Seit einiger Zeit ist das deutsche Bildungssystem in die Kritik geraten. Durch den sogenannten „PISA-Schock” Ende 2001 in Folge der PISA-Studie im Jahr 2000 fand ein Umdenken bezüglich des deutschen Bildungssystems statt, welcher den Anstoß für viele Reformen darstellte. Finnland hingegen war einer der Gewinner des ersten PISA-Tests und „[...] ist spätestens seit 2003 der Überflieger unter allen Teilnahmeländern.” (de Olano, D. 2010). Zwar unterscheiden sich Finnland und Deutschland in vielen Hinsichten, jedoch sind beide Länder Mitglied der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) und gelten, laut Human Development Index, seit mehreren Jahrzehnten als zwei der am höchsten entwickelten Industrienationen der Welt (vgl. United Nations Development Programme 2016). Somit stellt sich die Frage, warum beide Staaten unter ähnlichen Voraussetzungen solch eklatante Unterschiede in den PISA-Studien aufwiesen.
Vor dem Hintergrund dessen, setzt sich die Arbeit mit folgenden Fragestellungen auseinander:
Wie ist das signifikant schlechte Abschneiden Deutschlands zu erklären? Warum war Finnland im Gegensatz zu Deutschland unter den ersten Plätzen bei den PISA- Studien?
Zur Beantwortung dieser Fragestellungen wird das finnische Bildungssystem in dieser Arbeit als Idealtypus angesehen und es werden bestimmte, insbesondere strukturelle, Merkmale des finnischen Bildungssystems und des deutschen Bildungssystems analysiert und diese gegenübergestellt.
Da Finnland in den PISA-Studien aus den 2000er Jahren, insbesondere aus dem Jahr 2006, im Vergleich zu anderen Ländern außergewöhnlich gut abgeschnitten hat, werden Daten aus dem Jahr 2005 verwendet. Die vorliegende Arbeit bezieht sich vorrangig auf eine Analyse des Schulsystems, da die PISA-Ergebnisse nur die schulischen Leistungen eines Landes erfassen. Es ist jedoch festzuhalten, dass Bildungssysteme sehr komplexe und umfangreiche Systeme darstellen, die ständigen Änderungen unterworfen sind. Somit kann eine umfassende Analyse der beiden hier behandelten Bildungssysteme nicht ansatzweise vollständig, sondern lediglich unter Berücksichtigung bestimmter Aspekte erfolgen und auch nicht den gegenwärtigen Stand des jeweiligen Bildungssystems widerspiegeln. Hierbei wird insbesondere auf die Primarstufe- und Sekundarstufe I eingegangen, da die Prüfungen der PISA-Studien am Ende der Pflichtschulzeit stattfinden.
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG
2. GEGENSTANDSBEREICH
2.1 BILDUNGSSYSTEME
2.2 PISA
2.3 PISA-ERGEBNISSE 2006
3. BILDUNGSSYSTEM FINNLAND
3.1 GESCHICHTE
3.2 FINNISCHE BILDUNGSPOLITIK
3.3 ORGANISATION UND FINANZIERUNG
3.4 ÜBERSICHT
3.4.1 ELEMENTARBEREICH
3.4.2 PRIMARSTUFE UND SEKUNDARSTUFE I
3.4.3 SEKUNDARSTUFE II
3.5 UNTERRICHTSAUFBAU
3.6 LEHRERPROFESSIONALISIERUNG
3.7 EVALUATION
3.8 FAZIT UND AUSBLICK
4. BILDUNGSSYSTEM DEUTSCHLAND
4.1 GESCHICHTE
4.2 DEUTSCHE BILDUNGSPOLITIK
4.3 ORGANISATION UND FINANZIERUNG
4.4 ÜBERSICHT
4.4.1 ELEMENTARBEREICH
4.4.2 PRIMARSTUFE
4.4.3 SEKUNDARSTUFE I
4.4.4 SEKUNDARSTUFE II
4.5 UNTERRICHTSAUFBAU
4.6 LEHRERPROFESSIONALISIERUNG
4.7 EVALUATION
4.8 FAZIT UND AUSBLICK
5. VERGLEICH UND DISKUSSION
6. FAZIT UND AUSBLICK
7. QUELLENVERZEICHNIS I
Abbildungsverzeichnis
ABBILDUNG 1: ERGEBNISSE DER PISA-STUDIE 2006 FINNLANDS, DEUTSCHLANDS UND DER OECD-LÄNDER (OECD).
ABBILDUNG 2: ÜBERSICHT FINNISCHES BILDUNGSSYSTEM (DIPF 2005).
ABBILDUNG 3: ÜBERSICHT DEUTSCHES BILDUNGSSYSTEM (DIPF 2005).
ABBILDUNG 4: VERHÄLTNIS SCHÜLER/LEHRKRAFT (EUROSTAT).
ABBILDUNG 5: ÖFFENTLICHE BILDUNGSAUSGABEN RELATIV ZUM BIP (EUROSTAT).
ABBILDUNG 7: ÖFFENTLICHE BILDUNGSAUSGABEN IN PROZENT DES BIP IM JAHR 2005 NACH BILDUNGSBEREICHEN (EUROSTAT).
1. Einleitung
„ P isa vertrieb das Selbstbewusstsein und die Selbstgerechtigkeit, mit der die Deutschen viel zu lange auf ihr Schulsystem geschaut hatten.” (Verbeet, M. 2010, o. S.).
Seit einiger Zeit ist das deutsche Bildungssystem in die Kritik geraten. Durch den sogenannten „PISA-Schock” Ende 2001 in Folge der PISA-Studie im Jahr 2000 fand ein Umdenken bezüglich des deutschen Bildungssystems statt, welcher den Anstoß für viele Reformen darstellte (vgl. Niemann, D. 2010, S. 59). Finnland hingegen war einer der Gewinner des ersten PISA-Tests und „[…] ist spätestens seit 2003 der Überflieger unter allen Teilnahmeländern.” (de Olano, D. 2010, S. 254). Zwar unterscheiden sich Finnland und Deutschland in vielen Hinsichten, jedoch sind beide Länder Mitglied der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) und gelten, laut Human Development Index, seit mehreren Jahrzehnten als zwei der am höchsten entwickelten Industrienationen der Welt (vgl. United Nations Development Programme 2016, S. 198ff.). Somit stellt sich die Frage, warum beide Staaten unter ähnlichen Voraussetzungen solch eklatante Unterschiede in den PISA-Studien aufwiesen.
Vor dem Hintergrund dessen, setzt sich die Arbeit mit folgenden Fragestellungen auseinander:
W ie ist das signifikant schlechte Abschneiden Deutschlands zu erklären? Warum war Finnland im Gegensatz zu Deutschland unter den ersten Plätzen bei den PISA- Studien?
Zur Beantwortung dieser Fragestellungen wird das finnische Bildungssystem in dieser Arbeit als Idealtypus angesehen und es werden bestimmte, insbesondere strukturelle, Merkmale des finnischen Bildungssystems und des deutschen Bildungssystems analysiert und diese gegenübergestellt.
Da Finnland in den PISA-Studien aus den 2000er Jahren, insbesondere aus dem Jahr 2006, im Vergleich zu anderen Ländern außergewöhnlich gut abgeschnitten hat, werden Daten aus dem Jahr 2005 verwendet. Die vorliegende Arbeit bezieht sich vorrangig auf eine Analyse des Schulsystems, da die PISA-Ergebnisse nur die schulischen Leistungen eines Landes erfassen. Es ist jedoch festzuhalten, dass Bildungssysteme sehr komplexe und umfangreiche Systeme darstellen, die ständigen Änderungen unterworfen sind. Somit kann eine umfassende Analyse der beiden hier behandelten Bildungssysteme nicht ansatzweise vollständig, sondern lediglich unter Berücksichtigung bestimmter Aspekte erfolgen und auch nicht den gegenwärtigen Stand des jeweiligen Bildungssystems widerspiegeln. Hierbei wird insbesondere auf die Primarstufe- und Sekundarstufe I eingegangen, da die Prüfungen der PISA-Studien am Ende der Pflichtschulzeit stattfinden.
Diese Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert. Im zweiten Kapitel wird auf den Gegenstandsbereich der Arbeit eingegangen: Dazu werden zehn Hypothesen zu Kriterien vorgestellt, die ein „erfolgreiches” Bildungssystem ausmachen und im Näheren erläutert. Daraufhin wird kurz die PISA-Studie beleuchtet und es werden die Ergebnisse der PISA-Studie Finnlands und Deutschlands aus dem Jahr 2006 vorgestellt.
In Kapitel 3.1 wird kurz auf die Geschichte Finnlands in Bezug auf seine Bildung eingegangen. Kapitel 3.2 behandelt die Ziele und Grundlagen der finnischen Bildungspolitik. Folglich schließt sich die bildungspolitische Einbettung der Organisation und Finanzierung schulischer Rahmenbedingungen im Punkt 3.3 an. Hierbei werden die Zuständigkeiten für Bildungsfragen und finanzielle Träger schulischer und curricularer Erfordernisse angeführt. Anknüpfend macht eine Übersicht (Kapitel 3.4) deutlich, wie das finnische Bildungssystem strukturell gegliedert ist. Der Elementarbereich, die Primarstufe und die Sekundarstufe I, sowie die Sekundarstufe II werden im Folgenden näher charakterisiert. Im Weiteren soll der Unterrichtsaufbau (3.5) an finnischen Schulen näher betrachtet werden. Im Punkt 3.6 Lehrerprofessionalisierung wird das gesellschaftliche Ansehen, welches mit dem Lehrerberuf im finnischen Staat einhergeht, näher umschrieben. Kapitel 3.7 umfasst die Thematik der Evaluation, die auf zwei Ebenen aufgeteilt ist und ein umfassendes Maß an Selbstevaluation beinhaltet. Im abschließenden Punkt 3.8 werden in einem kurzen Fazit die Merkmale des finnischen Bildungssystems zusammengefasst und es wird beschrieben, welche zukünftigen Herausforderungen das finnische Bildungssystem wird bewältigen müssen.
Im vierten Kapitel wird das deutsche Bildungssystem analysiert und ebenfalls dessen strukturelle Besonderheiten herausgearbeitet. Auch hier wird zunächst geschichtlich (4.1) auf die Anfänge der deutschen Bildungskultur und -entwicklung geschaut. Folglich wird in Kapitel 4.2 die deutsche Bildungspolitik anhand ihrer föderalen Ausrichtung in Kürze beschrieben. Der Abschnitt zur Organisation und Finanzierung (4.3) schließt sich bei dem finnischen Pendant dem vorherigen Punkt nahtlos an. In Kapitel 4.4 wird eine Übersicht Aufschluss über die dreigliedrige Struktur des deutschen Bildungssystems geben. Punkt 4.5 gibt einen kurzen Überblick über den Unterrichtsaufbau in Deutschland. Im Punkt 4.6 wird unter anderem die Lehrerbildung beschrieben. Der Fokus dabei liegt auf der Vermittlung von Kompetenzbereichen, die für eine weitere Professionalisierung der Lehrkräfte erforderlich sind. Im vorletzten Kapitel 4.7 wird der Aspekt der Evaluierung, die besondere Bildungsstandards erfordert, näher erklärt. In 4.8 wird gleichsam wie im Punkt 3.9 ein Fazit und Ausblick, nun hinsichtlich des deutschen Bildungssystems gezogen. Hierzu soll im Besonderen betrachtet werden, welche Reformbemühungen angestoßen wurden, um den Herausforderungen zu begegnen, die sich einerseits aus der föderalen Bildungsstruktur und andererseits aus den unterschiedlichen sozialen Hintergründen der Schülerinnen und Schüler ergeben. Im fünften Kapitel werden schließlich die beiden Bildungssysteme miteinander verglichen. Dies wird vorgenommen, indem die in Kapitel 2 vorgestellten Hypothesen einander gegenübergestellt werden.
Abschließend wird in Kapitel 6 ein Fazit gezogen, dass mittels der Kernerkenntnisse dieser Arbeit einen Ausblick auf eine mögliche künftige Entwicklung der beiden Bildungssysteme gibt.
2. Gegenstandsbereich
2.1 Bildungssysteme
Diese Arbeit stützt sich auf eine Analyse von Döbert und Sroka (2004). In dieser untersuchten, systematisierten und verglichen Döbert und Sroka die Bildungssysteme sechs verschiedener Länder, die bei der PISA-Studie im Vergleich zu anderen Staaten überdurchschnittliche Leistungen aufwiesen, nach verschiedenen Kriterien und verglichen diese. Döbert und Sroka sondierten die Gemeinsamkeiten der jeweiligen Bildungssysteme und stellten zehn Hypothesen dazu auf, welche besonderen Merkmale ein erfolgreiches Bildungssystem ausmachen würden. Auf diese Hypothesen soll im Folgenden näher eingegangen werden:
(1) „School systems demonstrating high performance in PISA are characterized by continuous and target-oriented reform and innovation policies […]” (Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 151).
In den von Döbert und Sroka untersuchten Bildungssystemen wurden spätestens in den 1990er Jahren, teilweise jedoch auch wesentlich früher, mehrere Reformen zur Hebung der Bildungsqualität veranlasst. Das wesentliche Ziel dieser Reformen war es, die Flexibilität des Bildungssystems zu erhöhen, was erreicht werden sollte, indem man den Schulen ein höheres Maß an Autonomie und Entscheidungsfreiheit einräumte. Eine zunehmende Dezentralisierung der Entscheidungsprozesse muss jedoch mit regelmäßigen Evaluationen des Unterrichts einhergehen, um die Qualität des Bildungssystems weiterhin gewährleisten zu können.
Diesen Veränderungen ging ein weitreichender öffentlicher Diskurs in den jeweiligen Ländern voraus, welcher nicht nur einschneidende Neuerungen mit sich brachte, sondern auch zu Überlegungen über die zukünftige Entwicklung des Schulsystems führte: In den von Döbert und Sroka untersuchten Staaten wird Bildung generell ein großes Potenzial für die positive Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zugeschrieben. So sind die Schulen dazu angehalten, die frühkindliche Kompetenzentwicklung zu fördern und benachteiligte Kinder zu unterstützen. Dies umfasst auch außerschulische Aktivitäten (vgl. Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 151).
(2) „School systems high performance in PISA have a relatively straightforward and flexible interior organization and a clear output control […]” (Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 151). Bei der Gegenüberstellung der Bildungssysteme der verschiedenen Länder stellten Döbert und Sroka mehrere Gemeinsamkeiten fest: So ist mehrheitlich der Elementarbereich ein integraler Bestandteil des jeweiligen Schulsystems und es wird durch die Schulen oft eine Ganztagsbetreuung, mindestens aber eine Halbtagsbetreuung für die Schülerinnen und Schüler angeboten. In den ersten sechs oder acht Schuljahren lernen alle Kinder zusammen und in den Schulen werden in der Primarstufe und Sekundarstufe I keine nach Leistung differenzierenden Kurse für alle Schülerinnen und Schüler angeboten. In der Sekundarstufe II findet dann eine, jedoch stark begrenzte, Differenzierung der Schulfächer statt.
Ergänzend dazu lässt sich festhalten, dass kein Zusammenhang zwischen den Bildungsausgaben der einzelnen untersuchten Staaten und den Leistungen bei der PISA-Studie besteht. Für den Bildungsprozess spielen eine Vielzahl von unterschiedlichen Faktoren eine Rolle, sodass keine Korrelation zwischen dem Grad der Dezentralisierung der Schulen und den Leistungen bei der PISA-Studie existiert (vgl. Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 151f.).
(3) „System monitoring is a regularly applied means in successful school systems […]” (Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 152f.).
In den Ländern, die bei der PISA-Studie überdurchschnittlich gut abgeschnitten haben, ist eine regelmäßige systematische Erfassung (Monitoring) und Bewertung (Evaluierung) des Bildungssystems von zentraler Bedeutung. Dazu zählt auch die Evaluierung des Unterrichts, wobei jedoch nicht nur die bloßen Leistungen der Schülerinnen und Schüler, sondern auch Kontextfaktoren wie Motivation und Interesse als auch die Bildungsbiografien berücksichtigt werden. Eine gute Evaluation zeichnet sich dadurch aus, dass die involvierten Akteurinnen und Akteure, die Einfluss auf den Bildungsprozess haben, sich vor der Umsetzung über mögliche Ergebnisse und die daraus resultierenden Konsequenzen verständigen.
Die Bewertungen der Leistungen der Schülerinnen und Schüler werden von den Lehrkräften jedoch nicht als Maßnahme zur Sanktionierung bei möglicherweise schlechten Leistungen angesehen, sondern von ihnen als Möglichkeit aufgefasst, die Ergebnisse für die stetige Verbesserung des eigenen Unterrichts zu nutzen. Die Evaluierung und das Monitoring des Bildungssystems erfüllen drei zentrale Funktionen: Die Förderung der individuellen Entwicklung der Schülerinnen und Schüler, die Vergleichbarkeit von Leistungsbeurteilungen und die allgemeine Kontrolle des Bildungssystems (vgl. Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 152f.).
(4) „Those school systems […] have elaborated support systems (including support by external providers), which flexibly provide differentiated and user-oriented services for all levels of the education system […]” (Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 153).
Die analysierten Schulsysteme zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch anwendungsorientierte und differenzierte Fördersysteme verbunden mit eindeutigen Zielvorgaben und transparentem Evaluierungssystem die jeweiligen Akteurinnen und Akteure unterstützen. So sind fachlich qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für besondere Aufgaben sowie lokale Akteure in den Schulalltag mit eingebunden. Weiterhin wird die regelmäßige Fort- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern als sinnvolle Möglichkeit aufgefasst, auf die die Lehrkräfte zur ständigen Entwicklung einen Anspruch haben. Diese Schulungen werden durch interne, aber auch durch externe Sachverständige durchgeführt. Positiv bewährt hat sich hierbei insbesondere die Supervision durch externe Beraterinnen und Berater bezüglich der schulischen Entwicklungsmöglichkeiten (vgl. Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 153f.).
(5) „Standardized, binding performance expectations (education standards) and test procedures for quality assurance that are set up on them are essential […]” (Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 154).
Ein Großteil der Länder, die Döbert und Sroka untersucht haben, verfügen über ein „nationales Curriculum”. Diese Form des Curriculums verbindet auf nationaler Ebene einerseits die minimalen Leistungsanforderungen, die an die Schülerinnen und Schüler gestellt werden, und andererseits die regelmäßigen Leistungskontrollen, die auch immer einen konkreten Erwartungshorizont beinhalten. Die Konkretisierung dieser „Bildungsstandards” unterscheidet sich in den jeweiligen Ländern jedoch sehr stark voneinander (vgl. Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 154f.).
(6) „A flexible formation of pedagogic processes within a school is one of the fundamental features of the work of the individual school […]” (Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 155).
Bei den von Döbert und Sroka analysierten Bildungssystemen hängt die Entwicklung der schulischen Leistungen immens davon ab, wie sich die Bedingungen und pädagogischen Prozesse im gesamten Schulsystem an den Möglichkeiten der einzelnen Schulen orientieren. Charakteristisch dafür ist ein flexibler Umgang mit dem nationalen Kerncurriculum verknüpft mit einer teilweise flexiblen Auswahl an Unterrichtsfächern. Weiterhin ist ein dem OECD- Durchschnitt entsprechendes Lehrer-Schüler-Verhältnis, insbesondere in den unteren Klassenstufen von enormer Bedeutung für ein erfolgreiches Bildungssystem. Weitere Merkmale sind eine prozessorientierte Leistungsmessung, zentrale Abschlussprüfungen und eine weitreichende Individualisierung des Lern- und Lehrprozesses. Auch spielt die Qualifizierung der Lehrkräfte hinsichtlich eines erfolgreichen Umgangs mit bezüglich sozioökonomischer Ungleichheiten und/oder schulischer Leistungsunterschiede, heterogenen Lerngruppen eine zentrale Rolle, wozu die Lehrkräfte auch durch entsprechende Weiterbildungen befähigt werden. Eine Bereitstellung von ganztägigen und außerschulischen Lernangeboten ist ein weiteres wichtiges Merkmal eines „erfolgreichen” Schulsystems, so die beiden Autoren (vgl. Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 155).
(7) „In school systems with high PISA performance priority is given to the balancing of different starting points of learning conditions, especially concerning children with migration backgrounds […]” (Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 156).
Seit mehreren Dekaden sind in den Bildungssystemen, welche von Döbert und Sroka untersucht wurden, Strategien entwickelt worden, um die unterschiedlichen Vorerfahrungen und sozioökonomischen Hintergründe der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen. Dazu gehört insbesondere auch der richtige pädagogische Umgang mit Migrantinnen und Migranten unter Berücksichtigung ihrer besonderen Situation. Es ist festzustellen, dass eine Zusammenarbeit zwischen den Familien mit Migrationshintergrund und den jeweiligen Schulen nicht nur für eine Verbesserung der schulischen Leistungen der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sorgt, sondern auch die Integration der Familie in die neue Gesellschaft erleichtert. Die Verbesserung der schulischen Leistungen ist jedoch nur teilweise auf die individuellen Vorgehensweisen der einzelnen Schulen in Bezug auf Migrantinnen und Migranten zurückzuführen. Diese Tatsache führt zu der Annahme, dass die jeweilige Sprache und Kultur des Gastgeberlandes ein weiterer Faktor für eine erfolgreiche Integration sind und keine Aussage über den Erfolg einzelner Maßnahmen zur Integration getroffen werden kann (vgl. Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 156).
(8) „The distinct efforts made to reach a balance between school careers that were planned and initially carried out until adulthood are evident in successful school systems […]” (Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 156).
Die Ursache für die Differenz zwischen geplanter und vollendeter Ausbildung liege laut Döbert und Sroka in der herrschenden sozialen Ungleichheit eines Landes begründet. In den untersuchten Ländern wird versucht durch ein möglichst langes gemeinsames Lernen in der Primarstufe und der Sekundarstufe I, die Auswirkungen, die durch soziale Benachteiligung entstehen, möglichst gering zu halten. Gleichzeitig wird in der Sekundarstufe II eine Differenzierung des Unterrichts nach Fächern ermöglicht, um die Interessen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler möglichst individuell zu fördern. Auch wurden nicht-universitäre Bildungseinrichtungen gegründet, um den Bürgerinnen und Bürgern weitere Bildungsmöglichkeiten anbieten zu können. Als sehr effektiv erwiesen sich außerdem die Schaffung und Förderung von Bildungsangeboten der Erwachsenenbildung, um auch älteren Personen das „lebenslange Lernen” zu ermöglichen und um die Durchlässigkeit des Bildungssystems zu erhöhen (vgl. Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 156f.).
(9) „The relationship between teacher training, teacher professionalism and student achievement is of great importance […]” (Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 157).
In den Ländern, die bei der PISA-Studie überdurchschnittlich gut abschnitten, ist eine Korrelation zwischen der Anzahl der Personen, die den Beruf als Lehrerin oder Lehrer anstreben und dem gesellschaftlichen Status des Lehrberufs erkennbar. Aus Sicht der Lehrerprofessionalisierung müssen sich die Auswahlkriterien für die zukünftigen Lehrkräfte an der späteren Arbeit als Lehrerin oder Lehrer orientieren. Es ist festzustellen, dass ein hohes Maß an Ausbildungsstandards und dessen strikte Einhaltung durch die einzelnen Akteure, welche für die Ausbildung der angehenden Lehrerinnen und Lehrer zuständig sind, ein Garant für eine erfolgreiche Professionalisierung der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer ist. Innerhalb der Ausbildung werden die jeweiligen Fächer nicht getrennt voneinander vermittelt, sondern zusammenhängend aus der Rolle der Lehrerin oder des Lehrers betrachtet.
Weiterhin wird eine starke Vereinheitlichung aller verschiedenen „Stufen” der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung als selbstverständlich angesehen: So ist unter anderem die Ausbildung zur Erzieherin oder zum Erzieher in das Ausbildungssystem der Lehrerinnen und Lehrer der Primar- und Sekundarstufe integriert. Eine regelmäßige, vorzugsweise jährliche Weiterbildung und Unterstützung der Lehrkräfte durch Universitäten oder andere Bildungsträger ist ein weiteres Merkmal eines „erfolgreichen” Bildungssystems (vgl. Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 157f.).
(10) „In successful school systems, we can assume the impact of a factor ‚culture of achievement’ […]” (Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 158).
In jedem untersuchten Land ist festzustellen, dass ein Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status der Familie der Schülerin oder des Schülers und den schulischen Leistungen besteht. Zwar können die Faktoren, welche diesen Sachverhalt „kompensieren” würden, nicht eindeutig bestimmt werden, es lässt sich jedoch festhalten, dass bestimmte kulturelle Einflüsse dies auszugleichen versuchen. Diese Gegebenheit, auch als „culture of achievement” bezeichnet, äußert sich zum Beispiel dadurch, wie viel Geld der Staat oder die einzelne Person in Bildung investiert oder wie sehr ein Staat bemüht darin ist, möglichst gleiche und hohe Bildungschancen für alle Bürgerinnen und Bürger, ungeachtet ihres jeweiligen sozioökonomischen Hintergrunds, zu ermöglichen. Es kann als Charakteristikum der „culture of achievement” festgestellt werden, dass in diesen Ländern durch die Gesellschaft, insbesondere durch die Eltern, auch unter ungünstigen sozioökonomischen Bedingungen, eine stetige Leistungsverbesserung der Schülerinnen und Schüler erwartet wird (vgl. Döbert, H. & Sroka, W. 2004, S. 158f.).
2.2 PISA
Im Jahr 1997 planten die Mitgliedsstaaten der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) das Programme for International Student Assessment (PISA) , welches im Jahr 2000 zum ersten Mal realisiert wurde (vgl. Jude, N. & Klieme, E. 2010, S. 11). Großangelegte internationale Vergleichsstudien zu Bildungsfragen wurden bereits 1961 unter der Führung des UNESCO Institute for Education durch die International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) durchgeführt (vgl. Olsen, R. V. 2007, S. 2).
Die PISA-Studie wird zyklisch mit einem Abstand von jeweils drei Jahren durchgeführt und „[…] untersucht, inwieweit Schülerinnen und Schüler gegen Ende ihrer Pflichtschulzeit, also im Alter von durchschnittlich fünfzehn Jahren, über grundlegende Kompetenzen verfügen.” (Jude, N & Klieme, E. 2010, S. 13). Zu diesen Kompetenzen zählen die Lesekompetenz, die mathematische Kompetenz und die naturwissenschaftliche Kompetenz. Testaufgaben, welche durch ein Expertengremium erstellt werden, dienen zur Feststellung der Kompetenzen. Zusätzlich zur Kompetenzmessung werden Fragebögen zur Erfassung von Kontextmerkmalen eingesetzt, um die Bedingungen, unter denen die Schülerinnen und Schüler Kompetenzen entwickeln können, zu untersuchen (vgl. Jude, N. & Klieme, E. 2010, S. 13ff.).
Kritisiert wird die neoliberale Ausrichtung der PISA-Studien: Die OECD verfolge laut Uljens (2007) die Strategie, die Wettbewerbsmentalität in Verbindung mit gemeinsamen nationalen Bildungsstandards zu fördern, da diese für den Markt von Vorteil seien und beabsichtige somit, Wettbewerb mit Kooperation zu verbinden. Die PISA-Studie diene somit auch dazu, ein Bildungssystem dahingehend zu verändern, dass es zunehmend durch eine wettbewerbsorientierte Mentalität geprägt wird (Uljens, M. 2007, S. 5ff.).
2.3 PISA-Ergebnisse 2006
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Ergebnisse der PISA-Studie 2006 Finnlands, Deutschlands und der OECD-Länder (OECD).
Abbildung 1 zeigt das Ergebnis der PISA-Studie 2006 der Länder Finnland und Deutschland im Vergleich zum OECD-Mittelwert in den Bereichen Naturwissenschaften, Lesekompetenz und Mathematik in, von der jeweiligen Schülerschaft erreichten Wertungspunkten. Finnland erzielte bei der PISA-Studie im Jahr 2006 im Vergleich zu Deutschland und im Vergleich zum OECD- Mittelwert überdurchschnittliche Ergebnisse (siehe Abb. 1): So erzielte Finnland im Bereich Naturwissenschaften 563 Punkte und schnitt somit im Vergleich zu allen anderen OECD-Ländern am besten ab. Deutschland erreichte mit 516 Punkten durchschnittliche Ergebnisse, wobei der OECD-Mittelwert aller teilnehmenden Länder bei 500 Punkten lag. Dieser setzt sich aus der addierten Gesamtpunktzahl, welche durch die Anzahl der teilnehmenden Länder dividiert wird, zusammen. In den Bereichen Lesekompetenz (548 Punkte) und Mathematik (547 Punkte) konnte Finnland jeweils den zweiten Platz erreichen. Deutschland hingegen erreichte mit 495 Punkten im Bereich Lesekompetenz (OECD-Mittelwert: 492 Punkte) und mit 540 Punkten im Bereich Mathematik (OECD-Mittelwert: 498) durchschnittliche Ergebnisse (vgl. OECD 2007, S. 24ff.).
3. Bildungssystem Finnland
3.1 Geschichte
Bis zur Abspaltung Finnlands vom Königreich Schweden waren Bildungsangebote vorrangig durch die Kirche bereitgestellt worden. Diese fanden in Klosterschulen oder in der im 13. Jahrhundert konstituierten Katedralskolan i Åbo (Cathedral School of Åbo) in Turku statt und dienten vorrangig der Ausbildung von Geistlichen. Im Jahre 1640 ist in Turku die erste Universität des Landes gegründet worden. Als Finnland im Jahr 1809 Teil des Russischen Reiches wurde, waren die Gesetzgebung und das Sozialsystem jedoch weiterhin durch die schwedische Geschichte geprägt. In den 1860er Jahren gründeten sich die ersten Grundschulen, was dazu führte, dass ab dem Jahr 1898 die Gemeinden formelle Bildung für alle schulfähigen Kinder ermöglichen mussten (vgl. Kansanen, P. & Meri, M. 2008, S. 251).
Bereits mit der Unabhängigkeit Finnlands vom Russischen Kaiserreich 1917 war die stetige Aus- und Weiterbildung ihrer Bürgerinnen und Bürger ein zentrales Anliegen der finnischen Regierung. So ist die Schulpflicht Aller und gleichzeitig die Gewährleistung einer kostenlosen Bildung in der finnischen Verfassung von 1919 festgehalten worden (vgl. Kansanen, P. & Meri, M. 2008, S. 251). Die formelle Schulpflicht war bis dahin nach Absolvieren der Grundschule beendet. Die Schülerinnen und Schüler hatten anschließend die Möglichkeit eine weiterführende Schule zu besuchen, welche in Unter- und Oberstufe unterteilt war. Nach dem zweiten Weltkrieg entstanden vielerorts weitere Bildungseinrichtungen des tertiären Sektors: Universitäten wurden in vielen Teilen des Landes neu gegründet. Die Grundschule und Unterstufe wurden in den 1970er Jahren zugunsten einer neun Jahre dauernden Gesamtschule zusammengeführt, um die Durchlässigkeit des Bildungssystems zu verbessern (vgl. Koski, H.; Leijola, L.; Palmberg, C. & Ylä-Anttila, P. 2006, S. 56). Die bis dahin unbekannten Fachhochschulen entstanden in den 1990er Jahren (vgl. Kansanen, P. & Meri, M. 2008, S. 251). In den 1990er Jahren wandelte sich Finnland zunehmend zu einer Technologiegesellschaft, was wesentlich durch die neu aufkommende Informations- und Kommunikationstechnik beeinflusst wurde: So machte der Anteil des Informations- und Kommunikationssektors am gesamten Bruttoinlandsprodukt (BIP) Finnlands im Jahr 1990 vier Prozent aus, stieg aber bis zum Jahr 2004 auf über zehn Prozent an (vgl. Ylä-Anttila, P. 2005, S. 16). Die Ursache für diesen wirtschaftlichen Wandel liegt maßgeblich an einer Veränderung der Bildungspolitik, welche zu großen Teilen durch Technologieunternehmen beeinflusst wurde: So führte 1998 die finnische Regierung in Zusammenarbeit mit den Technologieunternehmen des Landes ein Programm zur Verbesserung der Ausbildung in MINT-Fächern (Mathematik-Informatik-Naturwissenschaften) ein. Diese und weitere Maßnahmen führten dazu, dass inzwischen 20 Prozent aller Absolventinnen und Absolventen über einen Hochschulabschluss in einer ingenieurswissenschaftlichen Disziplin verfügen (vgl. Koski, H. et al. 2006, S. 62).
3.2 Finnische Bildungspolitik
Das primäre Ziel der finnischen Bildungspolitik ist es, allen finnischen Bürgerinnen und Bürgern gleiche Bildungschancen zu ermöglichen. Dies soll unter anderem ungeachtet vom Alter, Geschlecht oder der finanziellen Situation gewährleistet werden. Realisiert wird dies durch eine kostenlose Grundbildung (basic education), die den Einwohnerinnen und Einwohnern unabhängig von den wirtschaftlichen Kapazitäten garantiert wird und bereits seit über 50 Jahren besteht (vgl. Kansanen, P. & Meri, M. 2008, S. 251 f.). Somit sind zum Beispiel Verpflegung und Schulbücher, aber auch die medizinische Versorgung für alle Schülerinnen und Schüler, die diese Form der Grundbildung wahrnehmen, kostenlos (vgl. ebd. S. 255).
Die basic education umfasst hierbei die Fächer „[…] Muttersprache und Literatur (Finnisch oder Schwedisch), die jeweils andere Nationalsprache, Fremdsprachen, Umweltunterricht, Sozialkunde, Religion oder Ethik, Geschichte, Mathematik, Physik, Chemie, Geographie, Sport, Musik, Kunst, Handwerken und Hauswirtschaft.” (Arbeitsgruppe internationale Vergleichsstudie 2007, S. 180).
Ein weiteres wichtiges Merkmal der Bildungspolitik Finnlands liegt in dem Streben nach einem möglichst hohen Bildungsgrad der gesamten Gesellschaft begründet. So besuchen in der Republik Finnland im Durchschnitt 90 Prozent der Personen, die die Gesamtschule abgeschlossen haben, noch eine berufsbildende Schule oder eine andere Bildungseinrichtung der Sekundarstufe II (vgl. Kansanen, P. & Meri, M. 2008, S. 252).
Das Bildungsministerium legte im Jahr 1998 die Ziele der finnischen Grundbildung fest:
„The purpose of education […] is to support pupils' growth into humanity and into ethically responsible membership of society and to provide them with knowledge and skills needed in life.” (Ministry of Education 2010, S. 1).
In der finnischen Gesellschaft wird Bildung als ein entscheidender Faktor für Wohlstand angesehen: In dem relativ rohstoffarmen Land, in dem die Menschen teilweise unter rauen klimatischen Bedingungen leben müssen, ist Bildung in nahezu allen Teilen der Bevölkerung bereits seit langer Zeit als Schlüsselfaktor für ökonomisches Wachstum anerkannt, mithilfe dessen die internationale wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit des Landes sichergestellt werden kann. Dies zeigt sich auch in der zunehmenden Internationalisierung, welcher eine immer wichtigere Rolle innerhalb des Bildungssystems zuteilwird. „Education is also […] seen as a joint concern of government, parents, employers, and the society in general.” (Aho, E.; Pitkänen, K. & Sahlberg, P. 2006, S. 116). Bedingt durch diese Auffassung ist auch das lebenslange Lernen von zentraler Bedeutung: Bildungsangebote werden auch für Erwachsene altersunabhängig geschaffen und sollen in Zukunft weiter ausgebaut werden. Bildung dient somit auch als „Bindeglied”, welches im ständigen Wandel zwischen den Generationen und gesellschaftlichen Schichten fortbesteht. Die Bedeutsamkeit der Bildung innerhalb der finnischen Gesellschaft zeigt sich darin, dass 73 Prozent der 25- bis 64-Jährigen über einen Abschluss der Sekundarstufe II und 33 Prozent über einen Hochschulabschluss verfügen, was gleichzeitig den höchsten Wert innerhalb der Europäischen Union darstellt (vgl. Aho, E. et al. 2006, S. 116; Domisch, R. 2009, S. 623f.; Ministry of Education 2007, S. 14).
Mehrere Jahrzehnte lang wurden die Curricula für alle Schulen und Schultypen zentral von der finnischen Regierung vorgegeben. In den 1990er Jahren fand eine Transformation hin zu einer zunehmenden Dezentralisierung der Curricula und der damit verbundenen Lerninhalte statt, um eine höhere Flexibilität des Bildungssystems zu ermöglichen. Gleichzeitig sollte diese Reform Anstöße für eine kontinuierliche Verbesserung des Bildungssystems geben. Die „Kerncurricula” für die Schulen der Primarstufe und der Sekundarstufen werden vom Finnish National Board of Education 1 (F N BE), einer Behörde, die dem Bildungsministerium unterstellt ist, festgelegt. Basierend auf diesen Vorgaben sind die einzelnen Akteure (siehe Kapitel 3.5) dazu verpflichtet, den konkreten, auf die jeweilige Schule angepassten Lehrplan, zu erstellen (vgl. Kansanen, P. & Meri, M. 2008, S. 260).
Das Finnish National Board of Education vertritt die Auffassung, dass die Lehrerinnen und Lehrer einer Schule zusammen mit den Eltern und der jeweiligen Gemeinde eher wissen, wie eine optimale Bildung für die Schülerinnen und Schüler auszusehen hat und wie diese ermöglicht werden kann. Diese „trust-based culture” bedeutet konkret, dass zum Beispiel die Schulen die Lehrbücher auswählen oder die Unterrichtsmethoden selbst bestimmen können. Auch haben die Pädagoginnen und Pädagogen die Möglichkeit, die Schülerinnen und Schüler nach eigenen Maßstäben zu bewerten und den Bildungserfolg zu evaluieren. Allgemein ist festzustellen, dass zwischen der Lehrkraft und den Erziehungsbeauftragen ein großes Vertrauen herrscht und davon ausgegangen wird, dass die jeweilige Lehrperson die besten Methoden für den optimalen
Bildungserfolg des Kindes auswählt und anwendet (vgl. Kansanen, P. & Meri, M. 2008, S. 256ff.; Moore, T. 2008, S. 12).
Im Basic Education Act 2 wurde 2003 festgelegt, dass das allgemeine Wohlergehen der Schülerinnen und Schüler eine zentrale Aufgabe für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jeder Schule darstellt (vgl. Ministry of Education 2010, S. 14). Unter dieser Prämisse definiert das finnische Bildungsministerium den eigenen Anspruch wie folgt: „Pupil welfare means action promoting and maintaining good learning, good mental and physical health and social well- being, and conditions conducive to these.” (Ministry of Education 2010, S. 14). Um das Wohlbefinden sicherzustellen, kommt regelmäßig das sogenannte „pupil welfare team” einer Schule zusammen, um sich hinsichtlich dieser zentralen Aufgabenstellung auszutauschen und zu beraten. Das Team setzt sich aus der Direktorin oder dem Direktor der jeweiligen Schule, der Schulkrankenschwester oder dem Schulkrankenpfleger, der Schulpsychologin oder dem Schulpsychologen und der Schulsozialarbeiterin oder dem Schulsozialarbeiter zusammen. In der Praxis ergibt sich daraus primär die Aufgabe, einzelne Schülerinnen und Schüler, Klassen oder Familien zu betreuen und diese bei auftretenden Problemen zu unterstützen (vgl. Ahtola, A. & Pekka, N. 2014, S. 139).
Ebenfalls wurde in der finnischen Bildungspolitik die Frage der Immigration als relevant für die Gestaltung des Schulsystems angesehen, selbst wenn Finnland im Vergleich zu anderen Staaten nur über eine geringe Zahl an Immigrantinnen und Immigranten verfügt (vgl. Ackeren, I. v. 2005, S. 22).
„ Die Maßnahmen zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit einer Migrationsgeschichte sind in Finnland im Kontext der Schulstruktur zu sehen, die mit ihrem integrierten System in der Primarstufe und im Sekundarbereich auf die gemeinsame Unterrichtung einer leistungsheterogenen Schülerschaft - auch unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft - ausgelegt ist.” (Ackeren, I. v. 2005, S. 33).
Diese Maßnahmen wurden bereits in den 1970er und 1980er Jahren etabliert. Kinder mit Migrationshintergrund werden innerhalb eines sechsmonatigen Vorbereitungsunterrichts in, wie in Finnland üblich, kleinen Lerngruppen unter Berücksichtigung verschiedener Hintergründe, wie zum Beispiel sprachlicher und kultureller Aspekte, zusammengeführt. In diesen Lerngruppen wird unter Beachtung individueller Lehr- und Lernpläne die finnische Sprache vermittelt sowie die Verbesserung der jeweiligen Muttersprache gefördert. Zudem wird versucht, eine möglichst offene und motivierende Lernatmosphäre zu schaffen. Da die Chancengleichheit eine der Säulen des finnischen Bildungssystems darstellt und durch die bewusste Heterogenität im Klassenzimmer realisiert werden soll (siehe Kapitel 3.6) wird versucht, die Kinder mit Migrationshintergrund möglichst früh in den regulären Schulalltag zu integrieren. Dies geschieht in den künstlerischen und praxisbezogenen Fächern bereits während des Vorbereitungsunterrichts. Jedoch werden die Kinder nach erfolgreicher Integration in die Klassen der Gesamtschule weiterhin bedarfsgerecht gefördert: So wird neben der Schule weiterhin finnischer Sprachunterricht angeboten und es wird gezielt mit den Eltern der Kinder kooperiert, um die weitere Entwicklung des Kindes zu unterstützen (vgl. Ackeren, I. v. 2005, S. 33ff.).
3.3 Organisation und Finanzierung
Entscheidungen bezüglich Bildungsfragen werden in der parlamentarisch verfassten Republik Finnland auf zwei Ebenen gefällt: Auf der staatlichen Ebene und der Ebene der Gemeinden. Innerhalb der staatlichen Ebene ist das Bildungsministerium (Ministry of Education and Culture) für die Umsetzung der vom Parlament beschlossenen Gesetze hinsichtlich der Bildungspolitik verantwortlich. Das Finnish National Board of Education ist für Planung und Evaluierung der Bildung und somit auch für die Erstellung und Evaluierung des Kerncurriculums zuständig. Das finnische Bildungssystem ist durch einen hohen Grad an Dezentralisierung gekennzeichnet, dessen Grundlage das in Kapitel 3.2 näher beschriebene Selbstverständnis von Bildung bildet: So besitzt jede der 452 Gemeinden in Finnland einen Bildungsausschuss, welcher vom Gemeinderat ernannt wird. Dieser Bildungsausschuss setzt zusammen mit weiteren Akteuren (siehe Kapitel 3.5) konkret die Vorgaben des FNBE um. Auf dieser Gemeindeebene stehen vor allem die Themen Bildungszugang und finanzielle Rechenschaftslegung im Vordergrund (vgl. Arbeitsgruppe internationale Vergleichsstudie 2007, S. 118f.; Kansanen, P. & Meri, M. 2008, S. 252f.; Moore, T. 2008, S. 10f.).
[...]
1 „The National Board of Education is the national planning and evaluation agency responsible for primary and secondary education as well as adult education. The Board prepares and adopts the core curricula and is responsible for the evaluation of the Finnish education system […]” (Kansanen, P. & Meri, M. 2008, S. 252f.).
2 Der Basic Education Act wurde im Jahr 1998 verfasst und legt die grundsätzlichen Bildungsziele für das finnische Schulsystem fest (vgl. Halinen, I. & Järvinen, R. 2008, S. 86).
- Arbeit zitieren
- Richard Keppler (Autor:in), 2018, Das finnische und das deutsche Bildungssystem. Ein Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/501041
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