Ziel dieser Arbeit soll es sein, die Grenzen eines adaptionistischen und eines transzendentalen irreduzibilen Verständnisses von Kunst aufzuzeigen. Das führt zu einer strikten Trennung der Begriffe „Attraktivität“ und „Ästhetik“, die unterschiedliche Dinge bezeichnen. Daran anknüpfend werden die Ansätze der evolutionären Kulturtheorie und der evolutionären Psychologie dargelegt, um zu untersuchen, ob ein Kompromiss der Naturwissenschaft und der traditionellen Ästhetik möglich ist. Die Diskussion um die Definitionen von Kunst wird sich annähernd kongruent zur übrigen Diskussion entwickeln. Um dies zu zeigen, werden verschiedene Werke zu dem Thema „evolutionäre Ästhetik“ in die Argumentation mit einbezogen.
Während Kunst im deutschen Idealismus als ein Produkt von rein geistigem Interesse verstanden wurde, änderte sich diese Auffassung spätestens seit der Evolutionstheorie von Charles Darwin, der sinnlichen Erklärungen ästhetischer Phänomene die Grundlage bietet. Gemeinsam ist den beiden Ansätzen, dass sie die Ästhetik als den Indikator für Kunst anerkennen. Auf der einen Seite Hegel, auf der anderen Darwin. Wenn dieser schreibt: „In the distant future, I see open fields for far more important researches. Psychology will be based on a new foundation, that of the necessary acquirement of each mental power and capacity by graduation. Light will be thrown on the origin of man and his history.“, so ist seine Prophezeiung spätestens seit der Etablierung der „evolutionären Ästhetik“ als wissenschaftliche Disziplin wahr geworden.
Naturalistische Erklärungen laufen den traditionell geisteswissenschaftlichen und philosophischen Ansätzen in ihrer Vielheit aktuell den Rang ab. Nach der evolutionären Ethik und der evolutionären Erkenntnistheorie ist die neueste empirische Forschung daran interessiert, die Ästhetik für sich zu gewinnen. Für die Kunst bedeutet das, dass sie zum Spielball zwischen Evolution und Idealismus wird.
Evolutionäre Erklärungsansätze befassen sich mit der Kunst allerdings längst nicht mehr nur biologisch, sondern auch psychologisch, soziobiologisch und kulturell.
Gliederung
1. Einleitung
2. Definitionen von Kunst
2.1 Die traditionell philosophische (idealistische) Definition
2.2 Empfindung und Erkenntnis
2.3 Die evolutionäre Herangehensweise an Kunst
2.4 „Was“, „warum“ oder „wozu“?
3. Das „Wozu“ der Kunst
3.1 Ästhetik a priori
3.2 Kunst und biologische Adaption
3.3 Kunst im Tierreich
3.4 Attraktivität oder Ästhetik?
3.5 Evolution und Kultur
3.6 „Making special“ und kultureller Enaktivismus
3.7 Funktionalität in der menschliche Kunst
3.8 Evolutionäre Psychologie
4. Kunst und Exaptation
4.1 Kritik an den evolutionären Theorien
4.2 Kunst als Epiphänomen
4.3 Kritik an der Spandrel-These
5. Was die evolutionäre Ästhetik nicht leisten kann
5.1 Kunst und Emergenz
5.2 Kunst und Memetik
5.3 Schönheit als Wert
5.4 Die Grenzen der Wissenschaft
6. Fazit
7. Quellen
1. Einleitung
Während Kunst im deutschen Idealismus als ein Produkt von rein geistigem Interesse verstanden wurde, änderte sich diese Auffassung spätestens seit der Evolutionstheorie von Charles Darwin, der sinnlichen Erklärungen ästhetischer Phänomene die Grundlage bietet. Gemeinsam ist den beiden Ansätzen, dass sie die Ästhetik als den Indikator für Kunst anerkennen. Auf der einen Seite Hegel, auf der anderen Darwin. Wenn dieser schreibt: „In the distant future, I see open fields for far more important researches. Psychology will be based on a new foundation, that of the necessary acquirement of each mental power and capacity by graduation. Light will be thrown on the origin of man and his history.“1, so ist seine Prophezeiung spätestens seit der Etablierung der „evolutionären Ästhetik“ als wissenschaftliche Disziplin wahr geworden. Naturalistische Erklärungen laufen den traditionell geisteswissenschaftlichen und philosophischen Ansätzen in ihrer Vielheit aktuell den Rang ab. Nach der evolutionären Ethik und der evolutionären Erkenntnistheorie ist die neueste empirische Forschung daran interessiert, die Ästhetik für sich zu gewinnen. Für die Kunst bedeutet das, dass sie zum Spielball zwischen Evolution und Idealismus wird.
Evolutionäre Erklärungsansätze befassen sich mit der Kunst allerdings längst nicht mehr nur biologisch, sondern auch psychologisch, soziobiologisch und kulturell. Für das ideelle, also das geistige, philosophische Verständnis von Kunst (Martin Seel nennt es die „traditionelle Ästhetik“2 ) stellen evolutionäre Ansätze durch ihren Grundlegungsanspruch eine Gefahr im Sinne eines Verlusts sämtlicher Gültigkeit nicht sinnlicher Ansätze dar3. Diese Art von materiellem Nihilismus, die seit Nietzsche und dem Aufblühen der Wissenschaft aus den letzten Jahrhunderten entstanden ist, stellt die dualistische Philosophie des Abendlandes vor ein existentielles Problem. Hans Jonas schreibt dazu, dass „Der moderne Nihilismus, dem Nietzsche nachspürte, (dazu) nötigt, die Seinsfrage [auch von Kunst] im nachplatonischen Zeitalter neu zu stellen. Sie muß historisch den Gründen der nihilistischen Erfahrung nachfragen; sie muß ontologisch das Wesen menschlicher Freiheit im Verhältnis zur übrigen Lebenswelt, ja zur ganzen Natur zu bestimmen suchen.“4. Diesem Ansatz wird in dieser Arbeit, mit Augenmerk auf die Kunst nachgegangen.
Dazu ist es nötig eine evolutionäre, funktionale und organische Kunstdefinition und -betrachtung zu diskutieren, genauso wie ein Blick auf die idealistische, absolute und geistige Herangehensweise der Philosophie an die Kunst. Denn eine Reduktion von Kunst auf die rein geistliche Kontemplation führt zu Weltfremdheit und einer Arroganz der Geisteswissenschaft, die sie sich in Zeiten des naturwissenschaftlichen Fortschritts nicht erlauben kann. Natürlich lässt sich nicht einfach von „der traditionellen“ und „der evolutionären“ Ästhetik reden. Theorien innerhalb dieser als Singular verwendeten Ansätze widersprechen und ergänzen sich teilweise, weshalb eine Differenzierung von Nöten ist. Um möglichst wissenschaftlich vorgehen zu können, müssen also nach einem Differenzierungs- und Definitionsversuch empirische Daten diskutiert werden, bevor eine transzendentale Kritik folgen kann. Ich werde mich also erst mit den evolutionären Theorien beschäftigen, bevor die Kritik an diesen folgen wird. Anschließend ist es möglich zu zeigen, welche Kunstphänomene die evolutionären Ansätze nicht klären können. Es ist außerdem nötig sich vorerst mit Definitionen von Kunst auseinander zu setzen, um ein allgemeines Verständnis der Sachlage zu entwickeln.
Ziel dieser Arbeit soll es sein, die Grenzen eines adaptionistischen und einem transzendentalen irreduzibilen Verständnis von Kunst aufzuzeigen. Das führt zu einer strikten Trennung der Begriffe „Attraktivität“ und „Ästhetik“, die unterschiedliche Dinge bezeichnen. Daran anknüpfend werden die Ansätze der evolutionären Kulturtheorie und der evolutionären Psychologie dargelegt, um zu untersuchen, ob ein Kompromiss der Naturwissenschaft und der traditionellen Ästhetik möglich ist. Die Diskussion um die Definitionen von Kunst wird sich annähernd kongruent zur übrigen Diskussion entwickeln. Um dies zu zeigen werde ich verschiedene Werke zu dem Thema „evolutionäre Ästhetik“ in meine Argumentation mit einbeziehen.
2. Definitionen von Kunst
2.1 Die traditionell philosophische Definition
Kaum ein evolutionärer Ästhetiker hat sich bisher die Mühe gemacht, im Vorfeld seiner Arbeiten den Begriff „Kunst“ zu definieren. Der Grund dafür wird sein, dass eine allgemein gültige Definition von Kunst zu liefern eine Aufgabe ist, die aufgrund der vielschichtigen Bedeutungen von Kunst sehr schwer ist. Dennoch sollte man versuchen, einen möglichst engen Begriff von Kunst zu entwickeln, bevor man sich mit dessen Herkunft beschäftigt. Dafür muss man sich in erster Linie fragen, was Kunst überhaupt ist.
Da das Schaffen von Definitionen im reflexiven Bereich Aufgabe der Philosophen ist, lohnt es sich, die Definitionsversuche der idealistischen Philosophie genauer zu betrachten. Anschließend können die thematisch begrenzten Einwände der evolutionären Ebene beleuchtet werden. Vorweg: Die Begriffe „ideell“ und „geistig“ werden als Produkt der metaphysischen Vernunft gebraucht, ihnen gegenüber stehen die Begriffe „biologisch“ und „evolutionär“, die in einem naturwissenschaftlichen Kontext verstanden werden sollen.
Kant schreibt über die Kunst, dass sie nur durch einen Akt der Freiheit und damit der Willkür entstehen kann. Das Werk der Bienen (ihre regelmäßig gebauten Waben) ist ein Produkt des Instinkts (und ihrer Natur), und somit keine Kunst5. Für Kant ist es also von Bedeutung, dass ein Kunstwerk mit der Intention verbunden ist, Kunst zu schaffen. Damit gäbe es keine Kunst von Vernunft unbegabten Wesen. Tiere und der Mensch in einer frühen Entwicklungsstufe können somit keine Kunst produziert haben. Die Geschichte der Kunst fängt somit bei der Höhlenmalerei an. Und tatsächlich: Skulpturen wie „der Löwenmensch“ scheinen in erster Linie dazu gedient zu haben, sich vom Tier abzugrenzen. Durch das höhere Vermögen des Kunstschaffens distanziert sich der Mensch vom Tier und wird dadurch selbst zum höheren Wesen. Kunst ist im Gegensatz zu anderen Abgrenzungsmechanismen aber dennoch eine eigenständige Disziplin, die keinen klassischen „Fortschritt“ im Sinne der Naturwissenschaften, der Technik oder den Handwerken verzeichnen kann. Kunst ist singulär und unvergleichbar. Somit ist Kunst von der Wissenschaft und dem Wissen zu trennen, da sie sich durch Geschicklichkeit auszeichnet. Kunst verhält sich laut Kant zu der Wissenschaft wie die Technik zur Theorie. Das Handwerk kann zwar künstlerisch ausdrücken, ist aber aufgrund seines „zwangmäßigen Mechanismus“ im Blick auf die reine Kunstherstellung zumindest kritisch zu betrachten.
Eine weitere Eigenart der Kunst ist die Verknüpfung mit dem Schönen, beziehungsweise dem Ästhetischen. Im Gegensatz zur Wissenschaft kann Kunst einem Geschmacksurteil zu Teil werden. Kant bemerkt auch hier folgerichtig, dass die Wissenschaft andere Ansprüche hat, wie etwa auch die Moral andere Ansprüche hat als die Wissenschaft oder Kunst. Damit wird das Herstellen von Kunst als eine Letztbegründung präsentiert: Man schafft Kunst, nicht weil sie gut oder wahr ist, sondern weil sie schön ist. Wie jede Handlung kann sie aber auch das Angenehme als Grund haben: „Das erste ist sie, wenn der Zweck derselben ist, daß die Lust die Vorstellungen als bloße Empfindungen, das zweite, daß sie dieselben als Erkenntnisarten begleite.“6.
2.2 Empfindung und Erkenntnis
Die Unterscheidung der Wahrnehmung eines Rezipienten in Empfindung und Erkenntnis kommt der Unterscheidung der Wahrnehmungsarten eines sinnlichen und eines geistigen Wesens gleich. Während die Empfindung von Kunst ein bloßes Genießen darstellt, ist Kunst als Erkenntnis (oder auch Kontemplation) eine sich selbst zweckmäßige tiefere Betrachtung eines Werkes. Zwar haben beide Wahrnehmungsarten das sinnliche Betrachten und Wohlempfinden gemein, die Art und der Grund der Betrachtung sind jedoch grundverschieden.
Wie bereits erwähnt, zeichnet sich ein Kunst werk durch Willkür und den Werkcharakter aus. Dennoch schreibt Kant, dass schöne Kunst immer den Anschein erwecken muss, trotz aller Willkürlichkeit ein Produkt der Natur zu sein. Deshalb ist das künstlerische Genie das Naturwesen, welches der Kunst durch die Natur ihre Regeln vermittelt.
Hegel wird konkreter wenn er über die Kunst schreibt. Für ihn steht das Kunstschöne über dem Naturschönen, weil es aus dem Geist geboren ist. Die Kunst sei „das Göttliche, die tiefsten Interessen des Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewusstsein zu bringen und auszusprechen. […] Diese Bestimmung hat die Kunst jedoch […] in der eigentümlichen Art, dass auch das Höchste sinnlich darstellt“7. Mit Hegel wird das Problem von Kunstdefinitionen deutlich. Kunst erzeugt in uns durch Kontemplation ein starkes Gefühl, und ist doch etwas rein sinnlich Wahrgenommenes und materiell Hergestelltes. Seiner Meinung nach kann das rein Ideelle durch die Kunst dargestellt werden, es ist aber dennoch an seine materielle, sinnlich wahrnehmbare Form gebunden. Hegel beantwortet auch die Frage, warum der Mensch das Absolute sinnlich darstellen will: „Der Mensch tut dies, um als freies Subjekt auch der Außenwelt ihre spröde Fremdheit zu nehmen und in der Gestalt der Dinge nur eine äußere Realität seiner selbst zu genießen“8.
„Natürlich“ und „sinnlich“ fungieren auch bei Hegel als Antonyme von „Geist“. Das Natürliche und Sinnliche ist dem Geistigen in der traditionellen Ästhetik also entgegengesetzt. Der Geist steht über dem Sinnlichen und in der Kunst versucht der Geist die natürlichen Ressourcen der empirischen Welt in geistige umzuwandeln. Denn die Aufgabe der sinnlich wahrgenommenen Kunst ist es, „die Wahrheit in Weise sinnlicher Gestaltung für das Bewusstsein hin(zu)stell(t)en und zwar in einer sinnlichen Gestaltung, welche in dieser Erscheinung selbst einen höheren tieferen Sinn und Bedeutung hat […]“9.
Wahrheit als ideeller Wert spielt für Hegel in der Kunstschönheit also auch eine Rolle, indem sie sich als Ausdruck des Absoluten präsentiert. Nach der Antike und dem Christentum ist Hegel außerdem der Meinung, die Kunst fiel in der Romantik einer Versinnlichung zum Opfer, sodass Kunst in einer immer unübersichtlicheren Welt bei der Wahrheitsfindung an seine Grenzen stößt. Stephanie Over sieht die darauf folgende wahrheitssuchende Institution bei der Wissenschaft10. In gewisser Weise trifft aus heutiger Sicht auch diese Prophezeiung zu: Die evolutionäre Ästhetik versucht der idealistischen Deutung, was und warum wir etwas als schön empfinden, mit dem Selbstverständnis einer philosophischen Reflexion den Rang abzulaufen, indem sie beanstandet die ganze Wahrheit zu sein. Was die Wissenschaft in ihrer empirischen Begrifflichkeit und die idealistische Philosophie in ihrer absoluten Welt jedoch beide nicht vollständig erklären können, ist das Spiel zwischen geistig und sinnlich, welches ein eindeutiges Merkmal von Kunst ist. Deshalb ist klar: „Die Kunst ist keine Vorstufe der Religion, Wissenschaft oder Philosophie. Sie bildet eine Dimension eigener Dignität, irreduzibel auf Kultus und Theorie“11. In diesem Sinne ist es eine wesentliche Eigenschaft von Kunst, sinnlich und geistig zu sein. Vergeistigt die Kunst zu stark, verliert sie ihre „Natur“ und damit auch ihren Werkcharakter. Wird sie zu sehr versinnlicht, verliert sie ihren Anspruch, das Ideelle, Absolute abzubilden und damit ihren Schönheits- und Wahrheitsanspruch.
Für die philosophische Definition von Kunst bliebt wohl abschließend zu sagen: „Dass Kunst Sinnliches zu vergeistigen und Geistiges zu versinnlichen versucht, macht ihren Wesenskern und zugleich Rätselcharakter aus“12. Dass es der Philosophie trotz Einschränkungen nicht zufriedenstellend gelingt, eine allgemeingültige Definition von Kunst zu erstellen, führte wahrscheinlich dazu, dass die evolutionären Theorien so einen Aufschwung bekamen, wie es in den letzten 20 Jahren der Fall war.
Während die idealistische Philosophie zwar der Kunst definitorisch eine gewisse Sinnlichkeit zuspricht, geht es der evolutionären Ästhetik als materialistische, empirische und reduktionistische Wissenschaft darum, das aufgezeigte „Absolute“ in der Kunst auf sinnliche, angeborene Verhaltensmechanismen zu reduzieren. Das bedeutet, dass die evolutionäre Ästhetik dafür argumentiert, Kunst würde lediglich aus evolutionären Trieben heraus hergestellt - also um einen evolutionären Vorteil zu erzielen. Ergebnis einer radikalen evolutionären Sichtweise ist demnach, dass Kunst sinnlich hergestellt wird um sinnlich zu gefallen (man denke an die Biene aus Kants Beispiel). Eine geistige Reflexion von Kunst findet nicht statt. Es ist nötig, die Argumente und Definitionen der evolutionären Ästhetik einer näheren Betrachtung zu unterziehen, um herauszufinden, was diese leisten können und was nicht. Damit wird es möglich, den Einfluss der Evolution auf die Kunst zu diskutieren und die Grenzen der evolutionären Wissenschaften aufzuzeigen.
2.3 Die evolutionäre Herangehensweise an Kunst
Darwin begründet die evolutionäre Ästhetik, indem er in seinem Buch „Descent of Man“ Ästhetik im Tierreich diskutiert. Daraus entwickelte sich die soziobiologische Perspektive, Ästhetik würde Stärke demonstrieren, weshalb sich ein Gefühl dafür entwickelt hat. Der Vergleich mit dem Tierreich liegt nahe, da wir als biologische Lebewesen in Sachen Verhalten und Kognition viele Muster aus dem Tierreich, also einer vorbewussten Ära des Menschen übernommen haben. In der idealistischen Kunstdefinition hat jeder vernunftbegabte Mensch einen Zugang zu einer gewissen Objektivität was schön ist13. Die evolutionäre Ästhetik plädiert dafür, dass unser Empfinden von Schönheit in uns veranlagt ist und somit auch ein grundlegendes Verständnis von Kunstschönheit in jedem Menschen existiert.
Beides lässt sich insofern bejahen, als dass das Herstellen und das Verlangen nach Kunst, insofern das Vermitteln von Kunst als eine indirekte instrumentelle Kommunikation mit zweischneidiger Repräsentation verstanden wird14, allen Kulturen gemein ist. Der zugegeben sehr weitgefasste Begriff von Kunst widerspricht der ideellen Definition zwar nicht, sie hilft uns aber auch nicht viel weiter mit dem Verständnis, was für einen Begriff von Kunst die evolutionären Wissenschaften voraussetzen. Problematisch bei einer möglichst allgemeingültigen Definition von Kunst für die evolutionäre Ästhetik sind die verschiedenen Herangehensweisen der evolutionären Wissenschaften und die Unstimmigkeiten und Ungeklärtheiten untereinander. Während sich die evolutionäre Erkenntnistheorie und die Soziobiologie noch mit Kunst im Tierreich beschäftigen, behaupten Kulturwissenschaftler die evolutionär bedingte Kunstherstellung ließe sich nicht nur auf die Biologie, sondern vor allem auf die Kultur reduzieren und sei deshalb ein rein menschliches Phänomen. Gleiches mit der evolutionären Psychologie, die Kunst als Anpassung an Bedingungen seit der Steinzeit, also dem ersten Nachweis einer Reflektion durch die Höhlenmalerei sieht. Das Zusammenwirken von kultureller und genetischer Evolution ist ein noch nicht genau erforschtes Thema. Das mag daran liegen, dass bei Ursache und Wirkung in der Vergangenheit schwer zwischen Kausalität und Korrelation unterschieden werden kann. Dass die Wissenschaften mit unterschiedlichen Tempora und unterschiedlichem Vorwissen arbeiten, trägt leider ebenfalls nicht zu einer interdisziplinären Verständigung der evolutionären Wissenschaften bei.
Auffällig bei allen genannten Vertretern der evolutionären Theorie ist allerdings, dass sie zwar den Anspruch haben, Kunst zu definieren, aber durch ihre fachliche Beschränktheit nur das „Wozu“ der Kunst klären können und wollen. Das macht die idealistischen Ansätze insofern obsolet, als dass es die Freiheit und Willkürlichkeit aus der Definition von Kunst entzieht. Was übrig bleibt ist ein deterministisches Weltbild in dem wir Kunst vernunftlos zu einem evolutionär funktionalen Zweck herstellen. Der Philosoph Denis Dutton bemüht sich darum eine evolutionär gefärbte Definition von Kunst zu bieten, die den idealistischen Kunstbegriff nicht auszuschließen versucht15, muss aber dafür tierische (insofern sie existiert) von der menschlichen Kunst abgrenzen. Auch an dieser von vielen Wissenschaftlern vollzogene Abgrenzung erkennt man die Unstimmigkeiten in dem recht neuen Zweig der modernen Wissenschaft. Bevor die Ansätze vorgestellt und diskutiert werden können, muss noch der zu erforschende Gegenstand geklärt werden.
2.4 „Was“, „warum“ oder „wozu“?
Der anthropozentrische Ansatz von Dutton legt höchsten Wert auf den direkten Wohlgefallen am Kunsterlebnis. Wie bei jeder Evolutionstheorie steht der Nutzen von Kunst im Fokus der Untersuchung. Um vor seinen möglichen Sexualpartnern herauszustechen und besonders aufzufallen, bringt Dutton außerdem Fertigkeitskunst und Stil als Kategorien zur Kunsterkennung mit ein. Kreativität, Kritik und der „spezielle Fokus“ zeigen wiederum, dass alle Bereiche der evolutionären Wissenschaften gedeckt werden sollen. Mit der emotionalen Sättigung und dem Ausdruck von Individualität beschäftigt sich wohl die evolutionäre Psychologie. Besonders interessant an Duttons Eingrenzungsversuch ist allerdings die intellektuelle Herausforderung, das Repräsentieren von etwas anderem (möglicherweise ideellem) und die imaginäre Erfahrung. Hier macht Dutton den entscheidenden Schritt, einen zweitrangigen, da wissenschaftlich nicht feststellbaren Nutzen, neben einen direkt evolutionären Nutzen zu stellen. Duttons Definition beschreibt zwar ganz gut, wann etwas Kunst genannt werden kann. Beim Versuch zu klären, warum etwas Kunst ist, kann er es jedoch nicht umgehen Kant zu zitieren16.
Das mag vor allem daran liegen, dass der Begriff der Ästhetik ein wertendes Moment involviert. Kant spricht nicht umsonst von einem „Werturteil“ bei schönen Dingen und nicht von einer Deskription, wie es in der Wissenschaft der Fall ist. Die evolutionären Theorien, insofern sie ideelle Ansätze anders als Dutton von vorne herein ausschließen, müssen nun genauer untersuchen, welche Kunst gegenüber anderer Kunst vorgezogen wird, und wie sich der Nutzen der Werke in unserer Evolution verankert hat. Deshalb wird es nun um das „Wozu“ der Kunst gehen. Festzuhalten bleibt, dass Kunst zwar durch Abgrenzung immer näher beschrieben werden kann - eine griffige, vollendete Kunstdefinition ohne idealistische Färbung allerdings ausbleibt. Die evolutionären Theorien schaffen es in ihrer Vielheit nicht, den Gegenstand ihrer Untersuchungen zu definieren, ohne Gebrauch von Ideellem, Absoluten und Metaphysischem zu machen. Das „Wozu“ soll stattdessen das „Was“ und das „Warum“ ersetzen, was aus mehrerlei Hinsicht erklärungsbedürftig ist. Das „Was“ wird bei einer Untersuchung der evolutionären Theorien zwar vorausgesetzt, es wird aber so vorgegangen, dass von aktuellen Phänomenen auf frühere Eigenschaften geschlossen wird, was eine Definition obsolet macht. Dementsprechend wird auch nicht nach dem „Warum?“ - der Intention - gefragt, da es mehr darum geht, wozu sich eine Fertigkeit entwickelt hat. Es geht also um das „Wozu“ des Prozesses Kunstherstellung und nicht um das „Warum“ der reinen Produktion.
Die Frage, die sich daraufhin für die evolutionären Theorien stellt, und die Antwort, mit der sich diese Arbeit befassen wird, steht im „Cambridge Handbook of the psychology of aesthetics and the arts“ und wird wie folgt beschrieben: „the question about the origin and evolution of aesthetics is answered by determining the conditions under which, and by virtue of what evolutionary processes, did human experiences become evaluable, affectivively absorbing and individually and socially meaningful“17. Im nächsten Kapitel wird diese Antwort untersucht, skizziert und die Argumentation nachvollzogen, um daraufhin feststellen zu können, inwieweit die evolutionären Theorien Recht haben und ob sie Platz für eine kontemplativ-geistige Kunst lassen.
3. Das „Wozu“ der Kunst
3.1 Ästhetik a priori
Weil also der Begriff „Kunst“ definitorisch nicht von dem Geistigem gelöst werden kann, wird von der evolutionären Ästhetik versucht, den Ursprung des Schönheitsempfindens biologisch zu finden. Deshalb soll es nun um das Schönheitsempfinden gehen, da dieses wiederum die elementare Bedingung für Kunst ist. Ohne Schönheitsempfinden gibt es aus einer zweckrationalen Sicht keinen Antrieb schöne Dinge, also Kunst herzustellen. Deshalb konzentriert sich vor allem die biologische evolutionäre Ästhetik besonders auf dieses Thema, anstatt sich mit Definitionen zu beschäftigen.
Zurück zu Kant: Das ästhetische Urteil ist für ihn ein subjektives, allerdings mit objektivem Charakter, auch weil es zur menschlichen Natur gehört, Schönheit als solche wahrnehmen zu können. Wenn Kant von Erkenntnis a priori schreibt, so meint er damit die Voraussetzungen des Menschen, Erfahrung überhaupt erst machen zu können. Diese Erkenntnis a priori, so argumentieren evolutionäre Ästhetiker wie Richter oder Eibl-Eibesfeldt, ist nicht nur geistig, sondern vor allem auch biologisch bedingt. Und da wir Kunst unvermittelt, reflexartig und auch ohne Interpretation oder intensives Betrachten als schön erkennen können, ist das ein Indiz für angeborenes ästhetisches Empfinden. Wie wir heute wissen, geht das angeborene Schönheitsempfinden über die bloße Möglichkeit des Selben hinaus. Sogar was als schön empfinden wird, wird von Generation zu Generation in jeder Kultur spezifisch weiter vererbt18. Diese Informationen werden auf drei unterschiedliche Weisen weitergegeben: über den genetischen Code, das individuelle Gedächtnis und die Kultur (Schrift, Sprache und elektronische Informationsspeicher)19. Es scheint eindeutig, dass der genetische Code das a priorische Element im Empfinden darstellt. Auch wenn Kant mit dem Begriff „Ästhetik a priori“ eher die transzendentalen Bedingungen von Anschauungen meint, hat die evolutionäre Ästhetik nicht unrecht, dass es auch evolutionäre, biologische Bedingungen von Anschauungen gibt. Eine besondere Rolle hierbei spielen die Untersuchungen, wann wir etwas schön finden und wann nicht. Folglich wird der Begriff „angeboren“, ganz im Sinne von Eibl-Eibesfeldt, als stammesgeschichtliche Angepasstheit verstanden. Erkennen kann man diese Angepasstheiten durch Erfahrungsentzug oder spezielle Aufzucht. Werden gewisse Verhalten dennoch entwickelt, kann man von einer genetischen Angepasstheit ausgehen. Eine genetische Angepasstheit wäre somit beispielsweise der Gesang eines Vogels, der bei gleichen Arten ähnliche artspezifische Strophen singt, gleich ob er von anderen Vögeln isoliert aufwächst oder nicht. Zusammengefasst: „Stammesgeschichtliche Vorprogrammierungen kommen auch im kulturellen Gestalten des Menschen zum Ausdruck.“20. Die selektive menschliche Wahrnehmung sorgt dann dafür, dass die angeborenen Verhaltensmuster mit der Realität abgeglichen werden. Den Blick auf die Realität werfen wir ebenfalls mit angeborenen biologischen Vorurteilen. Instinktiv können wir so innerhalb kürzester Zeit den Unterschied zwischen einer Gefahrensituation und einer Situation, die zur Triebbefriedigung nützlich ist ausmachen21. Der Prozess ist also ein wechselseitiger.
[...]
1 Darwin, Charles: Origin of Species. Fourth British edition 1866. Seite 576
2 Seel, Martin: Vom Nutzen und Nachteil der evolutionären Ästhetik. In: Urmensch und Wissenschaften. Eine Bestandsaufnahme. B.Kleeberg; T.Walter; F. Crivellari (Hg.). Darmstadt 2005.
3 ebenda, Seite 329: „Dabei verfolgen sie (die Arbeiten zur evolutionären Ästhetik) die bisherige Ästhetik nicht lediglich ergänzen, sie möchten sie vom Kopf auf die Füße, nämlich erstmals auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen.“
4 Jonas, Hans: Organismus und Freiheit. Göttingen 2011. Seite 310
5 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Philipp Reclam jun. (Hg.). Stuttgart 1963. §43
6 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Philipp Reclam jun. (Hg.). Stuttgart 1963. §44
7 Hegel, G.W.F: Werke in zwanzig Bänden. Band 13, Seite 21
8 Hegel, G.W.F: Werke in zwanzig Bänden. Band 13, Seite 51
9 ebenda, Seite 140
10 vgl. Wandschneider, Dieter: Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. Würzburg 2005. Seite 63
11 ebenda, Seite 127
12 Wandschneider, Dieter: Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. Würzburg 2005. Seite 8
13 vgl. Kant: ein subjektives Werturteil mit objektivem Charakter
14 vgl. Deacon, Terrence: The Aesthetic Faculty. In: The Artful Mind: Cognitive Science and the Riddle of Human Creativity. Mark Turner (ed.). Oxford 2006. Seite 22
15 Dutton, Denis: The art instinct. New York 2009. Seite 47
16 vgl. Dutton, Denis: The art instinct. New York 2009. Seite 59
17 Nadal, Marcos; Gomez-Puerto, Gerardo: Evolutionary approaches to art and aesthetics. In: The Cambridge Handbook of the psychology of aesthetics and the arts. Tinio, Pablo P- L; Smith, Jeffrey K (Hg.). Cambridge 2014. Seite 184
18 vgl. H. Barkow Jerome; Cosmides, Leda; Tooby, John: The Adapted Mind. Evolutionary Psychology and the Generation of Culture
19 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. 2. Überarbeitete Auflage 1986. Seite 36
20 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. 2. Überarbeitete Auflage 1986. Seite 115
21 ebenda, Seite139
- Citar trabajo
- Michael Drescher (Autor), 2018, Kunst zwischen Evolution und Idealismus, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/495622
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