen von Hypotheken) in Barcelona gegründet. Sie führt die Betroffenen von Hypothekenschulden in Basisgruppen zusammen. Dabei verbindet sie unterschiedliche Protestformen. Sie organisiert beispielsweise Blockaden von Zwangsräumungen und escraches 41, ebenso wie Demonstrationen gegen die spanische Austeritätspolitik. Außerdem bereitete sie 2011 eine Gesetzesinitiative42 vor, die innerhalb kürzester Zeit 1,4 Millionen Unterschriften einbrachte (Flesher Fominaya 2015: 471). Auch stieg mit Beginn der Krise die Zahl der Arbeitsstreiks stark an. Bezeichnend ist, dass von elf Generalstreiks, die es seit Beginn der Transition in Spanien gab, vier in der kurzen Zeitspanne zwischen 2012 und 2014 stattfanden. Auch die Zahl der Demonstrationen stieg stark an. Fanden im Jahr 2008 ca. 10,000 Demonstrationen statt, waren es im Jahr 2012 ca. 44,800. Die meisten Demonstrationen waren thematisch dem Komplex Arbeit zuzuordnen. Der Anteil der Demonstrationen mit Bezug zum Sozialstaat nahm stark zu, ebenso wie die Demonstrationen, die sich gegen die Regierung und deren Politik richteten (Medina 2015: 16f).
3.5.1 Demonstration 15-M
Die in Anbetracht der Folgen, die sie auslöste, wohl bedeutendste Demonstration war die vom 15. Mai 2011. Für diesen Tag hatten verschiedene Gruppen über das Internet zu Protesten aufgerufen.
In über 58 Städten kamen mindestens 130,000 Demonstranten zusammen. Zur sozialen Bewegung43 wurde die Demonstration des 15-M dadurch, dass es bei der Demonstration in Madrid zu „gewalttätigen Zwischenfällen“ kam, bei denen neunzehn Demonstranten festgenommen wurden. Dies wiederum führte dazu, dass noch in der gleichen Nacht vierzig Demonstranten am zentralen Puerta del sol Platz in Madrid ihre Zelte aufschlugen. Dieses Lager wurde in den frühen Morgenstunden des 16. Mai 2011 geräumt, was für landesweite Empörung sorgte. Daher kam es im Laufe des 17. Mai 2011 erneut dazu, dass etwa 10.000 Menschen die Puerta del sol besetzten und dort Zelte aufschlugen. Im ganzen Land wurde noch am gleichen Tag die Idee kopiert und zentrale Plätze besetzt (Zelik 2015: 97, Vallina Rodriguez et al. 2012: 497). Die Intention bestand darin, die Plätze mindestens bis zu den Kommunal- und Regionalwahlen am 22. Mai 2011 zu besetzen.
Anduiza et al. (2014: 752) identifizieren drei Distinktionsmerkmale, die die Proteste des 15. Mai 2011 von anderen vorangegangen Demonstrationen unterscheiden. Erstens veranschaulichte das Motto der Proteste (Echte Demokratie jetzt! Wir sind keine Ware für Banker und Politiker) den „non-instrumentellen“ Charakter des Protests. Während bei anderen großen Demonstrationen regelmäßig sehr spezifische Forderungen formuliert wurden, die auf Änderungen in der Wirtschafts- oder Regionalpolitik abzielten, war dies bei der Bewegung des 15. Mai nicht der Fall. Stattdessen wurde das Funktionieren demokratischer Institutionen kritisiert und das Missfallen gegenüber Politikern und Bankern zum Ausdruck gebracht. Die Demonstranten formulierten sehr abstrakte politische Ziele, beispielsweise soziale Gerechtigkeit, mehr Beteiligungsmöglichkeiten, größere Transparenz und Rechenschaftspflicht.
Zweitens würden die Parteien und Politiker von den Teilnehmern der Demonstrationen als eines der größten Probleme des Landes gesehen. Dies führte dazu, dass weder Parteien noch Gewerkschaften, Organisationen, die bei anderen Demonstrationen üblicherweise als Mobilisierungsinstitutionen formieren, an den Protesten teilnahmen.
Drittens seien die Proteste des 15. Mai 2011 insofern unüblich gewesen, als dass jene Spanier, die neue Medien selten oder gar nicht verwenden, von den Protesten überrascht wurden. Die klassischen Medien hatten im Vorfeld kaum oder gar nicht über den Aufruf berichtet und selbst die Anfangsphase der Bewegung nur sehr spärlich beachtet (Ebid: 752, Vallina Rodriguez et al 2014: 497).
Insbesondere der zweite Aspekt wird auch von vielen weiteren Kommentatoren hervorgehoben. Sie betonen den Graswurzelcharakter der Bewegung, die sich klar als gewaltfreie, an keine Partei gebundene Bürgerbewegung sah und ebenso wahrgenommen werden wollte. Sie wieß auch die organisationalen Eigenschaften anderer Organisationen, die ebenfalls im Zuge der Krise entstanden waren, wie Hierarchie, Bürokratie oder Doppeltmitgliedschaft44, von sich (Vgl.: u.a. Simsa et al. 2015: 11, Hughes 2011: 411). Dies führte dazu, dass die Bewegung des 15. Mai bei vielen Linken auch Unverständnis auslöste, sowohl bei „traditionellen Linken“, als auch bei „Bewegungslinken45 “. Wie Pablo Iglesias berichtete, gingen am Anfang der Bewegung des 15. Mai stark politisierte Studenten seiner Fakultät, die Marx und Lenin gelesen hatten. zu den Vollversammlungen. Dort wollten sie den Leuten klarmachen, dass sie „Arbeiter“ seien, auch wenn diese es noch nicht wüssten. Sie kamen verzweifelt zurück und meinten: „Die verstehen ja gar nichts!“ (Lambert 2015: 9). Die Indignados (die Empörten) setzten „echte Demokratie“ vor einen Klassenantagonismus, sie wünschten sich direkte Beteiligungsmöglichkeiten statt defekte Parteiendemokratie (Rendueles/Sola 2015: 34). Auch die Bewegungslinke reagierte zum Teil irritiert. So waren beispielsweise Fahnen oder Transparente von Organisationen nicht geduldet, zum Ärger mancher Aktivisten, die sich seit Jahrzehnten für mehr Demokratie und gegen neoliberale Politik einsetzen, die also genau die selben Ziele hatten, wie die Indignados. Zu den Paradoxien der Bewegung gehört auch, dass sich manche Kader der traditionellen Linken aktiver und konstruktiver einbrachten, als dies viele „Bewegungslinke“ taten. Oder, um es mit den Worten Raul Zeliks zu formulieren: „Der 15M fegt die gesamte Linke beiseite – auch die Bewegungslinke“ (Zelik 2015: 99) .
Die Teilnehmer der Demonstrationen und Besetzungen werden im Vergleich zu früheren Demonstrationen als jünger und mit höherer formaler Bildung beschrieben. Auch der Anteil an Frauen und Arbeitslosen war höher als bei anderen Demonstrationen. Außerdem waren die Demonstierenden, – vor den Protesten des 15- M, – seltener politisch aktiv und weniger in Parteien oder Gewerkschaften eingebunden als Teilnehmer anderer Demonstrationen in Spanien (Anduiza et al. 2014: 762).
Bei den Kommunal- und Regionalwahlen am 22. Mai musste die PSOE schwere Verluste hinnehmen. Nach den Wahlen war sie in keiner Region mehr stärkste Partei, und büßte auch bei den Kommunalwahlen stark ein. Insgesamt verlor sie 21,8 Prozentpunkte und erreichte mit 27,8 Prozent das schlechteste Wahlergebnis seit 1977. Jedoch konnte die linke Oppositionspartei IU von der Unzufriedenheit in der Bevölkerung nur in geringem Maße profitieren und steigerte ihr Ergebnis gerade einmal von 5,5 Prozent auf 6,3 Prozent (Domenech et al. 2015: 45). Als Wahlsieger wurde allenthalben die konservative PP gesehen. Obwohl selbst die PP ihr Wahlergebnis nur geringfügig um 1,9 Prozentpunkte auf 27,5 Prozent der Stimmen verbessern konnte, führten die Wahlen dazu, dass die Partei in den meisten großen Städten, sowie in zwölf der siebzehn Regionen an die Regierung kam (Barreiro/Sánchez-Cuenca 2012: 289). Die Protestbewegung der Indignados hatte demnach zunächst nur geringe Auswirkungen auf Wahlen.46 Obwohl die PSOE abgewählt wurde, konnte von der konservativen PP kein substantieller „sozialer“ Politikwechsel erwartet werden. Die Protestcamps blieben auch nach den Wahlen noch mehrere Wochen bestehen. Da sie jedoch nicht dauerhaft zu halten waren und auch nach und nach an Anziehungskraft einbüßten, wurde in den Vollversammlungen im Spätsommer 2011 entschieden, die Aktivitäten zu verlagern.
3.5.2 Ausdifferenzierung der Indignados-Bewegung
Als Folge verlagerter Aktivitäten entstanden beispielsweise die Mareas 47, die als monothematische Bewegungen verstanden werden können. So mobilisierte die Marea Azul (Blaue Welle) gegen Privatisierungen des Wassers, die Marea Amarilla (Gelbe Welle) für eine höheres Kulturbudget. Die Marea Verde (Grüne Welle) setzte sich gegen Sparmaßnahmen im Bildungsbereich ein und die Marea Granate (Dunkelrote Welle) verband die wegen der Wirtschaftskrise ausgewanderten Jugendlichen (Simsa et al. 2015: 10). Die Marea Blanca (Weiße Welle) war die Welle, die das größte Durchhaltevermögen bewies. Sie engagierte sich gegen Kürzungen im Gesundheitsbereich und Privatisierungen von Krankenhäusern. In ihr wirkten sowohl Vereinigungen des Krankenhauspersonals als auch Patienten und Migranten48 mit. Jeden dritten Sonntag im Monat zogen weiß gekleidete Demonstranten durch die Straßen Madrids und erreichten dass die konservative Regierung im Januar 2014 ihre Pläne zur Privatisierung der Madrider Krankenhäuser aufgab (Zelik 2015: 113).
Die Vollversammlungen, die im Sommer auf den zentralen Plätzen getagt hatten, wurden im Herbst in die Stadtteile getragen. Dort tagten Asambleas, die oft den Anspruch hatten, „offen, egalitär, öffentlich, konsensbasiert und weitgehend unstrukturiert zu sein“, und sich weiter für soziale Veränderungen einsetzten (Simsa et al. 2015: 11). Die bereits erwähnte PAH konnte viele Aktivisten der „Bewegung des 15- M“ für sich gewinnen, die nach der Auflösung der Protestcamps an den Aktionen der PAH teilnahmen. Auch wurden mehrere politische Parteien im Umfeld der Bewegung des 15. Mai gegründet. Die Anfang 2013 gegründete Red Ciudadana Partido X war die erste Partei, die die Ziele der Indignados in die Parlamente tragen wollte. Ähnlich wie die deutsche Piratenpartei will die Partido X technologische Veränderungen und die neuen Medien nutzen, um Demokratie partizipativer zu gestalten. Ein großer programmatischer Punkt stellt auch die Bekämpfung der politischen Korruption dar. Die erfolgreichste Partei, die ihre Wurzeln auf die Protestbewegung des 15. Mai zurückführt, ist Podemos, die im Zentrum dieser Arbeit steht. Sie wurde im Januar 2014 gegründet. Eine dritte Wahlinitiative besteht in den Wahlbündnissen Ganemos. Ada Colau, die Vorsitzende der PAH gründete im Juli 2014 Guanyem Barcelona als munizipale Wahlplattform, die bei den Kommunalwahlen im Mai 2015 antreten sollte. Daraufhin gründeten sich auch in anderen spanischen Städten den Idealen der Indignados nahe stehende Wahlplattformen, um sich bei den Kommunalwahlen 2015 zur Wahl stellen zu lassen49 (Romanos/Sádaba. 2015: 23). Eine große Rolle bei der Gründung aller Parteien spielten die Ergebnisse der Parlamentswahl im November 2011. Nachdem die Bewegung des 15. Mai wochen- und monatelang zentrale Plätze in den Metropolen Spaniens besetzt hatte, nachdem mehrere Generalstreiks stattgefunden hatten, und obwohl 80 Prozent der Spanier angaben, die Ziele der Indignados zu unterstützen, gab es keine gravierende Veränderung bei den Wahlen (Lambert 2015: 8). Zwar wurde die Regierungspartei PSOE von den Wählern für ihre Austeritätspolitik mit dem schlechtesten Wahlergebnis seit der Transition bestraft. Allerdings konnte keine der kleineren Oppositionsparteien nennenswerte Gewinne verbuchen. Den größten prozentualen Stimmenzuwachs erzielte die PP, die nach den Wahlen mit einer absoluten Mehrheit regieren konnte (Medina 2015: 4). Barreiro und Sánchez-Cuenca (2012: 289) bezeichneten die PP daher nach den Parlamentswahlen 2011 als „hegemoniale Kraft in der spanischen Politik“, da sie nun nicht nur in den meisten großen Städten und zwölf der siebzehn Regionen die Regierung stellte, sondern auch in den Cortes mit absoluter Mehrheit regierte.
4 Podemos
Wie oben bereits angedeutet, ist die Partei Podemos in dem Kontext des 15. Mai 2011 entstanden. Dabei ist die exakte Beziehung zwischen der Bewegung des 15-M und der Partei Podemos nicht einfach zu konzeptionalisieren. Zwar gibt es keine organisationale Überschneidung der zwei Phänomene, aber die Bewegung des 15. Mai hat die Politik in Spanien stark verändert, und ein window of opportunity geschaffen. Dies wurde von der Führungsriege von Podemos erkannt und genutzt (Rendueles/Sola 2015: 33). Einerseits sieht sich Podemos explizit nicht als Nachfolgeorganisation des 15-M, wie der Parteistratege und die Nummer 2 von Podemos, Ìñigo Errejón, drei Jahre nach den Platzbesetzungen feststellt: „Niemand hat Podemos dazu befugt, den 15-M zu vertreten. Außerdem ist die Bewegung so vielfältig, dass sie elektoral gar nicht repräsentiert werden kann“ (Errejón 2014b: 37). Auf der anderen Seite gibt es einige „biographische Kontinuitäten“, die es erlauben Podemos als Ergebnis der politischen Eingliederung des 15-M in zu verstehen (Kouki/Fernandez Gonzalez 2016: 68). Pablo Iglesias (2015b: 10) sieht die Mobilisierung der Indignados als wichtigste soziale Antwort auf die Regimekrise. Podemos sei die wichtigste politische Antwort (del Barrio 2014a).
4.1 Entfaltung von Podemos
Im Folgenden soll auf die Geschichte von Podemos eingegangen werden. Dabei werden zunächst drei politische Projekte vorgestellt, die als Vorläuferorganisationen der Partei verstanden werden können. Danach soll näher auf den Parteigründungsprozess eingegangen werden. Zuletzt wird sich dieses Kapitel dem Wahljahr 2015 widmen, in dem eine Reihe von Wahlen für die Partei anstanden.
4.1.1 Organisationale Vorläufer: Izquierda Anticapitalista, Medienprojekte, Akademikerkreis
Verwunderlich erscheint zunächst, dass die politische Antwort auf die Regimekrise fast drei Jahre auf sich warten ließ. Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Partei auf dem Fundament mehrerer politischer Projekte errichtet wurde. Diese existierten teilweise schon lange vor dem Ausbruch der Regimekrise. Vor allem drei Projekte, auf die nun näher eingegangen werden soll, spielen bei der Gründung von Podemos eine große Rolle. Es handelt sich dabei erstens um die Izquierda Anticapitalista (IA), eine spanische trotzkistische Kleinpartei, zweitens um einen kleinen Kreis linker Akademiker von der Madrider Universität Complutense, sowie drittens um Medienprojekte, die von Pablo Iglesias initiiert wurden (Zelik 2015: 120).
Izquierda Anticapitalista ist eine kleine, radikal linke Partei, die seit 1995 unter verschiedenen Namen existiert. Sie hat Anhänger und Niederlassungen in den meisten größeren Städten Spaniens. Zunächst war IA eine Plattform innerhalb der Linkspartei IU, verließ diese jedoch im Jahr 2007. Seitdem versuchte sie, ein breites linkes Bündnis, unter Einbeziehung der IU, der Gewerkschaften, und vor allem auch außerparlamentarischer linker Organisationen zu schmieden. IA trat auch mit mäßigen Erfolg bei Wahlen an. Trotz Unterstützung von namhaften linken Intellektuellen wie Slavoj Žižek, Noam Chomsky und Mike Davis erzielte die Partei bei den Europawahlen 2009 landesweit lediglich 23.000 Stimmen. An der von Izquirda Anticapitalista organisierten Sommeruniversität im August 2013 nahm ein Großteil der Personen teil, die am weiteren Gründungsprozess der Partei Podemos beteiligt waren (Rivero 2015: 122, 132, Zelik 2015: 120).
Die zweite Grundvoraussetzung zur Gründung von Podemos besteht aus einem Kreis von fünf Akademikern der Universidad Complutense de Madrid. Neben Pablo Iglesias handelt es sich hierbei um Ìñigo Errejón, Juan Carlos Monedero, Carolina Bescansa und Luis Alegre, die bereits lange Zeit gemeinsam politisch aktiv waren und alle entweder einen Doktortitel in Philosophie oder Politikwissenschaft an der Madrider Universität Complutense erreicht haben (Pfeiffer 2015: 5). Die Anfänge dieses akamdemischen Flügels von Podemos können zwischen die Jahre 2008 und 2009 zurückdatiert werden. Damals gründeten einige Professoren der politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Complutense einen „Debattenkreis zur Förderung des Kritischen Denkens“ (la Promotora de Pensamiento Crítico) in welchem unter anderem die Rolle der demokratischen Transition, also die Übergangsphase von der von Francisco Franco geführten Diktatur in Spanien zur Demokratie zwischen 1975 und 1982 kritisch hinterfragt wurde (Rodriguez Suanzes 2015: 21). Dieser Debattenkreis organisierte am 25. Mai 2010, also exakt 4 Jahre vor den Wahlen zum Europaparlament eine Fakultätsdebatte in der Madrider Universität. Der Titel der Debatte lautete „99 segundos. One Step beyond“. Über 500 Studenten und Dozenten versammelten sich, um daran teilzuhaben.50 Die Debatte wurde von Pablo Iglesias moderiert, der einen „jungen, agilen und sorglosen Moderationsstil verwenden wollte, der durch Erfolgsformeln des Fernsehens inspiriert war“ (La Promotora 2010).
Dies gelang Iglesias dahingehend, als dass der Direktor des lokalen Nachbarschaftsfernsehsenders Tele-K, Paco Pérez, so beeindruckt von Pablo Iglesias und der Veranstaltung war, dass er ihm vorschlug eine Debattensendung bei Tele-K zu moderieren (Tremlett 2015). Dies führte zum dritten Teil des Gründungsgerüstes von Podemos, in Gestalt mehrerer Medienprojekte.
Zunächst erscheint es verwunderlich, dass Pablo Iglesias dem Fernsehen in Zeiten des Internet und sozialer Netzwerke eine so große Bedeutung zumaß. Allerdings hatte Pablo Iglesias neben Politik und Jura auch Filmwissenschaften studiert, er wusste also um die Bedeutung des Fernsehens. Um es mit den Worten Pablo Iglesias' zu sagen:
„90 percent of political discourse is an audio-visual tool, 95 percent of leadership is an audio-visual tool, 95 percent of an electoral or political campaign is an audio-visual tool, and 95 percent of what a political organisation can state is an audio- visual tool“.51
Rendueles und Sola (2015: 36) gehen davon aus, dass sich in Spanien – trotz wachsender Bedeutung neuer Medien - politischer Konsens immer noch mehrheitlich in traditionellen Kommunikationsmedien bildet; 60 Prozent der Spanier geben an, dass für sie das Fernsehen die Hauptquelle für politische Informationen ist. Also gründete Iglesias im Jahr 2010 La tuerka, eine einstündige politische Talkshow, die einmal in der Woche ausgestrahlt wurde, zunächst auf dem Lokalsender Tele K, später auf Público TV, sowie im Internet. Einige Zeit später folgt die Sendung Fort Apache. 52 In beiden Formaten wurde versucht, linke Ideen in einfacher Sprache zu verbreiten. Iglesias schaffte es, auch komplexe Zusammenhänge auf deutliche, aber inhaltlich nicht falsche Aussagen zu reduzieren. La tuerka und Fort Apache bot auch einen Dialograum, in dem sich alle Akteure, die sich politisch links der PSOE ansiedeln, begegnen konnten. Zunächst wurden die Sendungen nur von einem sehr begrenzten, linken Publikum rezipiert. Aber die Sendungen wurden immer populärer, immer prominentere Gästen wurden eingeladen. Dies führte schließlich dazu, dass Pablo Iglesias auch in andere Medienformate des Mainstream eingeladen wurde (ebd.: 36, Zelik 2015: 124f).
Pablo Rodriguez Suanzes (2015: 15) datiert den Zeitpunkt, zu dem Pablo Iglesias den Sprung ins nationale Fernsehen schaffte auf den 25. April 2013. Davor war er lediglich in Kreisen der politischen Linken ein Begriff. An diesem Abend begann ein Prozess, der Pablo Iglesias - innerhalb von nur 13 Monaten - von einer medialen Nische in die Hauptsendezeiten der großen Nationalen Fernsehanstalten katapultierte. Iglesias stand für verschiedenste Talkshows zur Verfügung, es machte keinen Unterschied, ob das Thema der Sendung die Wirtschaftskrise in Spanien oder die Krise der Institutionen war, ob es um Reformen, Wohnungsenteignungen, Privatisierungen oder politische Kämpfe ging. Ob das Thema die Monarchie in Spanien oder die spanische Republik war. Ob es um das Gesundheitssystem oder das Bildungssystem ginge. Für ihn war auch die ideologische Ausrichtung des Senders unwichtig. Auch ob er eine Minderheits-, oder Mehrheitsposition vertrat. Bewusst nahm er auch an Debatten teil, in denen er als „nützlicher Idiot“ einer Großzahl von konservativen Talkshowteilnehmern gegenüber saß. Palbo Iglesias schaffte es, dass seine Botschaft überall zu sehen war. Jeden Samstag Abend, ob bei Telecinco, Cuatro, oder bei La sexta53 (ebd.: 23).
4.1.2 Parteigründung von Podemos
Der spanische Journalist Jacobo Rivero, der mit „Podemos. Objetivo asaltar los cielos“54 das bislang umfassendste Buch über die noch junge Partei schrieb, führt den Gründungsnukleus auf eine von IA organisierte Sommeruniversität im August 2013 zurück. Schon in den Monaten davor hatten Miguel Urbán, Sprecher von IA und Pablo Iglesias mehrfach über die Möglichkeit einer spanischen Syriza 55 geredet. An der fünftägigen Veranstaltung nahmen mehrere Personen teil, die später an der Gründung von Podemos mitwirkten. Dort vereinbarten Miguel Urban, der Soziologe und Autor Jorge Moruno und Pablo Iglesias, sich von nun an zwei mal wöchentlich zu treffen, um das Model Syriza, in Spanien umzusetzen (Rivero 2015: 133). Die Bedingungen schienen überaus günstig, weniger als die Hälfte der Spanier gab an, einer der beiden großen Parteien ihre Stimme zu geben (Zelik 2015: 119).
Doch das Modell Syriza ließ sich schwer realisieren. Die verschiedenen Kontaktversuche wurden zurückgewiesen. Sowohl die SAT (linke andalusische Gewerkschaft) als auch die CUP (linker parteipolitischer Zusammenschluss in Katalonien) reagierten verhalten auf den Vorschlag, ein Bündnis einzugehen. Auch Anova, die galicische Unabhängigkeitspartei, sowie Procés Constituent eine im April 2013 gegründete soziale Bewegung, die für die Unabhängigkeit Kataloniens eintritt, zeigten zwar Interesse an dem Projekt, konnten sich aber nicht zu einer Teilnahme entschließen. Auch IU wies das Kontaktgesuch schroff zurück. Als Konzession bot man an, dass das Projekt von Urban und Iglesias die IU Liste bei den kommenden Europawahlen mitbesetzen könne, konkret den “sechsten oder siebten” Listenplatz (Rivero 2015: 134f, Zelik 2015: 132). Da langsam die Zeit knapp wurde, entschloss sich die Aktionsgruppe im Dezember 2013, notfalls auch eigenständig eine Kandidatur für die Wahlen zum Europaparlament im Mai 2014 aufzustellen. Auch auf den Namen Podemos 56 einigte man sich Anfang Dezember (Rivero 2015: 138).
Am 14. Januar 2014 wurde das politische Manifest Mover Ficha 57 veröffentlicht. Dabei wurde noch einmal die Rolle, die die IA beim Gründungsprozess von Podemos spielte verdeutlicht. Große Teile des Manifests Mover Ficha wurden bereits einige Tage zuvor in einem internen Bericht der IA, dem Boletin no. 82 veröffentlicht (Gil 2014). Sowohl das Manifest, als auch der Boletin schließen mit folgenden Worten:
„Die Unterzeichner und Unterzeichnerinnen dieses Manifestes sind überzeugt, dass der Zeitpunkt gekommen ist, einen Schritt nach vorne zu schreiten. Die Empörung und die neuen Partizipationsformen müssen auch in die Politik getragen werden. In den Straßen wird inständig „Si se puede“ (Ja, es ist möglich) wiederholt. Wir sagen „Podemos“ (Wir können)“.58
Drei Tage später, am 17. Januar 2014 wurde unter großem öffentlichen Interesse die Partei Podemos in einem kleinen Stadtteiltheater in Madrid vorgestellt. Die Parteivertreter formulierten drei Bedingungen für eine Kandidatur bei den anstehenden Wahlen im Mai 2014. So sollten mindestens 50.000 Unterstützer im Internet gefunden werden. Zudem sollte Podemos sowohl offene Vorwahlen abhalten, als auch die Möglichkeit anbieten, das Parteiprogramm partizipativ zu gestalten. Drittens sollte weiterhin versucht werden, eine Einheit mit anderen linken Bewegungen anzustreben (Video Podemos. 2014a). Tatsächlich wurden die 50.000 Unterschriften innerhalb nur eines Tages gesammelt. Das Interesse an der neuen Partei war gewaltig. Im In- und Ausland wurden Circulos 59 gegründet, noch vor der Wahl im Mai existierten über 300 solcher „ Circulos “ (Carvajal 2014a), die Zahl wuchs kontinuierlich weiter und innerhalb von knapp einem Jahr gab es über 1.000 (Zelik 2015: 147). Das Führungsteam von Podemos, bestehend aus Pablo Iglesias, Miguel Urban und Ìñigo Errejón reiste durch das ganze Land, um die neue Partei vorzustellen. In vielen Städten war der Andrang enorm, die Hallen überfüllt, doch die Presse berichtete nur sehr spärlich (Giles 2015). Da noch viel zu organisieren war, und die Zeit knapp wurde, wurden die verschiedenen Aufgabengebiete verschiedenen Gruppen zugeteilt. Alle Gruppen bestanden sowohl aus Personen, die der IA angehörten, als auch aus solchen, die keine IA Mitglieder waren. Eine Ausnahme hiervon stellte die Gruppe „Wahlkampf“ dar, die ausschließlich mit Weggefährten von Pablo Iglesias besetzt und von Ìñigo Errejón geleitet wurde. Diese Gruppe würde sich später beim Parteigründungskongress als Team Claro que Podemos um den Parteivorstand bewerben (Rivero 2015: 146). Am 11. März 2014 wurde Podemos offiziell als politische Partei registriert. Zwischen dem 27. März und dem 2. April 2014 hielt sie offene Vorwahlen ab, an denen über 33.000 Menschen teilnahmen und sich über 150 Personen zur Wahl stellten. Auch das Wahlprogramm wurde kollektiv, mithilfe diverser Onlinedebatten, Änderungen durch die Circulos, und zuletzt eines Onlinereferendums erarbeitet. Der Wahlkampf für die Wahlen zum Europäischen Parlament fand vor allem in den sozialen Netzwerken statt (Kioupkiolis 2016: 106, Santonja 2014: 76).
Im April 2014, also etwa einen Monat vor den Wahlen entschied sich die Partei, das offizielle Parteilogo zu ändern. Für die Europawahlen sollte das Gesicht von Pablo Iglesias zum Logo der Partei werden. Carolina Bescansa60 erklärt den Vorgang folgendermaßen: „Es war purer Pragmatismus. In den Umfragen kam raus, dass lediglich 7 % der Befragten die Partei [Podemos] kannte, aber über 50% kannten Pablo [Iglesias]. Wir haben das Logo am letzten Tag verändert, am Aschermittwoch, beim einzigen Notar den wir finden konnten der geöffnet hatte (Rodriguez Suanzes 2015: 44). Da es in Spanien nicht üblich ist, dass Gesichter von Kandidaten auf den Wahlzettel gedruckt werden, führte dies zu regen Kontroversen, sowohl innerhalb der Partei, als auch außerhalb (Sanz 2014a).
Sowohl die Erwartungshaltungen der Führungspersonen von Podemos, als auch Meinungsumfragen sahen die neugegründete Partei bei nur einigen wenigen Prozentpunkten. Noch 18 Tage vor der Wahl kam CIS in Umfragen zu dem Ergebnis, dass Podemos einen Sitz bei den Wahlen erreichen würde (Giles 2015, Rivero 2015: 147f).
4.1.3 Von den Europawahlen zum Gründungskongress
Die Wahlen zum Europäischen Parlament am 25. Mai 2014 markieren den Zeitpunkt, zu dem Podemos zum ersten Mal als relevante politische Kraft wahrgenommen wurde. Podemos erzielte landesweit 8 Prozent, (1,25 Millionen Stimmen) und wurde viertstärkste Kraft im Land. Künftig würde die Partei fünf Abgeordnete in Brüssel stellen. In Madrid und drei weiteren Wahlkreisen erzielte sie über 10 Prozent. Nur 4 Monate nachdem die Partei gegründet worden war, und bei weitgehender Ignoranz durch die Medien stellte dies einen enormen Erfolg dar (Cordero/Montero 2015: 362, Martin 2014). Nach den Wahlen hielt Pablo Iglesias eine Rede, in der er betonte, dass trotz des Überraschungserfolges nur wenig erreicht wurde. Der „Korrektiv“ den die großen Parteien erhalten hätten, wäre nur der erste Schritt. Ziel sei es, „eine Regierung zu bilden“ (Rivero 2015: 149).
Am 5. Juni 2014 wurde eine Bürgerversammlung, die Asamblea Ciudadana „Sí se puede“ angekündigt. Am 18. und 19. Oktober 2014 sollten im Madrider Kongresszentrum Vistalegre über die Strukturen der Partei entschieden werden. Auch ein Parteiprogramm sollte dort verabschiedet werden.
Die Partei rückte nun auch medial stark in den Fokus, die Umfragewerte stiegen stark an, das Interesse war groß. Die Zahl der Circulos wächst stark an. In diesem Kontext der Euphorie fand der Parteigründungskongress statt. Ungefähr 7.000 Personen waren vor Ort, die Veranstaltung wurde live ins Internet übertragen, wo sie von bis zu 20,000 Personen verfolgt wurde. Es standen zwei aussichtsreiche Vorschläge zur Struktur der Partei zur Auswahl. Der eine, Claro que Podemos, wurde von dem Akademikerzirkel61 unterstützt, während der andere, S umando Podemos, unter anderem von Mitgliedern von IA unterstützt wird62. Obwohl der Vorschlag von Claro que Podemos, sämtliche Sitze im Vorstand mit dieser Liste zu besetzten und keinen anderen Strömungen der Partei Sitze zu gewähren ungewöhnlich ist, konnte er die meisten Stimmen auf sich vereinen. So wählten über 80 Prozent für die Option mit Pablo Iglesias an der Spitze. Ein Grund hierfür ist sicherlich auch, dass dieser angedroht hatte, die Bewegung zu verlassen, falls der von ihm unterstützte Vorschlag nicht angenommen würde. Inhaltlich wurden auf dem Kongress fünf Resolutionen verabschiedet, die als allgemeine Ziele der Partei konzipiert wurden. Diese waren: Umstrukturierung der spanischen Schulden, mehr Geld für das Gesundheitssystem, Verbesserung öffentlicher Bildung, sowie das Recht auf Wohnraum (Zelik 2015: 152, Rivero 2015: 151f). So fühlte man sich gut aufgestellt für das Wahljahr 2015.
4.1.4 Superwahljahr 2015 mit Verlängerung am 26-J
Bei oben beschriebenem Parteigründungskongress wurden die Grundlagen geschaffen, mit denen sich Podemos organisatorisch auf das Superwahljahr 2015 vorbereitete. Im Mai 2015 fanden Kommunalwahlen statt, dazu zeitgleich Regionalwahlen in 13 der 17 Autonomen Gemeinschaften63. Besonderes Augenmerk legte Podemos jedoch auf die Parlamentswahlen im Dezember 2015. Der Anspruch der Partei war es, an die Regierung kommen. Wie Pablo Iglesias formulierte:
[…] wir [sind] hier, um eine Regierung zu stellen. So weit wir auch gekommen sein mögen, das reicht uns nicht. Wir wollen nicht Zweiter bei den Parlamentswahlen werden. Wir sind gekommen um zu gewinnen64.
Um dieses Ziel zu erreichen, hatte es absolute Priorität, eine maquinaria de guerra electoral (Wahlkriegsmaschinerie) aufzubauen, wie es Ìñigo Errejón formulierte (Rivero 2015: 149, López de Miguel 2014). Die Maschine lief auf Hochtouren. Anfang November 2014 veröffentlichte die Zeitung El País Umfragen, bei denen Podemos 27,7 Prozent der Stimmen bei den nächsten Wahlen prognostiziert wurden. Damit wäre Podemos die stärkste Partei im Land. Bei den gleichen Umfragen wurde Pablo Iglesias als beliebtester Parteipolitiker gewählt (Garea 2014).
Podemos rief 2015 zum año del cambio (Jahr des Wandels) aus. Für den 31. Januar 2015 forderte die Partei ihre Unterstützer auf, am marcha del cambio (Marsch für den Wandel) teilzunehmen. Am für die Partei symbolträchtigen puerta del sol Platz in Madrid versammelten sich zwischen 100.000 und 300.000 Menschen. Eine beachtliche Zahl, wenn man bedenkt, dass der einzige Anlass der Veranstaltung war, das Jahr des Wandels einzuleiten und sich selbst zu feiern.
4.1.4.1 Kommunal- und Regionalwahlen 2015
Nach einem Vorschlag von Pablo Iglesias entschied die Parteiführung, bei den im Mai 2015 stattfindenden Kommunalwahlen nicht eigenständig anzutreten, bei den zeitgleich stattfindenden Regionalwahlen dagegen schon. Grund hierfür war die Angst, die Marke Podemos liefe Gefahr beschädigt zu werden, falls Bürgermeister der Partei sich in politische Skandale verwickelten (Zelik 2015: 154)65.
Stattdessen entschloss man sich, die Ganemos Initiativen, Bündnise linker Kräfte, die in mehreren Städten kandidierten zu unterstützen. Vor allem in den großen Städten erzielten Wahlplattformen, die von Podemos unterstützt wurden gute Ergebnisse. So regierten sie fortan nicht nur die drei größten Städte des Landes, Madrid, Barcelona und Valencia, sondern auch in etlichen weiteren großen Städten wie Zaragoza, A Coruña, Santiago de Compostela, Badalona oder Cádiz. Die PP blieb nur in Málaga und Murcia an der Macht, während die PSOE lediglich in Vigo einen Erfolg verbuchen konnte. Pablo Iglesias sah seine Partei daher auf dem richtigen Weg, er stellte die Wahlergebnisse als „Anfang vom Endes des Regime von 1978 “ dar, denn „Der Motor der Veränderung sind die großen Städte“ (Pfeiffer/Werz 2015: 32).
Bei den zeitgleich stattfindenden Regionalwahlen war Podemos nicht ganz so erfolgreich. Zwar wurde sie nach der PP und PSOE landesweit drittstärkste Partei, blieb mit ihrem Ergebnis von 14,2 Prozent jedoch deutlich hinter den Erwartungen zurück. Die Umfrageergebnisse vor der Wahl hatten Podemos zwar mehr Stimmen prognostiziert, nichtsdestotrotz erzielte sie in Anbetracht der Tatsache, dass die Partei nur etwas länger als ein Jahr existierte ein respektables Ergebnis. In keiner der Regionen beteiligte sie sich an einer Regierungsbildung, sie verhalf aber durch Stimmenthaltungen sozialdemokratischen, oder anderen linken Bündnissen zu Minderheitsregierungen. Dieses zögerliche Bekenntnis zu Regierungsbeteiligungen kann damit erklärt werden, dass ihre Wahlkampfkampagne auf der scharfen Kritik an den zwei großen Parteien basierte, und diese als korrupte und verbrauchte Akteure darstellte. Da die Parlamentswahlen nur wenige Monate später anstanden, hätte eine Regierungsbeteiligung Podemos unglaubwürdig wirken lassen (Gomez Fortes/Urquizu 2015: 386).
Nach diesen ersten Erfolgen kam es jedoch zu einer Stagnation im Kampf um die Regierung. Umfragen zufolge bekam Podemos bis in den Februar 2015 immer wieder um die 20 Prozent der Stimmen, was bei einigen Umfragen genug war, um stärkste Partei zu werden. Danach fielen die Werte jedoch. Ein Faktor der hierzu beitrug, ist die stärkere Machtkonzentration im Parteivorstand auf Kosten der Circulos. Casero- Ripollés et al. (2016: 12) bemerken, dass Parteimitglieder sich „verlassen und desillusioniert fühlen, weil ihre Vorschläge, Debatten und Maßnahmen einen nur geringen Einfluss auf die Parteiführung und die politischen Zielsetzungen haben“. Die „Aura des Neuen“, von der Podemos so lange profitieren konnte, hatte an Kraft verloren (Kioupkiolis 2016: 114). Exemplarisch hierfür waren die im Juli 2015 stattfindenden Vorwahlen, wo das Personal für die Parlamentswahlen im Dezember 2015 gewählt wurde. Zwar wurde Pablo Iglesias erneut mit großem Abstand zum Spitzenkandidaten erkoren (81,8 Prozent), allerdings bei einer äußert geringen Wahlbeteiligung.66
Bei den am 27. September 2015 stattfindenden Regionalwahlen in Katalonien schlug sich dieses nachlassende Momentum auch stark auf die Ergebnisse nieder. Podemos war als Teil des linken Wahlbündnisses Catalunya Sí que es pot (CSP) angetreten.67 Im Vergleich zu den katalanischen Regionalwahlen im Jahr 2012 verlor das Bündnis zwei Sitze, und erreichte nunmehr lediglich 8,9 Prozent der Stimmen und entsandte 11 Abgeordnete (Pfeiffer/Werz 2015: 30).
4.1.4.2 Nationale Parlamentswahlen
Trotz des mäßigen Wahlergebnis in Katalonien, machte man sich Hoffnungen, auf der nationalen Ebene ein besseres Ergebnis zu erzielen. Ganz so schwach, wie das Wahlergebnis in Katalonien waren die Umfragewerte für die Parlamentswahl am 20. Dezember nicht. Trotzdem waren die Prognosen weit entfernt von den Spitzenwerten im Winter 2014/2015. Die Werte schwankten bis Anfang Dezember 2015 zwischen 10 und 15 Prozent, Podemos lag darin an vierter Stelle. Mit Beginn des Wahlkampfes am 4. Dezember 2015 stiegen die Werte wieder an. Pablo Igelsias „gewann“ mehreren Umfragen zufolge die beiden größten Fernsehdebatten.68 Auch die aggressiven Wahlkampfauftritte von Podemos, bei denen der Fokus auf die Korruption der PP und der PSOE gelegt wurde, hoben die Partei aus dem Umfragetief (Lardiés 2015, Medina/Correa 2016: 6f). Bei den Wahlen selbst wurde Podemos drittstärkste Partei und erzielte über 20 Prozent der Stimmen. Der Abstand zur PSOE betrug nur 1,4 Prozent. In einigen Regionen erzielte Podemos mehr Stimmen als die PSOE und wurde damit zur stärksten linken Partei. IU, die zweite Partei links der PSOE erzielte lediglich 3,6 Prozent der Stimmen. Da sowohl die PP, als auch die PSOE massive Stimmenverluste zu verbuchen hatten, gestaltete sich die Regierungsbildung äußerst kompliziert (Medina/Correa 2016: 7f).69
Da bis Anfang Mai 2016 alle Verhandlungen um eine mehrheitsfähige Koalition scheiterten, löste König Felipe VI. das Parlament auf. Die Neuwahlen wurden für den 26. Juni 2016 angesetzt (Urban 2016).
Bei den im Juni 2016 stattfindenden Wahlen trat Podemos einem Wahlbündnis aus verschiedenen linken Parteien bei. Die größten Partner stellten IU und equo 70 dar. Das Bündnis trat mit dem Namen Unidos Podemos (Gemeinsam können wir) an. Ziel war es, die Sozialdemokraten zu überholen. Man hoffte, dass nach den Wahlen eine Regierungskoalition aus Unidos Podemos und PSOE möglich sein würde, bei der die PSOE als Juniorpartner Pablo Iglesias zum Ministerpräsidenten wählen würde (Martínez-Bascuñán 2016).
4.2 Organisationsstruktur
Podemos vereint in seiner Partei zwei Organisationsmodelle. Laut Kouki/Fernandez Gonzalez (2016:69) „kombiniert das Organisationsmodell von Podemos Teile einer innovativen Bewegungspartei mit klassischen Elementen einer Volkspartei“. Kioupkioulis bezeichnet dies als dualistische Strategie der Partei (2016: 105). Zum einen gebe es eine horizontale Struktur, die sich darauf zurückführen ließe, dass die Partei die Ziele des 15-M in der Politik vertreten möchte. Zum anderen existieren in Podemos aber auch „klassischere“ Elemente, die Hierarchien betonen, und somit eine vertikale Struktur in der Partei sichtbar machen.
4.2.1 Horizontale Strukturelemente
Bei der Vorstellung der Partei am 17.01.2014 wurde Podemos von Pablo Iglesias folgendermaßen definiert: „Podemos ist eine partizipative Methode, die der gesamten Gesellschaft offen steht, mit dem Ziel, die öffentliche Empörung in politische Veränderung zu verwandeln“ (Giménez San Miguel 2014). Somit sieht sich Podemos als vermittelndes Element, das der gesamten spanischen Gesellschaft, insbesondere aber auch den Anhängern der Graswurzelbewegung des 15-M offen steht, und deren Ziele in die Politik tragen möchte. Gleichermaßen wurde bei der Vorstellung der Partei verkündet, dass das Parteiprogramm gemeinschaftlich und deliberativ erstellt werden soll. Zudem wurde mitgeteilt, dass die Parteikandidaten für die Europawahl in offenen Vorwahlen ermittelt würden.
Die aktive Teilhabe an Podemos erfordert wenig mehr, als eine kurze Anmeldung auf deren Website. Daraufhin ist man Parteimitglied und hat das Recht, bei diversen Entscheidungen, wie beispielsweise Vorwahlen oder der Programmentwicklung mitzuwirken. Drei Elemente, welche die horizontale Struktur der Partei ausmachen, sind die C irculos, die A samblea Ciudadana (Parteivollversammlung), sowie die von Podemos verwendete Technopolitik. Diese drei Elemente sollen im folgenden näher vorgestellt werden.
4.2.1.1 Die Circulos
Die kleinste Organisationsform der Partei wird aus circulos gebildet. Wie bereits erwähnt, sind circulos die Basisgruppen von Podemos. Es gibt zwei Arten von circulos. In örtlichen Gruppen treffen sich Bürger der selben Stadt, des selben Dorfes, oder des selben Viertels. Zudem existieren thematische Gruppen, die Individuen mit ähnlichem Beruf oder Interessen vereinen. Um an den circulos teilnehmen zu können, muss man kein offizielles Parteimitglied sein. Außerdem ist die Teilnahme an den Treffen der Kreise gratis. Die beiden Voraussetzungen, einen circulo ins Leben zu rufen, bestehen darin, fünf Mitglieder zu vereinen und sich von der Partei validieren zu lassen.
Die circulos haben völlige politische Autonomie. Casero-Ripollés et al. (2016: 11) identifizieren vier Funktionen, die die Kreise erfüllen. So sollen sie politische Diskussionen innerhalb der Partei fördern, das Parteiprogramm mitgestalten, politisches Personal rekrutieren, und die Idee von Podemos in der Bevölkerung popularisieren.
Mit der Zeit stellte sich jedoch heraus, dass die circulos durchaus auch radikale Positionen formulieren und deren Übernahme ins Parteiprogramm durchsetzen. Deshalb wurde die Rolle der Kreise beim Parteikongress in Vistalegre im Oktober 2014 spezifiziert. Das Team Claro que Podemos, welches letztlich die Organisationsprinzipien durchsetzte, entschied, dass Wahlen als individueller Onlineprozess stattfinden würden. Eine Alternative hierzu wäre gewesen, dass die circulos deliberativ in Entscheidungsprozesse eingebunden werden (Stobart 2015). Dies schwächte die Bedeutung der Kreise enorm und führte zu einer „plebiszitären Beziehung“ zwischen der Parteiführung und den Anhängern. Die Rolle von virtuellen Mitgliedern und clickactivists wurde auf Kosten der Parteiaktivisten gestärkt (Kioupkiolis 2016: 113)71.
Da Podemos hierzu keine Daten veröffentlicht, ist es unmöglich, eine präzise Zahl der circulos zu ermitteln. Schätzungen gehen von über 1.000 Gruppen im In- und Ausland aus (Zelik 2015: 147). Diese Zahl wurde auch von Sergio Pascual, dem ehemaligen Organisationssekretär72 der Partei genannt (Torres 2016). Allerdings dürfen diese Zahlen bezweifelt werden. Wie viele der circulos tatsächlich noch aktiv sind, ist unbekannt. So mehren sich die Stimmen, dass die Anfangseuphorie in den Basisgruppen schon seit längerem verflogen sei (Stobart 2015, Casero-Ripollés et al. 2015: 12, Piñol 2016). Der neue Organisationssekretär, Pablo Echenique, rief im April 2016 dazu auf, die circulos „wiederzubeleben“. Hierzu gibt es nur Anlass, wenn diese sich momentan in einer Krise befinden (Carvajal 2016a).
4.2.1.2 Asamblea Ciudadana
Ein weiteres horizontales Element der Partei ist die Asamblea Ciudadana, die Vollversammlung. Diese besteht aus allen Personen, die sich online bei Podemos registriert haben. Ab 14 Jahren ist man berechtigt, bei den internen Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen. Die Asamblea Ciudadana ist das höchste Entscheidungsgremium, das fortwährend seine Funktionen ausübt. Die Vollversammlung tagt alle drei Jahre physisch; der Parteigründungskongress Sí se puede im Oktober 2014 konstituierte die erste Vollversammlung. Die Asamblea bestimmte das Personal für die Europawahlen 2014, ebenso wie die Wahllisten für die Parlamentswahlen 2015. Wichtige politische Entscheidungen werden der Versammlung fortlaufend online vorgelegt. So stimmten die Parteimitglieder im Juli 2015 darüber ab, mit welchen Parteien vor den Parlamentswahlen im Dezember 2015 ein Bündnis eingegangen werden sollte (Manetto 2015). Nach den Wahlen stimmten sie darüber ab, ob sich ihre Partei dem Bündnis zwischen PSOE und Ciudadanos anschließen sollte (Manetto 2016a). Und nachdem sich herausstellte, dass es im Juni 2016 Neuwahl geben würde, stimmten 98 Prozent der Podemos - Mitglieder für ein Wahlbündnis mit IU (Carvajal 2016b). Die Parteiführung ist an die Entscheidungen der Vollversammlung gebunden und setzt diese um. Außerdem kann jede Person innerhalb der Partei durch Entscheidungen der Asamblea ihres Amtes enthoben werden (Borge/Santamarina 2015: 13f, Podemos: Principios Organizativos).
4.2.1.3 Technopolitik
Ein drittes Merkmal, das die horizontale Struktur der Partei hervorhebt, ist die von ihr eingesetzte Technopolitik. Technopolitik soll nach Kellner (1997: 171) verstanden werden: die Verwendung neuer Technologien wie Computer und Internet, um politische Ziele zu erreichen. Ähnlich wie die deutsche Piratenpartei will Podemos aber nicht nur ihre Ziele technopolitisch erreichen, sondern mithilfe von Technopolitik die gesamte Politik zu verändern. Sie soll partizipativer, transparenter und effizienter werden. Podemos will viel Basisdemokratie in die Politik einführen, Diskussionen und Wahlen sollen allen offen stehen, die daran Interesse haben. Um dies zu erreichen, setzt Podemos massiv auf die sozialen Medien. Wie aus Tabelle 4 eindeutig sichtbar wird, ist Podemos, an ihren Followern gemessen, mit großem Abstand die beliebteste spanische Partei in den sozialen Medien. Die Anzahl der Facebookfollower von Podemos ist knapp doppelt so hoch, wie die der Parteien PP, PSOE und Ciudadanos zusammengenommen. Auch auf Twitter ist Podemos die populärste Gruppierung. Über 1,1 Millionen Menschen folgen dem Twitterkonto der Partei, das sind mehr als doppelt so viele Follower wie die der zweitgrößten spanischen Partei auf Twitter, der PP. Der Spitzenkandidat der Partei Podemos, Pablo Iglesias, ist in den sozialen Netzwerken der beliebteste Politker des Landes. Über 1,7 Millionen Twitter Nutzer „folgen“ seinen Tätigkeiten auf dem Portal, auf Facebook sind es über 600.000. Damit übertrifft er bei weitem den amtierenden Ministerpräsidenten Mariano Rajoy (1,2 Millionen T witterfollower / 205.000 Facebookfollower)73, sowie die Führungsperson der PSOE, Pedro Sánchez (340.000 Twitterfollower / 134.000 Facebookfollower) und Albert Rivera, Vorsitzender der Partei Ciudadanos (334.000 Twitterfollower / 264.000 F acebookfollower)74.
Tabelle 4: Anhänger spanischer Parteien / Spitzenkandidaten in sozialen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Zusammenstellung. Stand: 06.06.2016
Die Verwendung von hochfrequentierten sozialen Medien wie Facebook und Twitter ist im 21. Jahrhundert bei allen Parteien in westlichen Demokratien zur Kommunikation mit ihren Unterstützern weit verbreitet. Podemos verwendet darüber hinaus auch weniger bekannte digitale Anwendungen, die zum Teil fundamentale Funktionen innerhalb der Partei einnehmen. So werden mit Titanpad 75, Telegram,76 und Loomio 77 kleinere Applikationen verwendet, um die gemeinschaftliche Arbeit in den circulos zu vereinfachen und zu koordinieren (Frediani 2014). Appgree ist eine mobile App, die Diskussionen mit mehreren Tausend Teilnehmern ebenso ermöglicht, wie Umfragen. Appgree wurde bei den Abstimmungen auf dem Parteikongress verwendet, um die Positionen für das kollaborative Wahlprogramm herauszufinden (Casero- Ripollés et al. 2016: 12).
Die größte deliberative Plattform innerhalb der Partei ist Plaza Podemos. Dieser virtuelle Platz ist als subreddit auf der Webseite reddit 78 untergebracht. Tausende Mitglieder der Partei können hier „Politik gestalten“, unabhängig davon, wo sie sich gerade befinden. Es werden Nachrichten, Texte und Videos verlinkt, Parteipositionen diskutiert und Programmvorschläge zur Abstimmung gestellt. Podemos machte Plaza Podemos zu dem offiziellen Ort, an dem Anhänger und Mitglieder der Partei sich begegnen und miteinander diskutieren können (Borge/Santamarina 2015: 15f). Abstimmungen finden nicht auf der Plattform selbst statt, sondern werden via Agora Voting durchgeführt, eine Anwendung die sichere Wahlen ermöglicht. Die Applikation verfügt über verschiedenste Optionen, sie ermöglicht beispielsweise übertragbare Stimmabgaben (Frediani 2014).
Zusätzlich zu der Verwendung dieser horizontalen Elemente, die in diesem Ausmaß eine Einzigartigkeit in der spanischen Parteienlandschaft darstellen, existieren in der Partei auch traditionelle, vertikale Bestandteile.
So sind knapp die Hälfte der Nutzer zwischen 18 -24 Jahren, und ein weitere Großteil zwischen 25-35 Jahren. Reddit ist äußerst beliebt, in den USA ist es die 9. meistbesuchte Seite des Internets, weltweit nimmt sie Rang 27 ein (Alexa.com, Morris 2011).
4.2.2 Podemos als vertikale Partei
Oft wird darauf hingewiesen, dass sich die Organisationsstruktur der Partei beim Gründungskongress in Vistalegre stark gewandelt hat. Es standen zwei Vorschläge über die Oranisationsform der Partei zur Abstimmung. Wenn man die Unterschiede der Konzeptvorschläge näher betrachtet, erkennt man eindeutig, dass die Variante, die letztendlich umgesetzt wurde, erheblich zentralistischer war, und Hierarchien viel stärker betonte.
Der erste Vorschlag, Sumando Podemos wurde von den Europaparlamentariern Pablo Echenique, Miguel Urban, Teresa Rodríguez und Lola Sánchez unterstützt, und kann daher dem Parteiflügel der IA zugeschrieben werden79. Die zweite Vorlage Claro que Podemos wurde von Pablo Iglesias angeführt und vom Akademikerzirkel in der Partei unterstützt. Pfeiffer (2015: 7) weist auf drei wesentliche Organisationselemente hin, bei denen sich zwei Vorschläge stark unterschieden; die Art der Parteiführung, die Besetzung des Bürgerrats sowie die Machtverteilung zwischen den verschiedenen Organen innerhalb der Partei.
Abbildung 2: Organigramm der Parteistruktur von Podemos
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Borge/Santamarina 2015: 13
Die Gruppe Claro que Podemos wollte einen klassischen Generalsekretär als Parteivorstand etablieren. Im Gegensatz dazu schlug die Initiative Sumando Podemos vor, den Parteivorstand mit drei nationalen Sprechern zu besetzen. Auch bei der Zusammenstellung des Bürgerrats gab es Differenzen. Sumando Podemos schlug vor, 20 Plätze in diesem Gremium nicht durch Wahlen zu besetzen, sondern zwischen allen dafür kandidierenden Personen zu verlosen. Dies sollte die Basisnähe des Beirats erhöhen. Die Fraktion um Pablo Iglesias lehnte dies ab. Außerdem plädierte Sumando Podemos dafür, die circulos als elementare Organe der Partei beizubehalten, Graswurzelinitiativen zu begünstigen und Wege zu gehen, die die enge Kooperation mit sozialen Bewegungen außerhalb der Partei stärken. Diese Vorschläge fanden bei der Gruppe von Iglesias keine Unterstützung (Kioupkiolos 2016: 113, Pfeiffer 2015: 7). Die Vorschläge von Claro que Podemos wurde mit über 80 Prozent angenommen.
Abbildung 2 verbildlicht die Parteistrukturen innerhalb der Partei.
Bei dem Kongress wurde auch über das Parteipersonal abgestimmt. Hierfür stellte Claro que Podemos vollständige und geschlossene Listen zur Wahl. Da diese Listen das medial stark im Fokus stehende Team um Pablo Iglesias beinhalteten, war die Annahme dieses Vorschlags keine große Überraschung. Kritiker erheben jedoch den Einwand, dass sich im Zuge dieser Veränderungen die Partei zu einer stark hierarchisch geführten Organisation gewandelt hat (Simsa et al. 2015: 69, Pfeiffer 2015: 8).
Pablo Iglesias, der in seinem Amt als Generalsekretär bestätigt wurde, nimmt in der Partei eine Schlüsselrolle ein. Nicht nur bei den Europawahlen war er das Gesicht der Partei, der mediale Fokus konzentriert sich fortwährend auf ihn. Vor den Wahlen zum europäischen Parlament wurde ausschließlich über Pablo Iglesias berichtet, es gab praktisch keine Berichterstattung über die weiteren Listenkandidaten, ihre Ideen oder Vorschläge (Müller 2014: 12). Casero-Ripollés et al (2016: 386) bezeichnen ihn deshalb als „elektorale Marke“ von Podemos. Auch Pfeiffer (2015:4) beschreibt ihn als die unangefochtene Führungspersönlichkeit.
Kioupkiolis (2016: 108) erörtert eine mögliche Sichtweise auf den Strukturdualismus von horizontalen und vertikalen Elementen. So könne man den Dualismus als Strategie sehen, den Eurokommunismus Südeuropas der 1970er und frühen 1980er Jahre neu zu beleben oder weiterzuführen. Eurokommunismus in Italien, Spanien, Frankreich und Griechenland wurde als Versuch konzipiert, eine neue „Europäische Internationale“ zu etablieren, die sich weder dem „selbstgefälligen Reformismus“ noch dem „autoritären Kommunismus“ verbunden fühlte. Stattdessen sollte ein „demokratischer Weg zum Sozialismus gegangen werden“.
Die eurokommunistischen Parteien der Vergangenheit standen oft vor dem Problem, dass partizipative Demokratie abstrakt theoretisch gedacht wurde und bürokratischer Parteipolitik untergeordnet wurde. Dies ist bei Podemos nicht der Fall, finden sich doch viele direktdemokratische Elemente, die nach wie vor eine Rolle spielen. Auch sieht sich Podemos in einer EU, die „entlang einer Nord-Süd Achse gespalten“ ist und in der eine von Deutschland angeführte Euro-Rettungspolitik desaströse Auswirkungen auf Portugal, Irland, Italien Griechenland und Spanien hatte. Gemeinsam mit weiteren neuen politischen Kräften, besonders auch in Griechenland, könne man nun auf ein „gerechtes Europa, ein soziales Europa, das die Rechte der Leute vor der übertriebenen Macht des Finanzkapitals verteidigt“ hinarbeiten (Iglesias 2015b, Sánchez-Vallejo 2015).
4.3 Programmatik und Ideologie
In diesem Kapitel soll die Programmatik der Partei und ihre ideologische Verortung erläutert werden. Zunächst soll auf die zum Teil recht starken Veränderungen in der Programmatik der Partei eingegangen werden. Es folgt ein Abschnitt, der sich mit der Positionierung von Podemos im Bezug auf die Territorialfrage beschäftigt. Daraufhin wird die Einordnung der Partei im Parteienspektrum erläutert. Hierbei spielt die Eigenwahrnehmung als „wir hier unten“ gegen „die da oben“ eine zentrale Rolle. Des Weiteren soll versucht werden, die Ideologie der Partei zu präzisieren. Da Podemos eine für linke Parteien ungewöhnliche Beziehung zum Patriotismus hat, wird ein kurzer Exkurs über den Patriotismus von Podemos folgen. Zuletzt soll noch auf die verschiedenen Strömungen innerhalb der Partei eingegangen werden.
4.3.1 Programmatik
Die Programmatik der Partei hat sich im Laufe ihrer kurzen Geschichte bereits stark verändert. So wurde Podemos bei der Gründung als radikale, linke Partei wahrgenommen (Kouki/Fernandez Gonzalez 2016: 68, Bosco 2015: 66). Hierzu trug vor allem das Wahlprogramm für die Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2014 bei. Das Programm wurde von den Parteimitgliedern kollektiv erstellt, und beinhaltete Forderungen wie ein bedingungsloses Grundeinkommen, Rente mit 60, die Renationalisierung von Energiekonzernen und Banken, eine parlamentarische Kontrolle der EZB, sowie eine Prüfung der spanischen Staatsschulden durch Bürger und Experten80(Stobart 2015, Zuber 2015: 83).
Um auch breitere Wählerkreise anzusprechen, entwickelte Podemos in der Folge jedoch ein erheblich moderateres Programm. Das Wirtschaftsprogramm für die Parlamentswahlen 2015, das von den zwei linken Wirtschaftsprofessoren Juan Torres López und Vicenç Navarro ausgearbeitet wurde, hat eine stark sozialdemokratische Färbung. Es beinhaltet die Rente ab 65, sieht eine Basishilfe für Erwerbslose, die Abschaffung von Zeitarbeitsverträgen und eine starke Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns vor. Zur Finanzierung sollen Luxusgüter separat und große Vermögen stärker besteuert werden (Pfeiffer 2015: 9).
4.3.2 Territorialfrage
Ein gesonderter Aspekt der Parteiprogrammatik betrifft die Frage zum Status der Regionen und der Devolution. Podemos artikuliert hierzu eine andere Position als die großen Parteien des Landes. Die zwei großen Parteien, die PP und die PSOE, treten sehr entschieden dafür ein, dass Spanien unteilbar ist. Ein Referendum über die Unabhängigkeit einer Region wie beispielsweise das Referendum in Katalonien, im September 2015 bezeichnen sie als verfassungswidrig (Díez 2015) (vgl. Kapitel 3.4.2). Auch Ciudadanos, eine ursprünglich Katalanische Partei, die unter Anderem gegründet wurde, um den „katalanischen Nationalismus“ zu bekämpfen und die für den Verbleib Kataloniens innerhalb Spaniens eintritt, bezeichnet die Unabhängigkeitsprozess Kataloniens als illegal (ebd.).
Podemos hingegen tritt für das derecho a decidir ein, also das Recht der Nationen, über ihre Zugehörigkeit zu Spanien selbst zu entscheiden. Die Partei ist dabei der Meinung, dass, sofern sie an die Macht kommt, die Unabhängigkeitsbestrebungen in den Regionen schwächer werden und das Land sich nicht teilen würde. Wie Pablo Iglesias vor den Parlamentswahlen formulierte: „Wir sind die beste Garantie für die Einheit Spaniens“ (Màrmol 2015). Diese Politik, die den Autonomiegemeinschaften die Möglichkeit einer Unabhängigkeit in Aussicht stellt, führte zu sehr starken Wahlergebnissen in den betroffenen Regionen. Podemos kooperierte in Katalonien mit lokalen linken Kräften81 und wurde (als En Comú Podem) stärkste Partei. Auch im Baskenland, wo es eine starke Unabhängigkeitsbewegung gibt, wurde Podemos zur meist gewählten Partei (Planas/Arias Borque 2015).
4.3.3 Ideologie
Eine ideologische Einordnung der Partei Podemos gestaltet sich schwierig, auch vor dem Hintergrund ihres dedizierten Zurückweisens der Links-Rechts Positionierung. Die Betonung der Partei auf horizontalen Strukturen, Deliberation, Partizipation sowie die Verwendung neuer Medien führten dazu, dass die Partei mit den verschiedenen Piratenparteien in Island, Deutschland und Schweden verglichen wird (Casero-Ripollés 2015: 2). Die weitaus größte Anzahl der Kommentatoren betonen jedoch die Nähe zu linksorientierten populistischen Parteien und Bewegungen wie Syriza und Movimento 5 Stelle. Grund hierfür ist die antagonistische Positionierung der einfachen Leute gegenüber einer Elite (ebd.: 2, Kioupkiolis 2016: 100, Mudde 2015, Kaltwasser/Hawkins 2016), welche im folgenden näher untersucht werden soll. Ob Podemos tatsächlich eine populistische Partei ist, und ob sich der populistische Diskurs im Zeitverlauf gewandelt hat, soll im späteren Verlauf der Arbeit herausgefunden werden.
4.3.3.1 Oben versus unten statt links-rechts
Die Parteiführung von Podemos legt großen Wert darauf, nicht als linke Partei wahrgenommen zu werden. Insbesondere der „Parteistratege“ Ìñigo Errejón behauptet, dass man Podemos nicht auf der gängigen links-rechts Achse im Parteienspektrum einordnen könne82. Podemos will Politik für eine gesellschaftliche Mehrheit machen, nicht für eine kleine, extremistische, linke Minderheit. Das Ziel von Podemos sei es, „nicht den linken Rand des politischen Schachbrettes zu besetzen, sondern stattdessen das Brett zu leeren, um dann mit neuen Regeln zu spielen und in das Zentrum des Brettes (centralidad del tablero) zu rücken“83 (Rendueles/Sola 2015: 37).
Von Podemos wurde der Versuch unternommen, die Achse links/rechts, durch neue Achsen zu ersetzen, die wahlweise Demokratie/Oligarchie, Bürger/Kaste oder auch neu/alt genannt werden können (Errejón 2014a). In den Augen der Parteiführung von Podemos wurde die gesellschaftliche Mehrheit, welche die Partei Podemos vertreten möchte jahrzehntelang von der Politik benachteiligt. Sie leidet unter den Folgen der Finanzkrise und wird systematisch von der Demokratie ausgegrenzt. Die Demokratie wird von korrupten Eliten ausgenutzt, um sich selbst zu bereichern. Der von Podemos etablierte Diskurs beinhaltet also einen Antagonismus zwischen einer schlecht gestellten gesellschaftlichen Mehrheit, und einer privilegierten Minderheit. Die Mehrheit, wahlweise als Volk (el pueblo), Leute (la gente), soziale Mehrheit (la mayoria social), oder Bürgerschaft (la ciudadania) bezeichnet, muss sich ihre Rechte von einer degenerierten, korrupten Kaste (la casta) zurückholen, die das Regime regiert (Kioupkiolis 2016: 104, Pfeiffer 2015: 5).
Gleichwohl wird Podemos beinahe ausnahmslos als linke Partei beschrieben. Manche Analysten bezeichnen sie sogar als radikal linke Partei (Bosco 2015: 66). Dies entspricht auch der Einschätzung der spanischen Bevölkerung. Auf einer links-rechts Skala wird Podemos nicht nur weiter links eingeordnet als die PSOE, sondern auch bedeutend weiter links als die IU (Rodon/Hierro 2016: 5).
4.3.3.2 Patriotismus
Ein weiterer ideologischer Orientierungspunkt bei der Verortung der Partei ist ihr Patriotismus. Podemos erschuf in Spanien eine neue Art des Patriotismus, der als Teil des Diskurses zwischen der benachteiligten Mehrheit und der korrupten Elite fingiert. Bereits 2013 sagte Pablo Iglesias in einem Interview:
Das Wort Vaterland (patria) mit Stolz zu sagen, ist eine Frage, die nichts mit einer links-rechts Einordnung zu tun hat. […] Es geht darum, patriotisch zu sein, und anständig. Und in diesem Land war keine Regierung je patriotisch, noch anständig (Bassets 2015: 112).
Allerdings gestaltet sich die Etablierung eines Patria - Konzeptes in Spanien alles andere als leicht (Stobart 2015). Spanien ist ein plurinationales Land. Das Baskenland, Katalonien und Galizien – in geringerem Maße auch einige andere Regionen Spaniens – begreifen sich als eigene Nation, mit eigener Kultur und Sprache. Diesen Schwierigkeiten folgend, etablierte Podemos einen Patriotismus der sich nicht mit der spanischen Sprache oder Ethnizitäten verbinden ließ. Stattdessen sollte er mit Solidarität, harter Arbeit und Gemeinwohl assoziiert werden. Patriotismus, wie von Iglesias definiert, ist inkompatibel mit der casta:
Patria bedeutet, gesetzlich krankenversichert zu sein, patria bedeutet, deinem Sohn eine gute Bildung ermöglichen zu können, patria bedeutet, dass dein Land so aufgestellt ist, dass du nicht auswandern musst, patria ist das Gegenteil von Korruption (Jiménez 2015).
Podemos inkludiert auch die Armee und die Polizei in ihr Patria- Konzept. Dies stellt einen klaren Bruch mit klassischen Positionen der spanischen Linken dar ( Gómez- Reino/Llamazares 2016: 2).
4.4 Parteiströmungen
Innerhalb der Partei können unterschiedliche Strömungen identifiziert werden, auf die im folgenden eingegangen werden soll. Es können Anticapitalistas, Pablisten, und Errejónisten, unterschieden werden. Zunächst wird der Konflikt zwischen dem Akademikerzirkel und IA erläutert, der die Partei seit ihrer Gründung beschäftigt. Eine weitere Konfliktlinie ist aktuellerer Natur und betrifft die Konkurrenz der Pablisten mit den Errejónisten.
Die Ursprünge der Partei, mit ihren Wurzeln sowohl in der Kleinpartei IA, als auch in der Gruppe der Akademiker der Madrider Universität, führen bis heute zu Spannungen. Vereinfacht lässt sich feststellen, dass es den Personen, die der IA entstammen, nur begrenzt gelungen ist, Podemos nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Wie bereits weiter oben geschildert (Kapitel 2.2.2.) konnte die Initiative Sumando Podemos welche dem Anticapitalista Flügel zugeordnet wird, ihre Organisationsvorstellungen beim Gründungskongress nicht durchsetzen. Der Flügel vertritt linke bis radikal linke Positionen und reagierte enttäuscht auf die Entradikalisierung der Parteiprogrammatik nach den Europawahlen durch das Team von Pablo Iglesias. Außerdem tritt er für ein „plurales Podemos, von unten aufgebaut“ ein und ist besorgt über die Zentralisierung der Macht innerhalb der Partei (Carvajal 2015c, Lardiés/López 2016). Diesem Flügel werden Miguel Urban (Europaparlamentsabgeordneter), Teresa Rodríguez (Vorsitzdende Podemos- Andalusien) sowie Pablo Echenique (Vorsitzender Podemos-Aragón sowie Organisationssekretär der Partei) zugeordnet. Ursprünglich waren die beiden erstgenannten Parteimitglieder von IA. Seit dem Parteigründungskongress ist es Mitgliedern des Bürgerrats jedoch verboten, eine Parteimitgliedschaft außer der von Podemos innezuhaben84. Um diese Schwierigkeiten zu beseitigen, löste sich die Partei Izquierda Anticapitalista Anfang 2015 auf und besteht fortan nur noch als die „Politische Organisation“Anticapitalistas. Der IA Flügel kann als Nutznießer der Streitigkeiten zwischen Pablisten und Errejónisten gelten, auf die weiter unten eingegangen wird. Im Zuge dieser Unstimmigkeiten ist Pablo Echenique Organisationssekretär der Partei geworden (Sevilla 2016).
Die als Errejónisten bezeichnete Formation gruppiert sich um den „Parteistrategen“ und die „Nummer 2“ der Partei, Ìñigo Errejón. Ihr werden Carolina Bescansa (Zuständig für politische Analysen und Programmatik) und Sergio Pascual (ehemaliger Organisationssekretär) zugeordnet. Beide stammen aus dem Akademikerzirkel. Zudem der von Errejón in die Partei gebrachte Emilio Delgado (ehemaliger Organisationssekretär bei Podemos-Madrid). Diese Strömung plädiert für eine moderatere Positionierung der Partei, und einen gemäßigteren Diskurs. So konnte diese Gruppierung durchsetzten, dass die Zielsetzungen bei den Parlamentswahlen 2015 deutlich weniger radikal ausfielen, als noch bei den Europawahlen 2014 (Lardiés/López 2016). Errejónisten plädieren für eine starke Konzentration der Macht in der Parteizentrale, um die Effizienz zu maximieren. Der Ausruck, Podemos sei eine maquinaria de guerra electoral (Wahlkriegsmaschinerie) (López de Miguel 2014) geht nicht nur auf Ìñigo Errejón zurück, sondern kann als programmatisch für die Errejónisten gesehen werden. Sie setzen alles daran, Wahlen zu gewinnen und die Macht zu erlangen. Der Weg dahin ist für sie nicht entscheidend. Allerdings erläuterte Errejón in der Presse, dass der Vorrang von Effizienz und dem Gewinnen von Wahlen nur bis zum Ende des Superwahljahres 2015 (was mit der Wiederholung der Wahlen im Juni 2016 in eine „Verlängerung“ ging) gelten sollte. Danach werde man sich wieder auf seine Essenz als „Partei-Bewegung“ und die Wurzeln des 15-M besinnen (Gil 2016). Der Einfluss, den die Gruppe der Errejónisten zwischenzeitlich innehatte führte dazu, dass Juan Carlos Monedero, Gründungsmitglied und damals als „Nummer 3“ der Partei bezeichnet, diese Anfang Mai 2015 verließ. Er stand im Fokus der Medien, da er Einnahmen aus Beratertätigkeiten für linke Regierungen in Südamerika nicht richtig versteuert hatte. Zudem plädierte er für eine Stärkung der Parteibasis. Dies führte zu Zerwürfnissen mit den Errejónisten. Im Zuge der Unstimmigkeiten85 verließ Monedero die Partei, ist ihr aber weiterhin verbunden, und kann daher auch zum Pablisten Flügel gezählt werden.
Den Pablisten gehören zudem Irene Montero (Stabchefin von Iglesias), die „Gründungsmitglieder“ aus dem Akademikerzirkel Luis Alegre und Juan Carlos Mondedero, sowie der Generalsekretär Pablo Iglesias an. Diese Fraktion lässt sich weiter „links“ einordnen als diejenige um Errejón. Obwohl sie auch dafür eintritt, den circulos wieder mehr Gehör zu schenken, vertritt sie gleichzeitig die Position, dass die Partei eine starke zentrale Führung brauche. Auch sind die Pablisten besorgt, dass das Parteipersonal der „zweiten Reihe“ politisch zu unerfahren sei (Rivero 2005: 149).
Ein Konflikt zwischen Pablisten und Errejónisten, der von den Medien intensiv verfolgt wurde, fand im März 2016 statt. Mehr als zehn Stadträte und Abgeordnete der Regionalorganisation in Madrid hatten ihr Amt niedergelegt, da sie mit dem Führungsstil von Luis Alegre86 unzufrieden waren. Überraschenderweise führte der Konflikt jedoch nicht zur Entlassung Alegres, sondern Sergio Pascuals, dem Organisationssekretär der Partei (Manetto 2016b). Sergio Pascual galt bis dahin als „rechte Hand“ Ìñigo Errejóns. Daher wurde die Entlassung als Richtungsstreit innerhalb der Partei gedeutet. Für Verwunderung sorgte in der Presse, dass Errejón daraufhin seine öffentlichen Auftritte einstellte und sich „eine Zeit der Reflexion“ gönnte, indem er ein Master-Seminar in London gemeinsam mit Chantal Mouffe abhielt. Diese Vorgehensweise traf angesichts der zu dem Zeitpunkt stattfindenden Sondierungsgespräche mit der PSOE bezüglich einer Zusammenarbeit im Parlament und der internen Krise auf Verwunderung (Manetto 2016c, Carvajal 2016c). Die Errejónisten wollten mit den Ciudadanos und der PSOE in Dialog treten, um eventuell gemeinsam eine Regierung stellen zu können. Die Anticapitalistas waren gegen diesen Vorschlag. Deswegen wurde die Ernennung Pablo Echeniques zum Organisationssekretär durch Pablo Iglesias als klares Zugeständnis an die Anticapitalistas auf Kosten der Errejónisten gewertet. Auch die Tatsache, dass Iglesias die Sondierungsgespräche mit der PSOE bereits nach einem Tag beendete, wurde als Stärkung des Flügels der Anticapitalistas gedeutet (Carvajal 2016c).87 Führende Vertreter aller drei „Strömungen“ gaben im Zuge der „Krise“ im März 2016 jedoch öffentlich zu Protokoll, dass die Differenzen von den Medien instrumentalisiert würden, um eine Krise herbeizureden. So schrieb Iglesias in einem Brief an alle circulos am 15.03.2016, zeitgleich mit der Verkündung der Demission von Sergio Pascual: „Weder gibt es in Podemos Strömungen oder Fraktionen, die sich um die Kontrolle der Posten und Mittel streiten, noch sollte es sie geben“ (Iglesias 2016a). In einem Interview im Mai 2016 erklärte Ìñigo Errejón: „Es gibt keine strategischen Differenzen mit Pablo [Iglesias]“ (Errejón 2016). Und Pablo Echenique gab zu verstehen: „dass die Exekutive [der Partei] normal funktioniert, und der Umgang miteinander herzlich ist“ (Echenique 2016).
Außerdem demonstrierten Errejón und Iglesias auf Twitter zu dem Zeitpunk öffentlichkeitswirksam Einigkeit, als die Krise von den Medien am heftigsten beschrieben wurde. So schickte Errejón am 09.03.2016, adressiert an Pablo Iglesias, folgenden Tweet:
„Schlechte Nachrichten an diejenigen, die nach Ausreden für eine große Koalition der Restauration suchen: Schulter an Schulter mit @Pablo_Iglesias_.“88
Iglesias antwortete prompt:
„Es gibt etwas, was Sie [Referenz an die Kaste] uns nie verzeihen werden @iErrejón: Anders zu sein als Sie. Es ist mir eine Ehre, Generalsekretär zu sein, mit dir an meiner Seite, Genosse.“89
4.5 Struktur der Anhängerschaft
Um mit den Partei-Charakteristika von Podemos abzuschließen, wird sich die Arbeit nun der Wählerstruktur der Partei widmen. Da die umfangreichste Untersuchung hierzu von Recuero López (2015) stammt, soll zunächst auf ihre Ergebnisse eingegangen werden, die daraufhin von weiteren Analysen ergänzt werden. Recuero López (ebd:127) formuliert den Wahlkampf der Partei durch ihre diskursive Distanzierung von links-rechts Kategorien als catch-all. Dies sei dem Versuch geschuldet, aus allen Bereichen der Gesellschaft Wähler zu rekrutieren. Allerdings sei dies der Partei nur bedingt gelungen. So gibt es durchaus Erfolgsunterschiede darin, welche sozialen Gruppen die Partei erreiche. Nach Inglehart (1971: 1010) geht Recuero López davon aus, dass die Wähler eher postmaterielle Werte vertreten, seien sie doch Anhänger einer linken, veränderungs-orientierten Partei. Dies bestätigt sich insofern, als die Wähler der Partei in höherem Maße politische „Aktivisten“ sind, als der Durchschnitt der spanischen Wähler90. Sie übernimmt den Terminus des politischen Aktivismus des CIS. Demnach partizipieren die Wähler von Podemos überdurchschnittlich stark an politischen Aktionen (Demonstrationen, Streiks, Beteiligung an politischen Foren/Blogs). Außerdem reden oder diskutieren sie öfter mit Freunden oder Bekannten über Politik, und benutzen das Internet als Medium der Informationsbeschaffung (Recuero López 2015: 127, CIS 2014: 8,10). Eine weitere Besonderheit der Wähler von Podemos besteht darin, dass sie in größerem Maße als die Restbevölkerung mit den politischen Realitäten in Spanien unzufrieden sind. Die Wähler der Partei empfinden die Klasse der Politiker, sowie die politische Korruption als wichtigste Probleme im Land, und zwar in höherem Ausmaß als die Wähler anderer Parteien91. Ein drittes Charakteristikum beschreibt sie als „geschlossene politische Werte“. Darunter versteht sie, dass Wähler, die sich auf einer rechts-links Skala als Links einordnen, sowie solche, die für eine größere Dezentralisierung Spaniens eintreten stärker dazu neigen Podemos zu wählen, als Wähler die diese Überzeugungen nicht teilen92. Des Weiteren betrachtet sie die sozioökonomischen Eigenschaften der Wähler. Nach ihren Untersuchungen gibt es in manchen Faktoren relevante Unterschiede. So wählen vor allem junge, erwerbslose, sowie nicht-religiöse Personen Podemos 93. Gleichzeitig führt sie dies zu dem Ergebnis, dass die soziale Klasse, das Bildungsniveau, sowie das Geschlecht nicht relevant sind. (Recuero López 2015: 129).
Während einige dieser Ergebnisse von den meisten Analysten geteilt werden, gibt es auch in manchen Bereichen Uneinigkeit. Worin alle Analysen übereinstimmen ist, dass Podemos vor allem junge Wähler anspricht. In den älteren Analysen nach den Wahlen zum europäischen Parlament bis etwa Mitte 2015 schnitt Podemos im Bereich der jüngsten Wähler (18-24 Jahre) am besten ab und wurde hier sogar stärkste Partei (Sanz 2015, Fernández-Albertos 2014: 121, Llaneras 2014). Bei aktuelleren Umfragen erzielt die Partei bei der etwas älteren Gruppe der 25-34 jährigen die höchsten Umfragewerte (Simón 2015, El País 2016). Auch bestätigen die anderen Umfragen, dass Podemos vor allem linke Wähler anspricht (Simón 2015, Sanz 2015). In Übereinstimmung mit Recuero López sehen die meisten Analysen zudem die höchste Unterstützung durch Studenten sowie Arbeitslose (Fernández-Albertos 2015: 45, Llaneras 2014, Sanz 2015). Allerdings widersprechen ein Großteil der Untersuchungen Recuero López in den Ergebnissen zum Bildungsniveau. So sehen sie einen Zusammenhang darin, dass bei Personen mit höherer Formalbildung der Stimmanteil für Podemos signifikant höher ist (Llaneras 2014, Sanz 2015, Simón 2015, El País 2016). Während Recuero López keinen Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und der Wahrscheinlichkeit, Podemos zu wählen feststellte, widersprechen ihr neuere Erhebungen darin. Sie sagen der Partei einen höheren Anteil an männlichen Unterstützern nach (El País 2016, Simón 2015). Ein weiteres Merkmal der Unterstützer der Partei wird darin gesehen, dass sie vor allem urbane Wähler für sich begeistern kann; je größer der Wohnort, desto größer der Anteil der Podemos Sympathisanten (El País 2016, Llaneras 2014, Fernández-Albertos 2014: 121).
Abschließend einige Bemerkungen zur Wählerwanderung: Podemos gewann vor allem Stimmen von der PSOE. Eine weiterer starker Wählerzuwachs kam aus der Gruppe der Personen, die bei den vergangen Wahlen nicht gewählt hatten (entweder Nichtwähler, oder Personen, die noch zu jung waren um zu wählen), sowie ehemalige Wähler der IU (Fernández-Albertos 2014: 121, El Mundo 2016).
5 Podemos als populistische Partei?
Im zentralen Teil dieser Arbeit soll es nun darum gehen, ob Podemos als populistische Partei konzipiert werden kann. Zunächst soll in diesem Kapitel das Forschungsdesign vorgestellt werden. Dabei wird zuerst die Forschungsfrage und die Hypothesen umrissen. Daraufhin wird die Methodik vorgestellt und kurz auf die Quellen eingegangen, die zur Untersuchung herangezogen werden. Daraufhin folgt die Analyse der Wahlkampfreden von Pablo Iglesias. Dabei soll zum einen das Maß an Populismus untersucht werden, das die Reden aufweisen. In einem zweiten Schritt soll auf eventuelle Veränderungen im Zeitverlauf eingegangen werden.
5.1 Forschungsdesign
Der Abschnitt des Forschungsdesigns teilt sich auf in zwei unterteile. Zunächst werden die Forschungsfragen ausformuliert, und die aus der Literatur abgeleiteten Hypothesen vorgestellt. Daraufhin wird die Methodik genauer beschrieben.
5.1.1 Forschungsfragen und Hypothesen
Wie bereits eingangs erwähnt, lauten die Forschungsfragen:
1. Ist Podemos eine populistische Partei?
2. Gab es seit der Gründung der Partei eine Veränderung im populistischen Diskurs der Partei?
Daraus leiten sich die zwei folgenden Hypothesen ab:
- H1: Der Diskurs von Pablo Iglesias, dem Generalsekretär von Podemos, ist populistisch.
Diese Hypothese entsteht aus zwei unterschiedlichen Überlegungen heraus. Zum einen stellen viele Wissenschaftler, die sich mit Populismus beschäftigen, die These auf, dass Populismus ein Symptom von Krisen ist. So bezeichnet Taggart (2000: 2) Populismus als Reaktion auf eine extreme Krise. Auch aktuellere Publikationen betonen den Zusammenhang zwischen Krisen und dem Erfolg populistischer Parteien. Kriesi und Pappas erwarten, dass die aktuelle Weltwirtschaftskrise zu einem Erfolg bestehender, sowie zu einem Entstehen neuer populistischer Parteien führt (2015: 4,7).
Sie konnten zudem zeigen, dass populistische Parteien dort am stärksten hervortreten, wo eine Kombination aus politischer und wirtschaftlicher Krise vorherrscht (Pappas/Kriesi 2015: 324). Wie im Kapitel zur Geschichte Spaniens ausführlich dargelegt wurde, hat die Weltwirtschaftskrise in Spanien nicht nur zu einer schweren wirtschaftlichen Krise geführt, sondern zudem eine Regimekrise ausgelöst. Deshalb kann erwartet werden, dass Podemos – als eine Partei, die während der Wirtschafts- und Regimekrise entstand – einen populistischen Diskurs verwendet.
Zweitens leitet sich diese Hypothese aus dem aktuellen Forschungsstand zur Partei Podemos ab. So wird in den meisten Publikationen, die sich mit der Partei beschäftigen, darauf hingewiesen, dass Podemos eine populistische Partei ist. Diese These wird jedoch in vielen Untersuchungen lediglich postuliert, ohne dass sie untersucht wird. Eine Ausnahme bildet die qualitative Analyse von Kioupkiolis (2016). Er kommt zu dem Schluss, dass Podemos einen populistischen Diskurs benutzt. Dieses Forschungsergebnis soll in dieser Arbeit mit einer quantitativen Inhaltsanalyse überprüft werden.
- H2: Der Diskurs von Pablo Iglesias wird im Zeitverlauf weniger populistisch
Auch diese zweite Hypothese leitet sich aus Forschungsergebnissen zum Populismus ab. Einige Publikationen kommen zu dem Ergebnis, dass populistische Parteien ihren Diskurs unter bestimmten Bedingungen abschwächen. Bolleyer beispielsweise geht davon aus, dass populistische Parteien ihren Anti-Establishment Diskurs moderieren, um zu einen „akzeptierten Akteur in der politischen Arena“ zu reifen und die Chancen auf Wahlerfolge zu erhöhen (2008: 26). Häufiger findet sich der Hinweis darauf, dass eine Regierungsbeteiligung zur Entschärfung des angewandten Populismus führt (Pappas/Kriesi 2015: 324, Mudde 2005: 229). Heinisch (2003: 125) erklärt die Mäßigung des Populismusdiskurses folgendermaßen. Er geht davon aus, dass eine Regierungsbeteiligung als solche bereits eine große Herausforderungen für populistische Parteien ist. Sind sie doch oftmals durch einen geringen Organisationsgrad und durch die starke Konzentration auf eine Führungsperson gekennzeichnet. Daher verfügen sie in nur geringem Maße über kompetentes politisches Personal. Zudem besitzen sie als Neulinge keine Regierungserfahrung. In einem Umfeld, in dem sie sowohl von den traditionellen Parteien, als auch den Medien angegriffen werden, mäßigen sie daraufhin ihre populistische Rhetorik. Er nennt die Italienische Lega Nord sowie Forza Italia als Beispiele für diese Moderation des Diskurses.
Ein weiterer Aspekt besteht darin, dass populistische Parteien, sobald sie Regierungsverantwortung tragen, nicht mehr so überzeugend das politische Establishment angreifen können, da sie nun selbst dazugehören. Obwohl Podemos erst 2,5 Jahre existiert, konnte die Partei schon enorme Wahlerfolge verzeichnen und ging mehrfach eine Regierungsbeteiligung ein. So ist sie in den Städten Madrid, Barcelona und Valencia an der Regierung beteiligt und ist in der autonomen Gemeinschaft Valencia Juniorpartner der PSOE (Peña 2015). Obwohl die Annahmen in der Literatur, dass sich der Populismusdiskurs bei einer Regierungsbeteiligung mäßigt vor allem auf die nationale Ebene bezieht, soll hier untersucht werden, ob auch Regionale und Kommunale Regierungsbeteiligungen und somit Institutionalisierungen einer populistischen Partei zu einem Abschwächen des populistischen Diskurses führen.
5.1.2 Methodik
Um diese Fragen beantworten und die Hypothesen überprüfen zu können, bedarf es einer Operationalisierung des Konzepts des Populismus. Populismus wird verstanden als ein manichäischer Diskus, der Gut mit einem einheitlich Volkswillen und Böse mit einer konspirierenden Elite identifiziert. Institutionelle Veränderungen sind erforderlich, damit der Wille des Volkes wieder herrscht (Hawkins 2010: 5). Gegenüber anderen Definitionen hat diese Definition entscheidende Vorteile. Wie bereits erwähnt, kann eine diskursive Definition auch strategischen Populismus und Populismus als Kommunikationsmittel erklären. Sie sind Produkte der zugrundeliegenden Ideen. Deshalb ist eine Konzentration auf die Ideen und den Diskurs fruchtbarer. Des Weiteren hat ein diskursives Verständnis gegenüber einer Auffassung als Ideologie den Vorteil, dass Populismus nicht binär untersucht wird. Vielmehr wird eine Untersuchung des Ausmaßes an populistischen Diskurselementen ermöglicht (Hawkins/Castanho Silva 2016: 6). So werden in dieser Arbeit die Wahlkampfauftritte von Pablo Iglesias, des Generalsekretärs von Podemos, untersucht. Als Analysemethode wird holistic grading verwendet, eine Form der Textanalyse.
Holistic grading stammt ursprünglich aus dem Forschungsbereich der pädagogischen Psychologie. Während andere Formen der Inhaltsanalyse oft einzelne Sätze oder Wörter als Analyseeinheit verwenden, wird beim holistic grading der Text in seiner Ganzheit ausgewertet (Poblete 2015, Hawkins/Kocijan 2013). Diese Methode eignet sich besonders gut, um die diffusen und latenten Merkmale eines Textes oder einer Rede herauszuarbeiten. Es ist eine quantitative Methode der Analyse (Hawkins 2010: 1061, Pauwels 2011: 102).
Eine empirische Analyse die versucht, die ideologische Dimension eines Diskurses zu erfassen, muss mehrere ideologische Dimensionen voneinander kontrastieren. Da hier der Versuch unternommen wird, Populismus im Diskurs von Podemos zu identifizieren, muss auch untersucht werden, welche nichtpopulistischen Elemente der Diskurs aufweist. In Übereinstimmung mit mehreren Populismusforschern (Mudde 2004: 543, Hawkins et al. 2012: 3, Kaltwasser 2013) werden zwei Gegensätze zu Populismus identifiziert: Elitismus und Pluralismus. Populismus geht davon aus, dass die Gesellschaft in zwei homogene antagonistische Gruppen geteilt ist (Volk und Elite) und strebt eine Verwirklichung des Willens des Volkes an. Elitismus sieht die Gesellschaft ebenso antagonistisch in Volk und Elite getrennt, steht aber für die Verwirklichung des Willens der Elite. Pluralismus geht nicht davon aus, dass das Volk und die Elite zwei homogene antagonistische Gruppen sind, sondern sieht die Gesellschaft als eine Ansammlung heterogener Gruppen und Individuen. Pluralisten gehen davon aus, dass es nicht den einen identifizierbaren Volkswillen gibt, sondern dass dieser sich dynamisch entwickelt und themenspezifisch ist (Kaltwasser 2013, Mudde 2004: 544). Diese Arbeit beschränkt sich darauf, populistischen von pluralistischem Diskurs zu unterscheiden und somit elitistischen Diskurs außen vor zu lassen. Dies aus zwei Gründen: Zum einen ist die Unterscheidung zwischen Populismus und Pluralismus äußerst üblich in der Populismusliteratur (Hawkins 2009: 1049). Zweitens leben wir in einer Zeit, in der Egalitarismus einen solchen Stellenwert einnimmt, dass in einer liberalen Demokratie die Verwendung von elitistischem Diskurs einem politischen Selbstmord gleichkäme (Mudde 2004: 561).
Tabelle 5 vergleicht die wichtigsten Elemente von populistischem und pluralistischem Diskurs miteinander. Das vollständige Beurteilungsraster findet sich in Appendix A.
Tabelle 5: Kernmerkmale von populistischem und pluralistischem Diskurs im Vergleich
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Verändert nach Hawkins/Kocijan 2013: 11f
Populistischer Diskurs wird durch die folgenden Hauptmerkmale kodiert: Er ist gekennzeichnet durch ein manichäisches moralistisches Weltbild, das die Welt in das Gute und das Böse teilt. Die Bedeutung der Inhalte, die behandelt werden geht über die Tagespolitik hinaus; ihnen wird eine historische oder sogar kosmische Bedeutung zugeschrieben. Der Wille des als homogen konzipierten Volkes ist gut, während das Böse durch eine politische oder wirtschaftliche, konspirierende Elite aufgefasst wird. Zudem soll der Wille des Volkes erfüllt werden. Um dies zu erreichen muss die Elite entmachtet werden. Die demokratischen Rechte der bösen Elite werden infrage gestellt und die verwendete Sprache ist aggressiv und beleidigend. Pluralistisch dagegen ist ein Diskurs dann, wenn er nicht moralistisch ist und die Dinge nicht Schwarz/Weiß sieht.
Die Implikationen der behandelten Themen sind zeitlich und räumlich begrenzt, ihnen wird keine historische oder kosmische Bedeutung zugeschrieben. Das Volk mit einem feststehenden Willen gibt es nicht und der einfache Mann wird nicht romantisiert. Unterschiedliche gesellschaftliche Mehrheiten entstehen entlang verschiedener Themen. Aus pluralistischer Sicht gibt es keine korrupte Elite, die Politik in ihrem Sinne betreibt und politische Gegner werden nicht als Böse konzipiert. Der politische Gegner wird mit Respekt und Höflichkeit behandelt. Zudem sieht der pluralistische Diskurs keine Notwendigkeit für einen fundamentalen politischen Wandel.
Diese Arbeit verwendet das selbe Kategoriensystem wie Hawkins (2009: 1062). Diesem zufolge kann eine politische Rede entlang einer dreistufigen Skala eingeordnet werden: 0, 1 oder 2.
Eine Rede der Kategorie 0 verwendet wenige oder gar keine populistischen Elemente.
Eine Rede der Kategorie 1 verwendet eindeutige populistische Elemente. Diese werden jedoch nicht konsequent verwendet, oder es werden ebenso Elemente von pluralistischem Diskurs angewandt. Ein Beispiel wäre eine Rede, die eine romantisierende Vorstellung vom homogenen Volk offenbart und einen einheitlichen Volkswillen identifiziert, jedoch keine Eliten erwähnt, die als Feinde aufgefasst werden.
Eine Rede der Kategorie 2 ist extrem /STARK? populistisch und kommt dem Idealtyp des populistischen Diskurses nahe. Diese Rede enthält alle oder fast alle Elemente, die einen populistischen Diskurs kennzeichnen.
Im ursprünglichen Untersuchungsdesign von Hawkins wurden die Reden als 0, 1 oder 2 eingeordnet. Da es jedoch nicht immer einfach ist eine Rede so kategorisch einzuordnen, wurden in späteren Untersuchungsdesigns Dezimalwerte vergeben. Auch in dieser Arbeit werden die Reden mit Dezimalwerten benotet. Dies ist notwendig und sinnvoll, da hier zusätzlich zu einer allgemeinen Bewertung des Diskurses von Pablo Iglesias auch untersucht werden soll, ob sich der Grad des Populismus im Zeitverlauf verändert hat. Um eventuelle Veränderungen präzise darstellen zu können, bedarf es einer feingliedrigen Skala.
Um in der Lage zu sein, die Reden von Pablo Iglesias korrekt einzuordnen, wurden sie in dieser Arbeit nicht nur mithilfe des Beurteilungsrasters eingeordnet, sondern zusätzlich mit Referenzreden, die als idealtypisch für jede Kategorie gelten, verglichen.94 Diese Kombination von Beurteilungsraster und Referenzreden sind bezeichnend für die Methode des holistic grading (Hawkins 2009: 1049).
Obwohl Hawkins die Methode ursprünglich bei der Einordnung des Diskurses von amtierenden Staatsoberhäuptern anwendete, eignet sie sich ebenso für Reden aus Wahlkampagnen (Hawkins/Castanho Silva 2016: 8). Für jede der vier Wahlen, zu denen Podemos seit Gründung der Partei im Januar 2014 antrat, werden zwei Wahlkampfreden analysiert. Bei den untersuchten Wahlen handelt es sich um die Wahlen zum Europäischen Parlament am 25.05.2015, die Wahlen zu den Regionalparlamenten am 24.05.2015, die nationalen Parlamentswahlen am 20.12.2015, sowie die Neuwahlen zum nationalen Parlament am 26.06.2016. Soweit möglich, wird dem Untersuchungsdesign, das von Hawkins und Castanho Silva (2016) verwendet wird, gefolgt.95 Dabei wird jeweils die Auftaktwahlveranstaltung, sowie die letzte Wahlkampfveranstaltung vor den Wahlen analysiert. Der Grund hierfür ist, unterschiedliche Zeitpunkte der Wahlkampagne zu untersuchen. Dem Autor dieser Arbeit war es nicht möglich, die Reden in schriftlicher Form zu erhalten.96 Deshalb erfolgt die Analyse von Videos.97 Die für die Analyse relevanten Abschnitte der Reden wurden transkribiert und ins Deutsche übersetzt. Daraufhin wurde für jede der acht Reden ein Beurteilungsraster ausgefüllt. Da das Konzept des Volkswillens das sine qua non populistischen Diskurses ist, wird dieser höher gewichtet als die anderen Elemente.
Je größer die Anzahl populistischer Elemente, und je konsistenter deren Verwendung, desto näher kommt eine Rede dem Idealtyp populistischen Diskurses, der mit einer 2 bewertet wird.
Eine Limitierung der Methodik dieser Arbeit besteht darin, dass sie keine Überprüfung der Urteilsübereinstimmung liefern kann, da der Autor die einzige Person ist, die die Reden von Iglesias kodiert hat. Dem kann entgegnet werden, dass Hawkins bei seinem ursprünglichen Untersuchungsdesign 2009 zu dem Ergebnis kommt, dass die Methode hohe Intercoder-Reliabilitätswerte erzielt (Hawkins 2009, Hawkins/Kocijan 2013).98 So lässt Hawkins bei späteren Untersuchungsdesigns die meisten Reden auch von nur einem Coder untersuchen, da er dies als genügend erachtet (Hawkins/Castanho Silva 2016: 11).
Ein zweiter Kritikpunkt, der gegen die Methodik angebracht werden könnte, besteht in der Auswahl der Quellen. So hätte man ebenso gut das Parteiprogramm, Parteipublikationen, oder die Wahlkampfreden anderer Parteimitglieder untersuchen können. Allerdings richten sich Parteiprogramme nicht an die breite Öffentlichkeit und eignen sich eher dazu, die ideologische Verortung einer Partei zu untersuchen, als den populistischen Diskurs (Gidron/Bonikowski 2013: 27, Hawkins/Castanho Silva 2016:9). In der Analyse von populistischem Diskurs haben Reden gegenüber anderem Parteimaterial den Vorteil, dass sie eine herausragende Bedeutung einnehmen in der Kommunikation der Partei mit ihren Anhängern. Wahlkampfreden sind in besonderem Maße geeignet, da sie in der Regel einen populistischeren Diskurs aufweisen als Reden von Politikern in einem anderen Kontext.99 Zudem ist es sinnvoll, sich auf die Reden des Spitzenkandidaten der Partei zu konzentrieren, zumal Pablo Iglesias eine besondere Rolle (als charismatischer Führer der Partei) einnimmt (Kioupkiolis 2016: 105, Pfeiffer/Werz 2015: 12). Der Journalist Pablo Rodriguez Suanzes, der unter anderem für die spanische Tageszeitung el mundo, sowie für die deutsche Zeit schreibt formuliert:
„Podemos ist eine Bewegung, aber vor allem ist Podemos Pablo Iglesias“ (Rodriquez Suanzes 2015: 16). Rodriguez Suanzes beschreibt Iglesias als „natürlichen Führer, jung, dynamisch, mit Charisma ausgestattet“ (ebd.: S. 21).
Eine weitere Möglichkeit hätte darin bestanden, den Diskurs von Pablo Iglesias ins Verhältnis zu setzen mit dem Diskurs der Spitzenkandidaten der anderen spanischen Parteien, allerdings hätte dies den Rahmen dieser Arbeit überschritten.
Im folgenden Abschnitt sollen die Ergebnisse der Untersuchung vorgestellt werden.
5.2 Ergebnisse der Untersuchung
Die Untersuchung des Populismus der Partei Podemos gliedert sich in zwei Teile. In einem ersten Schritt sollen die Werte erläutert werden, welche die Analyse der Reden ergeben haben. Dies stellt die Untersuchung der ersten Hypothese dieser Arbeit dar. Daraufhin soll in einem zweiten Schritt die zweite Hypothese überprüft werden und der Fokus auf etwaige Veränderungen des Populismus im Zeitverlauf gelegt werden.
5.2.1 Ist Podemos populistisch?
Dieser Abschnitt soll die erste Hypothese untersuchen: Der Diskurs von Pablo Iglesias, dem Generalsekretär von Podemos ist populistisch.
Bei der Analyse der Reden von Pablo Iglesias, die eine Überprüfung der Hypothese ermöglichen soll, wurde die oben beschriebene Methodik angewendet. Insbesondere wurde untersucht, ob die Rede vorrangig populistische Elemente verwendet, sie mit pluralistischen Elementen mischt, oder überhaupt keine populistischen Elemente identifiziert werden können. Tabelle 6 zeigt die Ergebnisse der Untersuchung.
Tabelle 6: Bewertung der Reden von Pablo Iglesias
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Erhebung.
Im Diskurs von Pablo Iglesias bei den Wahlkampfveranstaltungen der letzten vier Wahlen lassen sich eine Vielzahl populistischer Elemente finden. Im Folgenden sollen die Kategorien des Beurteilungsraster einzeln begutachtet werden und Belege für die Verwendung der Elemente im Diskurs von Pablo Iglesias erbracht werden.
In den meisten Wahlkampfreden herrscht ein manichäisches Weltbild vor. So spricht Pablo Iglesias mehrmals von genau zwei Optionen, die bei der Wahl zur Auswahl stehen (Rede #3, ab 3:00):
E s gibt zwei Wege, zu regieren: man kann so regieren, dass sich eine privilegierte Minderheit bereichert, oder man kann für das Volk regieren. Es gibt zwei Optionen bei dieser Wahl: so weitermachen wie bisher, sich denen von oben anbiedern, denen die ihre Konten in der Schweiz haben, und die keine Steuern zahlen, für die Diebe. Oder man kann für das Volk regieren.
Immer wieder stellt er zwei moralische Gegensätze auf (Rede #5: Ab 1:30): Es gibt zwei Welten, die Vergangenheit und die Zukunft; das Scheitern und die Hoffnung. In fast allen Reden lassen sich mehrere Fälle von Referenzen eines manichäischen Weltbilds identifizieren.
Weniger eindeutig verhält es sich bei der kosmischen oder historischen Bedeutung, die den inhaltlichen Themen in den Reden zugeschrieben wird, sowie dem Berufen auf nationale oder religiöse Führer. In einigen Reden wird auf nationale, vor allem kulturelle Führer Bezug genommen.100 Er stellt auch Referenzen zu Pablo Iglesias Posse (Gründer der PSOE und der sozialistischen Gewerkschaft UGT) her (Rede #2: 1:18:40, Rede #5: 4:30). Vor allem die historische Bedeutung wird oft hervorgehoben, so spricht er beispielsweise von einem „Treffen mit der Geschichte“ (Rede #7 ab: 2:00). Kosmische Bedeutungen lassen sich weniger identifizieren. In nur einer Rede (#4 ab 10:14) vergleicht er vier für eine Wahlkampfveranstaltung auf dem Fahrrad fahrende PP Politiker mit den vier Reitern der Apokalypse.
Die Referenzen an einen homogenen Volkswillen sind nicht immer explizit artikuliert, sondern werden manchmal in Anekdoten verpackt, oder erschließen sich aus den Geschichten über tugendhafte Arbeitslose oder einfache Arbeiter (Rede #4 ab: 33:00). In manchen Reden erwähnt er auch explizit den Willen des Volks, so „will das Volk sie [korrupte Politiker] rausschmeißen“ (Rede #3 ab: 9:00). Oder er sieht Podemos als Medium, um den Volkswillen geschehen zu lassen (Rede #6 Ab: 10:20): „Wir haben Instrumente geschaffen, die es erlauben, den politischen Willen des Volkes in die Institutionen zu tragen“.
In allen Diskursen wurde eine Elite identifiziert, die als Böse dargestellt wird, und die das Volk ausbeutet. Viele Kommentatoren schreiben Podemos insbesondere die Verwendung des Begriffs der casta, (Kioupkiolis 2016: 104, Pfeiffer 2015: 5) zu, die das politische System für sich instrumentalisiert. Tatsächlich wird dieser Begriff nur in den ersten zwei Reden verwendet (Rede #1 ab 26:45, Rede #2 ab 1:21:25). Die Elite wird in den anderen Reden vielmehr als korrupt, kriminell, diebisch und verdorben dargestellt. Oft bezieht sich Iglesias dabei auf die anderen politischen Parteien (Rede #1 ab: 6:50), vor allem die konservative PP (Rede #8 ab: 11:35). Explizit bezieht er sich dabei häufig auf die Korruptionsskandale der Vergangenheit. Auch Wirtschaftseliten werden als Opposition herausgestellt, insbesondere im Zusammenhang mit der Bankenrettung (Rede #2 ab 1:21:29). Vor allem bei den Wahlkampfreden zum europäischen Parlament kritisiert er auch internationale Eliten, so zum Beispiel Christine Lagarde (Rede #2 ab 1:24:39), Jean-Claude Juncker (Rede #2 ab 1:26:50), sowie Deutschland, dem unterstellt wird, Spanien in eine deutsche Kolonie verwandeln zu wollen (Rede #1 ab 26:28).
Das Element des systemischen Wandels lässt sich ebenso in allen Reden eindeutig identifizieren. Oft postuliert Iglesias, dass „Spanien es sich nicht leisten könne, noch länger von Mafiosos“ (Rede #1 ab 6:25) regiert zu werden, dass es „das Land nicht mehr ertragen kann, dass immer die Gleichen regieren“ (Rede #4 ab 34:51). Ein ebenso häufiges Element ist der historische Wandel der sich andeutet und der eine progressive Politik an die Regierung bringen wird (Rede #7 ab 3:30).
Die letzte Kategorie des Beurteilungsrasters beinhaltet den Umgang mit der Opposition. In keiner der Reden droht Iglesias der korrupten Minderheit mit nicht- demokratischen Mitteln; sofern überprüfbar stellt er auch keine Statistiken und Daten in falschem Licht dar. Die Sprache, die sich an die politische Opposition richtet, ist jedoch in den Reden äußerst aggressiv und beleidigend. So werden die Gegner oft als kriminell (Rede #1 ab 26:28), mafiös (Rede #2 ab 1:21:29) oder nutzlos (Rede #1 ab 20:25) beschrieben; „Wir sagen ihnen was sie sind: Diebe, Korrupte, Gesindel!“ (Rede #3 ab 8:00).
Wie oben gezeigt wurde, beinhaltet der Diskurs von Pablo Iglesias vielfältige populistische Elemente. Somit kann die erste Hypothese bestätigt werden. Im folgenden wird analysiert werden, ob es Veränderungen des Populismus im Zeitverlauf im Diskurs von Iglesias gibt.
5.2.2 Veränderungen im Zeitverlauf?
Dieser Abschnitt soll die zweite Hypothese untersuchen. Der Diskurs von Pablo Iglesias wird im Zeitverlauf weniger populistisch.
Abbildung 3 veranschaulicht, wie sich die Populismuswerte der Reden im Zeitverlauf entwickelt haben.
Abbildung 3: Populismus im Zeitverlauf
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung nach Tabelle 5.
Vor allem die ersten zwei Wahlkampfauftritte, jene im Vorfeld der Wahlen zum europäischen Parlament im Mai 2014, weisen sehr hohe Werte von Populismus auf. Sie kommen dem Idealtyp des populistischen Diskurses sehr nah. Während auch die erste Rede vor den Regionalwahlen im Mai 2015 ähnlich populistisch eingeordnet wurde, ist die letzte Rede vor den Regionalwahlen im Mai 2015 weniger populistisch. In ihr lässt sich kaum eine Referenz an einen als homogen verstandenen Volkswillen identifizieren. Auch die zwei Reden vor den nationalen Parlamentswahlen im Dezember 2015 sind vom Idealtyp des populistischen Diskurses entfernt. Insbesondere lässt sich keine Bezugnahme auf eine böse Elite identifizieren, damit einhergehend wird keine aggressive Sprache gegenüber der Opposition verwendet. Die Rede zum Wahlkampfauftakt zu den Neuwahlen zum nationalen Parlament im Juni 2016 sticht besonders heraus, da sie mit Abstand den niedrigsten Wert aller Reden erhält. Vor allem enthält sie keine Referenz an einen einheitlichen Volkswillen und wird daher als kaum populistisch kodiert. Sie enthält jedoch einen moderaten manichäischen Diskurs. Ein Grund für die Abwesenheit von eindeutigen populistischen Elementen in dieser Rede könnte sein, dass sie im Vergleich zu den anderen Wahlkampfreden erheblich kürzer ausfällt. Während die anderen Reden alle zwischen 20 und 30 Minuten lang sind, ist diese Rede lediglich 11 Minuten lang.
Bis zu dieser Rede lässt sich ein Abnehmen des populistischen Gehalts der Reden identifizieren, was für eine Bestätigung der Hypothese sprechen würde. Allerdings erzielt die letzte Rede wieder ein höheren Wert und enthält einen Großteil der populistischen Elemente. Dies widerspricht der Hypothese, die somit nicht belegt werden kann.
6 Diskussion der Ergebnisse
Die Frage, ob Podemos eine populistische Partei ist, konnte diese Arbeit beantworten. So kam sie zu dem Ergebnis, dass die meisten Wahlkampfreden von Pablo Iglesias, dem Generalsekretär und Gesicht der Partei, eine Vielzahl von populistischen Elementen aufweist. Demnach ist Podemos gemäß der hier verwendeten Kriterien eine Partei die einen intensiv populistischen Diskurs verwendet. Allerdings bleiben viele Fragen, die im Zuge der Arbeit aufgetaucht sind unbeantwortet.
So stellt sich beispielsweise die Frage, wie die Zukunft der Partei Podemos aussieht. Die Wahlprognosen vor den Neuwahlen zum nationalen Parlament hatten den sorpasso, die Überflügelung der PSOE vorhergesagt, Podemos wäre dann die stärkste linke Kraft in Spanien geworden. Diese Prognosen stellten sich allerdings als falsch heraus; tatsächlich gewann die PP erneut die Wahlen, während die PSOE die zweitstärkste Kraft wurde. Durch diese relative Wahlniederlage entgegen aller Erwartungen, könnten die parteiinternen Flügelkämpfe wieder aufflammen.
Auch für Spanien stellt sich die Frage, was die Implikationen der Wahlen Ende Juni 2016 sind. Die Zeit des bipartidismo ist in jedem Fall vorbei. Die Kräfteverhältnisse im Parlament haben sich jedoch im Vergleich zu den Wahlen im Dezember kaum verändert. Damals scheiterten die Koalitionsverhandlungen, es konnte keine parlamentarische Mehrheit gefunden werden. Ob dies nun, trotz sehr ähnlicher Stimmenverteilung anders sein wird, werden die nächsten Wochen zeigen.
Auch die Frage, welche Implikationen die Identifizierung von Podemos als populistische Partei hat, bleibt unbeantwortet. Trotz der medialen negativen Verwendung herrscht in der Populismusliteratur Uneinigkeit darüber, wie Populismus zu bewerten sei. Während manche Autoren davon ausgehen, dass Populismus eine Gefahr für die Demokratie darstelle, begreifen ihn andere als Chance, die Demokratie zu erneuern (Mudde/Kaltwasser 2012: 16). Mudde und Kaltwasser kommen zu dem Ergebnis, dass Populismus sowohl Freund als auch Feind der Demokratie ist. Freund, weil Populismus emanzipatorisch wirken und dem Volk eine Stimme geben kann. Feind, weil er keine andere Meinungen neben der Volksmeinung toleriert. Wie genau der Populismus von Podemos auf die Demokratie wirkt, wurde hier nicht untersucht, stellt aber eine interessante Frage dar. Zukünftige Forschung über den Populismus von Podemos könnte auch den Versuch anstellen, Podemos als inclusionary oder exclusionary Populism 101 einzuordnen und mit weiteren neueren populistischen Akteuren in Europa zu vergleichen, die kein eindeutig rechtes neo-populistisches Profil aufweisen102. Eventuell müsste man in Europa den Diskurs über Populismus neu denken. Immer noch dominieren rechte, nationalistische und xenophobe Akteure das Bild vom europäischen Populismus. Auch liegt der Schwerpunkt der Forschung auf solchen Akteuren. Möglicherweise ist diese Sicht überholt und zu eindimensional. Ein differenzierter Blick auf Populismus, vor allem dessen unterschiedliche Erscheinungsformen und seine Beziehung zur Demokratie sind notwendige Forschungsbereiche, die es uns erlauben würden die Konsequenzen von populistischen Akteuren auf Demokratien in Europa und der Welt besser einschätzen zu können.
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1 Übersetzung vom Autor. Sofern nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen vom Autor.
2 Der Sammelband entstand in Folge einer Konferenz mit dem Titel: To define Populism, die Ionescu und Gellner 1967 in Londen an der LSE veranstalteten. Eingeladen waren führende Soziologen, Historiker und Politikwissenschaftler, die zum Begriff des Populismus forschten, und zusammengekommen waren, um Populismus zu definieren (Canovan 1982: 545).
3 Taggart bezeichnet Canovans Buch über Populismus als “the most ambitious attempt to get to grips with populism” (Taggart 2000: 18).
4 In dieser Arbeit wird der Begriff Neo-Populismus für populistische Parteien in Europa ab den 1980er Jahren verwendet, die den Populismus meist mit einer rechten oder rechtsradikalen Ideologie verbinden. Diese Parteien wurden von Betz und Immerfall (1998), Southwell und Lindgren (2013) und Mudde (1996: 231) Neo-populistisch genannt, andere Namen für den Typus sind New-Populism (Taggart 2000), populist radical right parties (prrp) (Mudde 2007) oder xenophobic populism (DeAngelis 2003). Obwohl der Begriff des Neo-Populismus in der Wissenschaft auch für lateinamerikanische populistische Bewegungen verwendet (Knight 1998, Weyland 2003) wird, sind hier nur europäische Phänomene gemeint.
5 Taggart trennt jedoch den US-amerikanischen und russischen Populismus voneinander, und fügt noch zusätzlich einen kanadischen Subtyp hinzu (Taggart 2000: 23). Bei Puhle wird der „klassische“ von einem „neo-populismus“ getrennt, die populistischen Bewegungen in Lateinamerika fallen bei ihm unter die „klassischen“ (Puhle 2003: 27).
6 Eine umfangreiche Aufzählung findet sich bei Puhle. Diese beinhaltet unter anderem den türkischen Kemalismus, die chinesische Kuomintang, die Kongresspartei in Indien, sowie Dekolonialisierungsbewegungen in Afrika wie unter Nkrumah in Ghana und Kenyatta in Kenia (Puhle 2003: 27).
7 In Russland war 1861 die Leibeigenschaft verboten worden. Dies führte jedoch keinesfalls zu einer Verbesserung der Situation der bäuerlichen Bevölkerung, da diese nun eine Kopfsteuer zahlen mussten und den ehemaligen Grossgrundbesitzern das Land, das sie bewirtschafteten, abkaufen mussten. Eine drastische Verarmung der Landbevölkerung war die Folge (Spier 2006: 42)
8 Die narodniki sahen in der bäuerlichen Lebenswelt Russlands ein ideales Zukunftsmodell für das Land. Bekämpft werden sollte damit vor allem der westliche Kapitalismus, jede Form von Imperialismus und der Zar, sowie die gesamt russische Aristokratie (Schmidt 2015: 33)
9 Den Begriff verwendet Puhle (2003: 24), auch Canovan (1982: 551) spricht von „Green movement“
10 Diese Sichtweise wird unter anderem von Kaltwasser (2014: 499) zurückgewiesen, der darauf hinweist, dass nicht-populistische Ideologien, wie beispielsweise Sozialismus oder Neoliberalismus mindestens genauso einflussreich in der politischen Entwicklung des Kontinents waren und sind
11 Siehe Fußnote 4 für weitere Bezeichnungen, die für diesen Typus populistischer Parteien verwendet werden.
12 Mudde und Kaltwasser (2013a) unterscheiden exclusionary populism von inclusionary populism. Sie gehen davon aus, dass bei den neopopulistischen Parteien in Europa ausschließende Formen dominieren und erwarten von dem radikalen Linkspopulismus in Lateinamerika einschließende Aspekte. Sie unterscheiden drei Dimensionen, auf denen die „Populismen“ unterschieden werden können: materielle, politische oder symbolische Dimension.
13 So bemängelt Priester (2011: 186), dass die Kategorien nicht trennscharf genug und manche Typen Einzelfallerscheinungen seien. Taggart (2000: 18) hebt hervor, dass die empirische Anwendbarkeit ungenügend sei. Zudem wurde auch die Frage gestellt, ob die Unterscheidung zwischen agrarischen und politischen Populismen sinnhaft sei: wären denn agrarische Populismen nicht auch politische? (Laclau 2005: 7).
14 In einem späteren Aufsatz spricht er nur noch von fünf Merkmalen. Der sechste Aspekt, der chamäleonhafte Charakter des Populismus taucht nicht mehr als eigenständiges Merkmal auf. Er besagt, dass das Fehlen zentraler INHÄRENTER Werte dazu führe, dass Populismus immer eine andere Form annehme, dass es zwischen radikal-linkem und extrem-rechtem Populismus alle Formen geben könne (Taggart 2004: 275).
15 Taggart verwendet den Begriff wholesome (2000: 3). Der Begriff „rein“ stammt von Mudde (2004: 543), der von pure people spricht, während bei Hawkins (2009: 1042) der Wille des Volkes „gut“ ist.
16 In der umfangreichen Populismusforschung, die sich mit Lateinamerika befasst, werden andere Populismuskonzeptionen unterschieden. Dabei handelt es sich um: strukturelle, wirtschaftliche, politisch-institutionelle sowie diskursive Konzeptionen (Mudde/Kaltwasser 2012: 4, Poblete 2015: 202, Hawkins 2009: 1042). Eine Einordnung in die hier verwendeten Unterscheidungen gelingt nur bedingt. Die s trukturellen und die politisch-institutionellen Variante können der Konzeption von Populismus als politischer Strategie zugeordnet werden. Die wirtschaftliche Variante beschreibt eine bestimmt Wirtschaftspolitik, bei der die Staatsausgaben immens erhöht werden, die jedoch langfristig zu enormen Staatsschulden führt. Da sie sich auf nur wenige Fälle in Lateinamerika bezieht, ist es fragwürdig, diese als allgemeine Populismuskategorie zu verwenden (Mudde/Kaltwasser 2012: 4). Die diskursive Konzeption kann der Ideologievariante weitestgehend gleichgesetzt werden (Kaltwasser 2014: 496, Mudde/Kaltwasser 2012: 9, Hawkins 2009: 1043).
17 Moffitt und Tormey (2014: 386) nennen beispielsweise den Front National unter Jean-Marie und Marine Le Pen, sowie die niederländische Partei für die Freiheit unter Geert Wilders.
18 Obwohl die rechtspopulistischen Parteien in der Überzahl sind, gibt es durchaus linkspopulistische Parteien in Europa. Zu nennen sind vor allem die Scottish Socialist Party, die deutsche Linke, sowie Syriza in Griechenland. Auch Podemos wird oft als linkspopulistisch eingeordnet (March 2015).
19 Diskurs in einem postmodernen und diskurstheoretischen Sinne wie bei Hawkins.
20 Es kann jedoch in der Bevölkerung Minderheiten geben, die nicht in der Volkskonzeption enthalten sind (Woods 2014: 3).
21 Kaltwasser (2012: 265) spricht in diesem Kontext von supply- side und demand-side von Populismus. Die Nachfrageseite, die der Personen, die populistische Parteien wählen, wird nicht betrachtet.
22 So weisen einige europäische populistische Parteien, wie die niederländische Partei für die Freiheit, die italienische Forza Italia, die österreichische FPÖ oder die schweizerische SVP einen starken Organisationsgrad auf (Moffit/Tormey 2014, Albertazzi,McDonnell 2007).
23 In Belgien haben die politischen Parteien die im Parlament vertreten sind das Recht, zehnminütige Sendungen zu produzieren, die auf dem öffentlichen Kanal VRT ausgestrahlt werden.
24 Das Populismuswörterbuch von Pauwels (2011: 119), sowie Rooduijn und Pauwels (2011:1283) beinhaltet Wörter wie korrupt, Politiker, Propaganda, Verrat, Skandal, Wahrheit und undemokratisch.
25 Hawkins et al. (2012: 8) messen beispielsweise die Zustimmung zu folgenden Aussagen:
(1) Politics is ultimately a struggle between good and evil.
(2)The politicians in Congress need to follow the will of the people.
(3)The power of a few special interests prevents our country from making progress. (4)The people, not the politicians, should make the most important policy decisions.
26 Diese sind erstens eine antagonistische Beziehung zwischen sozialer Mehrheit und privilegierter Minderheit, zweitens die Intention dem Volk zu mehr Beteiligung zu verhelfen („construir la democracia“), sowie drittens, das Volk zu einer homogenen Einheit zu formen (Kioupkiolis: 2016: 103).
27 Die konservative Partei UCD (Unión de Centro Democrático) gewann die ersten Wahlen 1979, löste sich jedoch nach dem Wahldebakel bei den Wahlen 1982 auf. Davon profitieren konnte die erheblich konservativere AP (Alianza Popular), die bis 1989 die größte Oppositionspartei zur PSOE war. 1989 fusionierte die AP nach einem Wahldebakel mit einigen kleineren, moderateren konservativen Parteien und benannte sich in PP (Partido Popular) um (Vgl.: Gunther/Montero 2012: 104, Fernandez Garcia 2005: 7).
28 Zum Vergleich: zwischen 1979-1985 lag das durchschnittliche BIP-Wachstum in Spanien bei lediglich 1,4 Prozent (Nohlen/Hildenbrand 2005: 24).
29 Die Wohneigentumsquote in Spanien ist im europäischen Vergleich sehr hoch. So lebten vor der Finanz- und Eurokrise über 80 Prozent der Spanier in ihrer Eigentumswohnung (Haubrich 2010: 3).
30 Im April 2010 hatte Griechenland bei der Troika ein Paket von Finanzhilfen in Höhe von 45 Milliarden Euro beantragt, da aufgrund der Finanzkrise die Staatsschuldenquote stark anstieg.
31 Dellepiane und Hardiman (2012: 11) merken an, dass insbesondere die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel dahingehend Druck auf die spanische Regierung ausgeübt hätte, dass die angestrebten wirtschaftlichen Reformen in Spanien auch eine Rentenreform beinhalten müssten.
32 In Spanien ist es üblich, wichtigen Daten eine solche Kursschreibweise zuzuordnen. 15-M bezieht sich auf den 15. Mai 2011. In dieser Arbeit werden außerdem die Kurzformen 20-D für die Parlamentswahlen am 20. Dezember 2015 sowie 26-J für die Parlamentswahlen am 26. Juni 2016 verwendet.
33 SAREB steht für Sociedad de Gestión de Activos procedentes de la Reestructuración Bancaria. Zu deutsch: Gesellschaft für die Verwaltung von Vermögenswerten aus der Restrukturierung des Bankensystems.
34 Zum Vergleich: Deutschlands Schuldenquote lag im Jahr 2007 bei 63,5 Prozent, der Durchschnitt der Euroländer lag bei 65,1 Prozent (Eurostat 2015a).
35 Neuere Daten als 2014 werden von Eurostat noch nicht zur Verfügung gestellt.
36 Manche der siebzehn autonomen Gemeinschaften in die Spanien politisch gegliedert ist, wünschen sich größere Selbstbestimmungsrechte (allen voran Katalonien, das Baskenland und Galizien). Dieser Konflikt wird zum Teil gewaltsam ausgetragen, wie die militärischen Auseinandersetzungen mit der baskischen Untergrundorganisation ETA zeigen. Zudem kämpfen demokratische Parteien in den jeweiligen Parlamenten dafür, mehr Rechte vom Zentralstaat zu erhalten. Die Territorialfrage soll im Folgenden noch detaillierter behandelt werden.
37 Gürtel ist eine Anspielung auf den Namen des Hauptangeklagten, Correa. Correa ist spanisch für Gürtel. Daher wurden die Ermittlungen der Polizei mit dem Codewort Gürtel versehen.
38 Diese Zahl sank geringfügig auf 83,9 Prozent bei Umfragen des CIS im September/Oktober 2012 (CIS 2012: 15). Danach wurden von der CIS interessanterweise keine Daten mehr zur Einschätzung von Korruption in Spanien erhoben. Laut Eurobarometer „Korruption“, für die Erhebungen im Februar und März 2013 durchgeführt wurden, gaben 84 Prozent der befragten Spanier an, dass Korruption bei politischen Parteien weit verbreitet, und 72 Prozent, dass dies bei Politikern der Fall sei. Die jeweiligen Werte sind die höchsten der gesamten EU-27 (European Commission 2014: 26).
39 Ursprünglich sollte ein reguläres Referendum über die Unabhängigkeit abgehalten werden. Der Verfassungsgerichtshof verbot jedoch das Unabhängigkeitsreferendum. Daraufhin wurde es zu einer unverbindlichen Volksbefragung (consulta) abgemildert (Marti/Cetrá 2016: 108, Zelik 2015: 160).
40 Arnaldo Otegi war im Jahr 2010 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden, da das Gericht es als erwiesen ansah, dass er die verbotene baskische Partei Herri Batasuna neu gründen wollte. Nach seiner Freilassung im März 2016 wurde er vom Wahlbündnis EH Bildu zum Spitzenkandidaten für den Posten des baskischen Ministerpräsidenten bei den Parlamentswahlen im Baskenland im November 2016 gekürt (Gorospe 2016).
41 Im Februar 2013 fing die PAH die als escrache bekannte Aktionsform an, die in Spanien sehr kontrovers diskutiert wurde. Bei escraches werden vor den Wohnorten von Politikern, die für Wohnungsräumungen verantwortlich erachtet werden, öffentliche Demonstrationen vollzogen, die die Form von Pfeifen, Straßentheater, Gesang, Mitteilen von persönlichen Schicksalen via Megafon oder andere, oft symbolische Gesten annehmen kann. Die Idee dahinter besteht darin, einerseits den Entscheidungsträgern die Implikationen von Räumungen zu veranschaulichen und andererseits ein „naming and shaming“ zu betreiben (Flesher Fominaya 2015: 473).
42 Ziel der Gesetzesinitiative war es, einerseits das dación en pago durchzusetzen, also die Tilgung der Schulden durch die Immobilienrücknahme der Bank, und andererseits Räumungen dadurch entgegenzuwirken, dass den Familien auch weiterhin die Nutzung ihrer Wohnung durch Zahlung einer Miete ermöglicht wird (ebd.: 2015: 471).
43 In dieser Arbeit werden die Begriffe „Bewegung des 15-M“ und „ Indignados “ (Die Empörten) synonym verwendet. Dabei leitet sich Indignados von Stephane Hessel’s, ¡Indignaos! (zu Deutsch: Empört-euch) ab, ein Buch, dass in Spanien 2011 lange im oberen Bereich der Bestsellerlisten von non-fiction Büchern zu finden war (Hughes 2011: 410). Wie Delgado Pequeño (2013: 39) in seiner Masterarabeit zeigt, werden die Begriffe oft synonym verwendet, wenngleich er kleinere Unterschiede herausstellt. Konträr hierzu gehen Rendueles und Sola (2015: 33) davon aus, dass das Werk von Hessel wenn überhaupt nur einen marginalen Einfluss auf die Bewegung hatte. Auch hätte diese sich mit dem Term nicht identifiziert. Da in den meisten englisch- und deutschsprachigen Publikationen zur Bewegung aber sehr wohl der Begriff Indignados verwendet wird, wird dies auch hier der Fall sein.
44 So legen die Indignados Wert darauf, dass Mitglieder linker Organisationen zwar an den Platzbesetzungen teilnehmen können, dies aber als Einzelpersonen tun sollen, und nicht als Repräsentant ihrer jeweiligen Organisation (Zelik 2015: 120).
45 Der Unterschied soll hier am Grad der Organisation festgemacht werden. Traditionelle Linke werden mit Parteien gleichgesetzt, während Bewegungslinke als außerparlamentarische Bewegung konzeptionalisiert werden. Während Leggewie (2002: 1055) vor allem in der Antiglobalisierungsbewegung die Bewegungslinke sieht, sollte man in Spanien noch die starke Antifaschistische Bewegung sowie die okupa genannte Hausbesetzerbewegung nennen. Vor allem letztere ist die wohl aktivste in Europa, und gewann durch die Wirtschaftskrise noch an Dynamik und Zuspruch.
46 Barreiro und Sánchez-Cuenca (2012: 289) führen die starke Zunahme an ungültigen oder leer abgegebenen Stimmzetteln bei den Kommunal- und Regionalwahlen vom 22. Mai 2011 auf die Proteste des 15-M zurück. Und Medina (2015: 18) zitiert zwei Studien, die einen Zusammenhang zwischen den Wahlen und den Protesten des 15-M herstellen, wonach Teilnehmer oder Sympathisanten der 15-M mit weniger großer Wahrscheinlichkeit für die PP oder PSOE abgestimmt hätten.
47 Marea bedeutet auf spanisch Flut oder Welle.
48 Im Zuge der Austeritätspolitik wurden Migranten und Flüchtlingen ohne gültigen Aufenthaltsstatus der Zugang zum Gesundheitssystem verwehrt (Zelik 2015: 112).
49 Die Parteiführung von Podemos hatte sich dazu entschieden, nach dem Überraschungserfolg bei den Wahlen zum Europäischen Parlament nicht bei den Kommunalwahlen 2015 anzutreten, sondern sich vollends auf die Parlamentswahlen 2015 zu konzentrieren. Daraufhin gründeten sich im ganzen Land Ganemos Initiativen, die vielerorts auch von Podemos unterstützt wurden. Inhaltlich wollten die Initiativen vor allem einen Machtwechsel bewirken und mit breiten, – oft linken, – Koalitionen die Dominanz der PP und PSOE in den Rathäusern brechen.
50 Unter den 8 Rednern befanden sich unter anderem Politiker der PSOE und der PCE, sowie Professoren der Universität Complutense Madrid. Das Thema der Debatte war: die demokratische Transition in Spanien, Qualität der Demokratie in Spanien, sowie Straffreiheit. Der Titel bezog sich darauf, dass jeder Redebeitrag auf 99 Sekunden beschränkt war. One step beyond ist der Titel einer Ska-Hymne (Rodriguez Suanzes 2015, S.22; La Promotora 2010; Tremlett, Giles 2015). Die Debatte ist vollumfänglich verfügbar unter: https://vimeo.com/album/2145945/video/16529924f.
51 Zitiert aus: Casero-Ripollés et al. 2016: 6.
52 Fort Apache wird für den spanischsprachigen iranischen Staatssender HispanTV produziert. Zelik (2015: 124) führt die auffällig linke Positionierung des Senders darauf zurück, dass die Iranische Regierung versucht, ihre Verbindungen mit den lateinamerikanischen Ländern zu stärken, und einen Gegendiskurs zu der als parteiisch empfundenen Berichterstattung westlicher Medien zu etablieren.
53 Hierbei handelt es sich um private Fernsehanstalten in Spanien.
54 Zu Deutsch: Podemos. Ziel: Sturm auf den Himmel.
55 Modell Syriza soll in diesem Kontext verstanden werden als ein Wahlbündnis, das alle linken Kräfte im Land vereint.
56 Podemos (zu Deutsch: wir können) greift bei der Namenswahl einen der Hauptslogans der Indignados Bewegung auf. Im Mai 2011 hörte man auf den besetzten Plätzen in Spanien den Ruf: „Si, se puede“ (zu Deutsch: Ja, es ist möglich). Dies wurde in Anlehnung daran skandiert, dass der spanischen Jugend unterstellt wurde, sie würde nicht gegen die Austeritätspolitik demonstrieren.
57 Mover Ficha bedeutet in etwa: Stein ziehen; etwa einen Spielstein. Einen „Zug machen“ wäre eine sinngemäße Übersetzung.
58 Vom Autor aus dem spanischen übersetzt nach Izquierda Anticapitalista. 2014. Enlace no. 82. S. 6.
59 Circulos können als Arbeitsgruppen oder Partei-Basisgruppen verstanden werden. Damit sind sie eine Weiterführung der A sambleas der Indignados, die auch nach den Platzräumungen weiter existierten. Circulos können kommunal verankert sein, sich Partikularinteressen widmen oder vor allem virtuell stattfinden (Giles 2015).
60 Carolina Bescansa ist Mitglied von Podemos und Professorin für Methodik an der Universidad Complutense de Madrid. Sie ist somit eines der Gründungsmitglieder und gehörte besagtem Akademikerkreis an. Sie ist „Analyseverantwortliche“ von Podemos (Castro/Pais Beiro 2014).
61 Befürworter dieses Vorschlags waren mit Luis Alegre, Carolina Bescansa, Íñigo Errejón und Juan Carlos Monedero der engste Zirkel um Pablo Iglesias.
62 So ist zum Beispiel Teresa Rodríguez Mitglied von IA, Pablo Echenique und Lola Sánchez jedoch nicht. Diese drei Abgeordneten des EP unterstützten die Liste Sumando Podemos.
63 In Andalusien fanden die Wahlen schon im März 2015 statt und Katalonien wählte im September 2015. Damit fanden außer im Baskenland und Galizien überall bedeutsame Wahlen statt.
64 Übersetzt nach Carvajal 2014b.
65 Schon wenige Tage nach der Europawahl formulierte Pablo Iglesias das Problem, dass die Partei so schnell so stark gewachsen sei, dass die Strukturen der Partei problematisch seien. Abgesehen vom Führungsteam wäre das Personal noch zu unberechenbar. Auch in Anbetracht der Tatsache, dass viele der Personen, die bei Podemos mitwirken davor keine parteipolitischen Erfahrungen sammeln konnten, hatte man wohl Angst, dass die Marke Podemos derart leiden würde, dass die Chancen auf einen Wahlerfolg bei den Parlamentswahlen sinken würde (Rivero 2015: 149).
66 Bei den Wahlen beim Parteigründungskongress in Vistalegre 2014 hatten 54,4 Prozent der registrierten Parteimitglieder gewählt, bei den Vorwahlen im Juli 2015 waren es lediglich 15,2 Prozent der Mitglieder (Carvajal 2015a).
67 Podemos beteiligte sich am Wahlbündnis ICV-EUiA (Bündnis aus der katalanischen grünen Partei, sowie dem Regionalableger der IU in Katalonien), das bereits 2012 zu den Regionalwahlen angetreten war (Carvajal 2015b).
68 Ursprünglich waren vier Fernsehduelle vorgesehen, zu denen die Spitzenkandidaten der vier größten Parteien eingeladen wurden. Bei der ersten Debatte am 27. November 2015 nahm weder Ministerpräsident Mariano Rajoy (PP), noch Pedro Sánchez (PSOE) teil, sondern lediglich Pablo Iglesias (Podemos) und Albert Rivera (Ciudadanos). Bei der zweiten Debatte am 30. November nahmen Iglesias, Sánchez und Rivera teil, der erneut eingeladene Rajoy sagte seine Teilnahme ab. Bei der dritten Debatte, am 7. Dezember 2015, nahm für die PP die Vizepräsidentin Santamaría teil, die drei anderen Parteien entsandten ihre Spitzenkandidaten. Bei der vierten Debatte am 14. Dezember wurden lediglich die Spitzenkandidaten der zwei großen Volksparteien eingeladen. Iglesias „gewann“ sowohl die Debatte am 30. November, als auch die am 7. Dezember. Weshalb Rajoy seine Teilnahme an den Debatten verweigerte bleibt strittig. Einige Kommentatoren spekulierten, dass er Bedenken hatte, gegen die erheblich jüngeren Politiker in den Debatten in Verlegenheit zu kommen. Tatsächlich gehörte er als 60-jähriger einer anderen Politikergeneration an (Rivera ist 36 Jahre alt, Iglesias 37, Sánchez 43) (Urban 2015, Alonso et al. 2015, nuevatribuna.es 2015).
69 Am 22. Januar lehnte Rajoy den Auftrag zur Regierungsbildung ab, da er keine Möglichkeit sah, eine mehrheitsfähige Koalition zu bilden (Peters 2016). Daraufhin übertrug der König den Regierungsauftrag auf Pedro Sánchez, den Vorsitzenden der PSOE. Dieser erzielte mit der Partei Ciudadanos eine Regierungsvereinbarung. Allerdings wäre Sánchez auf die Unterstützung oder mindestens Tolerierung weiterer Parteien angewiesen. Podemos schloss von Anfang an eine Kooperation mit der PP oder Ciudadanos aus (Piña 2016). Bei zwei Wahlgängen Anfang März 2015 konnte Sánchez im Parlament keine Mehrheit erzielen. Weitere Sondierungsgespräche, diesmal unter Einbeziehung von Podemos, fanden statt. Bei einer Mitgliederbefragung zwischen dem 14. und 16. April 2015 sprachen sich 88 Prozent der Podemosmitglieder gegen eine Beteiligung an dem Pakt zwischen PSOE und Ciudadanos aus (Manetto 2016a).
70 equo entstand im Juni 2011 als Fusion aus 35 grünen Gruppierungen. Die Partei erreichte bei den Parlamentswahlen 2011 allerdings keinen Sitz. Bei den Europawahlen 2014 erzielte sie genügend Stimmen um einen Abgeordneten nach Brüssel zu entsenden. Bei den Parlamentswahlen 2015 zogen drei equo Abgeordnete ins Parlament ein, die über Podemos' Listen kandidiert hatten (Ramirez, equo 2015).
71 Kioupkiolis (2016: 113) nennt diese Entwicklungen „Technopopulism“. Die nur lose in der Partei involvierten „follower“ nehmen vor allem online an Entscheidungen teil, und ratifizieren dabei oftmals lediglich die Präferenzen, welche die Parteiführung zuvor mehr oder weniger offen artikuliert.
72 Der Posten des Organisationssekretärs würde im deutschen Parteiensystem dem des Generalsekretärs einer Partei entsprechen.
73 Mariano Rajoy geriet im Herbst 2014 in die Kritik, als sich herausstellte, dass dieser über Nacht 60.000 Twitterfollower hinzugewonnen hatte, die arabischsprachig waren, und keine Aktivitäten auf dem Portal durchführten, außer Rajoys Nachrichten zu retweeten. Twitter löschte diese Bot-Konten zwar, allerdings ist nach wie vor umstritten, wie viele follower von Rajoy existente Nutzer darstellen, und wie groß der Anteil an gefälschten Konten ist (del Barrio 2014b, Mayor 2015).
74 In Spanien ist die Verwendung sozialer Netzwerke sehr viel weiter verbreitet als beispielsweise in Deutschland. Zum Vergleich: Der beliebteste deutsche Bundestagsabgeordnete auf Twitter ist Peter Altmaier. Das CDU Mitglied hat 102.000 Follower auf Twitter, also nicht einmal sechs Prozent der Zahl von Iglesias (Bundestwitter).
75 Titanpad ist ein Computerprogramm, das die gemeinschaftliche Arbeit an einem Dokument vereinfacht.
76 Bei Telegram handelt es sich um einen Instant-Messaging-Dienst, ähnlich wie whatsapp. Telegram verfügt allerdings über fortgeschrittenere Sicherheitsmöglichkeiten, und vor allem die Möglichkeit, Kanäle mit einer unbegrenzten Anzahl an Nutzern zu erstellen (Abc.es 2016).
77 Loomio ist eine digitale Open-source Plattform, die im Umfeld der Occupy - Bewegung entstand. Sie erleichtert Diskussionen zu verschiedenen Themen und hat eine integrierte Abstimmungsfunktion. Loomio soll es erleichtern Konsensentscheidungen zu treffen.
78 Reddit bezeichnet sich selbst als „Frontpage of the Internet“. Die Seite ermöglicht es Nutzern, Inhalte zu erstellen, der dann von Anderen bewertet und kommentiert werden kann. Die subreddits sind Unterforen, die zu den unterschiedlichsten Themen existieren. Vor allem junge Leute benutzen reddit.
79 Miguel Urban und Teresa Rodríguez sind Gründungsmitglieder von Podemos, und entstammen Izquierda Anticapitalista.
80 Nach einer Überprüfung würde die Zahlung „nicht rechtmäßiger Schulden“ ausgesetzt.
81 Nach dem schwachen Wahlergebnis bei den katalanischen Regionalwahlen im September 2015 (siehe 2.3.2.1), entschied sich das Bündnis von Si que es pot mit der Bürgermeisterin von Barcelona und PAH Vorsitzenden, Ada Colau, zusammen zu arbeiten. Also gründeten Podemos, ICV-EUiA sowie Barcelona en Comú gemeinsam mit equo das Wahlbündnis En Comú Podem.
82 Errejón sieht in einer klaren Verortung von Podemos am linken Rand des Parteienspektrums ein großes Problem. So sagt er, dass bei einem Versuch „die politische Linke zusammenzuwerfen“ und daraufhin das Tortenstück zu akzeptieren, das bei einer Wahlgrafik entstehen würde, vielleicht sechs Prozent zusammenkämen (Martínez-Bascuñán 2016).
83 Dies darf jedoch nicht so verstanden werden, dass Podemos eine Partei der Mitte sein möchte. Sich zentral zu positionieren bedeutet vielmehr, den politischen Diskurs im Land zu bestimmen. Alle anderen Akteure müssen sich dann um den von Podemos etablierten Diskurs orientieren (Iglesias 2015a).
84 Diese Entscheidung sorgte für heftige Kritik und wurde dahingehend gedeutet, dass die Parteiführung um Iglesias den Einfluss von IA möglichst gering halten wollte (Sanz 2014b).
85 Der Druck auf Monedero wuchs, da die Regionalwahlen kurz bevorstanden. Die Errejónisten waren besorgt, dass die „Marke Podemos“ durch zu linke Positionen, sowie negative mediale Berichterstattung beschädigt, und man bei den Wahlen schlechter abschneiden würde. Errejón sagte über Monedero: „Mit ihm [innerhalb der Partei] war es schwierig, die Mittelschicht zu erreichen“ (Negre 2015).
86 Luis Alegre ist Generalsekretär von Podemos-Madrid und gilt als enger Vertrauter von Pablo Iglesias.
87 Die Anticapitalistas hatten zuvor gefordert, dass Iglesias die Gespräche mit PSOE und Ciudadanos ins Leere laufen lassen solle und somit Neuwahlen ermögliche (Manetto 2016d).
88 Im Original: Malas noticias para los que buscan excusas para la gran coalición de la restauración: con @Pablo_Iglesias_, hombro con hombro. (Errejón 2016b) [Übersetzung des Autors].
89 Im Original: Hay algo que nunca nos perdonarán @iErrejón : no ser como ellos. Es un honor ser secretario general con vosotros a mi lado compañero. (Iglesias 2016b) [Übersetzung des Autors].
90 Nach Recuero López (2015: 126) sind die Spanier, die als politische „Aktivisten“ gelten mit einer Wahrscheinlichkeit von 22.7 Prozent eher Wähler von Podemos, als diejenigen, die keine politischen „Aktivisten“ sind.
91 Recuero López (ebd.: 126) schreibt, dass Wähler, die Korruption oder die politische Klasse als eines der größten Probleme in Spanien sehen, mit einer 18,1 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit Podemos wählen, als Bürger die dies nicht als die Hauptprobleme sehen.
92 Diese Überzeugungen sind nach Recuero López (ebd: 126) eindeutig relevant dafür, dass Jemand Podemos wählt. So wählen Spanier, die sich selbst als links einstufen und zusätzlich der Meinung sind, dass mehr Dezentralisierung in Spanien erwünscht ist, mit einer 61,5 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit Podemos, als solche Spanier die diese politischen Überzeugungen nicht teilen.
93 Nach Recuero López sind insbesondere die sozioökonomischen Faktoren relevant (2015: 126). So sind Junge, Arbeitslose und Nicht-religiöse mit einer 72,1 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit Wähler von Podemos als Alte, Erwerbstätige, die zudem einer Religion angehören. (Bei der Erhebung, auf die sich Recuero López bezieht, gaben über 70 Prozent der Spanier an, entweder katholisch zu sein, oder einer anderen Religion anzugehören (CIS 2014: 24).
94 Die Referenzreden stammen von Robert Mugabe (Statement on the occasion of the World Summit on Sustainable Development in Johannesburg, 2.9.2002) Kategorie 2, Evo Morales (I believe only in the power of the people, 2003) Kategorie 2 Tony Blair (Speech on the European Bank for Reconstruction and Development and EU enlargement, vom 19.4.2004) Kategorie 0 Barack Obama (President Obama’s State of the Union address, vom 24.1.2012) Kategorie 0/1 Sarah Palin (Sarah Palin Speaks at Tea Party Convention, vom 6.2.2010) Kategorie 1/2. George Bush (Address of the President to the joint session of Congress, vom 20.9.2001) Kategorie 0, und sind übernommen von Hawkins/Kocijan (2013). Die Referenzreden sind auf dem externen Datenträger vorhanden.
95 Eine detaillierte Beschreibung geben Hawkins und Kocijan (2013).
96 Trotz intensiver Kontaktversuche auf unterschiedlichen Wegen antwortete weder die Partei (Email, Facebook, Website) noch das Team von Pablo Igelsias (Email, Facebook, Website). Auch Versuche, über persönliche Beziehungen mit geeigneten Personen in Kontakt zu treten scheiterten.
97 Videos haben gegenüber der Analyse von schriftlichen Reden auch Vorteile. So erlauben sie bei der Analyse die Berücksichtigung von Gesten, Mimik und Intonation. Die Videos sind auf dem externen Datenträger vorhanden.
98 Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass Pauwels (2011: 102) die Methode kritisiert, weil in Einzelfällen niederige Intercoder-Reliabilitätswerte gemessen wurden.
99 Im ursprünglichen Untersuchungsdesign untersucht Hawkins vier unterschiedliche Arten von politischen Reden: Reden von Staatsoberhäuptern in einem internationalen Kontext; Reden im Kontext einer Einweihung („Ribbon-cutting speech“), Wahlkampfreden sowie berühmte Reden (etwa Neujahrsansprachen). Wahlkampfreden waren in erheblichen Ausmaß populistischer als die anderen Arten von Reden (Poblete 2015: 217).
100 Beispielsweise Manuel Manchado (Dichter) und Carlos Cano (Sänger) Rede #2, Miguel Hernandez (Dichter) Rede #3, Marcos Ana (Dichter) Rede #8.
101 Vergleich Fußnote 12.
102 So haben beispielsweise Stavrakis (2015) und Aslanidis und Kaltwasser (2016) den Populismus von Syriza als inclusionary eingeordnet.
- Arbeit zitieren
- Jonas Levi (Autor:in), 2016, "Empty heart" of Podemos? Eine Untersuchung des Populismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/504531
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