Die vorliegende Abhandlung setzt sich zum Ziel, die Formen der Weltverneinung im Spätwerk Wilhelm Raabes herauszuarbeiten. Mit dem streng eingehaltenen, textimmanenten, induktiven Ansatz guter Literaturwissenschaft wird in Raabes "Stopfkuchen", "Akten des Vogelsangs" und "Altershausen" danach gefragt, wie die Welt als lebenswerter Ort und der Mensch als edles, ethisches und soziales Geschöpf literarisch negiert wird.
Die Ergebnisse dieser Analyse zur Sicht Raabes auf die Welt und ihr Vollzug im Literarischen dienen dazu, den verkannten Autor ausgehend von seinen späten Texten neu bewerten zu können. Mit einem besseren Verständnis für den Autor können die Werke zeitgleich zugänglicher gemacht werden.
Dazu wird folgender Aufbau gewählt: Zunächst beschäftigt sich die Arbeit mit der Rezeption des Darwinismus als Entthronung des Menschen als Nachfahre des Affen sowie mit der Thematik der eigenen Psychologie und des Unterbewussten aus vorfreudscher Perspektive. Weiterhin sol lmit Fokus auf den Nussknackertraum im Fragment Altershausen gezeigt werden, dass Raabes Schaffen zwar teils grotesk bis psychodelisch erscheint, aber dennoch das Dasein des Menschen und dessen Wesen vehement für nichtig erklärt. Wenn Raabe dem Philister den Krieg erklärt, muss eine Analyse seiner Weltverneinung auch die literarisch präsentierte Form des menschlichen Zusammenlebens miteinschließen. Diese Analyse, abschließend, wird anhand von Figuren innerhalb wie außerhalb der raabschen beziehungsweise philiströsen Gesellschaft eine literarische Welt herausgearbeitet, in der es sich für Wilhelm Raabe nicht zu leben lohnt.
Das Ende der Arbeit soll nicht nur für die Zusammenfassung der Forschungsergebnisse, sondern auch für ein Plädoyer genutzt werden, welches das literarische Potential Raabes betonen möchte.
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
1.1 Ich habe mich nie für einen guten Unterhaltungsschriftsteller gehalten!
1.2 Forschungsfrage und Ziel
1.3 Begründung der Werksauswahl
2. WELTVERNEINUNG ALS ARBEITSBEGRIFF
3. ZWEI DER DREI NARZISSTISCHEN KRÄNKUNGEN DES MENSCHEN
3.1 Darwin und die Entthronung des Menschen in seiner Welt
3.1.1 German Fell als missing link und raabscher Mephisto im Philisteridyll
3.1.2 Vom Theologiestudenten zum renommierten Archäologen: Heinrich Schaumann
3.2 Und nicht mal mehr Herr im eigenen Haus: vorfreudsches aus Braunschweig
4. DIE NICHTIGKEIT DES DASEINS – RAABE ZU GUTER LETZT NIHILIST ?
4.1 Nackt vor dem furchtbaren Geheimnis des Selbstbewusstseins
4.2 „Es wird weitergeknackt!" schluchzte der Nachfolger im Erdengeschäft
4.3 Realitätsflucht als Lösung?
5. DER TINTENVETERAN RAABE UND SEIN KRIEG DEM PHILISTERTUM
5.1 Philistertum als Arbeitsbegriff
5.2 Raabes schwächelnde Erzähler
5.2.1 Stopfkuchen: Vom hohen Seegang
5.2.2 und wackelnden Aktenstößen des Vogelsangs
5.3 Der Bürgerschreck mit sich alleine: Erlaubt die Gesellschaft Individualismus?
5.3.1 Resignation des Philobaten: Ein leichtbewegtes Herz ist ein elend Gut
5.3.2 Egomanie Stopfkuchens: Geh aus dem Herdenkasten
5.3.3 Was von Bürgerschreck bleibt
6. RÉSUMÉ ZUM AUTOR DES VERLUSTS WILHELM RAABE
7. PLÄDOYER – WIESO DEN VERKAUTZTEN RAABE LESEN ?
8. LITERATURVERZEICHNIS
8.1 Primärliteratur, Siglen und Kurztitel
8.2 Sekundärliteratur
9. ANHANG: ABBILDUNGEN
Abb. I Carl Spitzweg: Gestörte Kontemplatio von
Abb. II Wilhelm Raabe: Das nächtliche Gespenst von
Abb. III Carl Spitzweg: Der strickende Wachtposten um
Abb. IV Carl Spitzweg: Der arme Poet von
Abb. V Wilhelm Busch: Das Behagen der Philister – Herr und Frau Knopp von
Trat man an ihn heran, so verwies er auf das, was er geschrieben hatte. Es war sein Bestreben, alles Persönliche völlig hinter seinem Werk zurücktreten zu lassen.
... über Wilhelm Raabe 1
1. EINLEITUNG
1.1 Ich habe mich nie für einen guten Unterhaltungsschriftsteller gehalten!
Doch was ist, wenn der Zugang zu dem, was Wilhelm Raabe nicht zu Unterhaltungszwecken2 geschrieben hatte schwer fällt? Dem „immer etwas zurückhaltenden“3 Raabe (1831-1910) kommt heute nicht die Aufmerksamkeit entgegen, die sein literarisches Schaffen verdient. Auch über ein Jahrhundert nach dem Tod Raabes scheint eine Verkennung vorzuliegen. Aber woran liegt das und was erschwert seine Lektüre?
Als Grund ist zum einen die Intertextualität des Schulversagers Raabe4 anzuführen. Jacob Corvinius, so sein allegorisches Pseudonym, gilt als einer der zitationsfreudigen Autoren und schafft dadurch einen nur schwer greifbaren kompositorischen Raum,5 zu dem das Gros der Leser auf Hilfestellung angewiesen ist. Außerdem zeichnet sich Raabes Literatur durch eine enorme Dichte aus, die er mittels Aufladung von Gegenständen mit Symbolgehalt sowie mehrerer Leitmotive innerhalb einzelner Werke herstellt. Diese Symbole und Leitmotive erfahren dabei nicht selten eine Veränderung und ein interdependentes verwoben sein ineinander.6 Zudem neigen seine Werke dazu, die Handlung selbst zu reduzieren, was wohl insbesondere jüngeren Lesern Schwierigkeiten bereitet. Auch scheut Raabe keinesfalls die Auseinandersetzung mit der Philosophie oder Anthropologie. Bezüglich der Schwierigkeiten muss abschließend Raabes Humor genannt werden, mit dem selbst die Forschung mit ihre größten Probleme hat. Dennoch lohnt sich die Beschäftigung insbesondere mit dem Spätwerk des Braunschweiger Tintenveteran Wilhelm Raabe7, dessen Literaturkarren zu Letzt im Sumpfe stecken blieb.8 Die vorliegende Arbeit möchte dazu anregen.
1.2 Forschungsfrage und Ziel
Sich diesen Schwierigkeiten bewusst, setzt sich die vorliegende Abhandlung zum Ziel, die Formen der Weltverneinung im Spätwerk Wilhelm Raabes herauszuarbeiten. Mit dem streng eingehaltenen textimmanenten, induktiven Ansatz guter Literaturwissenschaft wird in Raabes Stopfkuchen, Akten des Vogelsangs und Altershausen danach gefragt, wie die Welt als lebens-werter Ort und der Mensch als edles, ethisches und soziales Geschöpf literarisch negiert wird. Der Forschungsliteratur ist z. T. vorzuwerfen, dass sich zu nachlässig auf die Ausarbeitung einzelner Aspekte konzentriert wird. Innerhalb einzelner Argumentationsstränge fällt es manchen Autoren schwer, beim facettenreichen Raabe zwischen relevanten und nicht relevanten Elementen zu unterscheiden. Diese fehlende Konsequenz hat diese Untersuchung erkannt und verspricht sich im kleinschrittigen Arbeiten, fundierte Ergebnisse in einen größeren Kontext einordnen zu können. Am Pragmatismus orientierte knappe und zugleich offene Arbeitsbegriffe treten bei den Termini der Weltverneinung und des Philistertums (mit Einbezug des historischen Kontextes und Raabes eigenem philisterhaften Privatleben) anstelle starrer Definitionen.
Die Ergebnisse dieser Analyse zur Sicht Raabes auf die Welt und der Vollzug dessen im Literarischen dienen dazu, den verkannten Autor ausgehend von seinen späten Texten neu bewerten zu können. Mit einem besseren Verständnis für den Autor können die Werke zeitgleich zugänglicher gemacht werden.
Dazu wird folgender Aufbau gewählt: Zunächst beschäftigt sich die Arbeit mit der Rezeption des Darwinismus als Entthronung des Menschen als Nachfahre des Affen sowie die Thematik der eigenen Psychologie und des Unterbewussten mit vorfreudscher Perspektive. Weiterhin soll mit Fokus auf den Nussknackertraum im Fragment Altershausen gezeigt werden, dass Raabes Schaffen zwar teils grotesk bis psychodelisch erscheint, aber dennoch das Dasein des Menschen und dessen Wesen vehement für nichtig erklärt. Wenn Raabe dem Philister den Krieg erklärt, muss eine Analyse seiner Weltverneinung auch die literarisch präsentierte Form des menschlichen Zusammenlebens mit einschließen. Diese Analyse abschließend, wird anhand von Figuren innerhalb wie außerhalb der raabschen bzw. philiströsen Gesellschaft eine literarische Welt herausgearbeitet, in der es sich für Wilhelm Raabe nicht zu leben lohnt.
Das Ende der Arbeit soll nicht nur für die Zusammenfassung der Forschungsergebnisse, sondern auch für ein Plädoyer genutzt werden, welches das literarische Potential Raabes betonen möchte. Zu guter Letzt wird eine These zum Humor Raabes in den Raum gestellt. Vorausgesetzt wird, mit Verweis auf Bauer (2010),9 die historische Lesefolie der Endzeitstimmung des Fin de Siècle, die Raabe selbst erlebte und in der seine Romane spielen. Diese muss bei der Lektüre stets mitgedacht werden. Nur kurz: Raabe selbst, geboren 1831, als „der alte Goethe noch von hinten zu sehen war“10 war, empfand seine Zeit als Schwelle vor dem kulturellen Nichts.11 Seine Werke stimmen Max Weber zu, wenn dieser das Individuum dem Wandel, der Beschleunigung und der Modernisierung unausweichlich ausgesetzt sieht.12 Der Einfluss von Schopenhauer auf Raabe und dessen Kardinalgedanken von pessimistischer Verneinung des Willens zum Leben (wie er bei Velten Andres mustergültig rezipiert wird) fand in dieser Abhandlung nicht den dafür nötigen Raum. Erst 2007 gelang es Fauth komparativ von Texten Raabes und Schopenhauer ausgehend, diesen Einfluss herauszuarbeiten.13
1.3 Begründung der Werksauswahl
Raabes Erstlingswerk Die Chronik der Sperlingsgasse (1856) und Der Hungerpastor (1864) zählten zu den erfolgreichsten Arbeiten zu Lebzeiten Raabes.14 Frustriert über den ausbleiben-den Erfolg seiner folgenden Werke,15 16 insbesondere Stopfkuchens, das er für sein bestes Buch hielt,17 schrieb er nach dem Abbruch an Altershausen 1902 an den Freund Schönhardt:
Da Du Dich auch nach Feder-Neuigkeiten von mir erkundigst, so sage ich Dir nur: Is nich! – Das Volk ist ja völlig befriedigt mit dem mir abgestandenen Jugendquark: Chronik und Hungerpastor und läßt mich mit allem Übrigen sitzen (BA EG II 444)
Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Werke seiner Braunschweiger Zeit einen starken Hang zu Zynismus, Verbitterung und Melancholie aufweisen.18 Auch der frühe Tod seiner Tochter 1893 trug hierzu bei.19 Des Weiteren wird speziell dem Spätwerk ein hoher literarischer Rang zugesprochen.20 Schon deshalb eignen sich späte Texte für die gewählte Forschungsfrage. Aus dem Spätwerk, worunter gängig Raabes Braunschweiger Zeit 1870-1910 verstanden wird,21 fiel für die Untersuchung der Formen der Weltverneinung die Auswahl auf drei Werke: Stopfkuchen (1891),22 Die Akten des Vogelsangs (Kurzform: Akten, 1896)23 und Altershausen (1902 abgebrochen, posthum 1911 als Fragment erschienen).24 Diese drei besitzen dabei keinen Stellvertretercharakter für das gesamte Spätwerk von Wilhelm Raabe. Vielmehr wurde darin Raabes Facettenreichtum erkannt. Da dies als Chance gesehen wird, wurden für diese Arbeit eben nicht die drei späten Werke, welche Hermann Helmers 1968 unter der Bezeichnung Braunschweiger Trilogie verzerrend zu homogenisieren versucht hat (Alte Nester, Stopfkuchen und Akten).25 Schraders Fazit zu Raabes „echte[r] Altersarbeit“26 an den Akten kann auch auf Stopfkuchen und Altershausen gleichermaßen angewendet werden: Im Folgenden werden zur Herausarbeitung Wilhelm Raabes Formen der Weltverneinung seine wohl „unbürgerlichste[n] Roman[e] des sogenannten bürgerlichen Realismus“27 herangezogen. Als Grundlage der Arbeit mit Raabes Werken wird die in der Forschung gängige Braunschweiger Ausgabe mit der Sigle BA, herausgegeben von Karl Hoppe herangezogen.
2. WELTVERNEINUNG ALS ARBEITSBEGRIFF
Der Terminus Weltverneinung kann zunächst keinem Urheber zugeordnet werden. Ausein-andersetzungen mit Weltverachtung (contemptus mundi) und Weltflucht (fuga saeculi) reichen zudem vom Neuen Testament über Denker und Zeitgenossen Raabes im 19. Jh., wie etwa Schopenhauer, Feuerbach, Nietzsche oder Max Weber, bis in die Gegenwart. Sigmund Freuds psychoanalytische Vokabel hierzu lautet Realitätsflucht.28
Doch eine vorgefertigte, starre Definition (der Formen) der Weltverneinung würde bei der Ana-lyse des Spätwerk Raabes scheitern.29 Für literaturwissenschaftlich ergiebiger wird daher eine pragmatische Anlegung des Terminus Weltverneinung als offener Arbeitsbegriff erachtet: Wer die Welt verneint, sieht darin keinen Ort, an dem es sich zu leben lohnt. Oder mit anderen Worten: Das Leben in der verneinten Welt kann kein glückliches sein.
Die Ursachen, Ausprägungen oder kurz die Formen der Verneinung dieser Welt und interdependent die Verneinung des Lebens allgemein können vielfältig sein, wie sich im Spätwerk Raabes und in dieser Untersuchung zeigt.
3. ZWEI DER DREI NARZISSTISCHEN KRÄNKUNGEN DES MENSCHEN
Mit dem Aufgreifen von zeitgenössischen Themen wird deutlich, was und womit sich Wilhelm Raabe selbst intensiv beschäftigt hat. Was Sigmund Freud 1917 als narzisstische Kränkungen des Menschen30 bezeichnen wird, findet bereits in den hier bearbeiteten Werken von Raabe ihr literarisches Pendant. Dieses Kapitel widmet sich der sog. „Entthronung des Menschen“31 als Krone der Schöpfung durch Charles Darwins Evolutionstheorie von 1859, sowie Sigmund Freuds Herausarbeitung der Macht der Psyche und des Unterbewussten über den Menschen in Verbindung mit seiner Psychoanalyse. Letzteres wird mit einer vorfreudschen Analysefolie bei Raabe erarbeitet, da Freud psychologische Erkenntnisse in Zusammenhang mit der mensch-lichen Psyche erst nach der Federniederlegung Raabes (1902) in seinen Werken einte und auf breites öffentliches Interesse stieß. Die Entwicklung der Tiefenpsychologie weg von Romantik und Philosophie32 und hin zur naturwissenschaftlichen Disziplin geht dabei bis auf Mitte des 19. Jh. zurück.33 Freud schuf um 1900 mit seiner Traumdeutung keinen neuen Zweig der Medizin, sondern bündelte vielmehr ein medizinisch prominentes Diskursangebot34 durch seine Eigenbeobachtung.35 Der Rückzug ins Innere bzw. Freuds Erfolg kann auch mit der Endzeit-stimmung des 19. Jh. nachvollzogen werden. Salopp: Raabe konfrontiert seinen Leser mit der Thematik, der Mensch sei weder Herr auf der Erde noch Herr über den eigenen Körper.
3.1 Darwin und die Entthronung des Menschen in seiner Welt
Der Mensch aber hat vor dem Tier nur den zweifelhaften Vorzug, daß er „denken" kann: „Es kommt auf mich was an. Aber was ist der Mensch? Jedenfalls nicht das, was er sich einbildet zu sein, nämlich die Krone der Schöpfung. – Wilhelm Raabe 1901, Aphorismen 119.
Die besagte Krone macht Raabe dem Menschen literarisch streitig. In den Akten und im Stopfkuchen löst er den Menschen aus seiner (religiösen) Extraposition innerhalb der Schöpfung heraus und konfrontiert ihn mit seiner Affenabstammung sowie seiner Vergänglichkeit.
3.1.1 German Fell als missing link und raabscher Mephisto im Philisteridyll
„Von der Wissenschaft und den Herren Darwin, Häckel, Virchow, Waldeyer und so weiter“36 (BA XIX 380) war Raabe begeistert.37 Er setzte sich intensiv mit den Thesen Darwins von 1859 auseinander, sodass der Einfluss auf seine Werke bereits ab 1864 nachgewiesen werden kann.38 Die Modifikationen des bekennenden Atheisten Ernst Haeckel39 um die Schlagwörter „Kampf ums Dasein“ „Natürliche Zuchtwahl“ und „Überleben des Stärkeren“40 stießen ebenso auf das Interesse Raabes.41 Diese deutschsprachigen, populärwissenschaftlichen Weiterführungen42 der Thesen Darwins konnte er qua seiner Mitgliedschaft im „Großen Club“ (Braunschweiger Leseclub mit großer sowie aktueller Bibliothek) beziehen.43 Erwähnt sei hier auch, dass Deutschland als „Hochburg des Darwinismus“44 ausgemacht werden kann und es verwundert nicht, dass u.a. Denker wie Schopenhauer, Nitzsche, Marx oder auch Feuerbach von dieser „Entthronung des Menschen“45 immens beeinflusst wurden.46
Diese in den Akten genannten Wissenschaftler haben in der Evolutionsforschung lange nach dem letzten zentralen Beweis für die Affenabstammung des Menschen gesucht. Der Fund eines fossilen Menschenaffen 189147 als Zwischenglied zwischen homo sapiens und anthropoidem Affen erbrachte diesen Nachweis.48 Der darwin- wie paläontologieaffine Raabe greift den darwinistischen Diskurs seiner Zeit auf49 und reicht in den Akten 189650 den literarischen Beweis eines „von der Wissenschaft so lange und schmerzlich vermißten und endlich gefun-denen“ (BA XIX 377) Menschenaffen lebhaft nach. Raabes Philister dürfen dabei nicht fehlen.51
Versteht man die Kehraus- und Verbrennungsszene der Akten als vom „Satansjungen“ (BA XIX 333) Velten52 inszenierten Höhepunkt des Werkes,53 weist Raabe darin der grotesken Figur des Affenmenschen German Fell die Rolle eines Ehrengastes zu. In der einzigen Szene, in der alle Protagonisten (mit Ausnahme der Helene) auftreten, wird das anwesende Philistertum mit „Herr German Fell, von der Anthropologie genannt: das gefundene Mittel-glied“ (BA XIX 376)54 konfrontiert. German Fell und Velten Andres bilden dabei das antibür-gerliche Paar,55 dass die Selbstherrlichkeit der Philister bzw. auch allgemein des Menschen ostentativ ad absurdum führt. Die menschliche Hybris wird in Karls Krumhardts Rückblick deutlich:
Mein wackerer, braver Vater! meine gute, sorgenvolle Mutter! [...] Leider aber tröstet und erquickt den Menschen auf seinem Erdengange auch die sicherste Gewißheit, daß er recht habe [...]. Meine Eltern hatten vollkommen recht und wußten das auch. Dieses konnte sie nur darin bestärken, ihr eigen Fleisch und Blut möglichst auf dem richtigen Wege zu erhalten, auf daß und damit die Welt bestehe und ordnungsgemäß an nachfolgende Geschlechter weitergegeben werde. Nach besten, treuesten, sorglichsten Kräften haben sie so an mir getan, und — gottlob [Hervorhebung MPR], ich weiß, daß meine Frau und meine Kinder mit ihren Erziehungsresultaten zufrieden sind. (BA XIX 229)
Es tritt Krumhardtsches, philiströses Gedankengut hervor: Sie sehen sich nicht nur auf der höch-sten Stufe aller Lebewesen stehend, sondern fassen die Sicherung dieser Hierarchie als gottge-gebene56 Bürgerpflicht auf. Nach dem Auftritt German Fells, dem Raabe überdurchschnittlich viel Redezeit einräumt,57 ist es nach Rohse die artistisch gelebte transzendentale Menschen-kunde58 von German Fell, als Inkorporation von Wildnis und Zivilisation zugleich, die die Philister, allen voran Anna Krumhardt und Rieckchen Schellenbaum – raabetypisch mit heraldischem Namen59 – derart verunsichert.
Dabei kommt Raabes Technik der Umkehrung zum Einsatz. Äußerlich lässt er German Fell wie einen Affen, der „runden Rückens“ (BA XIX 381) auftritt, erscheinen. In der Art und Weise wie er spricht und sich verhält, entpuppt sich sein Inneres als von höchster Manier. Die karikier-ende Umkehrung dessen zeigt sich im Verhalten zweier Frauen, welche äußerlich „zur maßgebendsten Gesellschaftsschicht“ (BA XIX 265) gehören, im Kern aber triebhaft wie ein Tier zum „Kampf ums Dasein“ bereit sind.60 Dementsprechend verhält sich Rieckchen Schellenbaum, die vom Auftritt des Menschenaffen verunsichert, ihre Lebensgrundlage und Sicherheit in Form von Besitz den Flammen und zur Plünderung freigegeben sieht:
Sie stand ihm [Velten] jetzt dicht, Nase gegen Nase, gegenüber, dem Liebling des Vogelsangs. [...] Giftig bohrten ihre Augen in seine ruhigen, freundlichen. Die Fäuste zitterten und zuckten ihr, wie vor dem Zuschlagen. „Das ist nun leider so, Rieckchen", lächelte der Unmensch. [...] Die Schellenbaumen aber
[...] fuhr ab, und zwar mit einem Laut wie ein verwundetes Tier, und der Vogelsang lachte ihr nach und das Théâtre-Varietés, aus dem Tivoli gleichfalls. (BA XIX 379f)
Das „Honoratiorentöcherlien“ (BA XIX 376) Anna Krumhardt flieht bei Raabe „wie ein Kind, dass sich vor der Schlange fürchtet“ (BA XIX 384) oder frappierend intertextuell mit Faust gesprochen, wie Gretchen vor Mephisto: „Ich halte dieses nicht länger aus! [...] Ich halte mein Eigentum an der Welt fest.“ (BA XIX 383). Sie sieht sich durch die Besitzlosigkeit des Tieres, German Fells und Velten61 vor dem Nichts stehen.62
Die misanthropische Ernüchterung, dass alle Menschen im Kern triebhafte Tiere sind und vom Affen abstammen, präsentiert Raabe somit nicht beiläufig in den Akten. Vielmehr dominiert die Personifikation der Affenabstammung die dramaturgische Kulmination der Akten. Das den Akten vorangestellte Motto63 kann auch in diesem Kontext heißen: Das für so edel gehaltene Wesen des Menschen löst sich durch den Auftritt German Fells, der im Lebensbaum dem Men-schen so nahe ist, dass ein Händeschlag in den Ästen möglich ist,64 in nichtigen Schatten auf.
Die Frage nach den Schlagwörtern Darwins/ Haeckels beantwortet Raabe eindeutig. Velten Andres ist nicht oder zu spät „gefühllos“ geworden. Den „Kampf um das Dasein,“ aus dem der Stärkere hervorgeht, konnte der Philobat nicht gewinnen. Veltens „linker Arm, dessen gelähmtes Handgelenk ihn für den Kriegsdienst untauglich gemacht hatte“ (BA XIX 376) unter-mauert seine geringen Überlebenschancen. Deshalb sieht Rohse in den Akten den Höhepunkt der Braunschweiger Darwinrezeption Raabes.65 Dabei verkennt sie Stopfkuchen, in dem ein „Kampf ums Überlegen“ das ganze Werk durchzieht. Erst Brundiek gelang 2005 umfangreich Raabes Darwinrezeption textimmanent über mehrere Werke hinweg herauszuarbeiten.
3.1.2 Vom Theologiestudenten zum renommierten Archäologen: Heinrich Schaumann
Wie der Mensch körperlich auf das „sich selbst satt essen" gestellt ist, so steht er seelischerseits auf dem „selber sich durchfressen". Es hilft ihm kein anderer zu dem einen wie zu dem ändern. Man muß eben in dieser Welt alles selber machen. – Wilhelm Raabe 1890, Aphorismen 116
Die Entdeckung der Heimat und historisches Interesse kann als Trend im beschleunigten 19. Jh. ausgemacht werden.66 In Raabes „unverschämtesten Buch,“ wie er selbst sagt,67 ist die Ge-schichte für die Hauptfigur Stopfkuchen jedoch schnell zu langweilig.68 Der Außenseiter ent-deckt infolgedessen die Archäologie69 als Disziplin mit deutlich höherem Provokationspotenzial für sich. Die zeitgenössische Debatte um die Thesen Darwins und den damit in Verbindung stehenden archäologischen Bestrebungen ab Mitte des 19. Jh.70 verfolgte auch sein Autor Will-helm Raabe, selbst Mitglied eines archäologischen Vereins,71 mit großem Interesse.72 73 74
Das begonnene Studium der Theologie hatte den sonst gewaltigen und beleibten Stopf-kuchen schwer gezeichnet und ausgemergelt. Die Beschäftigung mit Theorien über Gott und der Krone seiner Schöpfung geht einher mit der Aufwertung des diesseitigen Lebens, doch in diesem Leben wurde Stopfkuchen von Beginn an ausgegrenzt. Darin liegt der Grund für den Abbruch dieses Studiums, an dessen Ende er sich als „Freund Hein“ (BA XVIII 131)75 bezeichnet. Im Kampf um sein Dasein in einer philiströsen, gesellschaftlichen Rangordnung hat er sich nicht behaupten können. Bezeichnend ist daher seine polemische Verabschiedung mit den Worten eines zum Kampf auf Leben und Tod gezwungenen Gladiators „Moriturus te salutat!“76 (BA XIX 132) aus dieser Ordnung. Dies erfolgt noch dazu im philiströsesten Raum den Raabe mit dem Wirtshaus präsentiert.77 Es zieht ihn zur Roten Schanze, dem Ort mit der trostspendenden Archäologie, an dem Bauer Quakatz bereits ein erstes Mammutgerippe gefun-den hat (cf. BA XVIII 99). „Der Mordbauer, [...] der verfemte Mann von der Roten Schanze“ (BA XVIII 84) und Stopfkuchen kommen über das geteilte Hobby der Archäologie „bald auf den kameradschaftlichsten Fuß“ (BA XVIII 71).
Während die Geschichte mit einer Erinnerungskultur in Verbindung steht und somit durch das Festhalten der Vergangenheit die Absicherung des derzeitigen Fortbestehens miterwirkt wird,78 negiert die Archäologie diese philisterhafte Scheinsicherheit einerseits und offenbart die Ver-gänglichkeit auf der anderen Seite wie keine andere Wissenschaft.79 Das Alltägliche und die eigene Lebenszeit verliert in Anbetracht von geologischen Schichten, die über Jahrtausende entstanden sind, schnell jegliche Relevanz.80 Ebendarin liegt das Trostpotential der Archäologie und die Faszination von Verfemten und Dissidenten dafür.81 Mit Verweis auf die bornierte Blindheit der Philister, die sich für die Krone der Schöpfung halten, schwärmt Stopfkuchen:
Die Vorstellung, in einer späteren Schicht auch mal unter den merkwürdigsten Versteinerungen gefunden zu werden hat für den gemütlich angelegten, denkenden [Hervorhebung MPR] Menschen so viel Anregendes. (BA XVIII 99)
Der Trost darin ist für Stopfkuchen so groß, dass er zum renommierten Archäologen aufge-stiegen ist. Auch sein Arzt betont den (psychotherapeutischen) Wert „dieser Liebhaberei“ (BA XVIII 100). Nicht nur Stopfkuchen, sondern auch der wahnsinnig gezeichnete Mordbauer Quakatz82 empfindet dabei Balsam für die Ungerechtigkeit des Mordvorwurfs. Beide stellen ihre Ausgrabungen stolz in ihrer Bastion aus. Tinchen über ihren Vater:
Was blieb ihm übrig, um nicht ganz verrückt zu werden [...]. Daß Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen, ihm dabei zu Hülfe kommen konnte, [...] war unbedingt Schicksal. [...] Was für ein Trost damals für den Papa hierin lag, [...]. [Quakatz:] [W]enn du in deinen Büchern über das Knochenzeug was hast, so bringe es auch mit heraus; aber sage keinem Menschen davon, welch einen versteinerten Drachen Kienbaums Mörder zu seinem Troste in seiner Kiesgrube gefunden hat. (BA XVIII 98ff.)
Und da kam er mit meinem Vater zu der Überzeugung, daß kein Hahn mehr nach [...] dem Herrn Oberlehrer [...] und — und — und Kienbaum auch kein Hahn mehr krähen, [...] und kein Mensch mehr die Nase verziehen werde. (BA XVIII 112)
Auch Stopfkuchen teilt sein „osteologisches Museum“ (BA XVIII 76), samt Knochen des Rie-senfaultiers nicht mit der Welt:
Lächerlich! Sind denn die Leute so dumm, oder kennt die Welt Stopfkuchen so wenig? Was der aufgegraben hat, das behält er und läßt es sich keinesfalls durch schöne Redensarten und weltlichen Mammon abschwindeln. — (BA XVIII 177)
Was er ausgegraben hat, ist jedoch weit mehr als bloße Knochen. In „der Liebhaberei seiner alten Tage“ (BA XVIII 76) liegt die Wahrheit über das menschliche Dasein offen. Diese Wahr-heit ist das zentrale Thema des Werkes. Und es ist eine Offenbarung der Nichtigkeit der menschlichen Existenz in der Welt. Stopfkuchens Überlegenheit und „unbegreifliche Indolenz“ (BA XVIII 205)83 basiert auf dieser Einsicht. Im Gegensatz zur geographischen Weite und Oberflächlichkeit als Lebenselemente von Störzer und Eduard findet er in der Tiefe die Erkennt-nis, dass alles irdische vergänglich ist, dem Lauf der Welt unterliegt und nichts als Knochen vom Menschen – so auch dessen Logbücher und Akten – Bestand haben. „O dieser Stopf-kuchen“ (BA XVIII 205), wie Eduard eingeschüchtert über ihn denkt, wird dadurch zum darwi-nistischen Ex-Theologen84 und Archäologen mit „behaglicher Weltverachtung“ (BA XVIII 197) als größtem Fund,85 welcher seine radikale existenzielle Freiheit erst ermöglicht. Auch sein Desinteresse an biederer, gesellschaftlicher Partizipation lässt sich hierin begründen.
Raabe degradiert nicht nur nihilistisch die Lebenszeit eines Menschen als Wimpern-schlag in Anbetracht der Weltgeschichte.86 Wenn diese zur Schau gestellte Vergänglichkeit gerade in Knochengestalt eines Riesenfaultiers (cf. BA XVIII 111 et passim)87 deklamiert wird, spricht Raabe nicht nur dem Leistungsethos der Philister, sondern jedem menschlichen Streben und Handeln einen Sinn ab. Dieser Fund, in Verbindung mit Stopfkuchens süffisanter Art, mag humoristisch erscheinen, thematisch liegt aber ein radikaler, den Menschen desillusionierender Zynismus vor. Dabei wirkt das Interieur der Stube der Roten Schanze sehr an Vanitas -Motiven angelehnt. Eduards blick fällt auf Schädel, Stundengläser, Kerzen, Blumen, Tabak(-rauch) und Knochen.88 Hinzu kommt die Fliege als Teufelsepiphanie89 und sich am Fleiß des Menschen mästenden Tier, die ihr Domizil wie natürlich auf der Roten Schanze finden:90
„In der dunkeln, niedern Bauernstube [...] man kann eine Meile weit jede Fliege summen hören. Ja, die Fliegen der Roten Schanze! Sie haben das Schanzwerk des Prinzen Xaver von Sachsen auch nicht aufgegeben. Sie sind noch vorhanden in der Stube des Bauern Quakatz, einerlei, ob er Kienbaum totgeschlagen hat oder nicht. Es gibt nichts innerhalb der vier Wände, was sie nicht beschmitzt haben, vor allem die Bilder an den Wänden: die Zehn Gebote“ (BA XVIII 41)
Neben der oben ausgeführten Erkenntnis der Vergänglichkeit aus Stopfkuchens „schlimmer Totengräberei“ (BA XVIII 154)91 zeigt Raabe im Stopfkuchen die durch Darwin wissenschaft-lich fundierte Legitimation zum rücksichtslosen Egoismus und sozial unverträglichen Handeln im struggle for life auf. Darin liegt einerseits der Freibrief für Stopfkuchens Handeln (cf. Kapitel 5.3.2) vor, andererseits gerät er aufgrund seiner Körperfülle schnell auf den Kampfplatz des Menschen, an dem sich nur der Stärkere durchsetzen würde. Er erinnert sich: „Na, Eduard, du bist auch mit einer von meinen Jägern gewesen“ (BA XVIII 82). Seine Stigmatisierung als „Bradypus“ (BA XVIII 82) fand durch den Lehrer Blechhammer statt. Allegorisch findet er auf der Roten Schanze mit dem Riesenfaultier seine Identität, die seinen Kampf siegreich erscheinen lässt.92 Früh entsteht seine darwinistisch-kampfbetonte Parole:
Friß es aus und friß dich durch, lautete [m]eine damalige Redensart. Es gibt keine andere, um durchs Leben zu kommen (BA XVIII 114 et passim)93
Unter diesem Aspekt kann auch der Schimpfname aus der Jugendzeit „Stopfkuchen“ erklärt werden, den er selbst stolz trägt: „den edlen Namen Stopfkuchen trage man nur mit der dazu-gehörigen Leistung“ (BA XVIII 102). Grimms Wörterbuch führt dazu an: „Reststück vom Kuchenteig, in welches die übriggebliebenen Rosinen, Butter- und Zuckermengen hinein-gestopft werden.“94 Versteht man Essen und Verdauung als Metapher für Stopfkuchens Verbin-dung zur Welt,95 rühmt sich der „Gefräßigste“ (BA XVIII 22), sich dem Schlechten dieser Welt zu stellen, dagegen anzukämpfen96 und damit umgehen zu können. Mit letzterem alludiert Raabe sehr an Darwins survival of the fittest: nicht der Stärkste (Philister), sondern der am besten Angepasste setze sich hiernach durch.
Unter großer Anstrengung wurde Stopfkuchen zum „Mann und Eroberer der Roten Schanze“ (BA XVIII 167). Wie oben gezeigt, ist es der Ort seiner Einsicht. Plakativ steht dort der von der Forschungsliteratur äußerst ambivalent verstandene Ausspruch:
„Den Mutigen gehört die Welt. Geh aus dem Herdenkasten!“ (BA XVIII 107)
Die vorliegende Untersuchung geht dabei einen alternativen Weg der Interpretation. Mut bedeutet für Stopfkuchen im Gegensatz zu den „Schlaumicheln, Schnellfüßen, [aus der] gym-nastischen Affenrepublik“ und den „europäisch gezähmten Eseln [... ] aus dem Kulturpferch“ (BA XVIII 89; 116) eine vorbehaltlose Beschäftigung mit den Thesen Darwins und insbeson-dere der Archäologie, auch wenn daraus eine narzisstische Kränkung für den Menschen resultiert. Dieser Mut wird mit der Welt belohnt, d.h. mit einer Überlegenheit via des Wissens um die Relativität des eigenen Daseins. Und eben dieses Wissen ist für Stopfkuchen der Auslöser, den Herdenkasten bzw. die Gesellschaft der „übrigen edlen, christlichen Menschheit“ (BA XVIII 36) zu verlassen und im Kampf ums Überleben sich durchzusetzen bzw. sich selbst rücksichtslos zu verwirklichen, wobei „diese Rote Schanze, dieser alte, herrliche Kriegs- und Belagerungs-Aufwurf“ (BA XVIII 23) als Festung dient.97 In Verbindung mit der Roten [!]98 Schanze und der Gewaltmetaphorik und -sprache, die den gesamten Stopfkuchen prägen, ist die intertextuelle Verflechtung zwischen Heinrich Schaumann und Heinrich Schliemann, dem Er-oberer bzw. Entdecker Trojas aufschlussreich.99
Wie sehr sich Stopfkuchen mit wissenschaftlicher Legitimation von jeglichen moralischen Grundsätzen entbunden fühlt, wird im Umgang mit der mutmaßlichen Wahrheit über den Mörder Kienbaums deutlich.100 Indem Stopfkuchen den Pflichbewussten und harmlosen Brief-träger Störzer als Mörder präsentiert, verdeutlicht Raabe seine Überzeugung vom gleichen trieb-haften und animalischen Kern aller Menschen. Wenn selbst „Der ? ... Der? Dieser brave alte Biedermann und Dummkopf?“ (BA XVIII 176) zu einer Affekttat des martialischen Steinwurfes fähig ist, so die raabsche These, dann kann jeder Mensch zum Mörder werden.101 102 Der Ver-such des zivilisierten Menschen mit einem Justizsystem dieser anthropologischen Determi-nation entgegenzuwirken scheitert bei Raabe: Der wahre Mörder konnte bisher nicht gefunden werden und der Staatsanwalt betritt bezeichnend zu spät das Wirtshaus,103 nachdem Stopf-kuchen die Wahrheit bereits verkündet hat.104 Um diese Ohnmacht der Justiz gegenüber dem Gewaltpotential eines jeden Menschen offen zulegen, hält er die Wahrheit solange zurück, bis Quakatz und Störzer selbst tot sind, damit die juristische Aufarbeitung des Mordfalls nicht mehr möglich ist (BA XVIII 177, Tinchen: „Es ist jetzt alles so einerlei, wer Kienbaum totgeschlagen hat“). Indem Störzer seine Tat selbst verschweigt, kommt der Sieg des primitiven Überlebenswillen gegenüber Moral und Gerechtigkeit nochmals deutlich zum Tragen. Zu gestehen, so lautet die Apologie des Mörders, wäre nicht nur gegen seine, sondern „gegen die Natur“ (BA XVIII 185). Diese determinierende Willkür, der die Menschheit in Raabes Stopfkuchen unterliegt, betonen mit Hoppe und Göttsche Raabekenner der ersten und jüngsten Stunde.105 Zudem kann hier ein Alludieren Thomas Hobbes homo homini lupus erkannt werden.
Stopfkuchens Bewusstsein dafür ist der Grund für seine mächtige, behagliche Charakteristik einerseits und für ihn Legitimation zum selbstjustiziellen Handeln, entbunden von jeder Ethik und Moral andererseits.106
In diesem Zusammenhang erklärt sich auch die Vitrine in Stopfkuchens heiligen Ort der Küche. Schwiegervater Quakatz hat zuvor darin seinen corpus juris aufbewahrt und vergeblich nach Gerechtigkeit und Wahrheit gesucht.107 Stopfkuchen führt nun darin Koprolithen (fossile Exkre-mente), Symbol seines überlegenen Umgangs durch Verdauen.108 Er stellt damit aus, was Quakatz nicht gefunden hat: Die einzige Wahrheit – und das weiß der mächtige Stopfkuchen exklusiv – liegt darin, dass erstens der Mensch ein vergängliches Wesen, von dem nichts als Knochen bleiben, ist, zweitens die einzige Gerechtigkeit in der Evolutionsgeschichte liegt und drittens die Zeit, die er auf der Erde hat vom struggle for life und survival oft the fittest bestimmt ist. Raabe notierte 1881 in sein Notizbuch: „Es tötet nichts so sicher wie das Leben.“109
[...]
Zur Zitationsweise von Wilhelm Raabes Werken mit der Sigle BA cf. Literaturverzeichnis. Alle Werkstitel in dieser Untersuchung werden kursiv im Haupttext geführt und dekliniert. Fachtermini erfahren durchgängig dieselbe Kennzeichnung. Hervorhebungen in Zitaten aus Primärtexten, Ergänzungen zum Verständnis und Übersetzungen durch den Autor dieser Arbeit werden mit dem Kürzel MPR in eckigen Klammern versehen. Die Akten des Vogelsangs werden verkürzt mit Akten bezeichnet. Das Werk „Stopfkuchen“ wird kursiv gesetzt, die Person Heinrich Schaumann alias Stopfkuchen nicht. Analog bei Altershausen als Ort; als Werk: Altershausen.
1 Oppermann, Hans: Wilhelm Raabe in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek: Rowohlt 1970, S. 7.
2 Cf. Raabe 1893: „ich habe mich nie für einen guten Unterhaltungsschriftsteller gehalten.“ (BA EG II 344).
3 Rölleke, Heinz: Vom 40jährigen Dintenjubiläum, dem armen Heinrich und dem Abdruck eines drolligen Aufsatzes. In: JbRG 2001, S. 119-125, hier S. 212. So beschrieb der Duzfreund Carl Schultes seinen Wilhelm Raabe. Sie wohnten in derselben Straße und waren ebenso Mitglieder der Kleiderseller.
4 Pongs, Hermann: Wilhelm Raabe. Leben und Werk. Heidelberg: Quelle & Meyer 1958, S. 70.
5 Haas, Rosemarie: Einige Überlegungen zur Intertextualität in Raabes Spätwerk. Am Beispiel der Romane Das Odfeld und Die Akten des Vogelsangs. In: JbRG 1997, S. 103-122, hier S. 117.
6 Mayer, Gerhart: Die geistige Entwicklung Wilhelm Raabes. Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zur Philosophie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1960, S. 66.
7 Zirbs, Wieland: Strukturen des Erzählens. Studien zum Spätwerk Wilhelm Raabes. Frankfurt: Lang 1986, S. 31.
8 BA EG III 537, Raabe Silvester 1890 an den engen Freund Jensen während der Arbeit an Altershauen.
9 Bauer, Franz: Das lange 19. Jahrhundert. Profile einer Epoche. Stuttgart: Reclam 2010.
10 BA EG II 421, Raabe 1901 im Rückblick an seinem 70. Geburtstag.
11 Schrader, Hans-Jürgen: Zur Vergegenwärtigung und Interpretation der Geschichte bei Raabe. In. JbRG 1973, S. 12-53, hier S. 14.
12 Weiß, Johannes: Max Weber. Die Entzauberung der Welt. In: Speck, Josef (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart. Band IV. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, S. 40ff.
13 Fauth, Søren R.: Der metaphysische Realist. Zur Schopenhauer-Rezeption aus Wilhelm Raabes Spätwerk. Göttingen: Wallstein 2007. Grundlage seiner Ausführung ist die Analyse der Schopenhauerausgaben in Raabes Privatbibliothek, welche Notizen und Markierungen aufweisen. Von diesen ausgehend weist Fauth inhaltliche wie wörtlich frappierende Ähnlichkeiten auf. In Raabes Eulenpfingsten (1874) erhält Schopenhauer persönlich einen Gastauftritt. Allgemeiner: Sorg, Bernhard: Zur literarischen Schopenhauer-Rezeption im 19. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 1975.
14 Cf. BA XVIII Kommentar von Karl Hoppe, S. 414-463, hier S. 428.
15 Helmers, Hermann: Wilhelm Raabe. Stuttgart: Metzler 1968b, S. 8-11.
16 Cf. Aphorismen 114: Raabe 1888: „Das Wort Vielschreiber: Trost der Mittelmäßigkeit.“
17 Cf. BA EG II 429: Raabe 1905 auf die Frage, welches seiner Werke er für das beste halte, mit energischer Bestimmtheit: „Stopfkuchen! [...] – da hab ich die menschliche Kanaille am festesten gepackt gehabt.“
18 Cf. dazu: Aphorismen 103: Raabe 1876: „Den richtigen Lesepöbel hat einzig und allein das Volk der Denker aufzuweisen.“
19 Raabe 1893 an H. Riedel: „Wenn Sie wüßten, wie es seit dem Tode meines Kindes in mir aussieht, [...] meine Sechzehnjährige hat neulich mir soviel von meiner Theilnahme an den Dingen der Erscheinung mit nach dem Friedhofe hinausgenommen, daß kaum noch etwas davon übrig geblieben ist.“ (BA XIX 449). Zweimal spielt Raabe in den Akten auf den Tod der Tochter an: BA XIX 340 bei der Beerdigung von Vater Krumhardt und in BA XIX 244: Karl stellt sich ein leergewordenes Kinderschemelchen vor. Cf. auch die Kinderlosigkeit im Stopfkuchen, in Altershausen verlor Friedrich Feyerabend selbst früh Frau und Tochter.
20 Goldammer, Peter: Kritisch oder Historisch-Kritisch? Reflexionen über eine neu zu schaffende Raabe-Ausgabe. In: JbRG 1988, S. 39-51, hier S. 50.
21 Göttsche, Dirk: Grundlagen. Leben und Werk im Überblick. In: Raabe-Handbuch, S. 2-11, hier S. 7.
22 Zur Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Figur Stopfkuchen und dem Autor Raabe: Hoppe, Karl: Die weltanschaulichen Grundzüge in Raabes Stopfkuchen. In: Mitt. 1954, S. 77-89.
23 Cf. Sammons, Jeffrey Leonard: Wilhelm Raabe. The fiction of the alternative community. Princeton: University Press 1987, S. 315: “The Documents of the Birdsong' is the finest work of a great career, an outstanding late 19. century novel of European stature.”
24 Detering, Heinrich: Altershausen. In: Raabe-Handbuch, 256-259, hier S. 256.
25 Helmers, Hermann: Die Figur des Erzählers bei Raabe. In: Ders. (Hg.): Raabe in neuer Sicht. Stuttgart 1968a, 318f. Sein Gliederungskriterium ist die Figurenkonstellation aus bürgerlichem Erzähler und unbürgerlichem Außenseiter. Diese Technik ist jedoch keinesfalls nur für das Alterswerk Raabes spezifisch und somit ist Helmers Einteilung fragwürdig, auch wenn die Forschung weitestgehend unkritisch mit Helmers Einteilung arbeitet.
26 BA XIX Kommentar von Hans-Jürgen Meinerts, S. 447-481, hier S. 447: Raabe selbst über die verhältnismäßig lange, von Schwierigkeiten erschwerten Entstehungszeit seiner Akten des Vogelsangs von 25 Monaten.
27 Schrader, Hans-Jürgen: Editorische-bibliographische Notizen. In: Raabe, Wilhelm. Werke in Einzelausgaben. Die Akten des Vogelsangs. Band 8. Frankfurt: Insel, 1985, S. 217-221, hier S. 218.
28 Ritter, Joachim: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 12. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2004, Sp. 521-527.
29 Zur Privatbibliothek Wilhelm Raabe aufschlussreich: Zeller, Christoph: Raabe in internationalen Bezügen. In: Raabe-Handbuch, S. 21-27.
30 Freud, Sigmund: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. Band 5, 1917, S. 1-7.
31 Engelmeier, Hanna: Der Mensch, der Affe. Anthropologie und Darwin-Rezeption in Deutschland. 1850–1900. Köln: Verlag, 2016, S. 114.
32 Schon in der Romantik wir die Seele, deren Tiefe und Verborgenheit von Novalis bis Brentano bspw. mit der Metapher eines Bergwerks behandelt. Dazu: Dierks, Manfred: Reisen in die eigene Tiefe. Nach Kessin, Altershausen und Pompeij. In: Heftrich, Eckard/ Nürnberger, Helmuth/ Sprecher, Thomas/ Wimmer, Ruprecht (Hgg.): Theodor Fontane und Thomas Mann. Thomas-Mann-Studien, Band 18. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1998, S. 169-186, hier S. 170f.
33 Heine, Ulla: Psychopathologische Phänomene im Kunstspiegel der Literatur des Realismus. Dargestellt an Werken von Wilhelm Raabe. Marburg: Tectum 1996, S. 159. Cf. hier auch: Wegbereiter der modernen Psychiatrie und Neurologe Wilhelm Greisinger (1817-1868) mit frappierenden Ähnlichkeiten zur Figur Feyerabend.
34 Müller, Konrad: Probleme mit dem Selbstbewusstsein. Von Raabe zu Husserl. In: Baßler, Moritz (Hg.): Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne. Berlin: De Gruyter 2013, S. 226-249, hier S. 242. Und: Dierks 1998, S. 169-186, hier S. 170f. Die Eigenleistung Freuds für die wissenschaftliche Disziplin der Psychologie bis heute darf jedoch nicht gemindert angesehen werden.
35 Dierks, Manfred: Das Kind noch dabei. Raabe, Freud und Jensen in Altershausen. In: JbRG 2000, S. 16-30, hier S. 21.
36 Der aus Braunschweig stammende Anatom Waldeyer vertrat in seinem Werk Das Gorillarückenmark von 1899 zusammen mit dem überzeugten Darwinisten Ernst Haeckel die These von der Affenabstammung des Menschen. Zum raabschen Motiv des Kletterns und Verkletterns: Haeckel stellte die Abstammung des Menschen ab 1872 in Form von Stammbäumen dar. Cf. Brundiek, Katharina: Raabes Antworten auf Darwin. Beobachtungen an der Schnittstelle von Diskursen. Göttingen: Universitätsverlag 2005, S. 64.
37 Sprengel, Peter: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 117.
38 Rohse, Eberhard: Transzendentale Menschenkunde im Zeichen des Affen. Raabes literarische Antworten auf die Darwinismusdebatte des 19. Jh. In: JbRG 1988, S. 168-210, hier S. 171.
39 Kupisch, Karl: Bürgerliche Frömmigkeit im Wilhelminischen Zeitalter. Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 1962, S. 123-141, hier S. 137.
40 Schwab, Hans-Rüdiger: Die Wandlung findet nicht im Geist statt, sondern in den Genen. Der Mensch als Schöpfer seiner selbst in der Gegenwartsliteratur. In: Klose, Joachim / Oehler, Jochen (Hgg.): Gott oder Darwin? Vernünftiges Reden über Schöpfung und Evolution. Berlin: Springer 2008, S. 361-383, hier S. 361.
41 Heine 1996, S. 157.
42 Rohse 1988, S. 168-210, hier S. 171, auch die Anthropologie des Menschen des Münchner Malers Gabriel von Max stieß auf enormes Interesse. Cf. Engelmeier, Hanna: Der Mensch, der Affe. Anthropologie und Darwin-Rezeption in Deutschland 1850-1900. In: Historische Anthropologie, 2018 (1), S. 113-115, hier S. 218.
43 Brundiek 2005, S. 25.
44 Sprengel 1998, S. 7.
45 Brundiek 2005, S. 36.
46 Schwab 2008, S. 361-383, hier S. 362.
47 Rohse 1988, S. 168-210, hier S. 207f.
48 Ebd. S. 190.
49 Brundiek 2005, S. 63.
50 Fund des fossilen Affenmenschen auf der indonesischen Sundainsel Java 1891, Entstehungszeitraum Raabes Akten des Vogelsangs 1893-1895, cf. BA XIX 479; 447f.
51 Cf. dazu: Aphorismen 89: Raabe 1864: „So oft eine neue überraschende Erkenntniß durch die Wissenschaft gewonnen wird, ist das erste Wort der Philister: es sei nicht wahr; das zweite, es sei gegen die Religion; und das dritte: so etwas habe Jedermann schon lange vorher gewußt.“
52 Brundiek übersetzt den Namen Velten Andres wörtlich mit: „teuflisch anders“ (2005, S. 90).
53 Brundiek 2005, S. 63.
54 BA XIX 479 „das gefundene Mittelglied". Anspielung auf den Begriff „missing link" (engl.), das fehlende Glied, nämlich zwischen Affe und Mensch, das die Anthropologie jener Zeit als Bestätigung der Abstammungslehre zu entdecken hoffte bzw. in den 1891 - zur Entstehungszeit des Romans - auf Java gefundenen Fossilien des sog. Anthropopithecus erectus entdeckt zu haben glaubte.
55 Brundiek 2005, S. 79.
56 Gott als Schöpfer nach christlichem Glauben, wird bei Raabe fast ausschließlich unabhängig vom sprechenden Protagonisten in Idiomen genannt. Exemplarisch: Stopfkuchen: BA XVIII 14; 67 et passim: „Das weiß der liebe Gott.“ Exclamatio in den Akten: BA XIX 216; 224 et passim: „Du lieber Gott!“Altershausen: BA XX 208; 222 et passim: „Gott sei Dank!“ Fuld arbeitet in der jüngsten Raabe-Biographie heraus, dass Raabe sich selbst nahe an einem Agnostizismus mit atheistischer Ausprägung sah, Fuld, Werner: Wilhelm Raabe. Eine Biographie. München: dtv 1993, S. 169f.
57 Auftritt German Fell BA XIX 380-384, hier stark gekürzt: [...] In gedrückten Mußestunden pflege ich mich jedenfalls immer noch wie andere von uns Primaten mit transzendentaler Menschenkunde zu beschäftigen; ich habe ebenfalls einige Semester in Wittenberg studiert, ehe ich zu den Anthropoiden ging. [...] Siehe da, habe ich mir gesagt, auch einmal wieder einer, der aus seiner Haut steigt, während die übrigen nur daraus fahren möchten! „Mein Herr", rief aber jetzt Velten Andres, [...] mit immer steigendem Erstaunen [...]„mein Herr, nun bitte ich doch, mir genauer zu sagen, mit wem ich eigentlich die Ehre habe." „ Mit einem vom nächsten Ast, mein Herr. Vom nächsten Ast im Baum Yggdrasil. [Hervorhebung MPR] Man kann sich auf mehr als eine Art und Weise dran und drin verklettern, mein Herr. Mit unseren Personalbezüglichkeiten dürfen wir uns wohl gegenseitig verschonen. Auf bürgerlich festen Boden hilft wohl keiner dem anderen wieder hinunter; aber reichen wir uns wenigstens die Hände von Zweig zu Zweig [Hervorhebung MPR] Mein Herr, ich danke Ihnen." Wofür er dankte, sagte er weiter nicht. Meine Frau hat es nie begriffen, ich aber habe mir auch nicht die vergebliche Mühe gegeben, es ihr begreiflich zu machen. [...].Überwiegend wird die Interpretation der Figur German Fell von der Forschungsliteratur gemieden. Gelungen hierzu Rohse 1988, S. 168-210: German Fell und Velten Andres über existentieller Glücklosigkeit, zu-nehmender Eigentumslosigkeit, metaphysischer Obdachlosigkeit, aber auch frei machender Illusionslosigkeit.
58 Rohse 1988, S. 168-210, hier S. 170; 166.
59 Der Schellenbaum ist eine repräsentative Standarte in Militärparaden. Das Militär kann als vom Menschen kon-ventionalisierte Gewalt verstanden werden. Die Figur Rieckchen Schellenbaum steht dafür mit ihrem Namen. Wenn jedoch diese Figur wie ein Tier zum Kampf bereit ist, sieht Raabe, den Darwinismus und somit die Affena-bstammung des Menschen deutlich bejahend, diese Konventionalisierung als gescheitert an. Im Kern des Menschen ist es folglich der Trieb zum Kämpfen um das Überleben. Cf. Textentnahme auf Seite 10, BA XIX 379f.
60 Charles Darwin: „soziale Instinkte sind beim Mensch und Tier gleichermaßen angelegt“ aus Rohse 1988, S. 204.
61 Sprengel 1998, S. 119.
62 Brundiek 2005, S. 79. Auch zur sinnstiftenden, gar Lebenswillen generierenden Funktion des Besitzes im Bürger-tum: Nachdem Hartleben und Vater und Mutter Krumhardt ihren Besitz im Vogelsang aufgegeben haben, sterben sie bald darauf. Cf. Zum innigen, emotionalen Verhältnis zum Besitz dieser bei BA XIX 316; 347; 383 et passim.
63 BA XIX 212: „Die wir dem Schatten Wesen sonst verleihen, /sehn Wesen jetzt als Schatten sich verziehen.“
64 BA XIX 381: „einer von nächsten Ast [...]. Reichen wir uns wenigstens die Hände von Zweig zu Zweig.“
65 Rohse 1988, S. 168-210, hier S. 186.
66 Grätz, Katharina: Alte und neue Knochen in Wilhelm Raabes Stopfkuchen. Zum Problem historischer Relativität und seiner narrativen Bewältigung. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 1998, S. 236-27, hier S. 242.
67 BA XVIII Kommentar von Karl Hoppe, S. 414-463, hier S. 432: Brief von 1891 an den Freund Sträter.
68 BA XVIII 71: „daß noch etwas in mir lag, was selbst über den historischen Sinn hinausging. [...] Wir [Mordbauer Quakatz und Stopfkuchen] kamen jedenfalls bald auf den kameradschaftlichsten Fuß.“
69 Aufgrund der literaturwissenschaftlichen Beheimatung dieser Arbeit wird hier auf geologisch-terminologische Trennschärfte verzichtet. Paläontologie und Petrefaktenkunde werden daher dem Oberbegriff Archäologie als allgemeine Ausgrabungsdisziplin untergeordnet.
70 Brundiek 2005, S. 120; 136.
71 Raabe begleitete seinen Freund Jensen regelmäßig auf archäologische Ausgrabungen. Cf. Mauer, Kathrin: Das Ausgraben der Vergangenheit. Heinrich Schaumanns und Heinrich Schliemanns historischer Sinn. In: Fauth, Søren R./ Paar, Rolf/ Rohse, Eberhard (Hgg.): Die besten Bissen vom Kuchen. Wilhelm Raabes Erzählwerk. Kontexte, Subtexte, Anschlüsse. Göttingen: Wallstein 2009, S. 283-296, hier S. 283.
72 Mojem, Helmuth: Wilhelm Raabe und der pergamenische Thron des Satans. Ein literaturarchäologischer Fingerzeig. In: JbRG 1993, S. 53-90, hier S. 53.
73 Lehrer, Mark: Der ausgegrabene Heinrich Schliemann und der begrabene Theodor Storm. Anspielungen auf Zeitgenossen in Raabes Stopfkuchen. In: JbRG 1989, S. 63-90, hier S. 66.
74 Neben Stopfkuchen greift Raabe in seinem eher peripher gehaltenen Werk Keltische Knochen deutlich auf die Thematik von Archäologie zurück, dazu: Freitag, Benjamin: Vom kunstsinnigen Dilettanten, voreingenommen Grabräubern und geltungsbedürftigen Schliemännern. Eine archäologiegeschichtliche Spurensuche bei Adalbert Stifter, Wilhelm Raabe und Theodor Fontane. In: Broch, Jan/ Lang, Jörn (Hgg.): Literatur der Archäologie. Materialität und Rhetorik im 18. und 19. Jahrhundert. Paderborn: Fink 2012. S. 197-245, hier S. 218.
75 Haslé, Maurice: Der Verdauungspastor. Magen-Sprache und peristaltische Schreibweise in Raabes Stopfkuchen. In: JbRG 1996, S. 92-113, hier S. 104. Freund Hein: Allegorische wie euphemistische Personifikation des Todes. Auch Kochenmann genannt, cf dazu: Röhrich, Lutz: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Band 2. Freiburg: Herder 1994, S. 693f.
76 Übersetzung MPR: „Der dem Tod Geweihte grüßt euch.“ Gladiatorengruß an den römischen Kaiser Claudius.
77 Dörrlamm, Brigitte: Gasthäuser und Gerüchte. Zu integrativer Polyphonie im Werk Wilhelm Raabes. Frankfurt am Main: Lang 2003, S. 37; 44.
78 Brundiek 2005, S. 138.
79 Haslé 1996, S. 92-113, hier S. 112.
80 Matschke, Günther: Die Isolation als Mittel der Gesellschaftskritik bei Wilhelm Raabe. Bonn: Bouvier 1975, S. 102.
81 Brundiek 2005, S. 125.
82 Interpretation des Namens: Von der Qualle zur Katze: Mit seinem Namen steht er für die Auffassung einer evolutionären Entwicklungslinie. Der Vorname der Tochter „Valentine“ (weibl. Pendant zu Valentin) erweitert dieses raabsche Konstrukt um die Eigenschaft des Diabolischen bzw. Antichristlichen. Cf. Fußnote 52.
83 Konträr dazu ist Eduards erste Frage beim Kondolenzbesuch an Störzers Frau, BA XVIII 163: „Was hat er denn für einen Tod gehabt, Frau Störzer?" „Ja, Gott sei wenigstens dafür Dank: einen recht guten.“
84 Mit seinem nicht erfolgreichen Theologiestudium steht Heinrich Schaumann, wie auch Velten Andres aus den Akten in einer Assoziationslinie mit Heinrich Faust („leider auch Theologie durchaus studiert“). Alle drei können als gescheiterte Außenseiter betrachtet werden, deren einziger Beistand sich das Merkmal des Diabolischen teilt: Mammutgerippe, German Fell und Mephisto.
85 Raabe markierte in seiner Goetheausgabe der Kophtischen Lieder die Stelle: „den Dingen und Metamorphosen dieser Welt gelassen zuzuschauen.“ Weiterführend dazu: Rohse 1988, S. 168-210, hier S. 192ff.
86 Cf. dazu: Aphorismen 128: Raabe (aus seiner Sammelmappe, undatiert): „Man muss sich bei jedem Erdentummel, in den man persönlich mit verwickelt wird, nur immer sofort deutlich machen, wie das nur ein Augenblicksbild ist.“
87 Brundiek 2005, S. 137; 157. Ist in ihren sonst aufschlussreichen Ausarbeitung der Archäologie Stopfkuchens hier von der Wissenschaftsgeschichte geblendet. Zwar wurden Fossilresten von Riesenfaultieren (fachterm. Megatherium) von Geologen um Georges Cuvier im ausgehenden 18. Jahrhundert und später von Charles Darwin selbst gefunden, aber diese Arbeit ordnet – wie erarbeitet nachvollziehbar – Raabes Wahl des Tieres seinem ausgeprägten Sinn für Allegorie sowie seiner Raffinesse zu.
88 Haslé 1996, S. 92-113, hier S. 113.
89 Bächtold-Stäubli, Hanns: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Band 2. Berlin: de Gruyter 1987, S. 126f.
90 Cf. dazu das Gemälde Carl Spitzwegs: Gestörte Kontemplation von 1840 im Anhang Abb. I.
91 Freitag 2012. S. 197-245, hier S. 148.
92 Rohse, Eberhardt: Paläontologisches Behagen am Sintflutort. Naturhistorie und Bibel in und um Raabes Stopfkuchen. In: Fauth, Søren R./ Paar, Rolf/ Rohse, Eberhard (Hgg.): Die besten Bissen vom Kuchen. Wilhelm Raabes Erzählwerk. Kontexte, Subtexte, Anschlüsse. Göttingen: Wallstein 2009, S. 63-116, hier S. 70.
93 „ausfressen“ darf nicht mit der Konnotation „verbrechen“ oder „etwas anstellen“ verstanden werden. Vielmehr liegt hier der Sinn „hinnehmen“ oder „bewältigen“ (aus dem Wortfeld Gewalt) bzw. „das musst du selber ausfressen“ vor. Cf. dazu auch das darwinistische Idiom: „Fressen und gefressen werden.“
94 Grimm, Jakob: Deutsches Wörterbuch. Band 19. München: dtv, 1984, S. 331.
95 Simon, Ralf: Stopfkuchen. In: Raabe-Handbuch, S. 228- 235, hier S. 229.
96 Brundiek 2005, S. 427.
97 Rohse 1988, S. 168-210, hier S. 197.
98 Die „Weiße Schanze“ bei Wolfenbüttel diente als Vorbild für die Rote Schanze. Cf. Aquarell nach einer Federzeichnung Raabes in BA XVIII Kommentar von Karl Hoppe, S. 414-463, hier S. 417. Farbe Rot als Symbol von der Gewalt, Blut und Rache.
99 Die Namensanalogie der liegt auf der Hand. Eine unter ihrem Herren/ Vater leidende Frau (Tinchen BA XVIII 121: „wo in aller Welt haben wir, ich und Tinchen, uns vor dem verkrochen?“) wird befreit. „Ich kann dir sagen, Eduard, sie ist ein Prachtmädchen und bedurfte zur richtigen Zeit nur eines verständigen Mannes“ (BA XVIII 81), unter dem sie aufblüht. Eduard begehrt Tinchen als Frau: „nur mit Frau Valentine Schaumann, geborener Quakatz, und verhältnismäßig recht wenig mit Kienbaum, Störzer, dem Papa Quakatz und mit Stopfkuchen [war ich] beschäftigt [...] Die Gute!“ (BA XVIII 197). Die Einnahme Trojas und der Roten Schanze erfolgt nach langem Kampf, geduldigen Warten und vor allem durch List. Der Angriff auf die etablierte Philistergesellschaft/ befestigtes Troja erfolgt wieder durch List aus einem hölzernen Raum heraus: Trojanisches Pferd und Wirtshaus (BA XVIII 165). Dabei betont Stopfkuchen immer, dass sein Inneres aufgrund seiner Äußerlichkeit unterschätzt wurde. Wie das Pferd Trojas beschreibt sich Stopfkuchen „geheimnisschwanger, sühneträchtig“ (BA XVIII 157). Gewalttätiger Quakatz als Achill in BA XVIII 124: „Jaja, unser guter seliger Vater! [...] wie der mich hier mal um den Wall jagte, wie der unzurechnungsfähige, alberne wütende Achill“. Oder auch BA XVIII 153f. Wilhelm Raabe dazu im Brief an Sträter 1991: „In Betreff des alten Heinrich Schliemann haben Sie vollkommen Recht. Der alte Goethe würde wieder einmal sagen: „Ja, so sollten wir Alle sein!" Der, ich meine der Mann von Hissarlik [Schliemanns Fundstelle Trojas 1873/1874], hat übrigens auch Knochen der Vorwelt aufgegraben und die Philister vom Brummersumm auf den Spieß laufen lassen“ (BA EG II 20). Weiterführend: Lehrer 1989, S. 63-90 und weniger historisch, mehr textimmanent arbeitend Freitag 2012. S. 197-245.
100 Da Raabes Stopfkuchen nur sekundär nach dem wahren Mörder sucht und Fragen nach der rechtlichen Beweislage zu Stopfkuchens Version der Wahrheit hohen spekulativen Gehalt aufweisen, verweigert sich die vorliegende Arbeit dieser Thematik und nimmt Störzer als Mörder Kienbaums an. Weiter dazu sei verwiesen auf: Warnke, Gisela: Das Sünder-Motiv in Wilhelm Raabes Stopfkuchen. In: DVjs. 1976 (3), S. 465-476. Oder: Graf, Johannes/ Gunnar Kwisinski: Schaumann, ein Lügenbaron? Zur Erzählstruktur in Raabes Stopfkuchen. In: JbRG 1992, S. 194-213.
101 Geppert, Hans Wilmar: Der realistische Weg. Formen paradigmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1994, S. 619.
102 Raabe steigert dies noch, indem er das Mordopfer Kienbaum einerseits ohne Vornamen anonymisiert und diesen andererseits noch dazu in der ungewöhnlich langen Textpassage der Apologie Störzers (BA XVII 186-190) als reichen, arroganten und tyrannischen Viehhändler und Betrüger zeichnet. Einem potentiellen stereotypen Antisemitismus in Verbindung mit dieser Figur stellt sich diese Arbeit nicht.
103 BA XVIII 194: „Hier, Herr Staatsanwalt! O Gott, ja, gleich! rief das Mädchen mit zitternder Stimme. [...] Siehe da, die Herren! sagte der Staatsanwalt. Was, Schaumann, und nun wollen Sie gehen, da wir eben kommen?“
104 Dörrlamm 2003, S. 158.
105 Hoppe, Karl: Wilhelm Raabe. Beiträge zum Verständnis seiner Person und seines Werkes. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967, S. 212 und Göttsche, Dirk: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes. Königshausen & Neumann 2000, S. 149. Jüngst auch Geisenhanslüke, Achim: Dummheit und Witz. Poetologie des Nichtwissens. München: Fink 2011, S. 105.
106 Eine eigene Auslegung von Moral, da es keine moralische Gerechtigkeit gibt, fand Raabe beim Darwinisten Ernst Haeckel, der in seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte (die ihm im „Großen Club“ Braunschweigs vorlag) aus Darwins Lehre von „Kampf ums Dasein“ den „Kampf Aller gegen Alle“ entwickelte und eine sittliche Weltordnung, die auf Moral beruht, für obsolet erklärte. Cf. Rohse 1988, S. 168-210, hier S. 179.
107 Brundiek 2005, S. 142.
108 Haslé 1996, S. 92-113, hier S. 107.
109 Aphormismen 122: Raabe 1881 „Es tötet nichts so sicher als das Leben."
- Citation du texte
- Michael Prestele (Auteur), 2019, Formen der Weltverneinung im Spätwerk Wilhelm Raabes. Zugang zu einem vergessenen Künstler, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/499747
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