Die Untersuchungen dieser Arbeit stützen sich auf Bourdieus Habitus-Theorie und auf die Milieuanalyse. Mit der habitus-hermeneutischen Methode wurden Gründe für eine Doppelqualifizierungen im Bezug auf eine Ausbildung nach dem akademischen Abschluss erforscht. Der "Ausweg aus der Arbeitslosigkeit" war das erhoffte Ergebnis dieser vorliegenden Arbeit. Weiterhin wurde anhand von zwei Fällen die Unterstellung eines "Studienabstieges" auf Falsifizierung oder Bestätigung überprüft.
Das Ziel der vorliegenden Arbeit war es zu erforschen, warum Individuen im Anschluss zu ihrer akademischen Laufbahn eine Ausbildung beginnen. Es wurden Gründe und Motive untersucht und geklärt, ob es sich dabei um einen Bildungsabstieg handelt. Genauer lautet die Forschungsfrage: Ausbildung nach dem akademischen Abschluss – Ein Bildungsabstieg oder Ausweg aus der Arbeitslosigkeit?
Inhaltsverzeichnis
Anhang
1. Einleitung
2. Theoretischer Rahmen
2.1. Untersuchungsstand und Untersuchungsinteresse
2.2. Forschungsfragen
3. Erhebungs- und Auswertungsmethode
3.1. Feldzugang und Reflexion
3.2. Interview
3.3. Habitus-hermeneutische Auswertung
3.4. Transkription
3.5. Sequenzanalyse
3.6. Zuordnung in das Milieu nach Vester
4. Forschungsstand: Ausbildung nach dem akademischen Abschluss
4.1. Akademikerarbeitslosigkeit
4.1.1. Biologieabsolventen in Arbeitslosigkeit
4.2. Gründe für eine Doppelqualifizierung
4.2.1. Gründe für eine Ausbildung nach dem Studium
5.Einführung in den Fall 1 – Alina
5.1. Kurzbiographie
5.2. Ausarbeitung der Fallstudie
5.2.1. Herkunftsfamilie
5.2.1.1. Innerfamiliäre Beziehungen
5.2.1.2. Außerfamiliäre Beziehungen
5.2.2. Kindheit, Jugend und schulische Laufbahn
5.2.3. Studentische Laufbahn
5.2.4. Ausbildungslaufbahn
5.2.5. Gründe für die Zweitausbildung-Studium vs. Ausbildung
5.3. Habitussyndrom
5.4. Milieuzugehörigkeit
6.Einführung in den Fall 2 – Aleko
6.1. Kurzbiographie
6.2. Ausarbeitung der Fallstudie
6.2.1. Herkunftsfamilie
6.2.1.1. Innerfamiliäre Beziehungen
6.2.1.2. Außerfamiliäre Beziehungen
6.2.2. Kindheit, Jugend und Schulische Laufbahn
6.2.3. Studentische Laufbahn
6.2.4. Ausbildungslaufbahn
6.2.5. Gründe für die Zweitausbildung -Studium vs. Ausbildung
6.3. Habitussyndrom
6.4. Milieuzugehörigkeit
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis
8.1 Internetquellen
9. Abbildungsverzeichnis
Danksagung
1. Einleitung
Die Untersuchungen dieser Arbeit stützen sich auf Bourdieus Habitus-Theorie und auf die Milieuanalyse. Mit der habitus-hermeneutischen Methode werden Gründen für eine Dop- pelqualifizierungen im Bezug auf eine Ausbildung nach dem akademischen Abschluss erforscht. Der „Ausweg aus der Arbeitslosigkeit“ ist das erhoffte Ergebnis dieser vorlie- genden Arbeit. Weiterhin wird anhand von zwei Fällen die Unterstellung eines „Studienab- stieges“ auf Falsifizierung oder Bestätigung überprüft. Im folgenden Abschnitt wird der Aufbau der vorliegenden Arbeit skizziert.
Die Arbeit gliedert sich wie folgt: Nach der Einleitung spannt das zweite Kapitel den theo- retischen Rahmen für die kommenden empirischen Analysen auf. Die theoretische Grund- lage stellt die Habitusanalyse nach Bourdieu dar. Daher werden die Grundlagen und der grundliegende Zweck der Habitus-Theorie dargelegt. Zum Ende des Kapitels werden die vier Kapitalformen nach Bourdieu erläutert. Weiterhin werden im dritten Kapitel die ge- nauen Methoden dieser Arbeit vorgestellt, zu denen das lebensgeschichtliche Interview, die Sequenzanalyse, die Habitus-Hermeneutische Auswertung und die Milieuzuordnung nach Vester zählen.
Das darauffolgende vierte Kapitel umfasst den aktuellen Forschungsstand zum behandelten Thema und diskutiert die Gründe für eine Doppelqualifizierung vor dem Hintergrund der aktuellen Arbeitsmarktquote bezüglich der Arbeitslosigkeit von Akademikern, insbesonde- re der Biologie-Absolventen. Dieses Kapitel gliedert sich in zwei weitere Unterkapitel. In einem ersten Teil werden der Untersuchungsstand und das Untersuchungsinteresse unter der Berücksichtigung der titelgebenden Frage: „Ausbildung nach dem akademischen Ab- schluss – Ein Bildungsabstieg oder Ausweg aus der Arbeitslosigkeit? “ erläutert. Im nach- folgenden zweiten Teil werden Forschungsfragen gebildet, die im Verlauf der Arbeit un- tersucht werden. In diesem Teil wird zunächst allgemein auf die Akademikerarbeitslosig- keit eingegangen. Hierbei handelt es sich um Absolventen, bei denen nach dem Studienab- schluss keine berufliche Einmündung stattgefunden hat. Fallbezogen wird dabei näher auf Biologieabsolventen eingegangen. Um den Gründen und Motiven für eine Doppelqualifi- zierung nachzugehen, werden zunächst die verwendeten Begrifflichkeiten definiert. An- schließend wird auf Literatur verwiesen, in der die Doppelqualifizierung thematisiert wird. Ganz besonders wird dabei auf die Arbeit von Anke Hammen Bezug genommen, die acht Typen von Menschen herausstellt, die eine Zweitausbildung antreten. Um der Forschungs- frage nachzugehen, wird anschließend gezielt nach Gründen für eine Ausbildung nach dem Studium gefragt.
Nach dem die Begrifflichkeiten und der aktuelle Stand dargestellt wurden, werden in Kapi- teln fünf und sechs konkrete Fälle vorgestellt und ausgearbeitet. Die Ausarbeitung beginnt mit der Kurzvorstellung der interviewten Person in Form einer Kurzbiografie. Dazu wer- den alle Eckdaten erfasst und die relevanten Informationen dargelegt werden. Danach wird die Herkunftsfamilie vorgestellt und die innerfamiliäre Beziehung zu einzelnen Personen definiert. Anschließend wird derselbe Vorgang in Bezug auf die außerfamiliären Bezie- hungen wiederholt. Nachdem die Kindheit, Jugend und schulische Laufbahn vorgestellt wurden, wird auf die Studien- und Ausbildungslaufbahn eingegangen. Das Kapitel schließt jeweils mit der Erschließung des Habitussyndromes und der Milieuverortung nach Vester und der kurzen Erläuterung der Kapitaltheorie nach Bourdieu ab.
Im Fazit wird abschließend auf die aufgearbeiteten Fakten und Analysen zurückgegriffen. Unter der Berücksichtigung der zwei Fälle und des herausgearbeiteten Forschungstandes bezüglich der Absolventenarbeitslosigkeit und der Gründe für Doppelqualifizierung wer- den die Forschungsfragen beantwortet. Letztendlich wird auf die in dieser Arbeit im Fokus stehende Forschungsfrage eingegangen.
2. Theoretischer Rahmen
Im Folgenden wird die Absicht und das Untersuchungsinteresse dieser Arbeit unter der Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes erläutert. Anschließend werden For- schungsfragen aufgeworfen, die im Laufe der Untersuchung weiter zu verfolgen und zu beantworten sind.
2.1. Untersuchungsstand und Untersuchungsinteresse
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist zu erforschen, warum Individuen im Anschluss zu ihrer akademischen Laufbahn eine Ausbildung beginnen. Es sollen Gründe und Motive untersucht werden und geklärt werden, ob es sich dabei um einen Bildungsabstieg handelt. Genauer lautet die Forschungsfrage: Ausbildung nach dem akademischen Abschluss – Ein Bildungsabstieg oder Ausweg aus der Arbeitslosigkeit?
Diese Fragestellung ist von Relevanz, da sich das Thema zurzeit noch eine Forschungslü- cke darstellt und noch nicht grundlegend untersucht wurde. Umso wichtiger bedarf das Thema einer Untersuchung, um den gesellschaftlichen Diskurs zu beleuchten und der Ge- sellschaft die Gründe für diese Entscheidungsfindung nahe zu legen. Denn nach wie vor wird der akademische Abschluss von der Gesellschaft hoch angesehen. Die Erwartungen sind auch nach dem akademischen Abschluss immer noch sehr hoch. Aus diesem Grund wirft die Tatsache, dass ein Studienabsolvent sich nach dem Abschluss sich keinen Nutzen aus dem akademischen Grad zieht und stattdessen eine Berufsausbildung anschlägt, in der akademischen Ausbildung oder sogar Abitur nicht gefordert werden. Dies wirft meistens bei Personen im Umkreis viele Fragen und Unverständnisse auf. In diesem Fall wird sogar von einem ,,Bildungsabstieg“ gesprochen.
Die Beweggründe für die Nichtnutzung des akademischen Grades sind mit Sicherheit viel- fältig und von vielen Faktoren abhängig. Es spielen nicht nur die Arbeitsmarktumstände oder persönliche Unzufriedenheit eine wichtige Rolle, sondern auch charakterliche Aspek- te und die aktuelle Situation des Individuums müssen berücksichtigt werden.
2.2. Forschungsfragen
Vor der Untersuchung der gestellten Forschungsfrage, sollen noch zur Überprüfung des Zusammenhangs bzw. der Ab- und Unabhängigkeit diverser Variablen weitere Aspekte ermittelt werden.
Die ersten Überlegungen basieren auf Jacobs Forschung, die eine differenzierte Analyse von Mehrfachqualifikationen in Deutschland ermöglicht. Zur Komplexitätsreduktion unter- teilt Jacob Mehrfachqualifikationen in vier Typen, die sich aus zwei Kategorien ergeben: „1. Mit und ohne Höherqualifizierung; 2. Mit und ohne Fachwechsel“ (Jacob 2014, S.52). Im Modell von Jacob werden vor allem persönliche Eigenschaften der befragten Personen und der Ausbildungsgrad der Eltern berücksichtigt. Mehrqualifikationen stellen nach Jacob keine Kompensation vorausgegangener Defizite dar, sondern stützen die These der Hu- mankapitaltheorie (vgl. ebd.). Aus Jacobs Arbeit lassen sich noch mindestens drei weitere nützliche Präzisierungen bezüglich der in dieser Arbeit zu untersuchender Fragestellung ableiten:
1. Wird die Berufsausbildung von Hochschulabsolventen als Qualifikationserweite- rung genutzt?
2. Dient die Berufsausbildung nach dem akademischen Abschluss zur Vermeidung der Arbeitslosigkeit?
3. Wird die Berufsausbildung im Sinne einer Berufsneuorientierung in Betracht gezo- gen?
Unabhängig von Jacobs Untersuchung, müssen auch andere Faktoren, wie die wirtschaftli- che Arbeitsmarktsituation hervorgehoben werden. Daher werden drei weitere Forschungs- fragen formuliert:
1. In wie weit können Personen mit einem akademischen Abschluss ihre Qualifikatio- nen im Arbeitsmarkt anwenden?
2. Sind Hochschulabsolventen überqualifiziert?
3. Sind Hochschulabsolventen unterqualifiziert?
Die genannten Forschungsfragen verlangen eine grundlegende Untersuchung. Erforderlich ist auch der Einbezug aktueller Studien zum Arbeitsmarkt, in der Form von Forschungsli- teratur und empirische Bildungsforschung,
3. Erhebungs- und Auswertungsmethode
Für die Bearbeitung der Fragestellung der vorliegenden Arbeit wurde die qualitative Erhe- bungsmethode des lebensgeschichtlichen Interviews verwendet. Zur Zielgruppe dieser Un- tersuchung gehören Individuen, welche sich unmittelbar nach dem akademischen Bil- dungsabschluss für eine Berufsausbildung entschieden haben.
Bei der Fallauswahl wurden nur Personen mit einer akademischen Ausbildung als Erstaus- bildung und einem unmittelbaren Übergang in eine anschließende Berufsausbildung be- rücksichtigt. Der fachliche Aspekt, also der Fokus auf Biologieabsolventen, ergab sich zufällig. Es war nicht das Ziel der Arbeit, präzise auf die Doppelqualifizierung von Biolo- gieabsolventen einzugehen, sondern allgemein den Übergang von Akademikern in die Be- rufsausbildung im Sinne eines ,,Bildungsabstieges“ zu erforschen. Auch bei der Personen- auswahl wurden keine weiteren Prioritäten gesetzt.
Eine Biografie-Forschung kann zur Bearbeitung der jeweiligen Forschungsfrage unter- schiedliche qualitative Methoden der Datenerhebung anbieten. Die Aufgabe von qualitati- ven Methoden besteht nach Kaufmann darin zu verstehen, systematisch zu beschreiben oder zu messen (vgl. Kaufmann 1999, S.43). In dieser Arbeit wurde das zu analysierende Material selbst erhoben. In diesem Zusammenhang ist der Forscher gleichzeitig auch Ak- teur. Zu einem solchen Verfahren gehören weitere Dokumente, wie beispielsweise der Be- obachtungsbogen und der Sozialbogen. Diese können bei der Interpretation, sowie bei der Einordnung in das Milieu von Wichtigkeit sein, werden jedoch im Folgenden nicht näher erläutert.
Das lebensgeschichtliche Interview stellt eine geeignete Methode zur Erfassung und Ana- lyse von Lebenswelten und ihrer Sinndeutung zum Verstehen des biografischen Prozesses im Rahmen einer Lebensverlaufsforschung dar. Die Interviews erfolgten mittels eines Leit- fadens und wurden mit einem Diktiergerät aufgenommen. Um an die Habitus-Schemata (Bewertungsmuster) heranzukommen, wurden die Befragten dazu aufgefordert, möglichst viele Akteure, Umfelder, Geschehnisse, Tätigkeiten und weitere relevante Faktoren zu beschreiben. Da Bourdieu davon ausgeht, dass individuelle Präferenzen maßgeblich das Resultat familiärer und schulischer Erziehung sind, wurde in diesem Kontext an Erfahrun- gen, Ereignissen und dem sozialen Umfeld angeknüpft. Anschließend wurde zur Auswer- tung des Interviews eine Transkription durchgeführt, die mit Hilfe des Programmes „Easy transcript“ erstellt wurde. Im Anschluss fand zum Zweck der Entschlüsselung die Metho- dik der Sequenzanalyse Verwendung. Dazu wurde der Einstieg und die forschungsrelevan- ten Textpassagen in Abschnitte mit jeweils 5-15 Zeilen aufgeteilt und mittels der habitus- hermeneutischen Sequenzanalyse entschlüsselt.
Im folgenden Kapitel werden die angewendete Thematik und die Methodik der vorliegen- den Fallanalyse im Einzelnen erläutert. Davor wird knapp über den Zugang zu den Inter- viewpersonen berichtet.
3.1. Feldzugang und Reflexion
Die Suche nach möglichen Interviewpartnern war zunächst schwierig. Erste Versuche über dem Schneeballprinzip blieben ergebnislos. Interviewperson 1 (Alina) konnte auf Grund von erster persönlicher Bekanntschaft im Jahr 2014 im Rahmen des Studiums gewonnen werden. Der letzte gemeinsame Kontaktaustausch fand 2016 statt, als die Interviewperson sich bereits für Ausbildungsstellen bewarb. Aus diesem Grund wurde Alina per Facebook kontaktiert und angefragt. Tatsächlich befand sie sich im letzten Ausbildungsjahr. Die Zu- sage folgte unmittelbar nach der Anfrage. Bereits zwei Wochen später folgte das Interview. Die Suche nach der zweiten Person erwies sich schwieriger als erwartet. Personen, die durch das Schneeballprinzip angefragt wurden, wiesen das Interview ohne Angaben von Gründen ab. Auch Anfragen in den sozialen Netzwerken, wie WhatsApp, Instagram und Facebook brachten keinen Erfolg. Bei der Problemoffenbarung im Kolloquium wurde vom Erstprüfer der Kontakt zu einem Professor vermittelt, der sich mit demselben Forschungs- feld beschäftigt. Als dieser kontaktiert wurde, schlug er mehrere Personen aus seinem Um- kreis vor, von denen eine Person (Aleko) zustimmte.
Da im Interviewverlauf nicht nur der biographische Teilprozess erhoben werden soll, wur- den die Interviewkandidaten darum gebeten ihre Lebensgeschichte von Kindheit an bis heute zu erzählen. Dies gelang beiden Interviewpersonen zufriedenstellend, so dass aus- führliche Lebenserzählungen zustande kamen. Bei manchen Erzählungen begaben sich beide Akteure auf eine emotionale Ebene, weshalb dem Forscher die Beziehung zu be- stimmten Personen deutlich werden konnte.
3.2. Interview
„Der Begriff des Interviews [bezieht sich] auf einen Wortwechsel zwischen Personen, wobei die eine, der Interviewer, aus der bzw. den anderen, den Be- fragten, Informationen, Meinungsäußerungen oder auch Überzeugungen her- auszulocken versucht“ (Maccoby, E.E. & Maccoby N, in König (Hrsg.) 1957, S.37).
J. C. Kaufmann bezeichnet das Interview als eine ökonomische und leicht zugängliche Methode, bei der nur Mut und ein Aufnahmegerät genügen (vgl. Kaufmann 1999, S.9). Allerdings gibt es nicht nur eine, sondern mehrere Methoden von Interviews, die sich sehr voneinander unterscheiden. Bei der vorliegenden Forschungsarbeit wurde die Methode des verstehenden Interviews nach J. C. Kaufmann verwendet. Diese zielt auf Exploration aller zentralen Lebensbereiche des Alltags ab, in denen sich der Habitus herausbildet.
Das verstehende Interview beginnt mit der Feldforschung, bildet dann das theoretische Modell und schlägt eine enge Verbindung zwischen empirischer Arbeit und konkreter Theoriebildung (vgl. Kaufmann 1999, S.30-35). Durch den Einblick in das eigene Leben, unterliegt die interviewte Person den Erzählzwang, die eigene Biografie den Forschern plausibel zu machen. Bei einer quantitativen Methode wäre dies nicht möglich, da der Aus- tausch zwischen Interviewer und Interviewtem äußerst intensiv sein müsste, um die we- sentlichen Aussagen zu erhalten (vgl. Kaufmann 1999, S.70). Im Rahmen einer Biografie- Forschung sind lebensgeschichtliche Interviews fortgesetzte Lerngeschichten, in denen es sich um Sinn- und Identitätskonstruktion handelt. Durch Rekonstruktionen der offenbarten lebensgeschichtlichen Ereignisse und Erfahrungen lassen sich die Prozesse der Identitäts- veränderung und Identitätsbildung herauskristallisieren.
Bei der Forschung dieser Arbeit wurde auch der Aufbau der Interviews nach J.C. Kauf- mann strukturiert. So wurde im Vorfeld ein Interviewleitfaden erstellt, der bei der Durch- führung als flexible Orientierungshilfe diente. Vor der Anwendung wurde dieser ausgear- beitet und, niedergeschrieben und so gut wie auswendig gelernt. „Der Interviewladen stellt lediglich eine Hilfe dar, um die Informationen zu einem bestimmten Thema zum Reden zu bringen, […]“ (Kaufmann 1999, S.65). Die Reihenfolge der Fragen wurde sinnvoll nach Themen zugeordnet. Dabei wurde auf die Dynamik geachtet, d.h. sich auch als Interviewer aktiv auf Fragen einlassen um das auf-sich-einlassen des Befragten zu aktivieren (vgl. Kaufmann 199, S.25). Die ersten Interviewfragen haben eine ganz besondere wichtige Rol- le, da sie für das weitere Gespräch den Ton angeben (vgl. Kaufmann 1999, S.66). Im Fol- gendem beschreibt J.C. Kaufmann die Funktion eines Interviewleitfadens:
„Interviewleitfäden haben immer dieselbe Lebensgeschichte. Zunächst dringt der Forscher als Fremdling in eine Welt abstrakter Fragen vor, die er zu Papier bringt. Doch schon wenn er sie ins Reine schreibt, beginnt er, sich an sie zu gewöhnen. Dieser Gewöhnungsprozess geht so schnell und intensiv vonstatten, dass sich der Forscher bereits nach den ersten explorativen Interviews nicht mehr dazu durchdringen kann, seine Fragen abzuändern – abgesehen vielleicht von wenigen Details […]“ (Kaufmann 1999, S.68.).
3.3. Habitus-hermeneutische Auswertung
Bei der habitus-hermeneutischen Auswertung handelt es sich um ein regelgeleitetes Aus- wertungsverfahren. Der Begriff „Habitus-Hermeneutik“ drückt aus, dass mit dem „Lesen“ und „Verstehen“ des Habitus eine individuelle Deutungsarbeit verbunden ist (vgl. Bremer & Teiwes-Kügler 2013, S.93). Der Habitus lässt sich allerdings nicht lückenlos aus der sozialen Position oder der Kapitalkonfiguration ableiten, sondern muss aus der sozialen Praxis erschlossen werden. „Als handlungsorganisierendes Prinzip („modus operandi“) hinterlässt er den Praktiken eines Akteurs eine bestimmte Handschrift, die jedoch in den Praxisformen codiert enthalten ist und durch Interpretationsarbeit entschlüsselt werden muss“ (Bremer & Teiwes-Kügler 2013, S.94). Was einfach gesagt heißt, dass das Erzeu- gungsprinzip des Habitus aus der Alltagspraxis herausgelesen werden muss.
Um die Funktionsweise des Habitus verständlich zu machen, wird an dieser Stelle der Ha- bitus-Begriff nach Bourdieu verwendet:
„Unter Habitus versteht Bourdieu eine „allgemeine Grundhaltung“ gegenüber der Welt. Genauer interscheidet er „Wahrnehmungs-, Denk- und Handungs- schemata“ also Muster, mit denen die Menschen die soziale Welt bewerten und die ihrem Handeln zugrunde liegen. Man kann sie als moralische und ge- schmackliche Prinzipien verstehen, die sich implizit in der Art der Lebensfüh- rung zeigen. Bourdieu spricht vom „einheitsstiftenden Prinzip“ des Habitus. Ein und derselbe Habitus drückt allen Lebensbereichen einen typischen Stempel auf, liest, was er liest, was er mag, welche Bekannten und Freunde er hat, all das ist eng mit einander verknüpft“ (Bourdieu 1992a, S. 32). Auch die Praxis des Lernens und des Bildungserwerbs ist dann in einen Zusammenhang einzu- ordnen, der durch den Habitus gestiftet wird“ (Bremer 2007, S. 128).
Der Habitus ist also als ein System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen zu verste- hen, die als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen fungie- ren (vgl. auch Gebauer & Krais 2002, S.5). Er ist des Weiteren nicht angeboren und bildet sich in vielen unterschiedlichen Kontexten und Situationen des Lebens heraus (vgl. Vester 2001, S.165). Die Herausbildung des Habitus beginnt lebensgeschichtlich bereits in den „vordiskursiven“ Phasen der frühen Kindheit, in denen sich die Grundorientierungen der Körperhaltungen, der emotionalen Energie, des Geschmacks, der moralischen Prinzipien usw. entwickelt. Schon in der frühen Kindheit ist der Unterschied zwischen „distinktiven“ und „vulgären“ Stillen zu erkennen (vgl. ebd.). In anderen Worten: es ist ein Unterschied zwischen denen zu sehen, die sich abgrenzen und denen, die sich den anderen fügen, sowie zwischen den passiven und aktiven Handlungsstrategien, zwischen dominanten oder part- nerschaftlichen Beziehungsstillen und zwischen den asketischem oder hedonistischem Lustschub (vgl. ebd.). Der Habitus entfaltet diese Dimensionen in späteren Lebensphasen immer weiter, zum Beispiel in Peer-Groups, im Erziehungs- und Berufssystem, sowie in den Nachbarschaftsmilieus (vgl. ebd., S.167). In diesem Zusammenhang sind vor allem familiäre, berufliche und soziale Gefüge von massiver Bedeutung. So kann sich der Habi- tus auf der einen Seite offensichtlich in der Haltung äußern oder auch in der eigenen Moral versteckt sein (vgl. Bremer & Teiwes-Kügler 2013, S.4). Je nach Situation legt der Akteur unterschiedliche Verhaltensmuster zugrunde und handelt seinem Habitus entsprechend. Dementsprechend entwickelt der Mensch nach einiger Zeit einen gewissen Instinkt, da für ihn selbst eine Logik zur Ausführung einer Handlung entsteht. Dazu gehören auch die Zu- gänge zur Bildung, Weiterbildung und Lernen: „die Menschen lernen nicht um des Ler- nens willen, sondern immer in Bezug auf ihre konkreten Lebensumstände, Erfahrungen und Ziele, die Anlässe für Bildungs- und Lernprozesse sind“ (Bremer 2007, S.118). Inso- fern ist mit einem bestimmten Habitus-Typ auch ein bestimmter Bildungstyp charakteri- siert. Aus diesem Grund soll der Habitus-Typ der Interviewpersonen identifiziert werden, um den gesuchten Gründen nachzukommen.
Bevor die Habitus-Muster analysiert werden können, muss eine Klassifizierung durchge- führt werden. Bourdieu geht davon aus, dass in den alltäglichen Praxisformen der Indivi- duen implizit die Schemata enthalten sind, mit denen die Menschen die soziale Welt be- werten und sich in ihr verhalten. Relevant sind hier insbesondere die klassifizierenden Ge- gensatzpaare von Adjektiven, auf die Bourdieu verweist. Mit diesen können „Menschen wie Dinge der verschiedenen Bereiche der Praxis klassifiziert wie qualifiziert werden“ (Bourdieu 1982, S.86). Im Einzelnen enthalten die Habitus-Schemata die Denkschemata denen die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit geordnet und inspiriert werden, ethi- sche Ordnungs- und Bewertungsmuster, ästhetische Maßstäbe zur Bewertung kultureller Produkte und Praktiken sowie Schemata, die die Hervorbringung von Handlungen anleiten. Diese einzelnen Dimensionen sind im sozialen Handeln wirksam miteinander verbunden (vgl. Fuchs-Heinritz & König 2011, S.112 f.). Um die Gründe für die Entscheidungsfin- dungen des Individuums zu erforschen, ist eine Einordnung in ein Habitus-Schemata be- sonders relevant.
Ist der Habitus eines Individuums einmal gebildet, ist er „Hysteresis“ (vgl. Rehbein 2006, S.93). Dies bedeutet, dass er der Bestandteil geworden ist, der den Charakter der Person bildet und sich durch die Lebensgeschichte durchzieht. Aufgrund der subjektiven Prägung des Habitus, wird als Grundlage seiner Erforschung, die Fall-Analyse als Methode ver- wendet, welche alle sozialen Voraussetzungen impliziert. Denn im Zusammenhang einer Fall-Analyse werden nicht nur einzelne Habitus-Züge herausgearbeitet, sondern die einzel- nen Elemente, welche das Gesamtbild definieren. Diese einzelnen Elemente werden als Habitus-Syndrom betitelt (vgl. Bremer & Teiwes-Kügler 2013, S.15 f.).
Letztendlich ist der Habitus also als ein Komplex zu verstehen, der durch den „Zusam- menhang zwischen ganz unterschiedlichen Dingen“ hergestellt wird (Bourdieu 1992, in Friebertshäuser/ Schäffer/ Von Felden 2007, S.87).
Hermeneutik hingegen verlangt, dass einzelne Details herausgearbeitet werden. Das heißt, dass die Schemata des Habitus in Begriffe oder theoretische Kategorien übersetzt werden muss, die vorher noch zu entschlüsseln sind. Dabei ist eine Unterscheidung zwischen ver- schiedenen Sinnschichten sozialer Praxis vorzunehmen: Eine „primäre Schicht“ und eine „sekundäre Schicht“ (vgl. Bourdieu 1970, in Bremer/ Teiwes-Kügler 2013, S.97). Nach Bourdieu entspricht die „primäre Schicht“ den direkt zugänglichen Ebenen der Erschei- nungen und Erfahrungen, während sich in der „sekundären Schicht“ gesellschaftliche Strukturen verbergen, die zur Ausbildung der Schemata des Habitus geführt haben (vgl. ebd., S.98). Das Ziel der habitus-hermeneutischen Auswertungsmethode ist, mit Hilfe der hermeneuti- schen Entschlüsselungsarbeit das Klassenspezifische aus der sozialen Praxis des Befragten zu decodieren und des Habitus-Schemata des betroffenen Individuums freizulegen.
Es soll an dieser Stelle in Erinnerung gerufen werden, dass der Gegenstand dieser Arbeit gegenwärtig eine Forschungslücke darstellt, weshalb eine habitus-hermeneutische Auswer- tung eine besonders relevante Rolle findet. Da die Entscheidungsfindungen der Individuen nicht spontan getroffen wurden, sondern tieferliegender Natur sind, ist es relevant die Bio- grafie der einzelnen Individuen zu erforschen. Die gesuchten Gründe sollen aus der Funk- tionsweise des Habitus über die Lernprozesse erschlossen werden, in denen die betroffenen Individuen im Laufe des Lebens den eigenen Habitus ausbilden, modifizieren und verfesti- gen. Bourdieu zufolge werden die relevanten kulturellen Praktiken sozialisiert und nicht natürlich-biologisch vererbt, daher dienen Bildungsabschluss, Beruf und Einkommen als unabhängige Variable. Bei der Bewertung und Nutzung der universitären Ausbildung der betroffenen Individuen soll die strukturierende Wirkung der Primärsozialisation anerkannt werden (vgl. Lenger/ Schneikert/ Schumacher 2013, S. 23). Die Findung des Habitus- Syndroms, sowie die Einordnung dieser in die Habitus-Schemata ist bei der Untersuchung nach der in dieser Arbeit gestellten Forschungsfrage äußerst relevant. Daher stellt sich hier die Frage: „Wie können Verhaltensweisen geregelt sein, ohne dass ihnen eine Befolgung von Regeln zugrunde liegt?“ (Rehbein 2011, S. 86). Dies ist auch Bourdieus Ausgangsfra- ge, die er mit dem Habitus-Begriff beantwortet.
„Erst im Lichte einer höheren Schicht […] gewinnt die untere Schicht ihre volle Bedeutung“ (Bourdieu 1970, in Bremer & Teiwes-Kügler 2013, S.98).
3.4. Transkription
Nachdem die Interviews durchgeführt und aufgenommen wurden, konnten sie transkri- biert, also verschriftlicht werden. Das Transkribieren erfolgte mit dem Programm „Easy- transkript“, welches die Verschriftlichung des Interviews vereinfachte. Der Ausgangspunkt der darauffolgenden hermeneutischen Analyse ist also die Transkription von Tonbandauf- zeichnungen.
Transkription dient als Ergänzung zur Tonaufnahme und ist keinesfalls ein Materialersatz. Unter Transkription ist eine Darstellung ausgewählter Verhaltensaspekte von Personen zu verstehen, die an einem bestimmten Gespräch (hier: Interview) teilgenommen haben (vgl. Kowal & O’Connel, in Flick/ Steinke/ von Karndorff 2012, S.438). Transkriptionen wer- den benötigt, um Gesprächsverhalte für Forschungszwecke dauerhaft verfügbar zu machen und ermöglicht nicht nur dem Forscher einen einfachen Rückgriff und die Übersicht über das Material, sondern bietet auch Dritten eine Überprüfung der Interviewführung und der Interpretation des biographischen Materials (vgl. Fuchs 1984, S.270).
Das Ziel der Herstellung ist es, die geäußerten Wortfolgen, lautliche Gestaltungen und das redebegleitende Verhalten der Interviewpersonen möglichst genau darzustellen, sodass alle relevanten Besonderheiten und die Individualität sichtbar werden (vgl. ebd.).
Beim Transkribieren wurden Namen der Interviewpersonen und deren Wohnorte anonymi- siert. Seiten und Zeilen wurden durchnummeriert, so dass jede Textstelle durch die Angabe von Seiten- und Zeilennummern exakt aufzufinden ist. Zudem wurde die aufgenommene Zeit der gesprochenen Passagen am Ende jedes Abschnittes vermerkt. Die Redebeiträge der Befragten wurden durch ein Kürzel am Beginn jedes Wortbeitrages gekennzeichnet In dieser Arbeit wurde der Buchstabe I für die Interviewende verwendet, und für den Inter- viewten oder die Interviewte der der Anfangsbuchstabe des Vornamens verwendet, was hier in beiden Fällen A ist. In der Transkription wurde die mündliche Rede weitestmöglich in ihrer Originalgestalt dokumentiert, sodass Versprecher, grammatikalische Fehler, Wortwiederholungen, unvollendete Wort- und Satzanfänge und Fülllaute wie etwa „öhm“, „hm“ oder „äh“ im Text festgehalten wurden. Für die Interpretation ist die Ton- und die Ausdrucksweise der Interviewpersonen von besonderer Bedeutung. Aus diesem Grund wurden die durch die Tonart hervorgehobenen Wörter beim Transkribieren unterstrichen, zum Beispiel: „ A: Die Fächer sind mir richtig schwergefallen. “ Zusätzlich wurde auch nichtsprachliches Verhalten in die Transkription aufgenommen, zum Beispiel wenn die interviewte Person oder der Interviewer lachen oder husten, sich räuspern, hörbar ausatmen und seufzen. Auch andere Aktivitäten während des Interviews wurden im Text vermerkt, zum Beispiel wenn das Interview mit der Interviewperson 1 (Alina) durch eine dritte Per- son (ihre Mutter) gestört wurde. Wo möglich wurde ein einheitliches Transkriptionsregel- system angewandt.
3.5. Sequenzanalyse
Bei dieser Arbeit wurde als Auswertungswerkzeug die Sequenzanalyse im Rahmen der Habitus-Hermeneutik (Bremer & Teiwes-Kügler 2013) verwendet, da sie eine empirische Vorgehensweise darstellt.
Nach dem das Interview ordnungsgemäß transkribiert wurde, konnte mit der Interpretation einzelner Textpassagen begonnen werden. Wie zuvor erwähnt, wurde im Rahmen dieser Forschung die Sequenzanalyse als Auswertungsmethode angewandt.
Die Sequenzanalyse wird hier als eine Methode für das habitus-hermeneutischen Auswer- tungsverfahren angewendet. Das Ziel besteht darin, die Äußerungen des Interviewten zu verschriftlichen, um dann die Spuren des Habitusschematas freizulegen. Diese ersten Spu- ren müssen dann im Verlauf der gesamten Auswertungsarbeit gründlich überprüft, ergänzt oder gegebenenfalls korrigiert werden. Die Analyse zielt darauf ab, die primäre und sekun- däre Sinnschichten miteinander in Beziehung zu setzen (vgl. Bremer & Teiwes-Kügler 2013, S.102 ff.).
Um den Einstieg in die Fälle zu ermöglichen, wurde in dieser Arbeit eine Systematik nach Oevermann verwendet, bei der eine kleinschrittige, sequenzielle Bearbeitung des Materials vorgenommen wurde. Dabei wurden bestimmte Textpassagen aufgegriffen, bei denen der Text in kleine Abschnitte von etwa 5-15 Zeilen unterteilt und nacheinander gedeutet wur- de. Anschließend wurden für jede Sequenz Lesearten entwickelt. Durch dieses Verfahren konnten dann die subjektiven und gesellschaftlichen Konstruktionen erschlossen werden. Bestimmte Textpassagen können u.a. Hinweise auf die Herkunftsfamilie liefern oder bei den vorliegenden Fällen Informationen zur Studien- und Ausbildungswahl.
Es ist zu erwähnen, dass aus forschungsökonomischen Gründen nicht für den gesamten Transkript eine Sequenzanalyse vorgenommen werden konnte, sondern lediglich für die Einstiegspassagen der Interviews sowie für einzelne Abschnitte, die von besonderer Rele- vanz für die Forschungsfrage und den Forschungsgegenstand sind.
3.6. Zuordnung in das Milieu nach Vester
Nachdem der Bourdieus Habitus-Ansatz erläutert wurde, muss die hier verwendete Milieu- theorie von Vester dargestellt werden. Ihm zufolge basieren die Milieuformen auf dem Habitus des Individuums:
„Milieus bezeichnen Gruppen mit ähnlichem Habitus, die durch Verwandt- schaft oder Nachbarschaft, Arbeit oder Lernen zusammenkommen und eine ähnliche Alltagskultur entwickeln. Sie sind einander durch soziale Kohäsion oder auch nur durch ähnliche Gerichtetheit des Habitus verbunden. Insofern sie ähnliche Orte im sozialen Raum einnehmen, sind die historischen Nachfahren der sozialen Klassen, Stände und Schichten“ (Vester u.a. 2001, S.25).
Der Begriff Milieu ist also als ein Zusammenhang verschiedener sozialer Instanzen oder Ebenen zu verstehen. Milieu bezeichnet weiterhin die besondere soziale Umwelt, in deren Mitte Menschen leben, wohnen und tätig sind und die ihrem Habitus entspricht. In der Mit- te des Milieus finden die Individuen andere Menschen, mit deren Art sie zusammenpassen (vgl. Vester u.a. 2001, S.169). Der Milieubegriff wird daher auf die ganze Gesellschaft übertragen, bezeichnet jedoch gleichzeitig Teilungsprinzipien, die sich aus der umfassen- deren gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Herrschaftsstruktur ergeben (vgl. ebd., S.171). Die Positionierung in den sozialen Raum erfolgt nicht nach sozialstatistischen Kriterien, wie Einkommen, Bildungsabschluss und Beruf oder nach Kapitalverteilung, sondern auf Grundlage der in vorherigen genannten hermeneutischen Interpretation nach dem Typ des Habitus (vgl. Bremer 2007, S.134). Die milieutypischen Praxisformen beruhen auf den Bewertungs- und Handlungsmustern des Habitus. Demzufolge werden beide Fälle indivi- duell einzelnen Elementarkategorien zugeordnet:
1. Das Feine (Besondere, Ästhetische, die Form)
2. Das Grobe (Handfeste, Zweckbetonte, Funktionale, Realistische)
3. Das Ideelle (Geistigkeit, Abstraktes, Intellektuelles, Spirituelles)
4. Das Materielle (Körperlichkeit, Pragmatismus, Praxis, Fassbarkeit)
5. Askese (Methode, Planung, Disziplin, Selbstbeherrschung, Intentionalität)
6. Hedonismus (Spontaneität, Ungeregeltheit, Sinnlichkeit, Spaß, Genuss)
7. Hierarchie (Autorität, Ordnung, Status, Elitäres, Ausgrenzung, Selbstbezogenheit)
8. Egalität (Integration, Partnerschaftlichkeit, Partizipation)
9. Aufstiegsorientierung (Karriere, Strebsamkeit, Nach-Oben-Schauen)
10. Sicherheitsorientierung (Realismus, Bescheidenheit, Vorsicht)
11. Individualität (Selbstverwirklichung, Persönlichkeitsentfaltung, Unabhängigkeit, Einzigartigkeit)
12. Gemeinschaft (Rücksichtnahme, Geselligkeit, Konformität, Kompromisse) (Bremer 2007, S.134 f.)
Bei der Einordnung in das soziale Milieu lassen sich fünf große „Traditionslinien“ sozialer Milieus unterscheiden. Wie in Abbildung 1 zu sehen ist, werden die Klassen horizontal nach der beruflichen Spezialisierung in Klassenfraktionen untergliedert. Sie verdeutlichen die fortschreitende Dynamik der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Die vertikale Einteilung verdeutlicht Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Milieus und Herrschaftsbezie- hungen, Distinktionen und sozialen Benachteiligungen. Die Struktur der Gesellschaft wird in drei Teilen grob dargestellt (vgl. Geißler 2014). Mit Hilfe dieser feineren Unterteilung können die moderneren Milieus identifiziert und im mehrdimensionalen sozialen Raum verortet werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Raum der sozialen Milieus nach Vester
Auf der oberen sozialen Stufe befinden sich die Traditionslinien von „Macht und Besitz“ und der „akademischen Intelligenz“, auf der mittleren Stufe sind die Traditionslinien der „Facharbeit und der praktischen Intelligenz“ sowie der „ständisch kleinbürgerlichen Mili- eus“ zu finden, auf der unteren sozialen Stufe befindet sich die die Traditionslinie der Un- terprivilegierten. Innerhalb dieser Traditionslinien werden zehn in sich differenzierte Mili- eus unterschieden, die sich nach dem Muster des Generationswechsels wandeln und mo- dernisieren. Es ist anzumerken, dass die Einordnung in den sozialen Raum nicht nach sozi- aler Position oder nach Kapitalverteilung erfolgt, sondern nach dem Typ des Habitus. Da- bei fließen vor allem der Grad der Distinktion bzw. der Orientierung an Notwendigkeit sowie die Gewichtung von hierarchie- und statusorientierten bzw. von eigenständig- unabhängigen Handlungs- und Denkmustern ein (vgl. Bremer & Teiwes-Kügler in Frie- bertshäuser/ Schäffer/ Von Felden 2007, S.81 f.).
Mit Hilfe der Elementarkategorien sollen zunächst einige Habitus-Züge der Interviewper- sonen identifiziert werden. Daraus werden nach und nach die einzelnen Züge herausgebil- det (vgl. ebd., S.87). Aus der Erschließung der Elementarkategorien ergibt sich ein umfas- sendes Zitat, welches den Habitus des Individuums beschreibt.
Die ersten Habitus-Züge kristallisieren sich durch Aussagen der interviewenden Personen in Bezug auf bestimmte Themen, wie beispielsweise Politik oder Religion. So wird ein Muster deutlich, mit dem sich gebildete Milieus durch Betonung von ideellen Werten ab- grenzen. Mit der Herausarbeitung eines solchen Musters ist der Habitus allerdings noch nicht erschlossen, sondern lediglich ein Aspekt gesehen, der bei weiterer Ausarbeitung bestätigt, erweitert oder verworfen und durch weitere oder andere Muster ergänzt werden muss (vgl. ebd.).
Nach der Zuordnung der Elementarkategorien und der Erschließung des Habitus wurde auf die Kapitalformen der Interviewpersonen eingegangen. Dabei wurde jeweils nur die Kapi- talform hervorgehoben, die besonders ausgeprägt ist. Im Wesentlichen nennt Bourdieu vier Kapitalformen: „Das ökonomische, das kulturelle, das soziale und das symbolische Kapi- tal“ (Schäfer 2010, S.4). Unter dem ökonomischen Kapital ist der Besitz von Geld, Aktien und weiteren Gütern zu verstehen (vgl. ebd., S.5). Das kulturelle Kapital hingegen wird in Form von Bildungswegen sichtbar gemacht (vgl. ebd.). Das soziale Kapital ist eine Kapi- talform, die sich auf menschliche Beziehungen und soziale Netzwerke fokussiert (vgl. ebd., S.7). Das symbolische Kapital hat im Gegensatz zu anderen Kapitalformen eine übergeordnete Funktion. Es beinhaltet Möglichkeiten, die zur Erzielung und Erhaltung von sozialem Prestige und sozialer Anerkennung führen (vgl. ebd., S.8). Bourdieu unterstreicht, dass jegliche Form von Kapitalen erst in einem gewissen Zeitlauf akkumuliert werden kann. Demzufolge eignen sich Personen ihr Wissen im Laufe vieler Jahre an und besitzen es nicht von Geburt an (vgl. ebd., S.4). Der Begriff des Kapitals wird von Bourdieu mit Macht gleichgesetzt, dabei schreibt er den vier Kapitalformen jeweils verschiedene Arten von Macht zu (vgl. ebd.).
4. Forschungsstand: Ausbildung nach dem akademischen Abschluss
Viele Studien beschäftigen sich mit der Frage, warum sich Personen doppeltqualifizieren bzw. sich für eine zweite Berufsausbildung entscheiden. Jedoch werden dabei nur Perso- nen betrachtet, die nach einer betrieblichen oder schulischen Ausbildung ein Studium ab- solvieren. Diese Forschungen blicken also auf den ,,Bildungsaufstieg“.
Der Gegenstand dieser Arbeit ist allerdings die gegenteilige Frage, also warum Personen nach dem akademischen Abschluss eine Ausbildung absolvieren, was als ,,Bildungsabstieg“ bezeichnet oder empfunden werden kann.
Trotz der großen Verbreitung und Bedeutung von Berufsbildungskarrieren, die auf Dop- pelqualifizierungen aufbauen, wird in der Literatur oft nur der höchste Abschluss des Indi- viduums betrachtet. Dieses Vorgehen ist sowohl bei der Suche nach den Gründen als auch nach den entstehenden Konsequenzen in der Literatur weitverbreitet. Jedoch werden die Gründe für eine Ausbildung nach dem Abschluss des Studiums nicht erläutert, was statis- tisch bedeutet, dass etwa jeder dritter Bundesbürger nicht berücksichtigt wird (vgl. Ham- men 2011, S.1). Da die Gründe sehr vielfältig sein können, ist es besonders wichtig diese zu erforschen. Insbesondere da häufig außer Acht gelassen wird, dass die Gründe sich nicht nur auf den Arbeitsmarkt beschränken, sondern persönlich motiviert sein können. Anhand zweier Fälle soll diese Arbeit erörtern aus welchen Beweggründen es zu einer niedrigstufigeren Weiterqualifizierung kommen kann und ob sich diese als Bildungsabstieg oder einen Weg aus der Arbeitslosigkeit verstanden werden können.
Da beide Interviewpersonen Biologiestudienabsolventen sind, wurde bei dieser Untersu- chung zusätzlich auf die Arbeitslosigkeitsquote der Biologieabsolventen Schwerpunkt ge- legt. Als aller erstes soll jedoch zuerst der Blick auf die allgemeine Arbeitsmarktsituation von Akademikern gerichtet werden. Es werden dafür die aktuellen Statistiken der Bunde- sagentur für Arbeit, sowie weitere Studien miteingezogen. Anschließend wird im nächsten Abschnitt die spezifische Arbeitslosigkeitssituation von Biologieabsolventen herausge- stellt. Auch dazu werden aktuelle Statistiken berücksichtigt. Nachfolgend werden Gründe für eine Doppelqualifizierung erläutert, die relevant für die Forschung dieser Arbeit sind. Hierzu wurde insbesondere mit Literatur gearbeitet, die sich gezielt mit dem Thema ,,Doppelqualifizierung“ beschäftigt.
4.1. Akademikerarbeitslosigkeit
Bei der Betrachtung der aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit, wird vor allem auffällig, dass Akademisierung in der BRD noch nie so sehr im Trend war wie in den letz- ten Jahren. So war die Studierendenzahl im Wintersemester 2017/18 mit 2,8 Millionen so hoch wie nie zuvor. Gleichzeitig wächst auch die sozialversicherungspflichtige Beschäfti- gung von Akademikern. 2017 waren 5,4 Millionen Akademiker und Akademikerinnen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, was 304.000 mehr waren als im Vorjahr (+6 Pro- zent). Dies belegt die aktuelle Statistik der Bundesagentur für Arbeit aus dem Jahr 2018 (vgl. Arbeitsmarktstatistik der Bundeagentur). Demnach meldet die Bundesagentur für Arbeit positive Zahlen mit einem optimistischen Blick in die Zukunft (siehe Abb. 2).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Aufstieg der Erwerbstätigen mit akademischen Abschlüssen im Zeitraum: 2007-2016.
Die positiven Vorhersagen basieren nicht nur auf den Akademisierungstrend, sondern be- ziehen sich auch auf den demografischen Wandel. Statistisch gesehen war mehr als jeder fünfte Erwerbstätige mit akademischem Abschluss 2016 mindestens 55 Jahre alt. Insge- samt waren das 1,9 Millionen Erwerbstätige. Laut der Statistik der Bundesagentur bietet die Zahl der Erwerbstätigen, die heute 55 Jahre oder älter sind, einen Anhaltspunkt dafür, wie viele Personen in den nächsten gut zehn Jahren in den Ruhestand eintreten werden (vgl. Arbeitsmarktstatistik der Bundesagentur.). Dabei werden die Studierenden eine wich- tige Rolle als demografisch bedingter Ersatzbedarf spielen. Jedoch ist der „Ersatzbedarf“ nicht in allen Berufsgruppen gleich groß (siehe Abb. 3). Aufgrund der hohen Studieren- denanzahl und der geringen Arbeitsmarktnachfrage werden Absolventen trotz dieser Prog- nose in die Arbeitslosigkeit getrieben.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Entwicklung der Arbeitslosenzahlen seit 2011.
Zwar ist die Arbeitslosenzahl von Studentenabsolventen in den vergangenen drei Jahren leicht gesunken, dennoch waren im Jahr 2017 im Durchschnitt 194.000 Personen mit aka- demischem Abschluss als arbeitslos gemeldet. In den Jahren 2013 bis 2015 gab es sogar eine Zunahme der Arbeitslosenzahl, was nicht zuletzt auf hohe Absolventenzahlen zurück- zuführen ist (vgl. Arbeitsmarktstatistik der Bundesagentur).
Bei der Entwicklung von Studentenzahlen und Arbeitsmarktstruktur ist zu erwarten, dass sich Universitätsabsolventen auf eine absehbare Zeit mit dem Problem Arbeitslosigkeit auseinandersetzen müssen.
Der erfolgreiche Berufseinstieg eines Akademikers in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hängt von vielen Faktoren ab, u.a. dem aktuellen Arbeitsmarkt, Berufsfeld, Ort und natürlich die persönlichen Umstände. Bei der Betrachtung der Faktoren: Arbeits- markt und Berufsfeld, wird offensichtlich, dass nicht alle akademisch erlernten Berufsfel- der auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind. Timmermann und Wessela beschäftigten sich unter anderem auch mit der Arbeitslosigkeit von Hochschulabsolventen und bezeichnen den Übergang eines Akademikers ins Berufsleben als ,,stufenweises Erklimmen einer Treppe“ (Timmermann & Wessela 1999, S.128). Als Grund dafür geben sie an, dass die im Studi- um vermittelte allgemeine Qualifikationen und Kenntnisse noch nicht für die Erfüllung spezifischer Aufgaben ausreichen, demnach müssten noch zusätzliche Kenntnisse und Fä- higkeiten erworben werden (vgl. ebd.).
Was die Quote der Überqualifizierten angeht, so ergibt im Vergleich unterschiedlicher Studien ein relativ einheitliches Bild: Etwa 19 Prozent der Hochschulabsolventen sind für die Arbeit in ihrem Fachbereich überqualifiziert. Dies ist besonders hervorzuheben, da die Prozentzahl seit den 1980er Jahre um 8 Prozent gewachsen ist. Diesen Anstieg belegt eine Studie der Universität Hohenhein aus dem Jahr 2012. Ganz besonders Bachelor- Absolventen sollen unter der Überqualifizierung zu leiden haben. Vor allem die Absolven- ten der MINT-Studiengänge sind unzufrieden mit ihrer Beschäftigung. Nur 45 Prozent fühlen sich an ihren Arbeitsplatz adäquat untergebracht (vgl. Überqualifizierte Akademiker).
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- Citar trabajo
- Anna Frett (Autor), 2019, Ausbildung nach dem akademischen Abschluss. Ein Bildungsabstieg oder Ausweg aus der Arbeitslosigkeit?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/494403
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