Nachdem das Thema der soziale Ungleichverteilung von Bildungschancen nach den Jahren der Bildungsexpansion in Vergessenheit geraten war, wurde durch die PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) die Diskussion am Ausgang des 20. Jahrhunderts neu belebt, denn in „(...) allen PISA- Teilnehmerstaaten besteht ein Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und erworbenen Kompetenzen. Dieser ist jedoch in keinem Land enger als in Deutschland“ (PISA-Konsortium 2003: 57).
Sogar bei identischen Leistungen sind die relativen Chancen eines Kindes aus der Oberschicht ein Gymnasium zu besuchen in Deutschland drei Mal höher als die für ein Kind aus der Arbeiterschicht (ebenda).
Die Aufgabe des ersten Teils dieser Arbeit soll es sein die Mechanismen darzustellen, die Individuen schichtspezifisch verschiedenen Bildungseinrichtungen zuordnen wie sie Pierre Bourdieu und Jean Claude Passeron in den 1960er bis 1980er Jahren anhand der französischen Gesellschaft studierten.
Dazu werden zunächst die zwei grundlegenden Forschungsarbeiten der Autoren vorgestellt. Zum ersten „Les Héritiers: Les Étudiants et la Culture“ (im Deutschen: „Bildungsprivileg und Bildungschancen“) eine Arbeit, die bereits 1964 in Frankreich erschien und sich vor allem mit den Ausmaßen der Ungleichheit der Bildungschancen an Universitäten befaßt.
Und 2. „La Reproduction: Eléments pour une Théorie du System d’Enseignement” (im Deutschen: „Die Aufrechterhaltung der Ordnung“) von 1970 (Goldschmidt 1971: 8/9). Der zweite Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit der aktuelleren Forschung und ihrer Beziehung zu den Ansätzen von Pierre Bourdieu und Claude Passeron. Anhand verschiedener Studien soll gezeigt werden, in welchen Aspekten der neueren bildungssoziologischen Forschung Bourdieu’sches Gedankengut Eingang gefunden hat und inwiefern es weiterentwickelt wurde.
Inhalt
1. Einleitung
2. „Die Illusion der Chancengleichheit“
2.1. „Bildungsprivileg und Bildungschancen“
2.2. „Die Aufrechterhaltung der Ordnung“
3. Struktur, Habitus und Praxis
3.1. Die Struktur
3.1.1. Das kulturelle Kapital
3.1.2. Das soziale Kapital
3.2. Habitus und Praxis
4. Die Bedeutung von Bourdieus Konstrukt für Ungleichheitsforschung und Bildungssoziologie
5. Die Konjukturkurve der Bildungssoziologie
6. Reproduktion der Chancenungleichheit im Sinne Bourdieus – eine Überleitung zur aktuellen Bildungsforschung
7. Die Schule als das Instrument der Schichtreproduktion
7.1. Erste Hürde am Übergang zu den weiterführenden Schulen
7.2. Der Einfluss des Lehrers
8. Schule als Verstärker der Schichtreproduktion
8.1. Schichtspezifische Sozialisation
8.2. Schichtspezifisches Wahlverhalten
9. Fazit
10. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Nachdem das Thema der soziale Ungleichverteilung von Bildungschancen nach den Jahren der Bildungsexpansion in Vergessenheit geraten war, wurde durch die PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) die Diskussion am Ausgang des 20. Jahrhunderts neu belebt, denn in „(...) allen PISA- Teilnehmerstaaten besteht ein Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und erworbenen Kompetenzen. Dieser ist jedoch in keinem Land enger als in Deutschland“ (PISA-Konsortium 2003: 57). Sogar bei identischen Leistungen sind die relativen Chancen eines Kindes aus der Oberschicht ein Gymnasium zu besuchen in Deutschland drei Mal höher als die für ein Kind aus der Arbeiterschicht (ebenda).
Die Aufgabe des ersten Teils dieser Arbeit soll es sein die Mechanismen darzustellen, die Individuen schichtspezifisch verschiedenen Bildungseinrichtungen zuordnen wie sie Pierre Bourdieu und Jean Claude Passeron in den 1960er bis 1980er Jahren anhand der französischen Gesellschaft studierten. Dazu werden zunächst die zwei grundlegenden Forschungsarbeiten der Autoren vorgestellt. Zum ersten „Les Héritiers: Les Étudiants et la Culture“ (im Deutschen: „Bildungsprivileg und Bildungschancen“) eine Arbeit, die bereits 1964 in Frankreich erschien und sich vor allem mit den Ausmaßen der Ungleichheit der Bildungschancen an Universitäten befaßt. Und 2. „La Reproduction: Eléments pour une Théorie du System d’Enseignement” (im Deutschen: „Die Aufrechterhaltung der Ordnung“) von 1970 (Goldschmidt 1971: 8/9). Diese Studie beschäftigt sich mit den Mechanismen der Selektion, ihrer Verschleierung und ihrer Funktion innerhalb der Gesellschaft. Die zweite Studie nimmt viele Thesen und Vermutungen der ersten Arbeit auf, erweitert und belegt diese. In Deutschland wurden beide Arbeiten 1971 gemeinsam vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung unter dem Titel „Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs“ veröffentlicht. Alle statistischen Daten sind den Arbeiten von Bourdieu und Passeron entnommen und beziehen sich daher auf das Frankreich der 1960er und 1970er Jahre. In einem zweiten Schritt wird erläutert werden, welche Schlussfolgerungen Pierre Bourdieu aus seinen Forschungen für die Struktur der Gesellschaft und ihrer Reproduktion gezogen hat.
Der zweite Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit der aktuelleren Forschung und ihrer Beziehung zu den Ansätzen von Pierre Bourdieu und Claude Passeron. Anhand verschiedener Studien soll gezeigt werden, in welchen Aspekten der neueren bildungssoziologischen Forschung Bourdieu’sches Gedankengut Eingang gefunden hat und inwiefern es weiterentwickelt wurde.
2. „Die Illusion der Chancengleichheit“
2.1. „Bildungsprivileg und Bildungschancen“
Bourdieu und Passeron verfolgen in ihrer ersten Forschungsarbeit die These, dass das System der Universitäten „das Rückgrat der gesamten sozioökonomischen Klassenstruktur Frankreichs“ (Goldschmidt 1971: 8) ist und deren Existenz sichert. Die Autoren gehen davon aus, dass das soziale System der Gesellschaft der Legitimation durch das Bildungssystem bedarf. Die Bildungseinrichtungen müssen mit dem, was sie lehren die Struktur der Gesellschaft und ihre Mechanismen bestätigen. Das Bildungssystem kann seine relative Freiheit nur dann behaupten, wenn es dieser Aufgabe prinzipiell nachkommt. Somit hat die Schule keine emanzipatorische Wirkung, sondern konserviert die Strukturen der Ungleichheit. Das Bildungssystem sorgt dafür, dass jedes Individuum nur so viel Bildung erfährt, wie es braucht um sich etwa dort zu behaupten wo es herkommt. So werden die Kinder von Akademikern Akademiker und die Kinder von Arbeitern Arbeiter.
Diese These beruht auf der schlichten Feststellung, dass die Schichten, die am stärksten in den Universitäten vertreten sind, die sind, die in der Bevölkerung am schwächsten vertreten sind. Während die relativen Chancen für einen Hochschulbesuch bei Kinder von Landarbeitern bei 1% liegen, sind es bei Kindern von Freiberuflern 80%. Diese relativen Chancen drücken sich in den Zukunftsaussichten junger Menschen aus. Schüler empfinden ein Studium entweder als „unerreichbar“, „möglich“ oder sogar als „normal“. Vom Sohn eines Akademikers wird schlichtweg erwartet, dass er studiert, während diese Forderung seltener an den Sohn eines Arbeiters herangetragen wird. (Bourdieu/Passeron 1971)
Die ca. 6% von Arbeiterkindern, die sich bis zum Universitätsbesuch durchschlagen, werden dort häufig auf die philosophische Fakultät abgedrängt, deren Fachrichtungen weniger Prestige und Einkommen versprechen als die juristische[1] oder die medizinische Fakultät. Kinder priviligierter Eltern besuchen die philosophische Fakultät, weil sie sich zum Studium verpflichtet, aber nicht weil sie sich dazu berufen fühlen. (ebenda)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
„Die Größe der kulturellen Hindernisse, die die Kinder aus unterpriviliegierten Klassen zu überwinden haben, wird bereits daran deutlich, dass noch auf Hochschulebene signifikante Unterschiede im Verhalten und in den Fähigkeiten zwischen Studenten verschiedener sozialer Herkunft bestehen, obwohl sie sämtlich fünfzehn bis zwanzig Jahre lang der homogenisierenden Wirkung der Schule ausgesetzt waren.“ (ebenda: 28) Diese Hindernisse finden ihren Ausdruck in der Dauer des Studiums und auch in der Abbrecherquote. Da nur 14% der Arbeiterkinder während des Studiums von ihren Eltern unterstützt werden, sind 36% von ihnen gezwungen neben dem Studium zu arbeiten. Hingegen werden 57% der Söhne und Töchter von Freiberuflern und Führungskadern von ihren Eltern finanziell versorgt, sodass nur 11% einen Job haben. Unter den ältesten Jahrgängen von Studenten finden sich auch aus diesem Grund viele Kinder aus unterpriviligierten Familien. Auch die Quote der Studienabbrecher steigt mit sinkender sozialer Schicht. (ebenda) „Die soziale Ungleichheit wird auf diese Weise durch die legitimierende Autorität der Schule verdoppelt, da sich die unterpriviligierten Klassen ihres Geschicks zu sehr, seiner Mechanismen aber zu wenig bewußt sind und daher selbst zu seiner Erfüllung beitragen.“ (ebenda: 87)
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Ein Mangel, den Bourdieu und Passeron an den aus unterpriviligierten Schichten stammenden Studenten feststellen konnten, ist sprachlicher Natur. 83% der Kinder von Freiberuflern hatten Latein im Baccalaureat, aber nur 41% der Landarbeiterkinder. Dies ist von Bedeutung, da Schüler, die eine humanistische Bildung – zu der eben auch Lateinunterricht gehört – genossen haben generell erfolgreicher sind, da sie den an Universitäten üblichen institutionellen Sprachcode beherrschen.[2] Durch die überlegene Handhabung von Sprache haben Studenten der Oberschicht unter anderem einen beträchtlichen Vorteil bei mündlichen Prüfungen. (ebenda)
„Die priviligiertesten Studenten verdanken ihrem Herkunftsmilieu nicht nur Gewohnheiten, Fähigkeiten und Einstellungen, die für das Studium unmittelbar nützlich sind; sie haben auch andere Kenntnisse, Verhaltensweisen, Interessen und einen ‚guten Geschmack’ ererbt, die dem Studium indirekt zugute kommen.“ (ebenda: 35) Die Unterschiede zwischen den Studenten verschiedener Klassen treten deshalb am stärksten in Bereichen hervor, die nicht durch schulische Bildung vermittelt werden. Die Autoren stellen fest, dass Kenntnisse in außerschulischen Bereichen mit der Höhe der sozialen Schicht immer vielfältiger werden. So haben die priviligierten Schichten eine wesentlich größere Vertrautheit im Umgang mit Kunst durch Besuche in Theatern, Museen, Galerien und Konzerten. Da meist nur kanonisierte Kunst Eingang ins Schulcurriculum findet, handelt es sich dabei vor allem um zeitgenössische Kunst. (ebenda)
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Bourdieu und Passeron konstatieren, dass das Bildungssystem zwar die Allgemeinbildung preist, diese jedoch nicht vermittelt. „Es wird augenfällig, dass die reine Schulbildung als kultureller Teilbereich nicht nur eine partielle Bildung darstellt, sondern eine Bildung geringeren Werts, da die Elemente, aus denen sie besteht, nicht die Bedeutung haben, die sie in einem größeren kulturellen Rahmen hätten.“ (ebenda: 37)
Außerdem vermittelt die Schule Wissen zweiten Grades, das auf Wissen ersten Grades aufbaut, ohne aber jemals letzteres zu lehren. Egal welches Fachwissen es zu erlernen gilt, man benötigt die Kenntnis von grundlegenden Techniken und Ausdrucksmöglichkeiten, die jedoch das Privileg der gebildeten Klassen sind. Da Kinder dieser Klassen von frühster Kindheit an mit den Werkzeugen des Lernens ausgestattet werden, fällt ihnen die Aneignung jeglicher Art von Wissen wesentlich leichter. Die Autoren schlussfolgern, dass Oberschichtkinder Wissen quasi „osmoseähnlich“ im Vorbeigehen erwerben, während für Unterschichtkinder schulmäßiges Lernen die einzige Möglichkeit darstellt. Die Leichtigkeit mit der sich ein Schüler Bildung aneignet, ist also unabhängig von der Lernwilligkeit. (ebenda)
Selbst wenn man Schulerfolg gleichmäßig auf die Schüler aller Schichten verteilen könnte, würden sich Oberschichtkinder durch ihr kulturelles Verhalten hervortun. Da sich die Schulbildung enorm stark an der Elitekultur orientiert, sind Unterschichtkinder gezwungen sich mühevoll anzueignen, was Oberschichtkindern in die Wiege gelegt wird: „Stil, Geschmack, Esprit, kurz, die Leichtigkeit und Lebensart, die dieser Klasse, da es ihre eigene Kultur ist, natürlich sind.“ (ebenda: 42) Die Leichtigkeit und die Sicherheit des Auftretens im Hochschulalltag führt unter anderem dazu, dass die Studenten der Oberschicht unter ihren Kommilitonen die bekanntesten sind. Da sie im elterlichen Milieu bereits die Techniken des gesellschaftlichen Umgangs erworben haben, können sie mehr Menschen in ihrer Umgebung mobilisieren, was z.B. einen Vorsprung bei der Weitergabe technischer Daten zur Folge hat. Auch bekommen Studenten der Obeschicht öfter intellektuelle Anregungen, wie Literaturempfehlungen durch ihren größeren Bekanntschaftskreis. (ebenda)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
„Kurz, die Tragweite der sozialen Ungleichheitsfaktoren ist so groß, dass auch eine wirtschaftliche Angleichung nicht viel ändern würde, da das Bildungssystem immer weiter soziales Privileg in Begabung oder individuelles Verdienst umdeuten und die Ungleichheit dadurch legitimieren würde.“ (ebenda: 45)
Bourdieu und Passeron ziehen am Schluß ihrer Betrachtung in Erwägung, was getan werden sollte um die Benachteiligung der unpriviligierten Klassen im Bildungssystem zu verringern. Zum ersten gäbe es die Möglichkeit den Erfolg eines Studenten an der Menge der Hindernisse zu messen, die er überwinden mußte um seine jetzige Position zu erreichen. Dem einzelnen Studenten wird quasi ein Handikap zugeordnet, das es den Kontrahenten, wie beim Golf, erlaubt gegeneinander anzutreten obwohl sie verschiedene Ausgangsqualifikationen besitzten. Eine zweite Möglichkeit wäre es die Studenten in Klassen einzuteilen ähnlich wie beim Boxkampf, sodass nur Konkurrenten mit vergleichbaren Voraussetzungen gegeneinander antreten würden. Beide Möglichkeiten bringen Absolventen hervor deren Abschlüsse kaum vergleichbar wären, sodass das Bildungssystem eine seiner wichtigsten Funktionen einbüßen würden. Denn es ist die Aufgabe des Bildungssystems Individuen hervorzubringen, die für ihr gesamtes Leben in eine Rangordnung eingestuft worden und somit vergleichbar sind. Examina bleiben somit das einzige angemessene Verfahren um die erforderliche Vergleichbarkeit herzustellen.(ebenda)
Die Autoren fordern eine rationale Pädagogik. Diese bisher noch nicht existente Pädagogik soll sich „an einer genauen Kenntnis der sozial bedingten kulturellen Ungleichheit orientieren und entschlossen sein (...) sie zu verringern“. (ebenda: 89) So sollten Techniken, wie der virtuose Umgang mit Sprache, der eine Frage der Übung ist nicht vorausgesetzt, sondern gelehrt werden. Das Monopol der Familie zur Weitergabe von Kulturtechniken muß durchbrochen und ins Bildungwesen integriert werden. (ebenda)
2.2. „Die Aufrechterhaltung der Ordnung“
In der Forschungsarbeit von Pierre Bourdieu und Jean Claude Passeron von 1970 indentifizieren die Autoren vier Phänomene, die zur Stabilität des Ungleichheiten reproduzierenden Hochschulsystems beitragen. Diese Arbeit beschränkt sich jedoch auf zwei, die für dieses Thema wesentlich sind. Zunächst beschäftigen sie sich mit der Ritualisierung der pädagogischen Kommunikation zwischen Professoren und Studenten, die mehr Mißverständnis als Verständnis produziert. Es folgt eine Untersuchung der Prüfungsmodalitäten, die die kontinuierliche Selektion im Bildungssystem verschleiert. (Goldschmidt 1971)
[...]
[1] In Frankreich gehören auch die Wirtschaftswissenschaften zur juristischen Fakultät.
[2] Schon Basil Bernstein erkannte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass unsere Herkunft unsere Sprachfähigkeiten beeinflusst. Er unterschied zwischen dem restringierten Code der Unterschicht und dem elaborierten Code der Oberschicht.
- Citar trabajo
- BA Christian Wenske (Autor), Corinna Pohl (Autor), 2005, Reproduktion sozialer Ungleichheit nach Pierre Bourdieu und Jean Claude Passeron, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/50191
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