Ernst Bloch untersucht in seiner 1935 in Zürich erschienen Essaysammlung „Erbschaft dieser Zeit“ die Gründe für den Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland. Es ist eines der ersten im Exil veröffentlichten Bücher, welche sich explizit damit auseinandersetzen. Er sucht in einer mehrschichtigen Dialektik, in deren Zentrum die Kategorie der Ungleichzeitigkeit steht, nach einer Erklärung für den fulminanten Sieg der Nationalsozialisten in Deutschland, die Zerschlagung der Linken und der Arbeiterbewegung, die über die Schwächen des Versailler Vertrags, die Weltwirtschaftskrise und auch über die Sozialfaschismusthese hinausgeht – besonders im Hinblick auf die Motive und Antriebe, die kulturellen und gesellschaftlichen Verwerfungen der Weimarer Zeit, die den Faschismus zum „schiefen Statthalter der Revolution“ machen konnten. Zunächst begründet er dies mit dem besonders in den Mittelschichten vorhandenen Hang zum Irrationalen, welcher sich wiederum ableitet aus den „ungleichzeitig“ zueinander situierten gesellschaftlichen Verhältnissen. Weiter fordert er in seiner Analyse ein Überdenken der Strategien der linken Parteien im Kampf gegen den Faschismus und ein Umdenken im Bereich der politischen Kommunikation – „Erbschaft dieser Zeit“ ist nicht nur eine Faschismustheorie oder –kritik, sondern auch eine Kritik an der marxistischen Theorie und Praxis.
Ziel dieser Arbeit ist im Rahmen des Seminarthemas, das Blochsche Konzept der „Ungleichzeitigkeit“ besonders in Bezug auf eine mögliche Wahrnehmung von Zeit oder eben Nicht-Wahrnehmung im historischen Kontext und die daraus resultierenden Vorstellungen von Fortschritt in der Geschichte, besonders im Hinblick auf den historischen Materialismus, aufzuschlüsseln.
Literatur zum frühen Ernst Bloch ist im Gegensatz zu Abhandlungen zu seinem Spätwerk eher spärlich vorhanden. Im Allgemeinen beschäftigt sie sich mit dem Philosophen Bloch, und Pathos und Poetik seiner Sprache erleichtern die Auseinandersetzung mit ihm nicht. Diese Arbeit versucht besonders unter Zuhilfenahme von Beat Ditschy und Oskar Negt, „Erbschaft dieser Zeit“ vor dem Hintergrund eines geschichtswissenschaftlichen Seminars fruchtbar zu machen.
Inhalt
I Einleitung
II Allgemeine Erläuterung
2. 1 Werkimmanenter Kontext
2.2 Begriff
2.3 Ausdrucksformen von Ungleichzeitigkeit
III Ungleichzeitigkeit und Widerspruch
3. 1 Dialektik
3. 2 Ungleichzeitiger Widerspruch
3. 3 Gleichzeitiger Widerspruch
3. 4 Objektiver Widerspruch
3. 5 Irratio
3. 6 Die Ungleichzeitigen
3. 7 (Un-/echte) Gleichzeitigkeit und Übergleichzeitigkeit
IV Ungleichzeitigkeit und Propaganda
V Kreisende Zeit und das Problem des Fortschritts
VI Schluss
VII Literatur
I Einleitung
Ernst Bloch untersucht in seiner 1935 in Zürich erschienen Essaysammlung „Erbschaft dieser Zeit“ die Gründe für den Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland. Es ist eines der ersten im Exil veröffentlichten Bücher, welche sich explizit damit auseinandersetzen. Er sucht in einer mehrschichtigen Dialektik, in deren Zentrum die Kategorie der Ungleichzeitigkeit steht, nach einer Erklärung für den fulminanten Sieg der Nationalsozialisten in Deutschland, die Zerschlagung der Linken und der Arbeiterbewegung, die über die Schwächen des Versailler Vertrags, die Weltwirtschaftskrise und auch über die Sozialfaschismusthese hinausgeht – besonders im Hinblick auf die Motive und Antriebe, die kulturellen und gesellschaftlichen Verwerfungen der Weimarer Zeit, die den Faschismus zum „schiefen Statthalter der Revolution“[1] machen konnten. Zunächst begründet er dies mit dem besonders in den Mittelschichten vorhandenen Hang zum Irrationalen, welcher sich wiederum ableitet aus den „ungleichzeitig“ zueinander situierten gesellschaftlichen Verhältnissen. Weiter fordert er in seiner Analyse ein Überdenken der Strategien der linken Parteien im Kampf gegen den Faschismus und ein Umdenken im Bereich der politischen Kommunikation – „Erbschaft dieser Zeit“ ist nicht nur eine Faschismustheorie oder –kritik, sondern auch eine Kritik an der marxistischen Theorie und Praxis.
Ziel dieser Arbeit ist im Rahmen des Seminarthemas, das Blochsche Konzept der „Ungleichzeitigkeit“ besonders in Bezug auf eine mögliche Wahrnehmung von Zeit oder eben Nicht-Wahrnehmung im historischen Kontext und die daraus resultierenden Vorstellungen von Fortschritt in der Geschichte, besonders im Hinblick auf den historischen Materialismus, aufzuschlüsseln.
Literatur zum frühen Ernst Bloch ist im Gegensatz zu Abhandlungen zu seinem Spätwerk eher spärlich vorhanden. Im Allgemeinen beschäftigt sie sich mit dem Philosophen Bloch, und Pathos und Poetik seiner Sprache erleichtern die Auseinandersetzung mit ihm nicht. Diese Arbeit versucht besonders unter Zuhilfenahme von Beat Ditschy und Oskar Negt, „Erbschaft dieser Zeit“ vor dem Hintergrund eines geschichtswissenschaftlichen Seminars fruchtbar zu machen.
II Allgemeine Erläuterung
2. 1 Werkimmanenter Kontext
Bloch unterscheidet methodisch drei kulturelle Verhaltensweisen des Bürgertums, welchen er grob die sozialen Schichten zuordnet. Diese Systematik liegt dem Aufbau des Buches zu Grunde: „Erster Teil. Angestellte und Zerstreuung“ analysiert die „Proletarisierung“ der Angestellten, welche sich noch immer als „bürgerliche Mitte“[2] fühlen, in der Phase von 1924 bis 1929 und die „Zerstreuung“ ihrer gesellschaftlichen Ängste auf der „bunte(n) Jahrmarktstraße“[3] durch die Freizeitindustrie und die neuen Medien; „Zweiter Teil. Ungleichzeitigkeit und Berauschung“ thematisiert die faschistische Berauschung der Kleinbürger und Bauern und die Überformung der Ideologie der gesellschaftlich absteigenden Schichten durch den Faschismus; die Wendung von Zerstreuung zu Berauschung setzt Bloch in den Jahren 1927 bis 1929[4] an, wobei das Jahr 1929 als letztendliche Zäsur betrachtet wird; „Dritter Teil. Großbürgertum, Sachlichkeit und Montage“ behandelt die Funktionalisierung der nationalsozialistischen Bewegung durch den „oberen Fascismus“ des Großkapitals[5]. Die besonders im zweiten Teil behandelte „Ungleichzeitigkeit“ bildet das Zentrum des Werkes; der Begriff verweist auf das Nebeneinander von verschiedenen Zeiten im selben „Jetzt“ und meint nicht individuelle Rückständigkeit: im Fortbestehen des Früheren (also nicht wirklich vergangenen) sind auch ungewordene Zukunft und unverwirklichte Utopien enthalten.
Die Abfolge hat „Dokumentarfilmcharakter“[6] ; „Erbschaft dieser Zeit“ verfolgt die Geschichte in ihrer natürlich pluralen Bedeutung, stellt in szenischer Abfolge und anhand einzelner Geschichten das „stäubende Zerfalls-Bürgertum, und zwar in Schichten und Zeiten hintereinander“[7] dar.
Die Argumentationsstruktur des Werkes verweist auf zwei scheinbar polare Entwicklungsprozesse, die in Deutschland „am explosivsten, weil in ihren entfaltetsten Formen“[8] aufeinandertreffen: „Die hauptsächlich von der Arbeiterklasse getragene revolutionäre Emanzipationsrichtung der Gesellschaft und der aus ungleichzeitigen Widersprüchen gewachsenen Faschismus“[9]. Die Polarität dieser Prozesse wird von Bloch durch die objektive Hervorhebung ihrer Überschneidungen nahezu unkenntlich gemacht – ein Vorgang und ein Resultat, welche subjektiv moralisch schlecht verträglich sein können, sowohl für den marxistischen Zeitgenossen, wie auch für den heutigen, die Arbeiterbewegung stets leicht romantisierenden Leser.
Bloch nennt seinen Standpunkt marxistisch – die Frage nach dem Verhältnis der Kategorie „Ungleichzeitigkeit“ zur marxistischen Theoriebildung muss einen Platz einnehmen, kann aber nur partiell erfolgen.
2.2 Begriff
Der von Bloch gewählte begriffstheoretische Ansatz unterscheidet sich stark von den anderen soziologischen, sozial-psychologischen und ökonomischen Erklärungs-versuchen des Faschismus. Er operiert mit dem Theorem der „Ungleichzeitigkeit“, welches von den anderen Interpreten nahezu ganz ignoriert wurde. Bloch hatte diesen Begriff bereits in mehreren Ansätzen entwickelt; in seiner Dissertation über Rickert, in „Spuren“ und in „Geist der Utopie“ lassen sich die Entwicklungslinien erkennen, die im Konzept der „Ungleichzeitigkeit“, wie es sich in „Erbschaft dieser Zeit“ darstellt, münden[10].
Der Begriff ist erst einmal ein negativer: beschreibt er doch, dass nicht „alle im selben Jetzt da“ sind, „nicht mit den anderen zugleich“[11] leben. Eine positive Umschreibung, dass also das Vergangene der Geschichte in die Zukunft fortwirkt, bleibt widersprüchlich, denn sie impliziert immer, „daß das Vergangene – nicht vergangen ist“[12]. Der Begriff „Ungleichzeitigkeit“ ist eben mit diesem diskrepanten Ineinander von Zeiten einträglich erfasst.
Konkret inhaltlich ist „Erbschaft dieser Zeit“ diesbezüglich ein Sammelsurium sehr breiten und heterogenen Materials, welches Mentalitätsstrukturen und Bewusstesseinslagen, Klassenstrukturen mit ihren sozialen Zeiten, ungleichzeitige Entwicklungen in den verschiedenen räumlichen Sphären und ihrer Produktionsweisen u. a. beinhaltet.
Dietschy weißt zu Recht darauf hin, dass die Breite des Materials keine Willkür in der Zuweisung von Bedeutung an die Kategorie der Ungleichzeitigkeit ausdrückt, sondern dass es sich hierbei um ein „dialektisch-hermeneutisches Verfahren“ handelt, „das seine Begrifflichkeit dem jeweiligen Problembereich entsprechend modifiziert oder neu erarbeitet“[13].
Außerdem geht es Bloch eben auch um die Aufdeckung dessen, was die nachträgliche oder im Prozess der Geschichte selbst sich entwickelnde Unbewusstmachung eben dieses Prozesses verschüttet wird. Die Verschüttung dessen, was im Produktionsprozess der Geschichte eben nicht Realität wird, sondern in seinem Realwerden umgedreht oder gegen sich selbst gerichtet wird, geht weit über ökonomische Produktionsverhältnisse und –weisen hinaus. Die Breite des Materials entspricht dem Bedürfnis, Geschichte auch in ihrer Breite zu erfassen.
2.3 Ausdrucksformen von Ungleichzeitigkeit
Im Folgenden möchte ich die unterschiedlichen Kontexte, in welchen Bloch „Ungleichzeitigkeit“ diagnostiziert, kurz skizzieren.
1. In den sozial verschiedenen Zeiten innerhalb der Klassenstrukturen, also in den Weisen des Daseins, in welchen Vergangenes unterschiedlich stark präsent ist, äußert sich Ungleichzeitigkeit vor Allem in ökonomischer Hinsicht und in der Sphäre des Unbewussten; im sozialen Dasein verdichten sich Erfahrungen, die das Zugleichsein mit anderen hemmen – in Blochs Analyse handelt es sich dabei insbesondere um Bewusstseinsformen, in welchen sich vorkapitalistisches Denken auch dann noch hält, wenn dessen wirtschaftliche Vorraussetzungen längst beseitigt sind – besonders trifft dies auf die sich immer noch als selbständig empfindenden städtischen Mittelschichten zu.
2. Das Nebeneinander von Rationalität, insbesondere der gesellschaftlich, wirtschaftlich, wissenschaftlich und politisch kalkulierenden Vernunft, und der sich immer noch vorhandenen Irrationalität, welche sich äußert in völkischen Mythos, Blutrausch und Massenwahn, beinhaltet eine Form der Ungleichzeitigkeit, die es nach Bloch besonders von der marxistischen Propaganda zu berücksichtigen gelten sollte.
3. Ungleichzeitigkeit zeigt sich in den ungleichmäßigen Entwicklungstendenzen der verschiedenen räumlichen Sphären der Gesellschaft, differenziert nach Stadt und Land, Region und Nation und den jeweiligen Produktionsweisen. In Deutschland hatte sich der Kapitalismus ohne entsprechende bürgerliche Revolution, der wirtschaftliche Liberalismus ohne gleichrangigen politischen Liberalismus entwickelt. So tritt Ungleichzeitigkeit sowohl innerhalb Deutschlands selbst auf, als auch zwischen Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern wie Frankreich oder England auf.
4. Der wirtschaftliche, technische und moralische Fortschritt ist ungleichzeitig und vieldimensional verflochten mit dem Rückschritt und Beharren. Bloch stellt zwar den Fortschritt in der Geschichte nicht in Frage, weckt aber Skepsis gegenüber dem Reduktiven und kritisiert gleichzeitig die Fortschrittschematismen des Historischen Materialismus. Hier wäre auch Karl Marx` Äußerung, die Deutschen seinen philosophisch auf dem Stand der Zeit, historisch aber nicht, zu verorten.
[...]
[1]Bloch, Ernst, Gesamtausgabe, 16 Bände und ein Ergänzungsband, Frankfurt/Main 1959-1978 (Band 4, Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe, 1962), S. 164.
[2] GA 4, S. 33.
[3] GA 4, S. 34.
[4] GA 4, S. 213.
[5]Korngiebel, Wilfried, Bloch und die Zeichen, Symboltheorie, kulturelle Gegenhegemonie und philosophischer Interdiskurs, Würzburg 1999, S. 149.
[6]Dietschy, Beat, Gebrochene Gegenwart, Ernst Bloch, Ungleichzeitigkeit und das Geschichtsbild der Moderne, Frankfurt/Main 1988, S. 176.
[7] GA 4, S. 18.
[8]Negt, Oskar, Erbschaft aus Ungleichzeitigkeit und das Problem der Propaganda, In: Ernst Bloch zum 90. Geburtstag: Es muß nicht immer Marmor sein, Erbschaft aus Ungleichzeitigkeit, Berlin 1975, S. 11.
[9] Ebd., S. 11.
[10] In seiner Dissertation (1908) und in „Geist der Utopie“ (1918) beschäftigt Bloch die Sphärenbildung in einem geschichtsphilosophischen System und die Theorie über „Das Dunkel des Gelebten Augenblicks“ und des „Noch-Nicht-Bewußten“; der dritte Ansatz schließlich ist seine Beschäftigung mit dem wiederholten Scheitern einer Revolution in Deutschland.
[11] GA 4, S. 104.
[12] Dietschy, S. 120.
[13] Ebd.
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