Der ehemalige Gründungsordinarius und Professor für Kunstgeschichte der Universität Bochum, Max Imdahl (1925-1988), propagierte in seinem im Jahr 1980 publizierten Aufsatz „Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik.“, den Anspruch der IKONIK, deren grundsätzlicher Ansatz darin besteht, den allein dem Kunstwerk inhärenten Qualitäten und Evidenzen Ausdruck zu verleihen, indem der kontemplativen Anschauung eines Objektes eine zentrale Rolle zukommt. Die IKONISCHE QUALITÄT des jeweiligen Objektes gehe dabei aus einem individuellen, syntaktisch verdichteten Sinngefüge hervor, sodass eine nahezu ausschließliche sowie unabhängige Betrachtung eines jeden Kunstwerks vorausgesetzt werden muss. Der narrative Charakter eines Gemäldes lasse sich dabei nahezu vollständig durch eben jene kontemplative Betrachtung, dem sogenannten SEHENDEM SEHEN ableiten. Dieses stehe in einer bewussten Abgrenzung zu Erwin Panofskys (1892-1968) postulierten WIEDERKENNENDEN SEHEN – im Gegensatz zu Imdahls Ansatz beschränkt sich dieses jedoch lediglich auf den Horizont der figürlichen Malerei –, das eine zwingende Auseinandersetzung mit ikonographischen sowie ikonologischen Aspekten erfordert und somit auch textbezogene Transferleistungen voraussetzt. Allerdings bleibt es unumstößlich, dass sich die engen Verwebungen von SEHENDEM SEHEN und WIEDERKENNENDEN SEHEN dennoch nicht vollkommen auflösen und voneinander trennen lassen. Im Sinne der ganzheitlichen Erfassung eines Kunstwerkes plädiert Imdahl vielmehr für eine Synthese des „dialektischen Gleichschrittes“ von Ikonographie, Ikonologie und Ikonik, wobei letzterer eine exponierte Rolle beigemessen wird. Die IKONOSCHE QUALITÄT eines Werkes, die sich aus den inhärenten, sinnverdichtenden bildlichen Evidenzen und Stukturen konstituiere, lasse sich nicht mittels rein sprachlicher Informationen substituieren, in deren Ergänzung jedoch vollständig komplettieren. Der hermeneutische Ansatz der Ikonik ist demnach als eine Weiterentwicklung der ikonographisch-ikonologischen Methodologie zu begreifen.
Max Imdahls methodisches Verfahren der Ikonik
Eine Exemplarische Bildinterpretation am Beispiel von Jacob van Ruisdaels Mühle von Wijk
Essay
Fachsemester: 2Studiengang: Europäische Kunstgeschichte (MA 75%) / Germanistik (MA 25%)
Der ehemalige Gründungsordinarius und Professor für Kunstgeschichte der Universität Bochum, Max Imdahl (1925-1988), propagierte in seinem im Jahr 1980 publizierten Aufsatz „Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik.“, den Anspruch der Ikonik, deren grundsätzlicher Ansatz darin besteht, den allein dem Kunstwerk inhärenten Qualitäten und Evidenzen Ausdruck zu verleihen, indem der kontemplativen Anschauung eines Objektes eine zentrale Rolle zukommt. Die ikonische Qualität des jeweiligen Objektes gehe dabei aus einem individuellen, syntaktisch verdichteten Sinngefüge hervor, sodass eine nahezu ausschließliche sowie unabhängige Betrachtung eines jeden Kunstwerks vorausgesetzt werden muss. Der narrative Charakter eines Gemäldes lasse sich dabei nahezu vollständig durch eben jene kontemplative Betrachtung, dem sogenannten sehendem Sehen ableiten. Dieses stehe in einer bewussten Abgrenzung zu Erwin Panofskys (1892-1968) postulierten wiederkennenden Sehen – im Gegensatz zu Imdahls Ansatz beschränkt sich dieses jedoch lediglich auf den Horizont der figürlichen Malerei[1] –, das eine zwingende Auseinandersetzung mit ikonographischen sowie ikonologischen Aspekten erfordert und somit auch textbezogene Transferleistungen voraussetzt. Allerdings bleibt es unumstößlich, dass sich die engen Verwebungen von sehendem Sehen und wiederkennenden Sehen dennoch nicht vollkommen auflösen und voneinander trennen lassen.[2] Im Sinne der ganzheitlichen Erfassung eines Kunstwerkes plädiert Imdahl vielmehr für eine Synthese des „dialektischen Gleichschrittes“[3] von Ikonographie, Ikonologie und Ikonik, wobei letzterer eine exponierte Rolle beigemessen wird. Die ikonosche Qualität eines Werkes, die sich aus den inhärenten, sinnverdichtenden bildlichen Evidenzen und Stukturen konstituiere, lasse sich nicht mittels rein sprachlicher Informationen substituieren, in deren Ergänzung jedoch vollständig komplettieren. Der hermeneutische Ansatz der Ikonik ist demnach als eine Weiterentwicklung der ikonographisch-ikonologischen Methodologie zu begreifen.
Dieser Ansatz soll im Folgenden anhand des Bildbeispiels der im Jahr 1670 geschaffenen Mühle von Wijk (Abb. 1) des niederländischen Landschaftsmaler des Barocks, Jacob van Ruisdael (1628-1682), angewandt werden, um so feststellen zu können worin die von Imdahl postulierte Ikonische Qualität auszumachen sein könnte und darüber hinaus etwaige Stärken wie auch Schwächen des Analyseverfahren aufzuzeigen.
Bei einer ersten Betrachtung des Gemäldes der Mühle von Wijk entsteht zunächst der Eindruck eines konventionellen niederländischen Landschaftsgemäldes des vorangeschrittenen 17. Jahrhunderts. Bei genauerer Rezeption lässt sich jedoch schnell die kompositorische Besonderheit dieses Werkes ausmachen. Sie liegt in der Wechselbeziehung der dual auftretenden, polyvalenten perspektivischen Ansicht. Während der Rezipient den Standpunkt der Mühle von einer Untersicht aus wahrnimmt, wird die erweiterte Landschaft hingegen von einem erhöhten, übersichtigen Standpunkt betrachtet. Dies hat zur Folge, dass die Windmühle, obwohl man sie als einen Teil dieser Landschaft auszumachen vermag, nahe erscheint, die restliche Landschaft jedoch in eine weite Ferne rückt. Demnach kommt es nicht nur zu einer Zentralisierung, sondern gar zu einer Monumentalisierung der Baute.[4] Weiterhin werden die starren Formalitäten und Strukturen des Bildraums durch das Auftreten der perspektivischen Dualität weitgehend aufgelöst, sodass diesem ein autonomer Charakter zuzusprechen ist, dessen Fixpunkt das Subjekt der Wijkschen’ Mühle zu sein scheint.
Auch die Mühle selbst weist einige Charakteristika auf die den Dualismus des Bildraums aufrechterhalten und dennoch in einen verbindenden Einklang mit seiner unmittelbaren Umgebung bringt. Diese liegt aufgrund der zugezogenen Wolkendecke größtenteils im Schatten; lediglich kleine Risse in ebener jener Wolkendecke führen dazu, dass ein leichtes Streiflicht auf den Mühlenturm geworfen wird. Hier zeigt sich sogleich auch eine enge Verbindung zwischen der Farbmodellierung und der gewählten Perspektive. Ohne die Darstellung aus der Obersicht, träte der Dualismus von Licht und Schatten weniger zur Geltung. Zudem bliebe der verschattete Teil des Daches, dessen Farbgestaltung denen der dunkelsten Partien der See sowie der Wolkendecke entspricht – auch hier zeigen sich, trotz der simultan auftretenden kompositorischen Gegensätzlichkeiten, einige Verbindungspunkte –, verborgen. Auch den Mühlenrädern kommt, was die partiellen Verbindungselemente des Gemäldes betreffen, eine besondere Relevanz zu. Die Stellungen der drei sichtbaren Räder verweisen erneut auf die verdunkelten Partien des Wassers und der Wolken, wodurch die zuvor beschriebenen Polaritäten erneut zum Tragen kommen. Darüber hinaus liegt auf der verlängerten Achse des unteren, linken Mühlenrads, am Horizont der hinteren, dritten Bildebene, das Stadttor von Wijk, dessen Senkrechte wiederum auf den dunkel gehaltenen Holzpfosten im vorderen Bilddrittel verweist, der somit nicht nur die verschiedenen Bildebenen miteinander verknüpft, sondern zugleich auch die tiefenräumliche Wirkung des autonomen Bildraums, durch dessen hervorgerufenen Effekt eines Repoussoir-Elementes, verstärkt. Dessen Pendant, der Holzpfosten zu seiner Rechten, markiert ebenfalls eine kompositorische Besonderheit. Er bildet nichts weniger als den Goldenen Schnitt der Bildbreite.[5]
Die kompositorischen Besonderheiten und Iterationswerte des Werkes, in Form der simultan auftretenden Dualismen der polyperspektivischen Ansichten von Ober- und Untersicht sowie der Nah- und Fernsicht, oder aber die durch die ambivalente Farbmodellierung entstehenden Licht- und Schatteneffekte, lassen sich mit dem imdahlschen’ Analyseverfahren bis zu diesem Punkt problemlos aufzeigen und hebt somit die besondere Stärke dieses Verfahrens hervor. Ein stringenter inhaltlicher Interpretationsansatz bleibt aufgrund des nicht klar ersichtlichen Darstellungskontextes hingegen nahezu ausgeschlossen, sodass die Ikonische Qualität auf kompositioneller Ebene zwar teilweise widerspiegelt werden kann, eine vollständige Interdependenz von Form und Inhalt jedoch ausbleibt. Erst mit dem Hinzuziehen von sprachlichen, restriktive, textlichen Quellen, sowie etwaigen Bildvergleichen, kann eine Auseinandersetzung auf inhaltlicher Ebene erfolgen und ein kohärenter Interpretationsansatz geliefert werden, der die gesamte Ikonische Qualität des Objekts fassen kann.
Durch eine intensive Auseinandersetzung mit der Quellenlage und des aktuellen Forschungsstandes, rücken die Mühlenräder und vielmehr deren X-Stellung somit erneut in den Fokus der Betrachtung. Sie verweisen auf eine ikongraphische Tradition, wonach Mühlenbilder mit einer solch beschaffenen Stellung, auf die Kreuzigung Christi rekurrieren.[6] Die Funktion der Mühle selbst spielt auf die Eucharistiefeier an. Somit kommt auch auf inhaltlicher Ebene das Prinzip des Dualismus zu Tragen. Während auf der einen Seite der bevorstehende Opfertod Jesu Christi thematisiert wird, steht auf der anderen die bevorstehende Auferstehung. Verstärkt wird diese Polarität durch die besonderen kompositionellen Iterationswerte des Gemäldes: Die Licht- und Schatteneffekte weisen ebenfalls sowohl auf den drohende Opfertod Jesu Christi, zugleich aber auch auf dessen Wiederauferstehung hin. Ebenso die Perspektivwahl der Obersicht, die erneut auf die bevorstehende Erlösung und den siegreichen Christus hindeutet, sowie dessen Omnipräsenz, die aus der bipolaren Verbindung aus Nah- und Fernsicht hervorgeht. Die vorherrschenden Dualismen und Kontrastverhältnisse die auf der formalistischen und korrelativen Bildmodulation aufbauen, verweisen demnach auf die unauflöslichen Interdependenzen von Form und Inhalt.
Die vorausgegangene Analyse macht somit nochmals die kohärente Bedeutung des von Max Imdahl entwickelten dialektischen Gleichschrittes von Ikonographie, Ikonologie und Ikonik deutlich. Sofern die synthetische Zusammenführung von Form und Inhalt ausbleibt, ist die vollständige Erfassung eines Kunstobjekt mit samt seinen inhärenten formalistischen und strukturellen Evidenzen, die wiederum die Ikonische Qualität eines Kunstwerks ausmachen, ausgeschlossen. Form und Inhalt müssen demnach stets in ihrer Gesamtheit betrachtet werden, was zu einer abschließenden Bewertung der herausgearbeiteten Stärken und Schwächen des Verfahrens der Ikonik führt:
Ein bis dato noch nicht beachteter Vorzug des imdahlschen’ Analyseverfahrens lag in der Öffnung, respektive, der Demokratisierung der Bildinterpretation für Laien und Fachfremde, sodass die bildende Kunst als solche, von ihrem Podest geholt werden konnte. Durch seinen bildtotalitären Ansatz wurde der Zugang zu einem Kunstobjekt vereinfacht, da das Sehende Sehen im Zentrum der Betrachtung und des gegenseitigen Austausches stehen sollte. Die modellierten Strukturen und Kompositionslinien sowie die formale Bildorganisation und mögliche simultane Iterationswerte erhielten ein besonderes Gewicht, sodass einem jedem – durch die bloße Anschauung – eine eigenständige Interpretation von Kunstwerken ermöglicht und zugestanden wurde.
Die entscheidenden Nachteile dieses Ansatzes wiederum, liegen in den nicht vollständig ausgeschöpften Möglichkeiten und Erwartungen, hinter denen eine solche Bildinterpretation zwangsläufig zurückbleiben muss. Schließlich können die dem Objekt innewohnenden Evidenzen mangels eines umfangreichen Vorwissens und aufgrund eines unzureichenden Kontextwissens, nicht vollständig ausgeschöpft werden. Um eine umfangreiche und kohärente Interpretation eines Kunstwerkes vornehmen zu können, bleibt eine Ergänzung von sprachlichen Quellen und Bildvergleichen – auch für Kenner des Fachs – unerlässlich. Erst die dialektische Synthese aus der Betrachtung des Einzelwerks, des Studiums der Quellentexte, sowie der Ergänzung von Bildvergleichen, lässt eine vollständig stringente Erfassung eines Kunstobjekts und dessen innewohnende Ikonische Qualität zu.
Imdahl, Max: Jacob van Ruisdael. Die Mühle von Wijk. Einführung von Max Imdahl. Stuttgart 1968. (= Werkmonographien zur bildenden Kunst in Reclams Universal-Bibliothek, Bd.131). [Imdahl 1968]
Imdahl, Max: Ikonographie. Ikonologie. Ikonik. In: Giotto. Arenafresken [Hrsg.: Fuhrmann, Manfred, et al.]. München 1988. (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Bd. 60). [Imdahl 1988]
Rosenberg, Raphael: Ikonik und Geschichte. Zur Frage der historischen Angemessenheit von Max Imdahl Kunstbetrachtung. 1996. (= Schriften von Raphael Rosenberg, Bd. 3). [Rosenberg 1996]
Tahler, Alice:Von ontologischen Dualismen des Bildes. Philosophische Ästhetik als Grundlage kunstwissenschaftlicher Hermeneutik. Basel 2015. (= Zürcher Arbeiten zur Philosophie, Bd. 4), (Zugl.: Diss. Zürich 2012). [Tahler 2015]
Zink, Markus: Theologische Bildhermeneutik. Ein kritischer Entwurf zu Gegenwartskunst und Kirche. Münster / Hamburg 2003. (= Ästhetik. Theologie. Liturgik, Bd. 24), (Zugl.: Diss. Universität Marburg 2001). [Zink 2003]
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[1] Vgl. Imdahl, Max: Ikonographie. Ikonologie. Ikonik. In: Giotto. Arenafresken [Hrsg.: Fuhrmann, Manfred, et al.]. München 1988, S.84-98, (hier: S.89) . (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Bd. 60)
[2] Vgl. ebd., (hier: S.92).
[3] Rosenberg, Raphael: Ikonik und Geschichte. Zur Frage der historischen Angemessenheit von Max Imdahl Kunstbetrachtung. 1996, S.2. (= Schriften von Raphael Rosenberg, Bd. 3)
[4] Vgl. Tahler, Alice:Von ontologischen Dualismen des Bildes. Philosophische Ästhetik als Grundlage kunstwissenschaftlicher Hermeneutik. Basel 2015, S.148. (= Zürcher Arbeiten zur Philosophie, Bd. 4), (Zugl.: Diss. Zürich 2012)
[5] Imdahl, Max: Jacob van Ruisdael. Die Mühle von Wijk. Einführung von Max Imdahl. Stuttgart 1968, S.15. (= Werkmonographien zur bildenden Kunst in Reclams Universal-Bibliothek, Bd.131)
[6] Zink, Markus: Theologische Bildhermeneutik. Ein kritischer Entwurf zu Gegenwartskunst und Kirche. Münster / Hamburg 2003, S.176 f.. (= Ästhetik. Theologie. Liturgik, Bd. 24), (Zugl.: Diss. Universität Marburg 2001)
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- (B.A.) Hanno Dampf (Autor), 2017, Max Imdahls methodisches Verfahren der Ikonik, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/498930