Was soll man noch glauben und warum?, so ließe sich eine populäre Einleitung formulieren, die aber ihrem Gegenstand gar nicht gerecht wird. Hier wird vielmehr der mühsame Versuch unternommen, zu erklären, warum Wissen um vermeintliche Fakten und eine damit verbundene Opposition stets unter großem Vorbehalt zu betrachten sind. Hier entsteht, was Theodor Geiger bereits früh als "Stimmungsdemokratie" bezeichnete: Eine Gesellschaft, die längst von keinem einheitlichen Milieu mehr repräsentiert wird und in der jeder beansprucht, sein Recht und seine Position zuerkannt zu bekommen. Im Folgenden versuchen die Artikel daher zu erläutern, warum rein mechanistische Vorstellungen von Gut und Böse und ihren jeweiligen Feindbildern kein guter Ratgeber sind.
Insbesondere die aktuelle Diskussion und das zyklisch wiederkehrende Schlagwort der Fake News und der Lügenpresse vermitteln regelmäßig den Eindruck, dass erstens früher - wann auch immer das genau war und was damit überhaupt bezeichnet werden soll - alles besser war, dass zweitens immer irgendjemand irgendetwas steuert, und drittens, dass sich jeder beliebige Akteur beliebig seine eigene Wahrheit mit absoluter Geltung schaffen und sie massiv verteidigen kann. An solche "Wahrheiten" kann man dann glauben oder sie eben gänzlich in Zweifel ziehen und diskreditieren.
Inhaltsverzeichnis
Uwe Lammers
Einleitung.
Uwe Lammers
Über Teufel, Dämonen und die Krise der Soziologie.
Jan Tobias Fuhrmann
Von Epoche zu Epoche.
Ein Theoriefragment zur Inflation der Epochenwenden in der soziologischen Begriffsbildung.
Rainer Volkmann
Sozialtheoretische Analysen eines Paradigmenwechsels der Wirtschaftspolitik. Welche Lehren kann die Sozialökonomie daraus ziehen?
Alperen Atik
Lies, Denial and Silence:
The Making of the New Turkey’s Public.
Lars Clausen
Negation of insides. The form of consulting.
Werner Goldschmidt †
Prekarität ist überall.
Zur politischen Soziologie der Prekarität.
Keywords
Dialektik der Aufklärung, Erkenntnistheorie, Kritikkontroverse, Legitimationskrise, Wissenschaftstheorie
Zu den Autoren
Alperen Atik is a graduate of Ankara University Political Science Faculty and PhD candidate in the Uni- versity of Flensburg. His forthcoming research focuses on direct democratic experiments and forums during Turkey's Gezi protests.
Lars Clausen, UCL University College Denmark und Europa-Universität Flensburg. Seine Schwerpunkte sind die Themenbereiche Systemtheorie, Bildung, Management und Beratung. Zuletzt erschienen ist ein Aufsatz zum Thema Beratungsresistenz bei Aarhus University Press.
Jan Tobias Fuhrmann, M.A., ist Soziologe. Seine Schriften bewegen sich zwischen soziologischer Sys- temtheorie und Poststrukturalismus. Aktuell erscheint im Passagen-Verlag von ihm der Titel „ Postfun- damentale Systemtheorie “.
Werner Goldschmidt †, Prof. Dr. phil., ehemals Professor für Politische Soziologie an der früheren Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik, HWP.
Uwe Lammers, Dr. rer. pol. ist Sozialökonom und Soziologe mit den Schwerpunkten Mensch und Ar- beit, Arbeitsmarkt und Beschäftigung, Staat und Gesellschaft.
Rainer Volkmann, Dr. rer. pol. ist Volkswirt und Hochschullehrer der früheren Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik, HWP, im Ruhestand.
Einleitung
„Gilt nur das, was Du verstehst?“
Aus: Da, Da, Da von Trio, 1982
Uwe Lammers
Mit diesem Buch wird der durchaus kühne Versuch unternommen, die gegenwärtige Legitimations- krise der Wissenschaften1 ein wenig aufzulösen. Das ist erstens mühsam, weil die Schlagworte und ihre Postulate genauso oft wiederkehren, wie sie regelmäßig widerlegt werden. Man bleibt also regelmäßig nur an der Oberfläche und im Austausch bekannter Argumente stehen. Zweitens ist dieser Versuch im Grunde aber auch redundant, weil diejenigen, die immer alles anzweifeln oder je nach Gusto glauben, solche Bücher ohnehin nicht lesen oder ihnen eben im Zweifel nicht glauben. Es gilt das Bonmot der Bücher, die man nicht braucht, weil man sie nicht versteht, und wenn man sie versteht, braucht man sie längst schon nicht mehr. Insofern ist dieses Unterfangen tatsächlich reichlich waghalsig. Dennoch lässt sich eine gewisse Inflation moralischer, ideologischer und politischer Empörung und entsprechen- der Skandalisierung auch in verschiedenen Feldern der Wissenschaften selbst konstatieren. Das gilt besonders, aber nicht ausschließlich für die Soziologie, die sich so dem Vorwurf ausgesetzt sieht, ihren eigenen jeweils beanspruchten Gegenstand gar nicht hinreichend verstanden zu haben und stattdes- sen mitunter zu politisieren. Vielmehr etabliert sich mehr und mehr ein Rollback, eine Art und Form der Kritik als Modus Operandi, die sich verdächtig nah am Krieg aller gegen alle (Hobbes 1651) bewegt. Jedes Individuum und jede Gruppe beansprucht so nahezu mit der jeweiligen Position Recht zu haben und folglich auch zuerkannt zu bekommen. Die Folge der entsprechenden Abweichung ist die Etablie- rung der Vokabel vom Staatsversagen, das als Analogie auf alle anderen Systeme und Funktionen über- tragen wird: Marktversagen, Demokratieversagen, Politikversagen etc. pp. Irgendjemand und irgen- detwas muss hier folglich versagt haben und persönlich die Schuld tragen. Das hatte Theodor Geiger schon 1950 mit dem Schlagwort der Stimmungsdemokratie 2 beschrieben, wie sie auch die Teilnehmer des Lippmann-Kolloquiums 1938 (Reinhoudt und Audier 2019) einst beklagten. Im Ergebnis sind die Grenzen zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen und verschiedenen Milieus nahezu verflüssigt, wenn auch die Teilgebiete weiterhin ihre systemischen Grenzen aufrechterhalten. Eine saubere Trenn- linie zwischen Empörung, Wissenschaft, Politik, Journalismus und spezifischen Interessen und persön- lichen Meinungen lässt sich aber kaum noch ziehen, da mehr oder minder alles stets den Anschein einer diffusen Wissenschaftlichkeit - oder besser: Rationalität - vermittelt, die am Ende mit Wissen- schaftlichkeit gleichgesetzt oder sogar verwechselt wird. Mitunter werden hier auch Mikro- und
Makroperspektiven gleichgesetzt oder verwechselt und der gesamte Diskurs gerät völlig durcheinan- der und wird inkonsistent. Der beliebte Verweis auf den Werturteilsstreit (Max Weber) und die Or- well´sche Gedankenpolizei zur Kontrolle und Einhaltung des Werturteils (Soeffner mit Leopold von Wiese) gerät hier mächtig unter Druck; das wusste Max Weber selbst schon zeitlebens und stritt oft hitzig mit anderen Kollegen. Insbesondere aber die aktuelle Diskussion und das zyklisch wiederkeh- rende Schlagwort der Fake News und der Lügenpresse3 vermitteln regelmäßig den Eindruck, dass ers- tens früher - wann auch immer das genau war und was damit überhaupt bezeichnet werden soll - alles besser war, dass zweitens immer irgendjemand irgendetwas steuert, und drittens, dass sich jeder be- liebige Akteur beliebig seine eigene Wahrheit mit absoluter Geltung schaffen und sie massiv verteidi- gen kann. An solche „ Wahrheiten “ kann man dann glauben oder sie eben gänzlich in Zweifel ziehen und diskreditieren. Damit ist schon der Grundkonflikt der Moderne umrissen, wie sie ab dem 14. Jahr- hundert mit der Unterscheidung der via antiqua von der via moderna und im Streit um absolutistische vs. relationale Weltbilder entsteht und sich bis heute sukzessive fortentwickelt. Hier beginnen auch der klassische Humanismus, die Aufklärung und der Liberalismus mit dem Versuch, alte Gewissheiten in Frage zu stellen und gänzlich neue Formen wie Erklärungen gesellschaftlichen Zusammenlebens zu entwickeln, für die hier leider der Raum fehlt. Solche Versuche geraten dennoch permanent in Gefahr, sich in zahllose unauflösbare Widersprüche und philosophische oder ganz pragmatische Dilemmata des Alltags zu verstricken. Das Ergebnis sind apostrophierte Krisen, die aber in ihrer Abweichung eher den Normalfall beschreiben als eine entsprechende Pathologie. Denn die reine Lehre eines beliebigen Gegenstands und seiner Position lässt sich in der alltäglichen Praxis oft nur schwer bis eher gar nicht umsetzen. Genau das bezeichnet auch das populäre Spannungsfeld von Theorie und Praxis als Titel und Thema dieses Buches. Das ist zwar vorerst nur eine Binse, aber umso komplexer wird dann die Erklärung, woran es denn scheitert - und woran der Erklärende samt Publikum scheitert. Damit schlägt zu jeder Epoche die Stunde der Verschwörungstheorien und ihrer apokalyptischen Reiter, da sich dann letztlich gar nichts mehr wider- oder belegen lässt, was im Zuge populärer wie scheinrationaler All- tagsprovenienzen behauptet wird. Stattdessen wird munter behauptet, geglaubt und diskutiert - nicht nur am Stammtisch; zumal die Rollen der üblichen Verdächtigen ohnehin und auf allen Seiten weit vorher klar verteilt sind.
Das wäre nun alles weniger bedeutsam, wenn sich dieser moderne Zweifel nicht sogar bis in die Wis- senschaften selbst weiterentwickeln würde, die nicht zuletzt im Rahmen der Hochschulreformen („ Bo- logna “) nach Anschlussfähigkeiten - ergo: Praxisrelevanz – suchen und ihren angestammten Elfenbein- turm verlassen (müssen oder sollen). Dieser wissenschaftliche Zweifel lässt sich aber im Gegensatz zur Verschwörungstheorie relativ gut belegen und qualifiziert erklären, wie es die Autoren hier im Folgen- den versuchen. Denn Sinn (sic!) und Zweck moderner empirischer Wissenschaft ist es geradezu, zu präzisieren, zu argumentieren, permanent zu zweifeln und dennoch zu belegen, aber gleichwohl ob- jektive Grundsätze zu formulieren. Genau damit unterliegt jegliche Form der Wissenschaft der Verän- derung aus sich selbst heraus. Sie grenzt sich zwar massiv gegen Laiendeutungen ab, verschwimmt aber zusehends zwischen diesen Grenzen und den verschiedenen Disziplinen. Was etwa noch Politik und schon Ökonomie oder gar Politische Ökonomie, Politische Wissenschaft, Politische Soziologie oder eben „nur“ Machtkampf von Intellektuellen, Weisen, Experten, Lobbyisten und Fachleuten oder eben interessierten Laien und veröffentlichte Meinung ist, können diese selbst kaum noch exakt abgrenzen. Medial, das heißt: über semipolitische Talkshows und sonstige Medien und Formate vermittelt, setzt sich diese Kakophonie selbstgenerierter Schlagworte nur fort, die wiederum über den Applaus, Klicks und Quoten jeweils einen reichlich ungenauen Parameter der eigenen Aufmerksamkeitsökonomie er- hält.
Die Frage, ob das Recht nun - trotz oder gerade aufgrund der Gewaltenteilung - beispielsweise politisch ist, ob es daher individualisiert und entkollektiviert wird oder eben nicht, lässt sich zumindest staats- theoretisch ebenfalls nur schwer trennen, beantworten und dem begegnen, wie dem Vorwurf und der Frage danach, wie politisch Wissenschaft oder wie sehr Politik von Wissenschaft selbst geleitet ist res- pektive wird, oder ob sie diese nur als Vehikel der eigenen Argumentation benutzt. Das hat hier aller- dings nichts mit dem virulenten Vorwurf zu tun, bestimmte Interessen oder Personen und Organe wür- den hier absichtlich etwas steuern, nur weil bestimmten Prozessen bestimmte Logiken zugrunde lie- gen. Oder wie es Rainer Volkmann hier ausdrückt: „ Wozu noch Soziologen, wenn die Ökonomen ihnen die Resultate kostenlos als externe Effekte liefern – und umgekehrt? “ Damit einher geht die (fast un- lösbare) Frage nach der Ökonomisierung der Politik und einer (Ent- oder Re-)Politisierung sowohl der breiten Öffentlichkeit als auch der Ökonomie und der Individuen (Priddat 2016).4 Ergänzt wird das frei- lich um die These des Strukturwandels der Öffentlichkeit (Habermas), nach der eben seit Jahrhunder- ten das Private immer mehr in den Fokus der Öffentlichkeit rückt, während das Öffentliche selbst im- mer mehr ins Private verlagert wird. Und das gilt keineswegs nur unter dem Primat ökonomischer Ei- gentumsformen („ Enteignung “), sondern gilt universal.
Dennoch vermittelt Wissenschaft (nicht nur) für Laien damit den Eindruck starrer Dogmen und einer mechanischen Totalität („ wenn, dann “), die sie gar nicht einlösen kann und will.5 Gerade mit dem wis- senschaftlichen Verweis auf eine Dialektik doppelter Perspektiven (dazu Rainer Volkmann hier im Buch) eröffnet sie dennoch fortwährend Raum für Spekulationen und dreht sich gewissermaßen im hermeneutischen Kreis konkurrierender Deutungen und Deutungshoheiten, die dann oft als „ Herr- schaftswissen “ bürgerlicher Eliten und letztlich als „ Klassenkampf “ diskreditiert werden (Stichwort: Neoliberalismus). Dabei ist die Erklärung sehr vielschichtig und lässt sich eben nicht mit wenigen Stich- worten und schnellen Antworten darlegen, auch wenn es immer so bequem ergo: vordergründig plau- sibel ist. Genau das begründet den methodologischen Individualismus mit seinen reizvollen wie zahl- eichen Angeboten, der auch vor den Wissenschaften und anderen Teilsystemen selbst nicht Halt macht. Das kann man als Zeitgeist bezeichnen, oder man kann die Bedingungen eines solchen Handelns näher untersuchen. Dennoch verbietet sich die Ableitung simpler Gesetzmäßigkeiten oder schlichter mechanischer Kausalitäten samt Antizipation aufgrund von beliebigen und zufälligen Korrelationen und Phänomenen. Denn vordergründige oder rein nominale Effekte und Ursachen bilden nie die ge- samte Realität als solche ab. Anders formuliert bewegt man sich mit solcher Logik wieder im Mittelal- ter, als man Menschen der Hexerei oder Ketzerei im Bund mit dem Teufel beschuldigte, weil in ihrer Gegenwart die Milch sauer wurde und vieles andere mehr.
Insbesondere erprobte Begriffe vermitteln aber nun in der Gegenwart stets den Eindruck einer hohen Eindeutigkeit und Plausibilität. Sie stehen aber dennoch permanent in einem oder sogar mehreren Kontexten, aus denen heraus sie erst in ihrer doppelten Bedeutung: „ Sinn machen “. Löst man sie aus ihren Kontexten heraus, entsteht ein gänzlich neues Eigenleben, das mit dem Ursprung des Wortes kaum noch eine nähere Bedeutung aufweist, das sich sogar ins Gegenteil umkehrt und den Sinn völlig entstellt, bis der gesamte Diskurs reichlich hilflos wird und intellektuell in sich zusammenfällt. Beispiele sind etwa inflationäre Begriffe wie Kapitalismus, Postmoderne, Nachhaltigkeit oder eines Paradigmen- wechsels, der sich angeblich vollzieht, den man allerdings kaum adäquat zu fassen bekommt, und der meist daher nicht viel mehr bleibt, als nur ein mystisches Gespenst, und der dann nur noch ein Platz- halter für etwas reichlich Diffuses bleibt, eben weil man es nicht adäquat beschreiben oder gar analy- sieren kann. Was hier deutlich fehlt, ist eine neue Makroperspektive, die sich von der Attraktivität des methodologischen Individualismus in Union mit politischer Rhetorik löst und diese quasi auflöst. Damit wird keineswegs behauptet, dass sich die Verhältnisse seitens der Akteure nicht ändern und ändern lassen – ganz im Gegenteil!6 Offen ist aber in solch einer personifizierten wie simplifizierenden Deu- tung, wer hier letztlich Trägerschicht, Akteur, Adressat und treibende Kraft sowie Gewinner und Ver- lierer ist und war, und ob man als Kritiker bestimmter Verhältnisse nicht sogar selbst zu den Profiteuren gehört. Das spielt hier gleich bei drei Texten eine Rolle, sie sich im Kern sehr ähnlich sind (Fuhrmann, Volkmann und Goldschmidt).
Im Folgenden wird daher versucht, die Gründe und Erläuterungen einer solch diffusen Heteronomie zu liefern. Diese lassen sich nicht nur historisch rekonstruieren, sondern ausdrücklich liegen die Stärken der Erklärungen hier in der inter- und transdisziplinären ergo sozialtheoretischen Herangehensweise dieses Buches. Hier sind daher bewusst Ökonomen ebenso versammelt wie Soziologen, Philosophen und Politologen. Ich möchte mich als Herausgeber bei allen diesen sehr engagierten Autoren ausdrück- lich bedanken. Entstanden ist diese Idee im Rahmen unseres Promotionskolloquiums an der Europa- Universität Flensburg unter der Leitung von Hauke Brunkhorst und aufgrund der ‚ Kritikkontroverse ‘ von Georg Vobruba im Organ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), der ‚ Soziologie ‘ (2/2017). Gerne hätten wir noch mehr Beiträge und eine breitere Diskussion ausgelöst. Insbesondere zum Bereich der Open bzw. Citizen Science7 wäre ein Beitrag wünschenswert gewesen. Zugleich wird solch ein Buch vermutlich nie ganz abgeschlossen sein, weil es hier permanent Überschneidungen zu anderen Gebieten und neuen Fragen gibt. Dennoch kann sich dieses Ergebnis absolut sehen lassen, da sich hier zum einen Nachwuchsautoren und relativ etablierte Autoren versammeln; zum anderen zei- gen diese Beiträge hier, dass noch immer viele Fragen insbesondere in der Wissenschaft selbst relativ unbearbeitet oder unbeachtet geblieben sind. Exemplarisch sei hier nur auf die Krise der Soziologie selbst verwiesen, die ihr seit Jahrzehnten anhängt, und auf die Frage, was überhaupt der Begriff und Gegenstand der Sozialökonomie sein soll (Volkmann). Die Antwort fällt schon innerhalb der Disziplin selbst sehr heterogen und nicht minder diffus aus. Rainer Volkmann geht daher der Frage nach, ob und wie sich Begriff und Gegenstand der Sozialökonomie überhaupt adäquat begründen lassen, oder ob es sich nicht vielmehr um additive, kumulative, rivalisierende oder symbiotische Formen zwei völlig ver- schiedener Disziplinen, der Soziologie und der Volkswirtschaftslehre, handelt. Naturgemäß bleibt diese Diskussion nicht widerspruchsfrei. Zwar lässt sich der Gegenstand der Sozialökonomie seiner Meinung nach deutlich als Kritik an den Verhältnissen charakterisieren; dennoch steht sie damit erstens vor dem Problem, dass sie selbst Teil der Realität ist, die sie dergestalt beanstandet. Zweitens geht damit das Dilemma einher, dass derjenige, der Kritik übt und Fragen stellt, schon vorab sehr gut informiert sein muss, um sich nicht selbst dem professionellen Dilettantismus preiszugeben. So macht sich Volkmann dann auch für ein stärkere Theoretisierung stark, um nicht nur an vordergründigen Phänomenen ste- hen zu bleiben.
Zunächst folgt daher eine erste Annäherung an jenes sperrige Verhältnis von Theorie und Praxis. Daran schließt die Frage nach der vielzitierten Krise der Soziologie an, die sich allzu oft als bewusst unbe- queme, überlegene und zuweilen politisch klar positionierte, Leit- und/oder Universalwissenschaft ver- steht – und damit grandios scheitert (Lammers). Diese Form der Einführung führt zur Inflation der Epo- chenwenden in der soziologischen Begriffsbildung bei Jan T. Fuhrmann. Ihm gebührt hier außeror- dentlich große Anerkennung für seine sehr detaillierte, elaborierte wie systemtheoretische Auseinan- dersetzung mit dem Gegenstand. Dennoch bleibt auch er keinesfalls nur an der bekannten Oberfläche stehen, indem er nur etwa die populären Autoren zitiert und abheftet, sondern ihm gelingt tatsächlich eine tiefergehende Analyse. Das ist für solche Aufsatzformate doch eher selten. Er setzt sich so ähnlich wie Volkmann mit den Inkonsistenzen soziologischer Theoriebildung auseinander. Deutlich wird das in seinem Satz, dass sie sich eben nicht, wie oft postuliert wird, endlos selbst beobachten kann um neue Erkenntnisse zu generieren oder sich selbst gänzlich zu hinterfragen, da das im Prozess der Beobach- tung gar nicht vorgesehen ist. Die Analyse der Soziologie (im doppelten Sinne!) scheitert quasi schon an sich selbst im Blick von innen nach außen und umgekehrt. Das heißt, eine entsprechende Beschrei- bung und Adressierung der Gesellschaft scheitert schon ganz schlicht daran, dass ihre Erkenntnisse naturgemäß veralten, so die letzte seiner vier Thesen, dass sie über kurz oder lang überholt sind, die Soziologie (in Form ihrer Protagonisten) das aber nur unwillig anerkennt und diesen Befund dann nur wieder in ihrer bekannten Dialektik an „ die Verhältnisse “ zurück delegiert - die im Übrigen auch Sozio- logen selbst erzeugen, reproduzieren und beschreiben. Irgendjemand muss aber die Schuld haben, wenn die Theorie nicht mehr zur Empirie passt und umgekehrt. Das spielt insbesondere dann eine entscheidende Rolle, wenn es um die (doppelte) Positionierung einer derart vulgären Soziologie geht, die sich oft und völlig entgegen ihrer Selbstbeschreibung als nahezu präskriptive und normative (wie leidensvolle) Leit-Wissenschaft versteht. Beispiele lassen sich hier zahllos in der gesamten Geschichte der Soziologie selbst finden, die sich auffällig oft mit dem Marxismus auseinandersetzt, deren Nähe fast schon selbst zum praktizierten Marxismus, zur Ideologie und Dogma wird, das keinen Widerspruch duldet, etwa in der gesamten Arbeits- und Betriebs-, der Industrie- oder Organisationssoziologie und der Politischen Soziologie (s. dazu Goldschmidt hier). Ein Impetus moralischer Empörung, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, findet sich dort auffällig oft – stets garniert mit dem Hinweis auf die Marx´schen Schriften und die Geschichte des Sozialismus. Dass die ominöse Mitte zudem ein reichlich abstraktes wie fiktionales Gebilde ist, lässt sich ebenfalls in der Geschichte der Soziologie selbst able- sen, und das zeigt auch Fuhrmann hier kurz. Selbstverständlich gibt es seit den 1960er Jahren auch kritische Stimmen innerhalb der Soziologie (Krüger 1963), die sich mit diesen Defiziten auseinandersetzten. Denen gelang aber kaum eine breitere Rezeptionsgeschichte oder sie galten sei- tens eines reichlich diffusen linken Mainstreams als enfant terrible, werden in der Regel als (Rechts- )Liberale8 diskreditiert und gar nicht recht ernst genommen. Das gilt sogar, wenn sie inzwischen als Klassiker gelten, wie etwa Max Weber und seine „ tragische Soziologie “ (Breuer 2006).9 Auch die Sozi- ologie ist so permanent eingeklemmt zwischen ihrer eigenen Vergangenheit und Zukunft und jener der Akteure, wie es Hannah Arendt einst der politischen Theorie ins Stammbuch schrieb (Arendt 2015). Dieses Postulat kann aber durchaus auch für die Ökonomie gelten. Oder mit einem Kalauer formuliert: Gestern war heute noch morgen.10
Alperen Atik schließt dann mit seiner Erörterung einer neuen Art der Öffentlichkeit in der Türkei unter Erdogan an. Dass und warum wir eine Vorliebe für attraktive Lügengeschichten haben, erläutert er gekonnt am Paradoxon des Epimenides, auch als „ Lügen- oder Kreter-Paradox “ bekannt: The liar can- not lie! 11 Deutlich wird so das Paradox, dass jeder jeden immer für alles Mögliche verdächtigen und der Lüge beschuldigen12 kann, und das Ganze auch noch äußerst plausibel bleibt und rechtlich abgesi- chert wird – zumindest vordergründig und nach Maßgabe der Akteure, die sich jeden Widerspruch und jegliche Einmischung verbitten. Damit stehen aber auch die legitime Frage und ihre Antwort, wer jetzt überhaupt lügt, auf ziemlich wackeligen Füßen. Denn dass Lügen, Interpretieren und Beugen von Wahrheiten und Realität sowie Unwahrheiten zum Werkzeugkasten der Politik und der Berufspolitiker ganz allgemein gehören, ist keine Sensation. Vielmehr gehören diese Tatbestände zu jeder Gesell- schaftsform seit der frühen Antike dazu. Interessant wird es aber, wenn man wie Atik hier untersucht, wie daraus Strategien werden, die eine ganz neue Realität schaffen. Ob und wie sich diese Erkennt- nisse, hier speziell in der Türkei, übertragen lassen auf andere Länder, ist sicher stets heikel. Das Haupt- argument von Atik bleibt hier aber eine freie und plurale Presse als Spiegel „ihrer“ Gesellschaft, von der man in der Türkei nicht mehr ohne weiteres sprechen kann. Damit einher geht aber auch die Rolle der buchstäblichen silent majority, der schweigenden Mehrheit einer Gesellschaft. Hier wird das Ver- hältnis von Staat und Gesellschaft eben dann doch wieder dialektisch, sie ist auch im Sinne moderner Verfassungstheorien gar nicht anders denkbar. Andernfalls gleitet eine Gesellschaft dann eben auf ih- rer eigenen slippery slope13 in eine selbstgewählte Diktatur. Diese Mahnung richtet sich insbesondere an jene, die - völlig lagerunabhängig - heute in den westlich-liberalen Gesellschaften eine spezifische Form der (Meinungs-)Diktatur der Regierenden entdeckt haben wollen, und nicht bemerken, dass der Vollzug ihrer Ideen und Ideale die reale Diktatur erst ermöglicht und vorhandene Freiheiten schlei- chend vernichtet. Anders formuliert ermöglicht erst die freie Gesellschaft sich über einen wie auch immer empfundenen Zustand lautstark zu beschweren, während eine reale Diktatur solche Debatten im Keim erstickt und die Protagonisten umgehend scharf sanktioniert.
Lars Clausen beschäftigt sich dann mit der Frage, ob Beratung generell den hohen Anspruch erfüllen kann, der stets in sie gesetzt wird und den sie selbst erweckt. Die Antwort ließe sich zwar mitunter relativ schnell formulieren, aber so einfach macht er es sich dann doch nicht, zumal solch eine vor- schnelle Antwort immer reichlich boulevardesk wirkt. Denn hier tauchen schon die erste Frage und der Widerspruch auf, ob es sich überhaupt um rein professorale und wissenschaftliche Dienstleistungen handelt, und ob das dann schon Wissenschaft ist oder eben nicht mehr. Dem schließt sich umgehend die zweite Frage an, ob und inwiefern Wissen damit selbst zur Handelsware wird, wie nicht nur in der postmarxistischen Theorie oft behauptet wird (Stichwort: Wissensgesellschaft).14 Dem Axiom möchte Clausen hier aber nicht folgen und schlägt ganz andere Interpretationen und Perspektiven vor. Diese orientieren sich zunächst an architektonischen Beispielen, etwa an Schloss Versailles, sowie der Philo- sophie und Literatur ganz allgemein („ You are, what we show you to be “). Er nähert sich seinem Thema so zwar als einer Form des fast unmöglichen Brückenschlags zwischen Theorie und Praxis. Zugleich macht auch er sich hier stark für eine neue Theoriebildung zum Paradox der Beratung. Diese leistet zwar stets Externalisierung in eine durch Verträge und Interdependenzen strukturierte Umwelt von Auftraggebern und -nehmern, Firmen, Bildungseinrichtungen, politischen Institutionen (usw.). Gleich- zeitig ist sie aber genau in dem berühmten eisernen Gehäuse (Max Weber) gefangen, das sowohl den Klienten als auch den Beratern selbst hohe wie verbindliche (Rechts-)Sicherheit gibt. Heißt: Allzu viel Reflexion und Abstraktion macht auch hier lebens- und realitätsuntüchtig, zumindest, wenn sie sich in der Realität und im Alltag der Protagonisten in Form der Berater und Klienten und ihrer jeweiligen Umwelt bewähren und nicht zuletzt legitimieren muss. Ganz abgesehen davon, dass sich auch hier in der Beratung das Dilemma doppelter Kontingenz und der Reduktion kognitiver Dissonanz einstellt. Ergo: Was die jeweiligen Rezipienten (Ego und Alter) stets unter einer Aussage verstehen, und glauben, wie sie zu verstehen sei, kann schon mal buchstäblich auf der Strecke bleiben und im Diskurs verloren gehen. Das Missverständnis wäre noch das kleinste Problem. So lässt sich im Ergebnis munter weiter philosophieren und letztlich: beraten über den Sinn von Beratung. Clausen karikiert und analysiert sei- nen Gegenstand damit fast gleichzeitig, was eine hohe Kunst ist und auch für solche Buchbeiträge eher selten.
Werner Goldschmidt widmet sich schließlich ganz in der Tradition der theoretisch-konzeptionellen Be- griffsarbeit der Frage nach einer Einordnung der Prekarität. Damit entsteht ein Gegenstand, der als ursprünglich rein soziologischer Terminus nun zwar enorme Konjunktur hat, den aber darüber hinaus kaum jemand fundiert herleiten kann. Sie wird öffentlich sogar völlig falsch mit dem Begriff der Armut oder sogar der Ungerechtigkeit oder Ungleichheit gleichgesetzt, bei der man ohnehin jeweils schon vorab zu wissen glaubt, wie man diese beheben könne und wer daran nun die persönliche Hauptschuld trägt. Prekarität ist auch nicht identisch mit dem historischen Begriff und Phänomen des Elends („ Pau- perismus “) oder dem sozialphilosophischen Theorem der Entfremdung. Dass aber diese Punkte keines- wegs immer so einfach zu trennen sind, wie man sie auch nicht gleichsetzen kann, dem geht Gold- schmidt hier entsprechend nach und erläutert Ursprung und Entstehung der Debatte. Naturgemäß bleiben hier in seiner Herangehensweise viele Fragen offen, auf die der Autor sichtlich keine Antworten hat, oder die sich hier im Rahmen solch eines Aufsatzes eben nicht abschließend behandeln lassen. Man mag hier auch durchaus seinen Argumenten und zuweilen politischen Positionen widersprechen. Auch die Soziologie selbst ist hier schließlich nicht frei von Fehlern, wie er selbst zeigt. Zum Teil war Werner Goldschmidt mit seiner Arbeit rückblickend selbst nicht ganz zufrieden, kam aber leider selbst nicht mehr dazu diese zu überarbeiten, da er völlig unerwartet darüber verstarb. Denn dieser Text entstand bereits 2010 im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung, wurde zwar seither nie publiziert, hat aber an Aktualität ohnehin nichts eingebüßt. Das soll nun hier posthum geschehen. Da- mit möchte ich mich ausdrücklich bei ihm für all die wundervollen Jahre bedanken, die ich als sein Schüler mit ihm erleben durfte.
Die Intention dieses Buches ist nun keineswegs abschließende oder in sich abgeschlossene Erklärungen und Antworten zu liefern. Dafür ist der beanspruchte Gegenstand der Gesellschaft samt seinen zahllo- sen Wechselwirkungen ohnehin viel zu komplex, und für spezifische Fragestellungen benötigt man je- weils eine eigene anspruchsvolle Arbeit mit hohem Abstraktionsgrad und empirischer Belastbarkeit. Vielmehr ging es hier darum, erste gedankliche Anstöße zu liefern, sich mit den vermeintlich ganz ein- fachen Fragen und Schlagworten näher auseinanderzusetzen. Dass Antworten auf bestimmte Fragen auf der zumeist theoretischen Ebene keineswegs mit der mechanischen Lösung und Umsetzung be- stimmter Sachverhalte des Alltags zu verwechseln sind und umgekehrt, ist nun weder neu noch sehr originell. Was aber allen Autoren hier gemeinsam ist, ist die gelungene Erklärung, dass die Welt eben doch weitaus komplexer ist, als dass man sie mit wenigen mechanischen Handgriffen, Phänomenen oder Positionen und dem bekannten Freund-Feind-Schemata erklären könnte. Problematisch wird es, wenn sich Ideologie und Polemik dazu gesellt, die eine absichtsvolle Sinnhaftigkeit samt entsprechend handelnder Akteure unterstellt. Die hier gewählte Form der Essays war für uns unabdingbar, auch wenn naturgemäß beim Lesen und Schreiben immer wieder neue Fragen entstehen. Wenn es hier im Ergebnis gelungen ist, erste Lücken zu schließen und Interesse zu wecken, ist aber schon viel erreicht im Sinne einer kritischen Sozialwissenschaft.
Literaturverzeichnis
Arendt, Hannah (2015): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Un- ter Mitarbeit von Ursula Ludz. 3. Aufl. München: Piper (Piper, 30174).
Breuer, Stefan (2006): Max Webers tragische Soziologie. Aspekte und Perspektiven. Tübingen: Mohr Siebeck. Online verfügbar unter http://deposit.dnb.de/cgi-bin/dok- serv?id=2773009&prov=M&dok_var=1&dok_ext=htm.
Krüger, Horst (Hg.) (1963): Was ist heute links? Thesen und Theorien zu einer politischen Position. Dt.
Originalausg. München: List (List-Bücher, 241).
Oberreuter, Heinrich (1987): Stimmungsdemokratie. Strömungen im politischen Bewusstsein. Zürich: Ed. Interfrom; Osnabrück; Fromm (Texte + Thesen, 205).
Priddat, Birger P. (2016): Politische Ökonomie: Die oikos-polis-Differenz als prägende Struktur der neuzeitlichen Ökonomie/Politik-Formation. (Arbeitspapier am Lehrstuhl für Volkswirtschaft und Philosophie), November 2016.
Reinhoudt, Jurgen; Audier, Serge (2019): Neoliberalismus. Wie alles anfing: Das Walter Lippmann Col- loquium. 1. Auflage. Hamburg: kursbuch.edition.
Über Teufel, Dämonen und die Krise der Soziologie
Uwe Lammers
„Es ist so schwer, den falschen Weg zu meiden.“
Mephisto in Goethes ‚ Faust ‘
Das Verhältnis von Theorie und Praxis vermittelt nicht zuletzt im akademischen, insbesondere sozial- wissenschaftlichen und politischen1 Alltagsgebrauch oft den Eindruck, diese Pole seien entweder wi- dersprüchlich, gegensätzlich und völlig unvereinbar bis konkurrierend oder sogar ergänzend zu verste- hen. Alles scheint stets gleichzeitig möglich zu sein, so dass sich alle gern an beliebigen Zitaten abar- beiten, um die jeweils eigene Ansicht zu stärken. Allzu oft enden die Kontroversen der Positionen dann damit, dass ihre Unvereinbarkeit zwar wortreich festgestellt, aber nicht mehr hinreichend erklärt oder aufgelöst werden kann. Man stößt gewissermaßen auf die selbsterzeugten Zwänge der Normativität des Faktischen. Oft wird der Diskurs dann zum säkularen Glaubenskrieg. Die Gründe dafür liegen letzt- lich in der Philosophie, wie Hannah Arendt hier zeigte (Arendt 2015: 40).2 „ Grau ist alle Theorie und grün des Lebens gold´ner Baum,“ so etwa der hinterlistige Teufel Mephisto in Goethes Faust, mit sei- nem Appell, sich nicht allzu sehr zu grämen, stattdessen lieber zu handeln und sich dem Leben selbst zuzuwenden. Der früheste Beleg mangelnder Differenzierung im Sinne erkenntnistheoretischer Refle- xion ist vermutlich Platons antikes Höhlengleichnis. An weiteren historischen Zitaten und gegenseiti- gen Referenznahmen herrscht daher gewiss kein Mangel, sondern enorme Konkurrenz (Steinert/Vobruba 2011; Kreide 2016; Scherr 2017; Vobruba 2017; Nassehi 2018; Grunow 2018; Mau/Villa 2018). Und wehe dem, der dann die falschen Götter zitiert (Reitz 2016; Weber 1999; 2006).3 So vergeht derzeit kaum ein Monat, an dem nicht wieder neue gegenseitige Vorwürfe ins Feld geführt werden – inklusive methodologischer Kritik. Gleichzeitig verschwimmt damit aber auch fast unmerklich die Grenze zwischen Theorie und Praxis immer wieder bis zur vollständigen Unkenntlichkeit, als ob es einzig nur den semantisch zähen Morast völlig wertneutraler Handlungen und intellektueller Vertre- tungsansprüche ohne jede Rückbindung gäbe (Weiß 2015), deren Abweichung sich dann aber umso leichter erkennen und von jedermann gnadenlos verurteilen lässt. Theorie und Praxis verschmelzen in dem Falle zwar zu einer idealtypischen Symbiose, zugleich unterschlägt dieses Postulat aber die hohe Wechselseitigkeit und negiert sich damit selbst bis zur Ausweglosigkeit. Und das gilt sowohl für den herkömmlichen Alltagsgebrauch als auch sogar für den wissenschaftlichen Diskurs, die Politik und viele andere Akteure, wie etwa die Medien, denen seit jeher attestiert wird, manipulativen Unsinn zu ver- breiten – nicht erst seit Trumps Begriff der Fake News oder dem Terminus der Lügenpresse der zumeist neurechten (aber auch: linken) Bewegungen. Häufig verläuft die Trennlinie aber dann doch wieder genau zwischen theoretischen und empirischen Fragen und Bezügen, die dann zwangsläufig diffundie- ren (Strübing u.a. 2018). Theorie wird so zwar zur Praxiswissenschaft und Praxis zum Theoriebegriff, wobei die Praxis aber selbst eine hohe theoretische Konzeption normativer oder idealtypischer An- sprüche aufweist (Vobruba 2017): „ Die Unterscheidung von Praxis und Theorie ist eine theoretische Unterscheidung; von ihr aus kann man sehen, dass die Verknüpfung von Theorie und Praxis ein prakti- sches Problem ist.“ (ebd.: 179) Damit steht letztlich die Soziologie selbst vor dem Problem, wie und woher sie eigentlich ihre Anspruchsgrundlage bezieht. Sie zerreibt sich so zwischen allerlei normativen, methodologischen und rein deskriptiven Positionen und weiß infolge dessen nicht so genau, wo sie sich nun verorten soll. Unklar bleibt im Wesentlichen, wie genau diese Dialektik der Aneignung und wechselseitiger Überlieferung verläuft, da die Akteure so vor einer unauflösbaren Vielfalt kritischer Maßstäbe stehen (Strübing u.a. 2018), ohne jede Chance, sich davon mit wissenschaftlichen Mitteln und Methoden jemals systematisch abheben zu können (Vobruba 2017: 180f.). Der fast schon inflati- onäre Verweis auf die liberalen ergo: anti-totalitären Prozesse der Legitimation, Legitimität und Lega- lität sowie politischer Deliberation (Habermas 2014) ist zwar nicht falsch, fängt aber den Konflikt eben gerade nicht ein, sondern beschreibt und überlässt ihn lediglich mit offenem Ende sich selbst im Kampf um entsprechende Mehrheiten. Wahr, richtig und falsch, gut oder schlecht ist, was man jeweils - auch gegen jeglichen Widerspruch - dafür hält und massiv verteidigt. Alles andere wird dann zur normativen Wunschvorstellung, wie Gesellschaft und ihre Akteure jeweils sein und sich verhalten sollten, aber es dennoch nicht sind und tun. Die Akteure haben also gar keine Chance, sich aus dem gegenseitigen Dilemma von Theorie und Praxis jemals zu befreien. Stattdessen mauern sie sich selbst immer tiefer darin ein, je mehr sie sich von ihm emanzipieren wollen. Das hat ernstliche Konsequenzen, wie etwa die Frage danach, was und wer eigentlich jeweils genau Gegenstand, Absender und Adressat der Frage sein soll, und wie man sie dann „ richtig “ beantworten und beurteilen möchte. Man denke etwa an das (keinesfalls neue) Phänomen des Populismus, der in der Politik und ihrem Janusgesicht politischer Rhe- torik seit jeher selbst angelegt ist. Denn letztlich lässt sich mit dem gegenseitigen Rückgriff auf Theorie und die jeweilige Praxis immer alles plausibel und vollkommen konsistent belegen und widerlegen zu- gleich. Wer etwa heute noch und im Gegensatz zum 17. und 18. Jahrhundert beim Mangel an intellek- tuellen Alternativen4 an Vampire, Hexen, Dämonen und den Teufel oder Außerirdische und Reptiloide5 glaubt, die unsere Welt beherrschen, hat auch zweifelsfreie Belege für diese Theorien und ihre tat- sächliche Existenz - samt der Erklärung der eindeutigen Widerlegung durch die etablierten Wissen- schaften und der allgemeinen Diskreditierung solcher Vorstellungen. Wer, wie die aktuelle Bewegung der Flat Earther6 etwa glaubt, dass die Erde tatsächlich eine Scheibe ist, wird ebenfalls zahllose plau- sible Belege dafür finden; angefangen damit, dass die empirische Beobachtung und Untersuchung der Umwelt keinen einzigen einleuchtenden Beleg dafür bietet, dass die Erde eine Kugel ist. Wer aus dem Fenster guckt, die Umgebung abläuft, Länder und Kontinente bereist, wird nur mehr oder minder fla- che Ebenen und Meere vorfinden. Von so etwas wie Schwerkraft ganz zu schweigen, ergo: von so einer Kugel würde man ja herunterfallen und die Meere würden auslaufen! Eine Bestätigung für diese selt- same Annahme der Kugel wird also man so schnell nicht finden. Weltraumbilder, Astronomie, Physik und dergleichen kann man dann getrost als Showeffekte, Illusion und Manipulationen der bekannten US-Traumfabriken abtun, weil ja auch noch niemand von uns jemals im Weltraum war – dessen Exis- tenz irgendwo im Himmel man ohnehin gleichfalls anzweifeln kann. So bleibt diese Erörterung für sol- che Protagonisten nur in der Ebene der Science-Fiction, der billigen Groschenromane und aufwändiger special effects der Filmindustrie und der Regierung, der man ohnehin nicht trauen kann – samt Mond- landung. Wer nun reiche, alte und zuweilen zornige weiße Männer und den bösen Neoliberalismus an die Stelle des Teufels setzt, bei denen historisch belegt ohnehin immer alles anfängt und aufhört, und mit den bekannten Schlagworten der Gegenwart belegt, dem sind der Applaus und die Zustimmung weit über alle Grenzen hinaus tatsächlich sicher. Die Struktur der Begründung ist aber stets dieselbe: Durch überschätzte und mangelhafte Kompetenzen und aufgrund eigener Interpretationen („ Reduk- tion kognitiver Dissonanz “) innerhalb der sozialen Gruppen entsteht eine Logik, die sich kaum noch aufhalten lässt, eben weil sie fortwährend ausreichende Belege findet. Das Gleiche gilt für Impfgegner, Holocaustleugner oder jene, die den Klimawandel verneinen und allen weiteren, die sich allesamt als Verfechter alternativer und umkämpfter Wahrheiten jenseits des Mainstreams generieren. Sie alle übersehen aber, dass ihre etwaigen vorschnellen Antworten und vermeintliche wie vordergründige Erklärungen nicht mit den dazugehörigen Lösungen spezifischer Fragen und umgekehrt zu verwechseln sind. Auf diese Art des ökologischen Fehlschlusses hatte nicht zuletzt Ralf Dahrendorf 1979 schon im Zuge der wirtschaftspolitischen Diskussionen der 1970er Jahre hingewiesen (Dahrendorf 1979: 164). Das war weit zuvor der Ausgangspunkt für den frühen Werturteils-/ und Methodenstreit der Wissen- schaften im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, der keineswegs erst mit Max Weber anfing oder mit ihm gelöst wurde. Diese Debatte wird seither nur mit neuen (oder: gänzlich alten ergo völlig über- holten) Begriffen und Ideen periodisch reaktiviert. Die Gesetzmäßigkeit der Geschichte, die hier allzu oft beansprucht wird, entsteht aber erst in ihrem Nachgang und der kontingenten Interpretation. Ge- schichte selbst ist buchstäblich „ sinnlos “. Das ist eine Binse. Hannah Arendt hatte hier nicht zuletzt darauf hingewiesen, dass unser gesichertes Wissen über die historischen und politischen Fakten des Zweiten Weltkriegs keineswegs in Stein gemeißelt, sondern veränderbar ist. Unweigerlich denkt man sofort an die Fraktion der notorischen Holocaustleugner und an jene, die wie Alexander Gauland und Björn Höcke (beide AfD), von den glorreichen Heldentaten der Wehrmacht und erfolgreicher tausend- jähriger deutscher Geschichte sprechen. Deren Positionen bestehen zwar letztlich aus einer Melange von Unwissenheit, Geschichtsklitterung, methodologischem Individualismus, persönlicher Meinung o- der Nicht-Wissen-Wollen. Problematisch ist, dass sie regelmäßig ausfransen zur Lüge, der Tatsachen- verdrehung und entsprechender Interpretation, romantisierendem Kitsch, Legitimation und politi- schem Kalkül, was aber alles stets wohl begründet auftritt – wenn auch inhaltlich falsch - und mühelos glühende Anhänger findet. Dennoch setzen sich immer wieder neue gesicherte Erkenntnisse durch, was die selbsternannten Mahner und Laien nur in ihrer Rolle bestärkt, nicht alles zu glauben, was dem Mainstream entspricht und der Presse entspringt. Es ist letztlich ein Teufelskreis rivalisierender Deu- tungen.
Die Philosophie spricht hier von der hohen Kunst des Zweifelns auch gegenüber dem Zweifel selbst, was letztlich zur kollektiven wie individuellen Verzweiflung führt (Arendt 2015: 39; 306). Genau dieser Zweifel begründet aber auch die Entstehung und Ausdifferenzierung der modernen empirischen Wissenschaften und ihr Selbstverständnis in Abgrenzung zur Religion und Philosophie und ihren Dog- men und gegenseitigen Konflikten.7 Gleichzeitig erhob sich der moderne Zweifel damit zum Glauben als säkulare Ersatzreligion - und löst ein unauflösbares Paradoxon aus. Darauf hatte nicht zuletzt Fried- rich Tenbruck im Nachwort zu Max Webers Klassiker zur Wissenschaft als Beruf hingewiesen: ‚ Der Glaube an die Wissenschaft ‘ sei es, dem sich der Wissenschaftler dann mit Hingabe und Berufung (We- ber 2006: 56) widmet. Wobei dann umgehend die Frage auftaucht, ob es nur noch der Glaube und die Pflicht an den Glauben zu glauben selbst ist, und damit lediglich der (aussichtlose) „ Kampf der Götter“ stattfindet (ebd.: 33), der hier fortlaufend reproduziert wird, ohne inhaltlich je viel zu klären. Dass We- bers Begriff der Rationalität dagegen ein relativ leeres Konzept bleibt, hatte Wolfgang Schluchter be- reits eingehend diskutiert (Schluchter 1980), so wie auch die Diskussion um Webers Soziologie ohne Gesellschaft (etwa: Hartmann Tyrell), die fortwährend im methodologischen Individualismus stecken- bleibt, ganze Bände füllt. Tatsächlich steht die Wissenschaft selbst damit in einem unauflösbaren Ziel- konflikt, einerseits kein hermetisch abgeschlossenes System sein zu können, es aber gleichzeitig hin- sichtlich ihrer Regelsätze, institutioneller Codes und Verfahren (Sprache, Publikation, Gestus), Ablei- tungen und Methoden sein muss (Nassehi 2018) - so wie aber auch jeder Scharlatan und jede noch so kuriose Sekte letztlich eigenen orthodoxen Regelsätzen und Zeremonien folgen, die keinerlei Abwei- chung erlauben. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass die Wissenschaft im Idealfall des Zweifels sich selbst und ihre Ergebnisse rational hinterfragt und neue Erkenntnisse generiert. Vorausgesetzt ist das aber keineswegs, da die Wissenschaft bei hoher sozialer und funktionaler Schließung generell selbstreferentiell mit geringer Außenwirkung ist (Dickel/Franzen 2015; Scherr 2017). Allerdings entste- hen im Zuge des (sog.) digitalen Wandels durchaus neue Inklusionsmuster, in denen die professionelle Rolle des Wissenschaftlers dekomponiert wird, so Dickel und Franzen hier. Besonders die zunehmende ‚ Digitalisierung und Demokratisierung ‘ 8 ermögliche so neue funktionale Beziehungen zwischen Wis- senschaftlern und Nicht-Wissenschaftlern, deren abschließendes Ergebnis aber noch aussteht (ebd.). Denn der Dilettant, so Max Weber, unterscheidet sich vom Fachmann einzig dadurch, „ dass ihm die feste Sicherheit der Arbeitsmethode fehlt, und dass er daher den Einfall meist nicht in seiner Tragweite nachzukontrollieren und abzuschätzen oder durchzuführen in der Lage ist.“ (Weber 2006: 13) Ob das durch neue funktionale Beziehungen der Laien und Erweiterungen oder institutionelle Kooperationen aufgelöst werden kann, oder sich die Wissenschaft damit selbst ad absurdum führt oder stärkt, eröff- net spannende Diskussionen, die unter dem Schlagworten der Auftragsforschung, der Praxisrelevanz und der Open bzw. Citizen Science subsumiert werden können.
Dagegen wird mit der populären - weniger mit der akademischen - Dialektik von Theorie und Praxis oft die Forderung verbunden, einfach mal ganz praktisch zu denken und zu handeln, anstatt sich immer nur an grauer Theorie abzuarbeiten, oder sich sogar ganz professoral, wie Mephisto in Goethes Faust aufwirft, hinter ihr zu verstecken, um schlimmstenfalls dann handlungsunfähig zu sein: Theore- tisch könnte man ja, aber in der Praxis sieht das dann leider ganz anders aus, nicht zuletzt weil „ die da oben “ in ihrem Elfenbeinturm der Wissenschaft, der Verwaltung und die im Parlament keinerlei Ah- nung vom richtigen Leben und den Sorgen der Bevölkerung haben. Ja, richtig gelesen: Das ist schon der erste intellektuelle Widerspruch der eigenen Logik des Diskurses. Dass das jeweilige Vorhaben den- noch praktisch ganz einfach ist, kann zwar jede sprichwörtliche schwäbische Hausfrau und jeder Dis- kutant an seinem lokalen Stammtisch mit dem Brustton der Überzeugung schnell bestätigen. Regel- mäßig scheitern sie alle aber - wie jeder andere Akteur - dann am Dementi der Tatsachen und den Begründungen konkurrierender Realitäten. Dabei ist es nahezu völlig unerheblich, ob es sich hier um private Individuen oder um die Akteure in gesellschaftlichen Teilsystemen handelt, also um politische Parteien und Politiker aller Lager, um Vertreter aus der Wirtschaft, Presse und Wissenschaft oder sonst woher. Sie alle scheitern regelmäßig daran, dass ihre Meinung oder Haltung und die Interpretation der Sachzusammenhänge auch ganz anders verstanden und permanent angezweifelt werden können, und dass die jeweiligen Bedingungen und Begründungen der Argumente andauernd differieren: Ja, wenn, dann … Wobei genau das ja der nonchalant übersprungene Kern und Sinn einer theoretischen Erörte- rung aufgrund praktischer Annahmen und Erfahrungen ist. Hier liegt gewissermaßen ein weiterer in- tellektueller Stolperdraht, der die ständige Wechselwirkung von Theorie und Praxis fast völlig ignoriert. Einfacher scheint es, stets zurück auf den Anfang zu springen und konkrete Handlungen ohne lange, theoretische Umwege und haarspalterische Diskussionen zu fordern. Im Ergebnis und dem ewigen Misslingen theoretisieren sie dennoch alle fortwährend aufs Neue und finden schnell Schuldige samt Lösung. Und alle Seiten werfen sich gegenseitig vor, irgendetwas nicht oder falsch verstanden zu haben und falsch im Sinne des Publikums zu handeln . Man muss ja nur, so lautet dann der schlichte mecha- nische Imperativ, der sich beliebig mit Inhalten füllen lässt, um dem fortwährenden Dilemma von The- orie und Praxis letztlich schnell entkommen zu wollen, aber es unbemerkt nur zu manifestieren. Denn dabei bemerken die Protagonisten dieser Art von Handlungstheorie nicht, dass sie damit selbst regel- mäßig zum einen neue theoretische Konzeptionen entwerfen, wieder verwerfen oder schlicht fort- während reproduzieren; zum anderen finden sie damit relativ schnell einen Sündenbock innerhalb ih- res Theorems: „ Wenn die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung üble sind, so gilt nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen oder der Wille des Gottes, der sie so schuf “, so schon Max Weber über die bekannte Rechtfertigung des ewigen Misserfolgs politischer Forderungen der Opposition (Weber 1999: 75). Diese These trägt im Übrigen auch Autokratien und Diktaturen. Wenn man nur könnte, wie man wollte und umgekehrt, dann wäre ja fast alles im Handumdrehen gelöst, wenn man nur die Ursachen und Störenfriede findet und per Sanktion beseitigt, die der eigenen Annahme der Handlung entgegenstehen (Heller 2016). Dass solche Axiome aber erst die reale Unterdrückung ermöglichen, wird ebenfalls nonchalant unterschlagen. Diese Denkfigur besteht also fortwährend aus der Annahme, wenn nur die Richtigen an der Macht wären und die richtigen Entscheidungen im Sinne der Rezipienten getroffen würden, dann gäbe es keinerlei sozialen Probleme mehr. Materielle Aspekte wie etwa Lohnerhöhungen, Preisbindungen, Monopole und Umverteilungen (usw.) sollen dann umgehend soziale Probleme lösen, obgleich die makroökonomische Evidenz dafür fehlt, sich geradezu selbst ausschließt und sogar umkehrt (Worswick 1994; Hayek 2014).
So plausibel all diese populären Vorwürfe und Ideen, wie die durchaus berechtigte Art der kau- salen Herleitungen („ wenn, dann “), zu sein scheinen, so reichlich unterkomplex sind sie freilich auch – sowohl im Wissenschaftsdiskurs (exemplarisch: Schwintowski 2014)9, als auch in den pseudo-politi- schen, zuweilen polemischen, Diskussionsrunden des Alltags. Militanten Phantasien gegenüber war auch bereits Max Weber inmitten der Kämpfe der November-Revolution 1918 reichlich skeptisch, da sie keinerlei grundsätzliche Änderung am hinreichend geschulten und notwendigen Fachbeamtentum eines Staates herbeiführen können (Weber 1999: 36). Außerdem vernachlässigen solche kämpferi- schen Perspektiven - neben den allgemeinen Grundlagen der Verfassungstheorie und dem Wesen ei- ner Demokratie - die hohe dynamische Wandlungsfähigkeit sozialer Systeme zwecks Systemerhaltung. Dass die Systemreferenz und Rationalität dann beim Perspektivwechsel ebenfalls wechselt, ist solchen Simplifizierungen völlig fremd, wie auch bei Marx und seinen Anhänger, die bis heute einzig nur von einem einheitlich ökonomisch erzeugtem Antagonismus und überholten Totalitätsansprüchen samt pseudo-evolutionärer Schritte ausgehen (Brunkhorst 2012). Was sich also etwa in der Ökonomie und der Mikro- oder Mesoebene der Betriebe oder auf Metaebene der Wirtschaft insgesamt ändert, hat mit der Umwelt der Rechtsbeziehungen eines Staates und seiner Bürger relativ wenig zu tun, auch wenn das stets postuliert wird (Stichwort: Wirtschaftsdemokratie). Zudem folgt die Politik wiederum gänzlich anderen Parametern als der Ökonomie und Jurisprudenz zusammen. Je differenzierter diese Analyse hier wird, desto komplexer wird sie auch. Einer reichlich verklärten Universalwissenschaft, in der sich die Soziologie und ihre Vertreter und Anhänger oft selbst sehen wollen, kann man daher schon zurückweisen, weil es kaum derart universale Ansprüche und Positionen gibt. Ergo solche Universalien kippen über kurz oder lang in den Totalitarismus oder gar in die Bedeutungslosigkeit, weil jeder darun- ter etwas völlig anderes verstehen kann. Der Streit dreht sich dann nur noch um die „ richtigen “ und „ falschen “ Interpretationen der Werte des jeweils anderen, während sie alle gemeinsam dasselbe be- anspruchen: ein besseres Leben und mehr Gerechtigkeit! - wie auch immer das konkret aussehen soll, um im Zweifel nicht wieder bestimmte Gruppen oder Personen zu privilegieren oder zu sanktionieren. Zugleich wird diese Debatte, wenn man sie ernsthaft führen möchte, relativ schnell sehr abstrakt, was die Akteure regelmäßig überfordert oder frustriert zurücklässt.
Ähnlich hinterhältig - um hier bei Goethes Mephisto und seinen diabolischen Verführungsküns- ten zu bleiben - verhält es sich allerdings mit allen weiteren sozialen Tatsachen, die beliebig in jede Richtung interpretiert werden können, ohne sie im Zweifel tatsächlich voll umfänglich verstanden zu haben, sondern nur am Empirismus der eigenen Beobachtung und Logik stehenzubleiben. Ergo: Beim festen Glauben an Teufel, Vampire, Dämonen, Reptiloide oder eine Erdscheibe wird man relativ schnell die eine oder andere zuverlässige Erklärung finden können. Man denke nun aber etwa an die beliebten Diskussionen um statistische oder empirische Beobachtungen und Merkmale, etwa in der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS)10 und all ihre bunten Blüten, die dort entstehen, gegen die man kaum noch ar- gumentieren kann, weil der falsche Schluss so beeindruckend nah und richtig erscheint. Das Muster lässt sich auf nahezu alle anderen Phänomene übertragen und führt in letzter Konsequenz zur umstrit- tenen wie nicht minder kitschigen Sozialreportage, die Daten nur um ihrer selbst willen erhebt und völlig falsch interpretiert. Wer einen Hammer in der Hand hält, sieht eben überall nur Nägel und kann mit einem Schraubenzieher herzlich wenig anfangen, selbst wenn er auf Schrauben trifft. Die subjek- tive und sozial überformte Realität ist schlicht nicht kompatibel (dazu der Klassiker: Berger/Luckmann 2018). Georg Vobruba weist an dieser Stelle daher völlig zu Recht darauf hin, dass es letztlich die ori- ginäre Aufgabe der Wissenschaft und insbesondere der Soziologie ist, die „ Unbestimmtheitslücken “ in den Handlungsbedingungen und entsprechenden Dispositionen der Akteure zu erkennen und zu bear- beiten (Vobruba 2017: 186f.). Hier ist also kriminalistischer Spürsinn gefragt, die Lücke im Alibi der plausiblen Erklärung zu finden. Das gilt aber sowohl in der Soziologie selbst, als auch beim beobachte- ten Gegenstand. Der Kriminalist ist freilich dem Soziologen gegenüber im Vorteil, da er weder sich selbst als Ermittler noch sein System der Justiz hinterfragen muss. Der Soziologe steht da vor ganz anderen Herausforderungen. Hier besteht aber die Gefahr, permanent nur wieder an der Oberfläche und dem Austausch altbekannter Argumente und Glaubenssätze im kollektiven Selbstgespräch stehen zu bleiben, weil eben alle, wie bei einer Sekte, nur zustimmend brummen und nicken. Eine kritische Attitüde (oder: Kritische Theorie)11 allein reicht dafür allerdings längst nicht mehr aus, da auch Extre- misten, Radikale und Populisten jedweder Lager sich als kritische Stimmen verstehen, deren Einfluss nach ihrer Meinung nur absichtlich nicht gehört und massiv unterdrückt wird, eben weil sie mit ihrer Abweichung die stumme (oder: dumme) Mehrheit (bzw.: die Regierung) stören. Hayek postulierte da- her einst, dass die Verquickung von Verwissenschaftlichung, Rationalisierung, Politik und Ideologie re- lativ schnell zum Totalitarismus einer Diktatur führe (Hayek 2014: 227ff.), während totalitäre Regime, Populisten und ihre Anhänger (rechts wie links) etablierte Wissenschaften und ihre Vielfalt seit jeher ablehnen und sie als bürgerliche Tugenden und Abweichungen diskreditieren (dazu etwa: Vobruba 2019). Wer aber tatsächlich glaubt, es gebe insbesondere in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften abschließende, normative Definitionen und Imperative oder bestimmte mathematische Formeln, die man ähnlich einer naturwissenschaftlichen und technischen oder kaufmännischen Disziplin nur aus- wendig lernen, anwenden und verstehen muss, der wird schnell enttäuscht und kehrt der gesamten Sozialwissenschaft schnell frustriert oder gar kopfschüttelnd den Rücken. Derjenige geht aber letztlich dem sprichwörtlichen Teufel auf den Leim. Gleichzeitig ist aber die Rolle des Advocatus Diaboli als jemand, der um der Sache selbst willen mit seinen Argumenten und harten Bandagen die Gegner ver- tritt, ohne selbst zur Gegenseite zu gehören, der bewusst Gegenargumente in eine Diskussion ein- bringt, um sie zu beleben, sehr attraktiv und überaus hilfreich - auch ohne Mephistos diabolische Ver- führungskunst, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Das begründet unter anderem die vielzitierte Krise der Soziologie, die sich aber keineswegs auf eine singuläre Ursache allein reduzieren lässt. Dafür sind sowohl das Fach als auch ihr Gegenstand der Gesellschaft selbst viel zu komplex und heterogen. Allen voran sind es aber oft die Vertreter des Fachs selbst, die das gelegentlich übersehen.
Die „ Krise “ der Soziologie?
„Man ist prominent, für alles gleich kompetent. (…) Wir brauchen kurzes Statement zur Lage der Nation Gleich hier am Telefon, schnell und originell“
Herbert Grönemeyer: Fragwürdig; aus dem Album Ö, 1988
Die Debatte um die Soziologie und ihre buchstäbliche Krise und Sinnlosigkeit ist uralt und bereits hun- derte Male geführt worden - sowohl durch Soziologen selbst, als auch durch ihre gesellschaftliche Pe- ripherie und zahllose Beobachter. Man kann damit durchaus die (alte, selbstreferentielle und doppelt gelagerte) Frage verbinden, ob die Beschreibung von der (respektive: durch die) Soziologie in der Krise nun ihre Legitimität in Frage stellt oder eben stärkt; ob also die Disziplin selbst keine Antworten mehr geben kann, oder ob sie sich gerade in Zeiten allgemeiner apostrophierter „ Krisen“ als Analyseinstru- ment hervortut (Boltanski 2010). Soziologinnen und Soziologen gehörten dagegen, wie auch das Insti- tut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in einer Publikation zu Arbeitsmarktchancen für Geis- tes-, Kultur- und Sozialwissenschaftler einst bemerkte, noch nie zu den gängigsten Formaten am Stel- lenmarkt (Kräuter u.a. 2009). Und der einstige SPD-Vorsitzende und spätere Kanzler Helmut Schmidt befand 1968 sogar, es gäbe mit Soziologen und Politologen viel zu viele von denen, die im Leben noch nie gearbeitet hätten und sich stattdessen lieber in grauer Theorie versenkten. Die Frage „ Wozu noch Soziologie ?“ stammt bereits aus dem Jahr 1985 (Bütow 1985). Aber auch weit vorher in der Zwischen- kriegszeit der Weimarer Republik und dem anschließenden Nationalsozialismus schien die Soziologie als Disziplin grandios versagt zu haben (van Dyk/Lessenich 2008; Soeffner 2008; van Dyk/Schauer 2008). Was soll man also werden und anfangen mit Soziologie ?, wie der Berufsverband Deutscher So- ziologen einst fragte (Breger/Böhmer 2007). Der unvermeidliche Kalauer vom Taxifahrer im 37. Semes- ter hilft bei der Suche nach Antworten ebenso wenig wie die Erfolgsgeschichte vieler Absolventen der Soziologie in diversen Bereichen, die weitaus nicht alle Professor geworden sind oder gar werden woll- ten (Lammers 2010). Die Disziplin steht so mindestens vor der doppelten Herausforderung zu erklären, was am Alten und Bestehenden nun tatsächlich neu und besonders ist, und was am vermeintlichen Neuen nun alt ist.12 Offen ist sodann, was sie nun aus welchem Grund daran jeweils kritisieren, analy- sieren oder beschreiben will, um nicht nur wieder zwischen den Phrasen ihrer eigenen zuweilen pole- mischen Empörung (Steinert/Vobruba 2011: 279; Mau/Schöneck 2016: 9ff.) zu stagnieren. Auf der an- deren Seite steckt sie oft in der Funktion einer reinen Datensammelmaschine für Auftrags- und Markt- forschungen und Organisations- und Politikberatung sowie der Anwendungsorientierung der universi- tären Ausbildung fest. So trivial die Antwort auf solche Fragen zu sein scheint, so schnell stößt das Fach aber auch an seine eigenen Grenzen des Selbstbildes als kritische „ Oppositionswissenschaft “ (Soeffner 2008: 11), die zudem von Alltagsdeutungen und äußeren Maßstäben, nicht zuletzt der Soziologen selbst, begleitet wird. Man spricht daher oft von der Entsoziologisierung der Soziologie und ihrer Ab- solventen spätestens nach Abschluss des Studiums (Blättel-Mink/Katz 2013; Kühl/Tacke 2013). Dazu tritt dann die unvermeidliche Frage, ob man Soziologie nun als akademischen oder rein funktionalen Broterwerb betreibt, oder ob man sich nur den kritisch-intellektuellen Habitus der Soziologie als Le- bensform und kitschige Devotionalie kultiviert und den formalen Abschluss hinüberrettet in eine ganz und gar unsoziologische, unakademische ergo: pragmatische Lebens- und Arbeitswelt, die von all den klugen Theorien und Büchern gar nichts hören will; und nach einer Soziologie, die sehr erfolgreich über die Köpfe der Menschen hinwegredet. Ob man die mediale und öffentliche Präsenz von Soziologen bzw. das Interesse „ in Form von Einladungen zu Vorträgen bei politischen Institutionen oder pädagogi- schen Fortbildungen, Aufforderungen zu Beiträgen in praxisnahen Fachpublikationen und zu Expertisen für Stiftungen und Ministerien“ (Scherr 2017: 400) nun als Gradmesser ihres Erfolgs – und vor allem: welchen? - betrachten kann, wie Scherr hier behauptet, oder ob diese Aufmerksamkeit nur wieder den bekannten Merkmalen und der Konjunktur der Medien und Institutionen selbst folgt, wie Scherr eben- falls dort einräumt, ist sicher schwer zu trennen. Der Grad an gegenseitigen Selbsttäuschungen (Vobruba 2017: 174; zitiert Foucault 1992: 16 ) und der Prostitution ist jedenfalls sehr schmal. Denn es lässt sich nur schwer differenzieren, ob und was aufgrund solcher Auftritte eigentlich folgt und denen zugrunde liegt. Ist es schlichtweg ein buntes Unterhaltungs- und Rahmenprogramm; oder dient der Besuch und die Expertise des Soziologen nur der Reklame und Legitimation ohnehin weit vorher ge- fällter Entscheidungen und Vorurteile? Die Nähe der Soziologie zur herkömmlichen wie theorie- und erfolglosen Consulting-Branche und diversen wie zwischenstaatlichen Wirtschaftsdienstleistungen (z. B.: „ Bildungsforschung “) ist jedenfalls emergent (Steinert/Vobruba 2011: 278). Der Soziologe ist dann nur wieder buchstäblich billiger und williger Handlanger, wie es Hans-Georg Soeffner der Soziologie hinsichtlich ihrer Bestimmung (im doppelten Sinne) ins Stammbuch schrieb (Soeffner 2008: 10). Dazu tritt die mediale und öffentliche Rolle des Soziologen als Kuriosum des aufrechten Kämpfers für Ge- rechtigkeit, die ebenfalls nicht selten hofiert wie überzeichnet wird (ebd.: 11). Im Zweifel könnte man hier Bourdieus Kritik (Bourdieu 1998) am Medienintellektuellen folgen, bei dem es überhaupt nicht um eine akademische Erörterung oder Ähnliches geht, die sich sogar geradezu in der breiten medialen Inszenierung ausschließt, weil sie erstens viel zu zeitaufwändig, zu intellektuell und schlicht zu lang- weilig ist, und zweitens fehlt dafür das geeignete Publikum in den einschlägigen Fernsehformaten der Talkshows, Nachrichteninterviews und Diskussionsrunden. Eine Nische belegen hier mitunter Sparten- sender wie arte, 3sat und Phoenix mit ihrem Format spezieller Sendungen. Deren Breitenwirkung und Rezeption ist aber überschaubar und nicht minder populärwissenschaftlich. Eher geht es allerdings, so Bourdieu, einerseits um die seichte Abendunterhaltung gelungener Pointen und provozierter Empö- rung auf allen Seiten (Zuschauer, Moderator und Talkgäste kontrastierender Positionen); andererseits spielen sowohl die persönliche Eitelkeit des Eingeladenen als auch der sich selbst reproduzierende Be- kanntheitsgrad der Persönlichkeiten eine große Rolle: Wer gute Pointen und eine adäquate Kame- rapräsenz garantiert, und wen man aus der Kartei der Kandidaten schon kennt, hat gute Chancen, er- neut eingeladen zu werden und seine eigene Popularität zu steigern – jenseits aller akademischen Qualifikationen und Bedeutung (ebd.). Das lässt sich allabendlich in derartigen Formaten empirisch beobachten: Sobald ein Gast beginnt, umständliche Erklärungen zu liefern, interveniert der TV-Host und kürzt ab. Dass politischen Akteuren genauso wenig wie Medien an intellektuell-akademischer Tiefe und Schärfe gelegen ist, hatte ebenso Max Weber bereits reichlich verärgert konstatiert und allen kind- liche Naivität vorgeworfen, wenn sie das Gegenteil glaubten (Weber 1999, passim).
So sehr man es schließlich auch dreht und wendet, man steckt fortwährend in dem Dilemma fest, das Georg Vobruba als Kritikkontroverse (Vobruba 2017) benannte, ohne jede Chance sich daraus je zu befreien und das Problem der Dialektik von Theorie und Praxis aufzulösen oder abzuwerfen. Auf der Ebene populärer Alltagsdeutungen verfestigt sich dagegen das uralte Klischee, dass es sich bei der Soziologie nur um ein „ Laberfach “ zweifelhafter Figuren, zumeist aus dem linken Spektrum, handelt, die nichts Besseres zu tun haben, als ergebnislos über die Probleme der Welt zu diskutieren. Ob Sozi- ologie perspektivisch tatsächlich eher „ links “ ist, eröffnet spannende Fragen, nicht zuletzt um die seit Jahrzehnten reichlich hilflose gegenseitige Verortung dieser Pole innerhalb einer politischen Gesäßge- ographie, die andeutet, dass die richtige Sitzposition im Parlament ausschlaggebend sei für das intel- lektuelle Argument und ihre Umsetzung. Tatsächlich vermittelt die seit Jahrzehnten anhaltende breite Varianz, Vielfalt und Konkurrenz sehr unterschiedlicher Themen sowie Publikationen und Theoriedis- kurse („ Bindestrichsoziologie “) häufig bei Außenstehenden den Eindruck, die Soziologie könne sich selbst erstens gar nicht auf eine gemeinsame Linie und Haltung oder einen Gegenstand einigen; und zweitens entsteht oft der Eindruck, dass sich die Soziologie stets nur um sich selbst dreht und Dinge thematisiert, die für die übrige akademische, fachliche und betriebliche Außenwelt und die der Bürger völlig unbedeutend und nicht anschlussfähig sind (Scherr 2017). Unter der Betriebswirtschaft, dem Recht oder der Ökonomie kann sich der Laie noch halbwegs etwas vorstellen, weshalb allzu oft der Ruf ertönt, es sollten mehr Unternehmer und Manager in die Politik gehen.13 Die Soziologie wirkt aber tatsächlich oft etwas weltfremd. Wird etwa die zunehmende Ungleichheit thematisiert, ist gar nicht so ganz klar, was das eigentlich bedeuten und daraus nun letztlich folgen soll (Mau/Schöneck 2016). So unberechtigt ist diese Reihe der Vorwürfe gegen das Fach aber durchaus nicht, da sie sich von ihrem Weber´schen Primat der Verstehenden Soziologie immer mehr zurückgezogen und auf reine, zuweilen: analytische Beschreibungen verlegt hat, während sie das klassische „ Verstehen“ eher an die Philoso- phie (zurück) delegiert hat. Damit einher geht oft die Tatsache, dass die verschiedenen Autoren ihren Gegenstandsbereich, den sie vermeintlich kritisch beschreiben, gar nicht so ganz verstanden haben (Soeffner 2008: 11). Oder einfacher formuliert, wer bspw. die Betriebswirtschaftslehre und ihre Prak- tiken und abwechselnden Moden der Unternehmensführung und /-beratung kritisieren oder auch nur beschreiben will, muss sie und ihren Kontext schon annährend verstanden haben, anstatt immer und überall nur den Neoliberalismus und das Schlagwort der Subjektivierung (als klassische Vokabel der Arbeitssoziologie) als Wurzel allen Übels erkennen zu wollen oder es drauf zu kleben. Der Verweis, dass an den Universitäten selbst schon entsprechende Moden ökonomischer Theorien („ Paradigmen- wechsel “) generiert werden, greift viel zu kurz, da es eher die genuine Aufgabe der Soziologie selbst ist, diesen Wandel zu untersuchen, anstatt ihn zu beklagen. Eher ist das ein Rückfall in totalitäre Phan- tasmen, die aber viel zu undifferenziert und letztlich nur larmoyant sind. Stattdessen dominiert insbe- sondere in der Soziologie eher der bekannte Pawlow´sche Reflex politischer und moralischer Empö- rung, der über die bekannte Rhetorik der Endlosschleifen und Feindbilder kaum hinauskommt (Mau/Schöneck 2016: 9ff.). Eher lässt sich sogar seit Jahrzehnten eine Verflüssigung der Grenzen der gesellschaftlichen Teilsysteme beobachten; ergo: Die Sozialwissenschaften geraten mitunter in die Falle, selbst zu politisieren, zu skandalisieren und zu moralisieren (Hayek 2014: 240), während die Po- litik und ihre Akteure sich fortwährend auf pseudowissenschaftliche Analysen und Beschreibungen („ Sozialreportage “) stützen und selbst beginnen, verwertbare Pseudo-Wissenschaft zu betreiben und damit gleichzeitig die Grenze zur medialen Unterhaltung auf allen Seiten unmerklich verschieben und selbst dorthin verschoben werden (Bourdieu 1998). Zudem, darauf hatte ebenfalls Max Weber infolge seiner Kritik schon hingewiesen, dominieren sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik selbst immer mehr bürokratische und plutokratische Maßstäbe (Weber 1999; 2006). Dass Politik an für ihre Bedürfnisse verwertbaren Erkenntnissen interessiert ist, kann man ihr gewiss nicht vorwerfen. Miss- billigen kann man dennoch die gegenseitige Inflation der Begriffe und Diskurse, da sich damit ihr je- weiliger Bezugspunkt auflöst und die mehr oder minder berechtigte Kritik letzten Endes reichlich dif- fus, beliebig und gar nicht mehr anschlussfähig ergo: redundant wird.
Wer nun aber dennoch umgehend verwertbare Handlungsanleitungen, Ergebnisse und Analy- sen verlangt und erwartet, liegt zwar nicht ganz falsch, muss aber deutlich unterscheiden zwischen den wechselseitigen Bezügen seiner eigenen Rolle als Beobachter und des beobachteten Beobachters jed- weder Ordnung, also der Frage, wer überhaupt jeweils wen, wann, wie und mit welchen Maßstäben und Mitteln beobachtet und beurteilt, und des beobachteten Gegenstandes. Denn letztlich sind alle sogenannten Fakten und Daten sowohl durch den jeweiligen Beobachter und Wissenschaftler als auch durch das Publikum und die Quelle selbst erzeugt und gefiltert. „ Die Stärke der Wissenschaft“, so Nassehi hier, „ besteht darin, dass sie es mit selbst erzeugten Daten zu tun hat – nur darf sie die Daten nicht mit jener Realität verwechseln, auf die mit den Daten geschlossen werden soll.“ (Nassehi 2018: 299) Oder deutlicher: Wer die schlichten Aussagen und Daten einer empirischen Erhebung und Be- obachtung oder semi-theoretischer Diskussionen samt der dazugehörigen Publikationen und der me- dialen Präsenz für bare Münze nimmt, verstrickt sich unweigerlich in zahllose Widersprüche und re- produziert oder verfälscht nur, was ohnehin an der Oberfläche bekannt und lange schon gesagt ist. Dann ist die Erde eben doch eine Scheibe, und es kann gar nicht anders sein, weil die Logik so nahe liegt und auch noch empirisch bestätigt wird! Schließlich würde man von einer Kugel doch herunter- fallen! Was stattdessen folgen müsste, ist die qualifizierte und ggf. neue Theoriebildung, die über reine Spekulation, Empörung und Normativität hinausgeht. Dennoch steht die Soziologie damit fortwährend vor dem Problem und der Herausforderung der eigenen Normativität an sich selbst, entweder im Klei- nen oder im Großen und im Rahmen der Darstellungen und entsprechender Interpretationen stecken zu bleiben und sich schlimmstenfalls dort selbst zu widersprechen. Oder wie es Georg Vobruba tref- fender formulierte, vor dem Problem „… dem sprichwörtlichen Indianer nicht nur erklären zu wollen, was ein Indianer ist, sondern auch noch vorzuschreiben, wie er zu leben hat, um so glücklich zu werden, wie ein soziologisch angeleiteter Indianer glücklich zu sein hat “ (Vobruba 2017: 183, zit. Soeffner 2014: 112). Moderner formuliert heißt das, ob man etwa dem Uber- und MOIA-Fahrer fortwährend anhand post-marxistischer Termini und Tools vorwerfen kann, ausgebeutet zu werden - um ihn letztlich davor schützen zu wollen - und sich an der mutwilligen Zerstörung des herkömmlichen Taxi-Gewerbes zu beteiligen, ist im Sinne der Theoriebildung zweifelhaft. Eine entsprechende Auseinandersetzung mit den zahllosen Segmenten der Sharing Economy müsste vielmehr die Kontroverse und den Ursprung von Debatte und Phänomen deutlich machen, die hier liegt, anstatt sich permanent an vordergründi- gen Phänomenen abzuarbeiten. Hier taucht dann auch die Frage respektive der Konflikt wieder auf, wie „ links “ ergo: politisch die Soziologie selbst ist, wenn sie sich etwa auf marxistische Diagnosen stützt (Brunkhorst 2012), sie ggf. reproduziert und sich damit selbst immer mehr vom Gegenstand entfernt respektive ihr die passenden Werkzeuge und Zielgruppen der Analyse abhandenkommen. Damit stol- pert sie eine hausgemachte Krise, die sie selbst kaum noch gelöst bekommt (ebd.), da sie sich intellek- tuell auf einem blinden Fleck befindet, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Beispiele lassen sich zahllos speziell in der gesamten Arbeits- und Betriebssoziologie finden (Pfeiffer/Huchler 2018; Vester 2011; Voß u.a. 2010); aber auch die politische Wissenschaft ist nicht frei von solchen Deutungskämp- fen (Flügel-Martinsen u.a. 2014). Allein über den Begriff und Gegenstand menschlicher Arbeit ließen sich mühelos dutzende Bände füllen, ohne auch nur annähernd einen Bruchteil dessen erfasst zu ha- ben (Voß u.a. 2010). In der Physik wird Arbeit bspw. ganz knapp definiert als in der Energie, die durch Kräfte auf einen Körper übertragen wird. Im Sinne der Betriebswirtschaftslehre wird Arbeit dagegen verstanden als jede plan-, zweck- und sinnmäßig gezielte Betätigung eines Akteurs in körperlicher und geistiger Form, die dazu dient, materielle und immaterielle Güter oder Dienstleistungen zu produzie- ren und zu vertreiben. Die Ökonomie versteht Arbeit daher als Wertschöpfungsprozess. Der Stamm- tisch wird kopfnickend bestätigen, dass wir ja alle arbeiten müssen, obwohl gar nicht alle arbeiten.14 Und Marxisten werden umgehend bestätigen, dass Arbeit die Quelle allen Reichtums sei. Je nach Wör- terbuchdefinition und Qualität der Publikation wird man so noch dutzende weiterer Begriffsbestim- mungen finden, die aber regelmäßig immer mehr und weitere Fragen auslösen, je mehr man sich mit dem Gegenstand beschäftigt. Genau all diese heterogenen wie heteronomen Debatten bringen aber gerade der Soziologie den vielzitierten Vorwurf ein, hinsichtlich ihres Theorie-/Praxis-Diskurses unge- nau und willfährig oder gar überflüssig zu sein. Hier steht man dann bildlich in der Empfangshalle von Vobrubas Kritikkontroverse und der Kritik der Leute, wie er die Akteure charmant umschreibt, auf die sich insbesondere die Soziologie selbst einstellen muss, ohne ihr auf dem Leim zu gehen (Vobruba 2017; 2019). Vielmehr müsste sich die Disziplin selbst als Advocatus Diaboli betätigen, der aber dann wieder in der Rolle des klebrigen Verführers landet, die ja eben überwunden werden soll. Es bleibt also heikel bis zum Schluss.
Die Kritikkontroverse zwischen Sein und Sollen
Nähert man sich der inner-soziologischen Frage und Bedeutung von Kritik und Konflikt, fällt sofort die
‚ existenzbedrohende Dimension ‘ dieser Debatte für das Fach selbst auf, so Soeffner, der der Soziologie hier gleich mehrfach Geschichts- und Gegenwartsvergessenheit und eine Gegenstandsvergessenheit vorhält (Soeffner 2008: 10). Die Soziologie und ihre Protagonisten setzen sich damit permanent einer leeren Selbstreflexion aus, die schon 1922 auf dem Soziologentag in Jena im Konflikt zwischen Marxis- ten und Anhängern der Beziehungslehre (Leopold von Wiese) „ ohne die Beschreibung und Deutung historisch konkreter Ausformungen und Problemstellungen des Sozialen “ auskam. Ihre Theoriesche- mata und Begriffsarchitekturen, so Soeffner, waren hochartifiziell. Das Ergebnis war die frühe Tren- nung von „ Reiner “ (später: „ Allgemeiner “) Soziologie und „ Angewandter Soziologie “, die dann später als Empirische Sozialforschung legitimiert wurde. In der Konsequenz führte das zu „ einer nicht durch die ‚Sache‘ – die Analyse der Bedingungen, Formen und Folgen menschlicher Vergesellschaftung -, son- dern durch terminologische Kunstfertigkeit begründeten (und damit letztlich misslingenden) Abgren- zung der Disziplin von anderen Einzelwissenschaften“, die sich bis heute fortsetzt und mangelnde Fä- higkeiten und Fertigkeiten der Soziologen selbst begründet, „ die Herausforderungen der politischen und sozialen Umwälzungen analytisch zu erfassen“ (ebd.: 10f.). Besonders deutlich zeigte sich diese Unfähigkeit nach 1930 und 1934 (van Dyk/Schauer 2008), als sich innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) außer dem Vorsitzenden, Ferdinand Tönnies, kaum jemand der völkisch gestimm- ten Gleichschaltung, opportunistischer Stilllegung des Verbandes und der Umformung der Soziologie als ‚ nationalsozialistische Wissenschaft ‘ widersetzte.15 Bis weit nach Kriegsende ging mit man relativ unkritisch mit diesem Erbe um. Daraus entstand letztlich in den späten 1960er Jahren die bis heute bekannte Frontlinie zwischen der Forderung der ‚ Parteilichkeit der Soziologie‘ („ Auf welcher Seite steht ihr eigentlich ?“) einerseits; und andererseits nach dezidierter Unparteilichkeit und politischer Absti- nenz („ Ruhe des Schauens “), die in ihrer Wirkung allerdings alles andere als unpolitisch ist, da sie die liberal präjudizierte repräsentativ-demokratische Ordnung deutlich stabilisiert. Begleitet wird diese Kampfzone falsch verstandener Demarkationslinien jeweils falscher Alternativen stets von der „ Wert- urteilspolizei “ (Leopold von Wiese), die allerdings nur vordergründig existiert, so Soeffner. Denn:
„ Eine institutionalisierte Dauerkontrolle gesellschaftlicher Verhältnisse in kritischer Absicht und in wissenschaftlicher Form – und nur das ist Soziologie als Fach – rechtfertigt sich allein gegen- über einer Wirklichkeit, die überlieferten Normen immer davonläuft, weil Richtung und Ge- schwindigkeit ihrer Transformation von ihnen nicht mehr eingefangen werden.“ (Soeffner 2008: 12; zitiert Plessner 1959)
Damit bleibt die Soziologie zwar einerseits wieder nur im Dilemma der fach- und gegenstandsbezoge- nen Selbstreflexion stecken; andererseits wird mit Plessners Erkenntnis – und Aufklärungsprogramm die Frage danach, ob nun Soziologie eine (respektive: die) Leit- oder Begleitwissenschaft sei, erübrigt, da es sich eben nicht – entgegen der populären Annahme (auch in der Soziologie) – um Glaubenssätze, sondern um analytische, aber folgenreiche Feststellungen handelt, die immer wieder aufs Neue einge- löst werden müssen, so Soeffner (Soeffner 2008: 12). Allerdings steht man damit – ganz klassisch nach Goethes Faust – genauso dumm oder klug da als wie zuvor. Gegenwärtig lassen sich dann nach Vobruba grob vereinfacht drei Konfliktlinien herausarbeiten:
- Soziologie und Philosophie, deren (gegenseitige? UL) Kritik sich primär auf sich selbst richtet.
- Kritisierende soziologische und philosophische Theorie, die Maßstäbe für Kritik for- muliert und Übergänge von Theorie zu Praxis sucht.
- Soziologie der Kritik, die sich auf gesellschaftliche Bedingungen für Kritik kon- zentriert (Vobruba 2017: 175).
Und umgehend steht man in dem fortwährenden, unlösbaren Dilemma, hier sowohl notwendige als auch hinreichende Kategorien und Bedingungen jener Kritik samt „ Schiedsrichter “ zu finden ergo letzt- lich zu bestimmen (Steinert/Vobruba 2011: 277). Erschwert wird dieser Diskurs dann durch biographi- sche, politische und historische Bezüge und Überformungen von Sprecher, Akteur und Publikum, und der Frage, wer hier überhaupt wen und was als legitim betrachtet. Das birgt stets die Gefahr im Rück- blick romantisierender oder verklärender Deutungen und überzeichneter Prognosen aufgrund man- gelnder Objektivität, die ja die Soziologie einerseits stets einfordert. Umgehend steht man andererseits auch vor der nahezu unlösbaren Frage, was nun letzten Endes Wahrheit, Wirklichkeit, Realität, Tatsa- chen und Fakten sein sollen, da darunter jeder je nach Kontext etwas vollkommen anderes versteht und erstens zu interpretieren weiß; und außerdem bleiben die Begriffe dann doch nur trotz noch so elaborierter Versuche in der Ebene relativ unspezifischer wie umkämpfter Allgemeinplätze und Wider- sprüche stecken (Arendt 2015: 327ff.). Versteht man unter dem Begriff der (gesellschaftlichen) Kritik schlicht nur die (reflexive) Veränderbarkeit von Gesellschaft, wie Vobruba und Steinert hier die ‚ Kritik der Leute ‘ fassen (Steinert/Vobruba 2011: 281), geht damit das enorme Risiko einher, tatsächliche Al- ternativen anbieten zu können, die nicht nur wieder aus aussichtlosen Rückverlagerungen der Prozesse in die politische Deliberation (Brunkhorst 2016) und Varianten des selben Gegenstands bestehen. Vor solchen Problemen steht insbesondere (aber nicht ausschließlich) die politische Linke,16 die regelmäßig die hohe Dynamik und Selbstreferenzialität der Ökonomie ausblendet; und die ebenso regelmäßig übersieht, dass jede Form der Rationalität immer eine endlose Kette an Gegenrationalitäten und Mu- tationen auslöst, der die Akteure kaum ausweichen können (Lammers 2017).17 Außerdem verkennen die Anhänger solch einer These der Veränderbarkeit hier auffällig oft die Unterschiede zwischen einer Projektion und der Prognose und einer Realität, die sich erst rückblickend entsprechend dynamisch gebildet hat. Zudem ist die Prognose- und Analysefähigkeit (nicht nur) von Laien sehr begrenzt; was sich aber umso mehr verfängt, wenn der Konflikt explizit zwischen Ökonomen und Soziologen verläuft, die beide in der Regel Laien der jeweils anderen Disziplin sind und sich gegenseitig ihre Defizite vor- werfen (dazu Rainer Volkmann hier im Buch). Insbesondere die Perspektive der Linken bewegt sich, oft in Union mit der Soziologie, hier auf einem weiteren blinden Fleck, der nicht erklären kann, woher die zukünftigen makroökonomischen Zuwächse an Produktivität und Verteilung eigentlich kommen sollen, die eine höhere Umverteilung und Partizipation erst ermöglichen sollen (Lammers, Der blinde Fleck der Linken, in: Regierungsforschung.de, 15.05.2019). Das ist weniger die aktuelle und zuweilen polemische Frage, ob und wieviel Steuern Amazon, Facebook, Google & Co zahlen, denn die entwickeln ohnehin eine eigene Rationalität der Produktivität. Dass aber genau das den Kern des vielzitierten (wie oft verklärten) sozialdemokratischen Jahrhunderts bildete, das sich manch einer heute gerne verhei- ßungsvoll zurückwünscht, nämlich: Spielräume zu schaffen, die zunächst auf einer äußerst prekären wie wechselseitigen Rationalität zunehmender kapitalisierter Produktivität begründet waren (Dahren- dorf 1983; Huffschmidt 1972), kann als Ironie der Geschichte gelten, wenn nicht gar als Manifestation genau jenes Problems der Kritikkontroverse zwischen normativen Glaubens-, Seins- und Sollenssätzen von Theorie und Praxis. Oder wie es Heinz Steinert hier formulierte: die Wissenschaft selbst steht per- manent im Dienst der Herrschaftsverhältnisse, da sie fortwährend für deren Stabilisierung sorgt, etwa über Innovationen, neue Investitionsfelder, Rationalisierungen und Kosteneinsparungen oder Über- wachungstechnologien etc. Intellektuelle Gegenentwürfe gesellschaftlicher Alternativen und deren utopische Phantasmen (Heller 2016) bleiben hier relativ folgenlos und unverbindlich (Steinert/Vobruba 2011: 284f.). Allerdings verkennt auch Steinert hier die sozioökonomische Problem- und Ausgangslage der DDR 1989, der er schlicht politische Resignation unterstellt, anstatt ihre makro- ökonomische Krisenlage zu erkennen, was man dem Soziologen allerdings nicht anlasten kann.
Ein weiteres Kernproblem solcher Gegenentwürfe ist die hohe wie nicht minder normative Homogenisierung vollkommen heterogener wie heteronomer Milieus und Kohorten sowie die Antizi- pation eben der (unbekannten) Gesetzmäßigkeit der Geschichte, die bis zuletzt kontingent bleibt. Ha- bermas schrieb 1992, dass sich für den Einzelnen in einer funktional immer weiter ausdifferenzierten Gesellschaft die Organisationsmitgliedschaften und damit auch die Optionsspielräume nahezu unend- lich erweitern (Habermas 2014: 104). Die Soziologie subsumiert das gemeinhin unter den Rollenkon- flikten, die per Kompromiss gelöst werden, ohne den zugrundeliegenden Konflikt selbst zu lösen. Das Bild eines solchen Fortschritts verdankt sich freilich einer Beschreibung, die gegenüber den Zuwächsen und Verlusten an Autonomie neutral bleibt, so Habermas hier. Diese Beschreibung ist aber absolut blind gegenüber der tatsächlichen Nutzung eines aktiven (oder: passiven) Staatsbürgerstatus, über den der Einzelne auf die demokratische Veränderung seines Status einwirken kann. Ob und inwiefern diese Rolle beansprucht wird, hängt zweifellos von sozioökonomischen Fragen ab, die auf die Demokratie nur zurückwirken (Brunkhorst 2014; Schäfer 2014). Damit dreht sich das Karussell von Theorie, Praxis, Kritik, Makroökonomie, Soziologie und („ ihrer “) Philosophie samt Sein und Sollen dauerhaft und ohne wirkliche Lösung immer schneller im Kreis, indem es fortwährend immer wieder je nach Kontext und Perspektive neue Verlierer und Gewinner der Geschichte erzeugt und benennt, die sich jeweils nur für einen kurzen Moment desselben Narratives zu Wort melden, um dann umgehend wieder in Verges- senheit zu geraten und bei der nächsten Runde wieder umständlich hervorgekramt werden. All das geschieht, während die Geschichte (im doppelten Sinne) selbst schon viel weiter voraus ist. Die Akteure sind buchstäblich und fortwährend eingeklemmt zwischen Vergangenheit und Zukunft, je schneller oder militanter sie diesen Polen zu entkommen versuchen (Arendt 2015). Zugleich ist das die Stunde und zuweilen vertane Chance der Soziologie, neue Theorien zu entwerfen.
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Von Epoche zu Epoche.
Ein Theoriefragment zur Erklärung der Inflation der Epochenwenden in der soziologischen Begriffsbildung
Jan Tobias Fuhrmann
I Einleitung
Der Gesellschaften gibt es viele, so scheint es. Denn Myriaden von Gesellschaftsbegriffen ploppen im Diskurs, im Bücherregal der Bibliotheken, den Artikeln der Fachzeitschriften auf. War es einst die Na- tionalgesellschaft, von dessen Pathos sich nicht nur Stirner distanzierte,1 so erfüllte der Begriff einen ideologischen Zweck, indem er bestehende Herrschaftsansprüche insofern legitimierte, als dass er die Territorialität des Nationalstaats mit dem Narrativ der Nation in der Gesellschaft in eins setzte.2 So wurde die Gesellschaft mit der Gemeinschaft und auch mit der Volksgemeinschaft nicht nur assoziiert, sondern auch in ein begriffliches Schuldverhältnis, von dem Adorno noch zu berichten wusste,3 gesetzt. Mit der Konstruktion eines Weltgesellschaftsbegriffs, wie er von Luhmann4 und unabhängig davon von Burton5, am Konzept der funktionalen Differenzierung entwickelt wurde, konnte später artikuliert wer- den, dass Gesellschaft nicht an einer politisch-territorialen Grenze aufhöre, sie kein Container sei,6 sie vielmehr globale Zusammenhänge konstituiere. Entsprechend ginge es darum, einen methodischen Nationalismus in der Soziologie selbst zu überwinden.7 Wurde dafür zuvor noch der Begriff des Welt- verkehrs8 mobilisiert, konnte ab den 1970er Jahren schließlich der Begriff der Weltgesellschaft, durch die Konjunktur eines Kommunikationsbegriffs vermittelt, in Stellung gebracht werden. Der Begriff der Weltgesellschaft markiert so etwas wie eine Epoche, nämlich die der modernen Gesellschaft, die Be- zugsgröße der soziologischen Gesellschaftstheorie schlechthin.
Erst später begann eine inflationäre Proliferation von an Epochenwenden gekoppelter Gesellschafts- begriffe. Sie unterscheiden sich in ihrer Funktion von den vorherigen Gesellschaftsbegriffen insofern, als dass sie inszeniert werden, um epochale Wenden behaupten zu können. Die Risikogesellschaft war nun jene Gesellschaft, in der Erwartungen im Kontext ökologischer und technologischer Katastrophen statt über Tradition über Risikokalküle gesteuert wurden,9 die Erlebnisgesellschaft jene, die eintrat, als der Hedonismus in den 1990er Jahren über die Gesellschaft hereinbrach,10 die Abstiegsgesellschaft jene, die sich einstellte als die Arbeitsmarktreformen der 2000er Jahre und die Abschaffung der Ver- mögenssteuer sich in der Sozialstrukturanalyse durch eine dramatische Auseinanderentwicklung in den Einkommensunterschieden manifestierte.11 Die damit verbundene Prekarisierung mündete schließlich in der Prekarisierungsgesellschaft12 und jüngst sei mit der Digitalisierung die nächste Epoche erreicht: die der Datengesellschaft,13 der Facebookgesellschaft14 und der nächsten Gesellschaft15. Ein Multiversum von Gesellschaften.
Im Grunde bietet die aktuelle soziologische Theorie zwei Zugriffsoptionen auf das Phänomen der Proliferation von Gesellschaftsbegriffen an. Beide nehmen das Phänomen jedoch nicht ernst. Die eine Option tut es lediglich damit ab, dass die Begriffsinflation einer Gegenwartsdiagnose eine „starke Ver- einseitigung“16 sei. Die andere verweist lediglich darauf, dass der Begriff der Gesellschaft abzulehnen sei, weil „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht!“17 formuliert wird. Verweist die erste Haltung darauf, dass die erhabene soziologische Theorie es besser weiß, weil sie einer Vereinseitigung vorbeuge, ver- weist die letzte Haltung darauf, dass Gesellschaft, weil sie als Narrativ von der Soziologie erst produ- ziert wird, keine ontologische Repräsentanz habe. Damit wäre der Begriff der Gesellschaft als „unmög- liches Objekt“18 aufzugeben. Verloren ginge dadurch allerdings auch die Einheit der Differenz, mittels derer es möglich wird, soziologische Vergleiche anzustellen.19
Im Folgenden soll davon ausgegangen sein, dass das Phänomen der Multiplizität von Gesellschaftsbe- griffen kein zufälliger Effekt ist, sondern dass die Proliferation von Gesellschaftsbegriffen und damit die implizite oder explizite Artikulation einer neuen Epoche eine Funktion in der soziologischen Theo- riebildung einnimmt.
Die Funktion der Begriffsinflation, so die These, findet sich darin, die soziologische Theorie gegenüber ihrer eigenen Dysfunktionalität zu immunisieren, die konstitutive Paradoxie der soziologischen Theorie zu invisibilisieren und Kombinatoriken zu erproben, die sich gegenüber den Ideologien etablierter the- oretischer Zentren emanzipieren.
Um das ausführen zu können, wird hier auf die These der alt gewordenen Gesellschaft, die Luhmann aufstellte20 und auf die sich jüngst Maren Lehmann bezogen hatte, um den Begriff der nächsten Ge- sellschaft von Dirk Baecker als starke Vereinseitigung zu entlarven,21 zurückgegriffen. Luhmann geht davon aus, dass, je älter eine Differenzierungsform geworden ist, das heißt je länger sie sich hat be- währen müssen, desto offenbarer werden ihre Dysfunktionalitäten und ihre Unzulänglichkeiten. Das hänge damit zusammen, dass dadurch, dass mehr Systemereignisse vollzogen worden sind, diese mit einer größeren Varianz an Kombinatoriken konfrontiert wurden, Dissonanzen sowie Konsonanzen in der Verarbeitung von Irritationen der Umwelt auftraten und sich infolgedessen zeige, dass ihre Funk- tion, die Leistung ein Problem zu lösen, limitierter ist, als es der Selbstanspruch des Systems artikuliert. Die These bezieht sich, das werden wir noch ausführen müssen (II), auf ein zu simples Verständnis davon, wie sich ein System semantisch herstellen kann, verweist aber darauf, dass die Selbstbeschrei- bungen der Gesellschaft in dem Sinne alt werden können, dass sie nicht mehr in der Weise aufgehen, sich mit der Gesellschaftsstruktur in Konsonanz zu setzten. Das erfordert eine Erweiterung des Ver- ständnisses davon, was die Begriffe Struktur und Semantik bezeichnen sollen. Nichtsdestotrotz ver- weist die These, und das ist der Punkt, an den wir anschließen wollen, darauf, dass die Dissonanz zwi- schen Beschreibung und Struktur erst durch Beobachtung eines Kontinuums von Plausibilitäten und Displausibilitäten der Beschreibungen erfolgen kann. Je mehr Ereignisse prozessierten, an denen sich Beschreibungen zu bestätigen schienen, oder zu scheitern begannen, desto prekärer kann der Erklä- rungswert einer Beschreibung werden.
Das wird für die drei Funktionen der Epochenproliferation relevant.
Die erste Funktion, die soziologische Theorie gegen die Dysfunktionalität ihrer Beschreibung zu immu- nisieren, ergibt sich daraus, dass die Einführung neuer Epochen die alten Begriffe vor dem dissonanten Zugriff auf die Gegenwart suspendiert und damit davon freistellt, sich noch bewähren zu müssen. Durch Prolongierung der Zeit in Epochen werden den Begriffen Zeiten zugeordnet, innerhalb derer sie Plausibilitäten erzielen konnten, und Zeiten, in denen sie gar nicht erst auf Plausibilität hin befragt werden müssen. Analytische Begriffe werden in dieser Praxis in historische Begriffe22 transformiert, sodass bei Jubiläen von Todestagen und Publikationen nach der Aktualität eines Werks gefragt werden wird, so als ob die Begriffe nie einen Universalitätsanspruch artikulierten. Marx und Sombart wollten den „Kern des Kapitalismus“23 darstellen. Auch Weber, hauntologischer unterwegs, den „Geist des Kapitalismus“, gebunden an ein fundierendes Ethos, welches zwar historisch-genetisch hervorgebracht werde und damit den Geist als einen historischen Begriff formatiere,24 später in eine Art Etappe einge- schrieben werden könne,25 rekurriert nichtsdestotrotz auf einen universalen Begriff der sozialen Hand- lung. Die Liste der Klassiker könnte fortgesetzt werden. Niemand von ihnen hat die Absicht, eine reine Gegenwartsdiagnose, zu formulieren; alle formulieren analytische, damit universal gültige Begriffe.
Die zweite Funktion ist die Invisibilisierung der konstitutiven Paradoxie der soziologischen Theorie selbst. Die Paradoxie ergibt sich daraus, dass soziologische Theorie die Struktur der Gesellschaft zu beschreiben versucht, sie selbst aber immer im Modus der Semantik operieren muss, der den Modus der Struktur überprägt und gleichsam die distinktionslogische Unbestimmtheit der Struktur aus der Beschreibung tilgt. Selbst dann, wenn permanent Kontingenz gepredigt wird,26 lässt die durch die The- orie angefertigte Beschreibung wenig Zweifel aufkommen, dass sie selbst nicht kontingent gemeint ist. Paradox wird die Theoriebildung dann, weil sie versucht, das Unbestimmte zu bestimmen. Konstitutiv ist die Paradoxie, weil sie im Versuch der Bestimmung des Unbestimmten permanent scheitert und damit einen permanenten Bedarf der Artikulation von Theorie evoziert. Die Proliferation der Epochen- bildung fungiert dabei als einer der Motoren der Reproduktion soziologischer Kommunikation als wis- senschaftliche Neuheitsproduktion, wodurch die Paradoxie invisibilisiert. Denn jetzt erheischt der neue Begriff Aufmerksamkeit, indem er angegriffen, indem er rezitiert wird, ohne, dass alte Begriffe weitererprobt werden, denn durch die Verquickung mit der neuen Epoche entfällt die Begründung, warum der neue Begriff etabliert werden müsse. Allein die Brisanz der Entwicklung der Gesellschaft verleiht dem neuen Begriff eine Triftigkeit, die ihn gleichsam als legitim erscheinen lässt. Alte Begriffe sind dann lediglich noch Referenz, um wahlweise neue Begriffe abzusichern oder zu diskreditieren. Ein rezeptionsfreudiges Feuilleton tut sein Übriges zur Nominierung von Prominenz.
Die dritte Funktion besteht darin, neue Kombinatoriken von Distinktionen zu erproben. Denn wenn die Theorien alt werden, etablieren sie im Zentrum ihres semantischen Apparats rigide Verkopplungen von Distinktionen, die nicht durchbrochen werden können. Um sich von der rigiden Verkopplung emanzipieren zu können, kann eine neue Epoche dazu dienen, nicht auf die Rigidität referenzieren zu müssen. Allein, weil die Proklamation einer neuen Epoche schon inhäriert, dass es einer neuen, jeden- falls einer reartikulierten Theorie bedarf, um den neuen Anforderungen der Wirklichkeit gerecht wer- den zu können.
[...]
1 Dieser Terminus ist hier bewusst im Plural gesetzt, da sich die „ Kritik der Leute “ (Vobruba 2019) ganz allgemein auf nahezu alle Wissenschaften und Disziplinen bezieht, ganz unabhängig davon, ob es sich bspw. um Impfgeg- ner, Erderwärmung oder um sonstige politische, soziale, ökonomische oder alltägliche Phänomene handelt, de- nen ein spezifischer „ Sinn“ und entsprechender Urheber samt Wirkung zugeschrieben wird. Im Folgenden be- schränkt sich dieser Titel jedoch auf die Sozialwissenschaft.
2 Geiger hatte diesen Terminus allerdings bei Karl Mannheim entlehnt, der sich 1932 mit dem Phänomen zuneh- mender Attraktivität des Nationalsozialismus beschäftigte. Er entsteht also nicht erst, wie Oberreuther 1987 mutmaßte, 1966 durch Rainer Barzel (Oberreuter 1987: 12). Das Phänomen solcher Stimmungen ist aber weitaus älter. Geiger beschreibt hier allerdings, wie die Demokratie quasi an sich selbst scheitert und in eine permanente Staatskrise stolpert, die erst durch entsprechende Mechanismen der Demokratie selbst ausgelöst und verstärkt wird.
3 Dieser Terminus entsteht vermutlich Ende 1914 mit dem Buch „ Der Lügenfeldzug unserer Feinde: Die Lügen- presse “ des Autors Reinhold Anton, was vermutlich sein Pseudonym darstellt. Grund war seine spezifische Inter- pretation des Ersten Weltkriegs in weiteren Pamphleten. Die Diskreditierung der Presse und von Journalisten ist aber weitaus älter und entsteht im 19. Jahrhundert aufgrund antisemitischer Klischees, da oft Juden Eigentümer von Zeitungen waren. Denen wurde permanent unterstellt, die „ deutsche Rasse “ (sic!) mit ihren Beiträgen sys- tematisch zu manipulieren. Fortan wurde und wird der Begriff periodisch in all seinen Variationen bis in die ak- tuelle Gegenwart und lagerübergreifend fortentwickelt. Ziel ist stets, die jeweilige Abweichung und ihre ver- meintlichen Urheber herabzusetzen sowie ein Monopol auf eine universelle Wahrheit mit absoluter Geltung zu erheben. Journalisten begegnet seither ein großes wie reichlich diffuses Misstrauen.
4 Entscheidend ist hier die Oikos-Polis-(In-)Differenz.
5 Siehe dazu etwa Schwintowski mit seiner reichlich hilf- wie buchstäblich: sinnlosen Erfindung der Neuen Ana- lytischen Regelungswissenschaft (NAWI).
6 Mit solch einer Veränderung geht dennoch das Dilemma einher, dass die eigene Position über kurz oder lang wieder überholt ist respektive von der Veränderung selbst eingeholt wird. Sie vollzieht sich fortlaufend, insbe- sondere in der politischen Teilhabe und Deliberation.
7 Die Citizen Science (CS) oder auch: Bürgerwissenschaft und Open Science bezeichnet seit den 1990er Jahren ein relativ diffuses Feld, in dem interessierte Laien und Freiwillige Projekte übernehmen und der etablierten Wissen- schaft zuarbeiten, sie in der Messung und Erhebung von Daten (usw.) unterstützen. Zum Teil greifen die Etablier- ten längst auf solche Formen zurück, da sie relativ günstig oder sogar völlig kostenlos Wissen generieren, das sonst nicht verfügbar wäre. Durch die Verbreitung digitaler Infrastrukturen („ Digitalisierung “) werden hier enorme Skalen- und Mitnahmeeffekte vermutet. Kritiker sprechen allerdings von einer äußerst schwierigen Alli- anz, da hier eine ganze Reihe divergierender Interessen aufeinandertreffen, nicht zuletzt hinsichtlich der Validität und Zuverlässigkeit der Daten und des Personals. Gleichzeitig liegt der historische Ursprung der Wissenschaften in solcher Laienarbeit im 18. Jahrhundert. Allerdings ist auch solch eine Analogie problematisch, da es sich hier in der Regel vormals um Universalgelehrte handelte und eben nicht um vollständige Laien. Die Differenzierung setzte erst später im 19. Jahrhundert ein.
8 Die bekannte Analogie von rechts und links ist hier viel zu ungenau, um solchen Fragen zu begegnen.
9 Stefan Breuer ist hier sichtlich ratlos, warum Weber - bei aller berechtigen Kritik - eher als „ Prügelknabe “ sozi- ologischer Theorien gilt, denn als ihr Musterschüler. Eines der Hauptprobleme bei den sog. Klassikern ist den- noch, dass sie kaum gelesen werden und ihre Arbeiten oft nur auf wenige Stichworte reduziert werden, ohne jemals den Erkenntnisprozess und ihren Kontext selbst in den Vordergrund zu rücken.
10 Auf humoristische Weise hatte die Muppet Show das Dilemma von Heute und Gestern mit einem Folksong einst parodiert: https://www.youtube.com/watch?v=JEilPR1PXko (Zugriff am 20.4.19).
11 Bekannt als: Epimenides der Kreter sagte: Alle Kreter sind Lügner.
12 Siehe etwa Trumps Reflex auf unliebsame Fragen und Journalisten: You are Fake News!
13 Gemeinhin in der politischen Rhetorik als Dammbruchargument oder als Argument der schiefen Ebene bezeich- net: Wenn man erst dieses oder jene erlaube, drohten unabsehbare Folgen. Allerdings haben die Befürworter solcher Thesen die Folgen erst durch ihr aktives Nicht-Handeln und die Verweigerung mit ausgelöst.
14 Dazu auch Fuhrmann hier im Buch.
1 Im deutschen Sprachgebrauch sind der Terminus der Politik und das Attribut des Politischen im Gegensatz zum Englischen mit policy, politics and polity mitunter sehr ungenau und verwischen regelmäßig zwischen reiner Ide- ologie und Polemik, persönlichen Emotionen und den staatsbürgerlichen, staatstragenden und eher technisch- formalen Voraussetzungen einer Polis als Gemeinschaft und ihrer Regierung. Michel Foucault prägte daher den Begriff der Gouvernementalität, die wiederum von den Begriffen des Governments und der Governance flankiert wie diskutiert werden, die dieses Spannungsfeld weitaus präziser fassen.
2 Begrifflich begreifendes Denken schien infolge der intellektuellen Debatten von Marx, Nietzsche und Kier- kegaard fortan nicht mehr möglich, denen ihr Denken dennoch rächend vor die eigenen Füße fiel, so Arendt dort. 3 Zur Rolle der Zitate: siehe Rainer Volkmann hier im Buch.
4 Man beachte das einstige Monopol der katholischen Kirche auf solche Deutungen und Drohungen, die sich aber auch Luther zunutze machte, der den Geisterglauben rationalisierte und in die Moderne überführte.
5 Eine schillernde Gemengelage moderner, esoterischer, fiktionaler und rechtsextremer Verschwörungstheorien, die davon ausgeht, dass die Menschheit nicht etwa durch die Evolution, sondern durch höhere Wesen, die Rep- tilien ähneln, erschaffen wurde, die die Menschen dann versklavt haben und sie fortan kontrollieren und steuern. 6 Die Flat Earth Society wurde 1956 in den USA gegründet und vertritt vehement die Ansicht, die Erde sei flach. Ihre Ursprünge gehen auf okkulte Theorien des 19. Jahrhunderts zurück, die periodisch wiederkehren.
7 Philosophie und Theologie galten ursprünglich und noch bis ins 19. Jahrhundert als absolute Universalwissen- schaften mit hohem Vertretungsanspruch, oft allein durch den Klerus, bürgerliche Laien und Privatgelehrte. Isaac Newton (1643-1727) etwa verstand seine Arbeiten der Mathematik und Physik als Naturphilosophie, nicht als Naturwissenschaft. Die Ökonomie bei Adam Smith (1723-1790) galt ebenfalls als Moralphilosophie. Der Begriff der Nationalökonomie entstand erst im 19. Jahrhundert mit Entstehen der Nationalstaaten und nationalistischer Ideen in Abgrenzung zur Monarchie. Allein mit der naturwissenschaftlichen Beobachtung und Auseinanderset- zung der semi-professionellen Laien (bspw. Heilkundigen, Ärzten und Bürgern, die nicht der Funktionselite der Kirche angehörten, sowie forschende Mönche und Nonnen etc.) entsteht aber von vornherein eine Erklärungslü- cke, die die Kirche oft als Häresie bezeichnete und entsprechend scharf sanktionierte. Mit der späteren Erweite- rung auf soziale und ökonomische Phänomene kollabierte letztlich der Alleinvertretungsanspruch der Kirche und der Philosophie vollends. Eine Folge war die Herausbildung des religiösen Sozialismus im 17./18. Jahrhundert, der sich zu den später bekannten Formen des philosophischen und politischen Sozialismus im 19. Jahrhundert weiterentwickelte und letztlich die Entstehung politischer Parteien begünstigte.
8 Diese beiden Termini bleiben allerdings seit Jahrzehnten oft reichlich plakativ und unklar bleibt, was sie eigent- lich genau ausdrücken sollen.
9 Schwintowski versucht sich hier als Jurist an sozialwissenschaftlicher Antizipation und scheitert grandios.
10 Die PKS bildet einzig und allein das bekannte Hellfeld der Arbeit der Polizei ab, hinsichtlich der Strafanzeigen, Verdachtsfälle und Ermittlungen etc., bildet aber keinerlei Rückschlüsse auf tatsächliche strafrechtliche Verur- teilungen (u. Ä.) und das Dunkelfeld der ihr unbekannten Realität. Zudem ist die PKS selbst oft genug Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analysen und der Kritik der Polizei selbst, da sie den eigentlichen Kontext ihres Gegen- standes, der Polizeiarbeit und Stellenplanungen usw., völlig ausblendet und einzig nur Rohdaten sammelt.
11 Als zentrales Merkmal der Soziologie, das von Marx über Adorno und Horkheimer bis zu Habermas reicht, wahlweise je nach näherer Auslegung groß oder klein geschrieben wird, und regelmäßig Widersprüche erzeugt.
12 Was etwa an dem Phänomen Industrie 4.0 tatsächlich neu ist, eröffnet spannende Fragen, da die Vernetzung, Automatisierung und Fortentwicklung immer leistungsstärkerer Apparate und die Frage der Interaktionen zwi- schen Menschen und Technik seit jeher emergent ist. Was man daran plakativ als ‚ Digitalisierung ‘ bezeichnet, fand ebenfalls bereits im 18. Jahrhundert mit der ersten Zerlegung und Dezentralisierung der Arbeitsschritte von der Manufaktur zur Fabrik statt, die sich spätestens in den 1970er Jahren immer weiter ausdifferenzierte und sukzessive fortentwickelte, was mit Taylorismus, Rationalisierung und Scientific Management in den 1920er Jah- ren begann. Außerdem ist bei jenem Kunstwort gar nicht klar, was von den vermeintlichen Potentialen tatsäch- lich in welcher Form umgesetzt wird, so auch Pfeiffer/Huchler (2018).
13 Das Argument findet sich sowohl bei Trump als auch bei Putin, und nicht ohne Grund wurde Peter Hartz als vormaligem Arbeitsdirektor und Gewerkschafter bei Volkswagen zunächst Großes zugeschrieben, der sich dann später beklagte, dass die Erfolge der nach ihm benannten Sozialreformen nahezu wirkungslos blieben, weil man sie nicht konsequent nach seiner Maßgabe umgesetzt hätte.
14 Personen bis 15 Jahre und ab 65, und Menschen, die aus vielerlei Gründen nicht in der Lage oder willens sind zu arbeiten, beschränken schon mal diese These, dass wir alle arbeiten müssen. Ergo: Kinder, Schüler, Studenten, Alte, Kranke und Rentner oder auch Vermögende (u.v.a.m.) gehören nicht zwingend zum Arbeitskräftereservoir. Von den ca. 80 Mio. Einwohnern Deutschlands sind nur etwa grob 40 Mio. überhaupt beschäftigt.
15 Hayek resümierte bereits 1944, dass sich erstaunlich viele Sozialwissenschaftler schon früh ‚ gleichschalten ‘ ließen.
16 Die bürgerlich-konservative Rechte kann sich hier relativ bequem darauf zurückziehen, dass das Bestehende, wie etwa der Rechtsstaat („ law and order “), ausreichend sei und allein deshalb erhalten und verteidigt („ konser- viert “) werden muss. Damit beginnt aber schon der Konflikt der konservativen Linken, die keinerlei Veränderung des Status quo anerkennen wollen und jeglicher politischer und radikaleren Extremisten, die zurückwollen in idealisierte Epochen, die nachweislich nie existierten oder mit der fiktiven Annahme operieren, diesen Idealzu- stand herstellen zu können.
17 Publikation in Vorbereitung.
1 Stirner 2011: 239-249
2 Sassen 2008
3 Adorno 2003
4 Luhmann 1971: 21
5 Burton 1972: 19ff.
6 Schimank 2013: 12
7 Beck 2013: 280
8 Tyrell 2010: 320
9 Beck 1986: 31
10 Schulze 2000
11 Nachtwey 2016
12 Marchart 2013b
13 Houben/Prietel 2018
14 Simanowski 2016
15 Baecker 2007
16 Schimank 2000: 19
17 Latour zitiert nach Marchart 2013a: 138
18 Marchart 2013a
19 Esposito 2017: 117 Fn.3
20 Luhmann 1987: 516
21 Lehmann 2015
22 Koselleck (2010: 59) weist darauf hin, dass Begriffe in jeweiligen Epochen entstehen, um spezifische Erfahrun- gen sprachlich zu kondensieren. Werden über die Epochenbildung in der Theoriebildung analytische Begriffe als quasi-historitische Begriffe behandelt, so lassen sie sich aus der aktuellen Erfahrungswelt herauslösen. Analytische Begriffe sind dann selbstredend immer auch historische Begriffe, weil sie nicht zeitunabhängig entstehen, sie kön- nen jedoch als analytische Begriffe den Anspruch erheben, eine generelle Gültigkeit aufzuweisen. Insofern postu- lieren Theorien analytische Begriffe, die zwar historisch sind, jedoch einen universalen Anspruch einfordern.
23 Parsons 2019: 60
24 Weber 1922: 30f,
25 Boltanski/Chiapello 2003: 54
26 So wird Bude aufzeigen, dass sich die Soziologie nach und nach auf ein Konzept der „seriellen Struktur“ des Sozialen umstellte. Sie internalisiert das Konzept der Kontingenz soweit, dass sie den Begriff des Sozialen auf- löst und schließlich das Ende der Soziologie besiegeln müsste. Bude stellt jedoch fest: „Erst die Konzeption des Sozialen als serielle Struktur ermöglicht Beschreibungen einer ‚fluktuierenden Welt‘. Das soziale Universum erscheint als eine indeterminierte Figuration singulärer Interaktionsereignisse im Raum. Es gibt keinen festen Rahmen und keine notwendigen Beziehungen, die das Ganze zusammenhalten. Überall wirken die ambivalenten Mechanismen der Verbindung und Zerstreuung; ständig sind die Menschen dabei, Brücken zu schlagen und Tü- ren zu öffnen. Der gesellschaftliche Zusammenhang erscheint prekär: nicht durch globale Integrationen wird er hergestellt, sondern er geht aus einer Vielzahl partieller Integrationen hervor. Im Sinne der Forderung von H.G. Wells wäre mit diesen Vorstellungen nicht das Ende der Soziologie besiegelt, es stünde vielmehr ihr eigentlicher Beginn bevor“ (Bude 1988: 14). Soziologie müsste dieser Lesart nach eine Praxis kontingenter Fundamente sein, die permanent aufgelöst werden.
- Citar trabajo
- Dr. Uwe Lammers (Editor), Jan Tobias Fuhrmann (Autor), Rainer Volkmann (Autor), Alperen Atik (Autor), Lars Clausen (Autor), Werner Goldschmidt (Autor), Uwe Lammers (Autor), 2019, Theorie und Praxis in Zeiten von Fake News. Was soll man glauben und warum?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/502204
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