Die Rhetorik hatte eine prominente Bedeutung in der Antike. Demosthenes, Lysias und Aischines gehören zu den berühmten attischen Rednern ihrer Zeit: Sie gaben mit ihren literarischen Denkmälern einer professionellen rhetorischen Kraft ihren Ausdruck, mit der sie die Intention der Rede geschickt auf die Zuhörer wirken lassen konnten.
Diese Reden stellen für uns heute wichtige Quellen auf zwei Ebenen dar, die wir bei der Rekonstruktion der Vergangenheit verstehen wollen: sie überlassen uns nicht nur Anhaltspunkte für die Rekonstruktion historischer Ereignisse, sondern sie bilden auch ein Spiegelbild des athenischen Alltags, mit dem wir uns dieser Zeit nähern können, um einen Einblick über das Selbstverständnis der Athener, das eng verbunden ist mit der Zeit ihrer Vorfahren, zu ermitteln. Bei der Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Vergangenheit in dieser Zeit schließt sich die Frage an, wie das Verhältnis zwischen der Wiedergabe historischen Fakten in den Vergangenheitsbezügen dieser Reden und der subjektiven Widerspiegelung der Geschichte zu bestimmen ist: Welchen Wahrheitsgehalt transportieren diese Reden und inwiefern sind sie trotz allem Bewusstsein für den subjektiven Grundton der Rede für die Historiographie von Nutzen- offenbaren Szenen in einer Rede, die Vergangenes beschreiben, einem Historiker aus der jüngeren Zeit, wie es wirklich gewesen?
Diese Arbeit möchte also folgendes: Sie sucht an exemplarisch herausgegriffenen Textstellen aus den verschiedenen Reden der genannten Autoren zu ermitteln, welche Bedeutung eine solche Quelle für die Realität dieser Zeit besitzt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2.1 Demosthenes
2.1.1 Politischer Kontext
2.2 Demosthenes und die Reden gegen Philipp
2.2.1 ΚΑΤΑ ΦΙΛΙΠΠΟΥ Α´
2.2.2 Fazit zur Ersten Rede gegen Philipp
2.3 ΟΛΥΝΘΙΑΚΟΣ Α
2.3.1 Fazit zur Ersten Olynthischen Rede
2.4 ΟΛΥΝΘΙΑΚΟΣ Β
2.4.1 Fazit zur Zweiten Olynthischen Rede
2.5 ΟΛΥΝΘΙΑΚΟΣ Γ
2.5.1 Fazit der Olynthischen Reden
2.6 ΠΕΡΙ ΤΗΣ ΕΙΡΗΝΗΣ
2.7 ΚΑΤΑ ΦΙΛΙΠΠΟΥ B´
2.8 ΠΕΡΙ ΤΩΝ ΕΝ ΧΕΡΡΟΝΗΣΩΙ
2.8.1 Fazit zur Rede über die Angelegenheiten in der Chersones
2.9 ΚΑΤΑ ΦΙΛΙΠΠΟΥ Γ´
2.9.1 Fazit zur Dritten Rede gegen Philipp (IX)
3.1 ΚΑΤΑ ΦΙΛΙΠΠΟΥ Δ´
3.1.1 Fazit zur Vierten Rede Gegen Philipp (X)
4. Wer (re-)konstruiert Geschichte in den Reden des Demosthenes?
5. Demosthenes und die Inszenierung der Vergangenheitsbezüge
6. Fazit zu Demosthenes
7. Lysias
7.1 ΥΠΕΡ ΤΟΥ ΕΡΑΤΟΣΘΕΝΟΙΣ ΦΟΝΟΥ ΑΠΟΛΟΓΙΑ (I)
7.1.1 Die Narratio als Vergangenheitsbezug in der Verteidigungsrede
7.2 Fazit zur Verteidigungsrede im Mordfall des Eratosthenes (I)
7.3 ΕΠΙΤΑΦΙΟΣ ΤΟΙΣ ΚΟΡΙΝΘΙΩΝ ΒΟΗΘΟΙΣ (ΙΙ)
7.3.1 Der Mythos als Vergangenheitsbezug
7.3.2 Inszenierung der Geschichte und Geschichtsbild bei Lysias
7.3.3 Fazit zur Grabrede für die im Korinthischen Krieg gefallenen Athener (II)
8.1 Vergleich der Vergangenheitsbezüge zwischen Demosthenes und Lysias
8.2 Geschichtsbild des Lysias im Vergleich zum Geschichtsbild des Demosthenes
9. Aischines
9.1 ΚΑΤΑ ΤΙΜΑΡΧΟΥ (I)
9.2 Fazit zu Aischines
10. Vergleich der Prozessreden von Lysias und Aischines
11. Fazit
12. Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
1. Einleitung
Die Rhetorik hatte eine prominente Bedeutung in der Antike. Demosthenes, Lysias und Aischines gehören zu den berühmten attischen Rednern ihrer Zeit: Sie gaben mit ihren literarischen Denkmälern einer professionellen rhetorischen Kraft ihren Ausdruck, mit der sie die Intention der Rede geschickt auf die Zuhörer wirken lassen konnten.
Diese Reden stellen für uns heute wichtige Quellen auf zwei Ebenen dar, die wir bei der Rekonstruktion der Vergangenheit verstehen wollen: sie überlassen uns nicht nur Anhaltspunkte für die Rekonstruktion historischer Ereignisse, sondern sie bilden auch ein Spiegelbild des athenischen Alltags, mit dem wir uns dieser Zeit nähern können, um einen Einblick über das Selbstverständnis der Athener, das eng verbunden ist mit der Zeit ihrer Vorfahren, zu ermitteln.
Bei der Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Vergangenheit in dieser Zeit schließt sich die Frage an, wie das Verhältnis zwischen der Wiedergabe historischen Fakten in den Vergangenheitsbezügen dieser Reden und der subjektiven Widerspiegelung der Geschichte zu bestimmen ist: Welchen Wahrheitsgehalt transportieren diese Reden und inwiefern sind sie trotz allem Bewusstsein für den subjektiven Grundton der Rede für die Historiographie von Nutzen- offenbaren Szenen in einer Rede, die Vergangenes beschreiben, einem Historiker aus der jüngeren Zeit, wie es wirklich gewesen ?
Diese Arbeit möchte also folgendes: Sie sucht an exemplarisch herausgegriffenen Textstellen aus den verschiedenen Reden der genannten Autoren zu ermitteln, welche Bedeutung eine solche Quelle für die Realität dieser Zeit besitzt.
Eine Rede untersteht zwar natürlich ihrer Bestimmung nach in erster Linie der Überzeugung und wird im Zielpunkt der Publikumsbeeinflussung mit emotionalisierenden Elementen ausgeschmückt, sie verfolgt demnach nicht in erster Linie den objektiven Ansprüchen der Historiographie. Dennoch hat sie für einen Historiker einen nicht unbedeutenden Stand in der Quellenlage, da sie ein Zeugnis ihrer Zeit abbildet, das anhand der Vergangenheitsbezüge erkennen lässt, wie das Selbstverständnis der zeitgenössischen Athener zu verstehen ist und welches Verständnis von Geschichte insgesamt vorgeherrscht haben muss.
Dahinter steht die Frage, welcher Nutzen sich aus den Vergangenheitsbezügen schlussfolgern lässt. Kurzum, wie also muss eine solche Quelle mitsamt der Intentionen, die sie durch ihren Anlass verfolgt, in der Geschichtswissenschaft eingeordnet werden?
Diese Fragen sollen anhand unterschiedlicher Reden der Autoren Demosthenes, Lysias und Aischines untersucht werden. Die Auswahl dieser Autoren begründet sich in dem Vergleich, der anhand der verschiedenen Autoren passend erscheint: Im Mittelpunkt stehen die politischen Reden des Demosthenes, die im Kontext der Auseinandersetzung mit Philipp II. von Makedonien stehen. Sie geben dem Wunsch nach Frieden und Freiheit Ausdruck und verbinden diesen Wunsch mit Vergangenheitsbezügen aus der zeitgenössisch jüngeren Vergangenheit und der Vergangenheit der Vorfahren. Diese Reden spiegeln die Funktion von Vergangenheitsbezügen in einer politisch unruhigen Zeit wieder , was die Untersuchung der Vergangenheitsbezüge umso interessanter macht: Wie geht Demosthenes mit der Vergangenheit vor diesem damals aktuellen und ernsten politischen Hintergrund um? Wie sind dem gegenüber die Vergangenheitsbezüge im Epitaphios des Lysias über die im korinthischen Krieg gefallenen Athener einzuordnen, bei dem die Vergangenheitsbezüge im Dienst des Lobens nicht nur auf die Gefallenen, sondern auf das athenische Volk insgesamt stehen? Lassen sich durch den Vergleich unterschiedlicher Arten von Reden ergänzende Aspekte oder ein unterschiedlicher Nutzen von Vergangenheitsbezügen erkennen?
Bei Lysias steht außerdem die Verteidigungsrede im Mordfall gegen Eratosthenes im Blickpunkt. Eine Prozessrede lässt einen Teil des athenischen Alltags rekonstruieren und steht als juristischer Bereich ergänzend neben den politischen Reden. Hierbei soll untersucht werden, inwiefern in Prozessreden die Vergangenheit der Athener eine Rolle spielt. Um das Spektrum in diesem Untersuchungsbereich auszubreiten, soll die Prozessrede des Aischines Gegen Timarchos als Vergleich herangeholt werden.
Letztlich soll mit diesen Vergleichen deutlich werden, in welchem Nutzen Vergangenheitsbezüge insgesamt in den literarischen Denkmälern stehen und dass ein fester Grundgedanke über das Verständnis von Vergangenheit seitens der Rhetoren und ihren Zeitgenossen besteht.
Die Untersuchung der Reden erfolgt weitestgehend chronologisch unter Berücksichtigung der erwähnten Fragestellungen und genauere Details werden zu den einzelnen Autoren einleitend über den Untersuchungsaspekt gegeben, der jeweils im Vordergrund stehen soll.
2.1 Demosthenes
Eine Rede ist also gewissermaßen ein Spiegel ihrer Zeit- in bestimmter Hinsicht einer, der verzerrt, da unterschiedliche Faktoren auf die Darstellungsweise einfließen. Demosthenes war Redner und Staatsmann, somit ist für diese Frage sein politischer Standpunkt zu den zeitgenössischen Verhältnissen nicht unwesentlich, da er Demosthenes´ Darstellung der Vergangenheit und die Intention, die dahinter steht, beeinflusst. Deshalb soll hier in Kürze auf die politischen Verhältnisse, die zur Zeit dieses Rhetors präsent waren, eingegangen werden, damit seine Reden in ihrem zeitgenössischen Kontext gesehen werden können.
2.1.1 Politischer Kontext
In der Zeit des Demosthenes hat sich das antike Griechenland vom Zeitalter der griechischen Polis zum Hellenismus gewandelt1.
Die Zeit des Demosthenes kennzeichnet sich durch einige Versuche einer Neugliederung des politischen Machtaufbaus in Griechenland, die letztlich bis zum Verlust seiner Grundlage geführt hatte2. Der Zustand der Schwäche und der Abhängigkeit, der durch den Frieden 404 entstanden war, war für Athen kein Dauerzustand: Bald wurde wieder aktive Politik betrieben und eine Beteiligung am Einfluss auf die griechischen Angelegenheiten, der in allgemeiner Konkurrenz stand, fand wieder statt.
In demosthenischer Zeit herrschte ein Spannungsfeld der äußeren politischen Entwicklung und dem inneren Ringen des athenischen Geistes „um das Problem des Staates, der durch den Sturz erschüttert war, und um das Verhältnis von Mensch und Staat.“3 In den zeitgenössischen Kontext des Bestrebens um die Erneuerung des Staates ist Demosthenes einzuordnen.
Die Untersuchung der genannten Fragestellung soll anhand der politischen Reden des Demosthenes abgehandelt werden, da laut Jaeger die Überlieferungslage seiner Werke im Gegensatz zu den zusammenhängenden Darstellungen der Zeitgeschichte gut sind, wodurch die Nachwelt die Möglichkeit hat und den Versuch wagen muss, anhand dieser Quellen ein „möglichst unverfälschtes Abbild jener Zeit zu entwickeln“ 4. Außerdem sollen bei diesem Autor die politischen Reden im Fokus stehen, weil die zeitgenössische politische Geschichte im Blickpunkt stehen soll und die ausgewählten Reden für diesen Schwerpunkt den ertragreichsten Beitrag liefern können.
Es werden aus allen Reden diverse Textstellen herausgegriffen, die im Dienst ähnlicher oder unterschiedlicher Intentionen stehen, um schlussendlich ein abgerundetes Bild davon entwerfen zu können, in welcher Weise Demosthenes Vergangenheitsbezüge einsetzt und unter welchem Nutzen sie stehen. Die Frage des Nutzens der jeweiligen Vergangenheitsbezüge zieht die Frage nach der historischen Korrektheit mit sich und soll demnach auch beantworten, welchen Nutzen sie heute als historische Quelle einnimmt. Interessant in jenem Untersuchungszusammenhang ist zugleich die Frage, auf welche narrative Weise eine vergangene Situation geschildert wird, denn dies begründet letztlich auch den Nutzen einer Quelle für die Geschichtsschreibung mit.
Damit wird an einigen Stellen auch der Blick darauf gerichtet, ob es eine detaillierte Beschreibung der historischen Ereignisse gibt, die in erster Linie die Evozierung von Emotionen der Rezipienten erzielt, die zur Folge hätte, dass die historischen Fakten in den Hintergrund gestellt werden und mit rhetorischer Täuschungskraft primär eher die Überredung im Vordergrund steht; oder ob eine weitestgehend sachliche Beschreibung vorliegt, die das Gefühl vermittelt, mit belegbaren Fakten überzeugen zu wollen.
2.2 Demosthenes und die Reden gegen Philipp
Im Mittelpunkt jenes Übergangs von der Zeit der griechischen Polis zum Hellenismus stand der makedonische Herrscher Philipp II. im Mittelpunkt5. Die Beurteilung dieser Figur war bereits in seiner Zeit different, die sich zumeist in Extremen äußerte: Die einen liebten ihn, andere hassten ihn; dieses Bild spiegelt sich auch in zeitgenössischen Quellen wieder, wodurch eine Beurteilung der Person der heutigen Forschung auch aufgrund der lückenhaften Überlieferung schwer fällt.
Von Demosthenes liegt uns eine tendenziöse Beschreibung des Herrschers vor, wie sich anhand von einigen Textstellen zeigen wird. Um die Person des Herrschers neutral beurteilen zu können, müsste die Politik desselben untersucht werden. Jenes steht nicht im Fokus dieser Arbeit, daher wird bei der Untersuchung der Vergangenheitsbezüge der Blickpunkt darauf gelegt, wie Demosthenes den Herrscher aus seiner Perspektive darstellt und welche Intention er damit jeweils wahrscheinlich zu unterstreichen versucht.
Aufgrund der Tatsache, dass Demosthenes seine Reden auch als eigene Stellungnahme benutzt, was besonders deutlich in eben jenen Beschreibungen über Philipp II. sichtbar wird, sollten die Reden des Demosthenes nicht primär im Dienst der Ermittlung politischer Erkenntnisse gesehen werden, wie sich im Verlauf dieser Untersuchung zeigen wird.
2.2.1 ΚΑΤΑ ΦΙΛΙΠΠΟΥ Α´
Erste Rede gegen Philipp (IV)
In der ersten Philippischen Rede skizziert Demosthenes seine Aufforderung für eine Gegenwehr gegen Philipp und beschreibt mit Nachdruck die Fehler der athenischen Kriegshandlungen, deren Konsequenz die damalige athenische Unterlegenheit war.
Demosthenes thematisiert zu Beginn den Nutzen der Reden, der daraus besteht, über Probleme zu beraten6, somit also Lösungsstrategien zu finden, die eine problemgelöste Zukunft organisieren. Er begründet den Inhalt seiner Rede mit dem Versäumnis, dass seiner Meinung nach in den vergangenen Reden, die ebenfalls die in seiner Rede behandelten Probleme thematisierten, nicht der Problemlösung dienen konnten: „εἰ γὰρ ἐκ τοῦ παρεληλυθότος χρόνου τὰ δέονθ᾽ οὗτοι συνεβούλευσαν, οὐδὲν ἂν ὑµᾶς νῦν ἔδει βουλεύεσθαι.“7 Dieser Punkt unterstreicht, wie in der Untersuchung noch weiter deutlich werden soll, das allgemeine Grundschema, in das Demosthenes seine Reden setzt: er analysiert und kritisiert die jüngste Vergangenheit und zeigt deren fehlendes politisches Pflichtgefühl auf, durch das die Athener dem makedonischen Herrscher seine Machtzunahme ermöglichten. Demosthenes fokussiert den Vorwurf in diesem Fall noch auf „οὗτοι“ und nicht auf die Zuhörer, die Athener selbst, was ein Beispiel dafür geben soll, dass Demosthenes den Vorwurf in dieser Rede im Vergleich zu den anderen Reden, in denen sich die Intensivität der Vorwürfe steigert, noch in ein angenehmeres Licht stellt.
Er kontrastiert diese Kritik im Folgenden mit einem ruhmreicheren Vergangenheitsbezug auf die damalige Macht der Lakedaimonier8 und den Kampf gegen selbige, den die Athener gewonnen haben, weil sie damals ihr Augenmerk auf das, was sich tat, gerichtet haben.
Damit gibt Demosthenes einen Einblick in das Verständnis darüber, welche wichtige Rolle der Rede bei der Konstruktion von Vergangenheit beigeordnet wurde: Sie waren durch die Beratung, durch den `erforderlichen Rat´, der erste Schritt für ihr weiteres Vorgehen, wie sie ihre Zukunft und unsere Vergangenheit zunächst in der Theorie konstruieren wollten. Demosthenes verwendet den Vergangenheitsbezug an dieser Stelle also auch als Rahmen, in den er seine Handlungsanleitung für eine Veränderung der gegenwärtigen Verhältnisse setzt. Er betont, dass die fehlende Pflichterfüllung Grund für die kriegerische Unterlegenheit gegenüber Philipp sei9 und verweist auf Athens von Erfolg gekrönte Vergangenheit, als den Athenern einmal Pydna, Poteidaia, Methone und das ganze Gebiet im Umkreis gehörte und dass die Völker, die jetzt unter Philipps Herrschaft stehen, früher frei waren10.
Auch, so führt er aus11, habe Philipp nur mit der richtigen Einstellung seine Macht erreichen können. Damit pendelt sich eine Struktur bei der Verwendung von Vergangenheitsbezügen ein: Ein Tadel der gegenwärtigen politischen Situation wird mit einem erfolgreichen Bild aus der Vergangenheit kontrastiert und dadurch unterstrichen. Außerdem kennzeichnet Demosthenes somit neben der Beratung auch die sorgfältige Planung und politische Pflichterfüllung als Instrument für eine zukünftig erfolgreiche Vergangenheit. Fehlverhalten bei diesen Instrumenten führten seiner Ansicht nach zum jetzigen Zustand, den er seinem Auditorium in der Rede schildert.
Die Art und Weise, wie Demosthenes mit der kurzen Erwähnung der eroberten Städte in einem Satz schildert, ist äußerst knapp gehalten und gleicht einer eher nüchternen Aufzählung. Dies hat meines Erachtens für die Rezeption zur Folge, dass die Niederlage zwar natürlich präsent gemacht wird, um den Ernst der Situation insgesamt präzise zu unterstreichen, doch durch fehlende detaillierte Beschreibung werden nicht mehr emotionale Wirkungen des Zuhörers hervorgeholt als nötig, ähnlich wie es auch Quintilian beschreibt:
„Sic et urbium captarum crescit miseratio. Sine dubio enim qui dicit expugnatam esse civitatem complecitur omnia quaecumque talis fortuna recipit, sed in adfectus minus penetrat brevis hic velut nuntius. (...) Licet enim haec omnia, ut dixit, complectatur `eversio´, minus est tamen totum dicere quam omnia.“12
An dieser Stelle wie auch im Folgenden wird deutlich, dass Demosthenes in seiner Rede emotionale Reaktionsmuster beim Publikum narrativ nicht intensiv verfolgt.
Im weiteren Verlauf der Rede konzentriert sich Demosthenes an einigen Stellen auf die tendenziöse Darstellung Philipps II. Wie bereits erwähnt, ist bei Demosthenes keine neutrale Beschreibung des makedonischen Herrschers zu entnehmen: Philipp wird in Bezug auf sein strategisches Handeln positiv dargestellt, da er auch in augenscheinlich zunächst wenig Erfolg versprechenden Situationen den Mut und die Zuversicht behält13. Sein Handeln ist konsequent im Gegensatz zu den Athenern, Demosthenes fasst die Eigenschaften des Herrschers in Machtsucht und Gier zusammen und spricht am Ende aus, in welcher essenziellen Gefahr sich Athen befindet, wenn keine Handlungsinitiative erfolgt:
„ὁρᾶτε γὰρ, ὦ ἄνδρες Ἀθηναῖοι, τὸ πρᾶγµα, οἷ προελήλυθεν ἀσελγείας ἅνθρωπος, ὃς οὐδ᾽ αἵρεσιν ὑµῖν δίδωσι τοῦ πράττειν ἢ ἄγειν ἡσυχίαν, ἀλλ᾽ ἀπειλεῖ καὶ λόγους ὑπερηφάνους, ὥς φασι, λέγει, καὶ οὐχ οἷός ἐστιν ἔχων ἃ κατέστραπται µένειν ἐπὶ τούτων, ἀλλ᾽ ἀεί τι προσπεριβάλλεται, καὶ κύκλῳ πανταχᾖ µέλλοντας ἡµᾶς καὶ καθηµένους περιστοιχίζεται.“ 14
Diese Worte verdeutlichen die Gefahr, die Demosthenes in der Person des makedonischen Herrschers sah und auf die Demosthenes in allen Reden aufmerksam machen wollte. Einerseits wird mit diesen Worten die Unverfrorenheit markiert, mit der Philipp agierte, andererseits erinnert Demosthenes wiederum auch an die Würde und den Stolz des athenischen Volkes, das sich nur durch die ruhmreichere und tugendbehaftete Vergangenheit herausbilden konnte, jedoch nicht durch die Untätigkeit, die Demosthenes bei seinen Zeitgenossen kritisiert. Er erinnert damit ebenso, diesen Stolz aufrecht erhalten zu müssen, denn er spricht es im folgenden deutlich aus: „ἐγὼ µὲν γὰρ οἴοµαι τοῖς ἐλευθέροις µεγίστην ὰνάγκην τὴν ὑπέρ τῶν πραγµάτων αἰσχύνην εἶναι.“15 Das Gefühl der Schande gilt es also zu umgehen und dafür müssen sich die Athener auf ihre Vergangenheit zurückberufen. Die ruhmreiche Vergangenheit, deren Funktion, die hier bereits anklingt und in den folgenden Reden auch noch deutlicher wird, hat die Funktion, ein Vorbild zu geben, das in schlechten Zeiten an die eigentliche Größe erinnern soll und lehrt, welche Handlungsweisen den Erfolg definieren.
Letzten Endes relativiert Demosthenes die Leistung und damit die Autorität Philipps ein wenig, indem er sagt, der Herrscher habe nicht so sehr durch seine Stärke, sondern vielmehr nur durch die ἀµέλεια der Athener seine Machtstellung erreichen können16. Da der Status der Athener und der Grund für ihre momentane Situation so als veränderbar dargestellt wird, kann diese Rede nicht nur zur Vergegenwärtigung der Gefahr, die von Philipp ausgeht, gesehen werden, sondern auch als Motivation, den gegenwärtigen Zustand zum Besseren zu wenden. Welche konkreten Punkte zu verändern wären, beschreibt Demosthenes im weiteren Verlauf der Rede17.
Offensichtlich greift Demosthenes also in dieser Rede jeweils auf die Vergangenheit zurück, um seinem Auditorium ein Kontrastbild für die zeitgenössische Gegenwart aufzuzeigen, da die Beispiele aus der älteren Vergangenheit erfolgreiche Situationen der Athener illustrieren. So gesehen kann man in dem Geschichtsbild, das in der Rede offenbar wird, ein Dekadenzmodell sehen, das durch die Vernachlässigung bestimmter Werte und Tugenden Einzug in die Gegenwart fand.
Demosthenes sagt zwar weiter deutlich: „ἐπεὶ νῦν γε γέλως ἔσθ᾽ ὡς χρώµεθα τοῖς πράγµασιν“18, dafür gibt er aber auch konkrete Ratschläge, wie oben aufgeführt, wie seiner Meinung nach die Gegenwart wieder in einen erfolgreicheren Zustand, einen wie in der Vergangenheit, umgewandelt werden kann. Somit geht es dem Redner also nicht nur um eine Motivation, sondern auch um einen nüchternen Überzeugungsversuch, dass der aktuelle Kriegszustand und deren Handlungsweise nicht der athenischen Würde entspricht und dass dieser entsprechend verändert werden sollte, um die Verluste der jüngeren Vergangenheit nicht weiter einbüßen zu müssen:
„τοῦ πάσχειν αὐτοὶ κακῶς ἔξω γενήσεσθε, οὐχ ὥσπερ τὸν παρελθοντα χρόνον εἰς Λῆµνον καὶ Ἴµβρον ἐµβαλὼν αἰχµαλώτους πολίτας ὑµετέρους ᾤχετ᾽ ἒχων, πρὸς τῷ Γεραστῷ τὰ πλοῖα συλλαβὼν ἀµύθητα χρήµατ᾽ ἐξέλεξεν, τὰ τελευταῖ᾽ εἰς Μαραθῶν᾽ ἀπέβη καὶ τὴν ἱερὰν ἀπὸ τῆς χώρας ᾤχετ᾽ ἒχων τριήρη, ὑµεῖς δ᾽ οὔτε ταῦτα δύνασθε κωλύειν οὔτ᾽ εἰς τοὺς χρόνους, οὓς ἂν προθῆσθε, βοηθεῖν.“19
Damit wird auch offenbar, dass Demosthenes zwar einen Niedergang von der ruhmvollen Vergangenheit bis in die Gegenwart sieht, doch für die Zukunft noch Hoffnung zeichnet, wenn sich die Athener an ihr politisches Pflichtbewusstsein zurückerinnern und in ihren Taten lebendig werden lassen. Demosthenes vergleicht folgend den Ablauf der Feste mit dem der Feldzüge20: Die Organisation der Feste sei beispielgebend, weil ihr Ablauf durch Gesetze geregelt sei, die quasi das Fundament für Ordnung und damit verbunden ein Erfolg versprechendes Ergebnis bilden. Demosthenes thematisiert damit eine zirkuläre Form einer Vergangenheitskonstruktion, da Gesetze wiederkehrende Ereignisse nach einem bestimmten Muster im Ablauf regeln und in diesem spezifischen Fall die Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis in der Vergangenheit regelmäßig wiederbeleben. Im Kontrast beschreibt Demosthenes die Kriegsangelegenheiten als ἂτακτα, ἀδιόρθα, ἀόρισθ᾽21, was er durch die Alliteration deutlich betont. Er verdeutlicht an dieser Stelle somit nochmals die konkrete Forderung, die gemeinsame zukünftige Vergangenheit so zu konstruieren, wie das Volk es aktuell im Gemeinschaftswesen handhabt, i.e. mit Gesetzen und Ordnung, und dieses Erfolg versprechende Rezept auch wieder auf die militärischen Angelegenheiten anzuwenden, wie es die Vorfahren bereits vorgemacht haben.
Bis hierhin wurde somit deutlich, dass Demosthenes die Art und Weise, wie die athenische Politik in der zeitgenössischen Gegenwart geführt wurde, kritisiert und er den Bezug auf die ehrenvolle Vergangenheit als Aufforderung nutzt, an deren politische Handlungsweise wieder anzuknüpfen. Die Kritik bezieht sich bei ihm ausschließlich auf den Abschnitt der Vergangenheit, der noch eng an der zeitgenössischen Gegenwart liegt.
Es soll folgend exemplarisch ein positives Beispiel aus der noch jüngeren Vergangenheit herausgegriffen werden, mit dem Demosthenes betont, dass der Erfolg noch nicht allzu lange her sei: „ἔπειτ᾽ ἐνθυµητέον (...) ἡλίκην ποτ᾽ ἐχόντων δύναµιν Λακεδαιµονίων, ἐξ οὗ χρόνος οὐ πολύς, ὡς καλῶς καὶ προσηκόντως οὐδὲν ἀνάξιον ὑµεῖς ἐπράξατε τῆς πόλεως, ἀλλ᾽ ὑπεµείναθ᾽ ὑπὲρ τῶν δικαίων τὸν πρὸς ἐκείνους πόλεµον.“22 Damit motiviert er, dass einerseits der erfolgreiche Zustand noch nicht allzu lange her und damit noch einzuholen ist, außerdem sprechen Zitate wie dieses den nationalen Stolz an, der insgesamt an die ruhmreiche Vergangenheit erinnern soll.
Zur historischen Korrektheit der Vergangenheitsbezüge ist festzuhalten, dass nach Harding in der griechischen Rede Beispiele aus der Vergangenheit immer mit Vorsicht zu betrachten sind, da ein Redner einen Vergangenheitsbezug für seinen Zweck verzerren konnte: „As long as it sounded reasonable, it was likely to be accepted.“23.
2.2.2 Fazit zur Ersten Rede gegen Philipp
Damit soll prägnant festgehalten werden, welche historischen Ressourcen diese Quelle bietet: Es wurde gezeigt, dass die Vergangenheit der Vorfahren an den Nationalstolz der Athener erinnern soll und als Appell fungiert, das politische Pflichtbewusstsein von damals an die zeitgenössische Gegenwart anzupassen. In letzterem Fall stehen jüngere Vergangenheitsbezüge somit als Mahnung und kontrastive Kritik gegenüber der Gegenwart.
Dass die Vorfahren ein Reservoir an Erfolg versprechendem Rezepten ihren Nachfahren bereitgestellt haben, zeigt Demosthenes anhand des Beispiels über die Organisation der Feste, die durch die Gesetze, die eine Tradition aus der Vergangenheit darstellen, gut organisiert sind. Daraus folgt der Appell, diese bestehende Systematik und geordnete Handlungsweise auf den politischen Bereich zu übertragen. Somit haben Vergangenheitsbezüge die Funktion, den Rezipienten daran zu erinnern, wie es in ihrer Gegenwart eigentlich und idealiter sein sollte. Die historische Korrektheit der Vergangenheitsbezüge sind skeptisch zu betrachten, weil sie in erster Linie im Auftrag des Redners stehen, seine Nachricht, die er dem Publikum mitteilen will, mit ihrer Intention überzeugend zu vermitteln. Besonders auf die historische Korrektheit weiterer Vergangenheitsbezüge wird im folgenden Verlauf der Arbeit noch konzentrierter geachtet.
2.3 ΟΛΥΝΘΙΑΚΟΣ Α
Erste Olynthische Rede
Auch hier möchte ich in Kürze die Rede in ihren historischen Kontext situieren. Nachdem sich Olynth und Athen Ende des Jahres 352 v. Chr. angenähert hatten, kehrte Philipp aus Thrakien zurück und eroberte die Städte von Chalkidike24. Die Olynthier realisierten die Gefahr der Situation, in der sie sich befanden, boten infolgedessen den Athenern ein Bündnis an und baten sie um Hilfe. Demosthenes forderte in der ersten olynthischen Rede eine Hilfssendung von Athen aus. Die Hilfsleistung sollte darin bestehen, dass die chalkidischen Städte für Olynth erhalten blieben und Makedonien selber zu schädigen. Mittel dazu sollten Kriegsgelder sein.
Auch in der Ersten Olynthischen Rede prangert Demosthenes die Missstände in der athenischen Kriegsführung gegen Philipp an und mahnt zur Besserung, denn der Status der Athener gegenüber Philipp II. hatte sich nicht gebessert. Demosthenes setzt das inhaltliche Schema seiner Rede gegen Philipp zunächst fort und illustriert seine Wahrnehmung von Ursache und Wirkung in der Geschichte, nämlich dass die Handlungsweise der Athener erneut nicht die nötige Entschlossenheit im rechten Zeitpunkt gehabt hatten, um erfolgreich gewesen sein zu können25, denn die Situation steht an einem möglichen Wendepunkt, an dem Athener die Möglichkeit haben, ihre Fehler der vergangenen Handlungsstrategien abzulegen und die Stadt Olynth vor der Unterwerfung Philipps zu schützen.
Ich möchte an dieser Rede veranschaulichen, wie Demosthenes stets versucht, die Geschichte zu in ihren Zusammenhängen wiederzugeben und zu erklären, da er aufzeigt, was getan hätte werden müssen, um in der damaligen Gegenwart nicht in Niederlage zu stehen:
„εἰ γάρ, ὅθ' ἥκοµεν Εὐβοεῦσιν βεβοηθηκότες καὶ παρῆσαν Ἀµφιπολιτῶν Ἱέραξ καὶ Στρατοκλῆς ἐπὶ τουτὶ τὸ βῆµα, κελεύοντες ἡµᾶς πλεῖν καὶ παραλαµβάνειν τὴν πόλιν, τὴν αὐτὴν παρειχόµεθ' ἡµεῖς ὑπὲρ ἡµῶν αὐτῶν προθυµίαν ἥνπερ ὑπὲρ τῆς Εὐβοέων σωτηρίας, εἴχετ' ἂν Ἀµφίπολιν τότε καὶ πάντων τῶν µετὰ ταῦτ' ἂν ἦτ' ἀπηλλαγµένοι πραγµάτων. καὶ πάλιν ἡνίκα Πύδνα, Ποτείδαια, Μεθώνη, Παγασαί, τἄλλα (...) πολιορκούµεν' ἀπηγγέλλετο, εἰ τότε τούτων ἑνὶ τῷ πρώτῳ προθύµως καὶ ὡς προσῆκεν ἐβοηθήσαµεν αὐτοί, ῥᾴονι καὶ πολὺ ταπεινοτέρῳ νῦν ἂν ἐχρώµεθα τῷ Φιλίππῳ.“ 26
In diesem Abschnitt lässt sich gut zeigen, wie Demosthenes die Geschichte analysiert: Er legt seinen Zuhörern dar, dass die Taten der Geschichte immer in Abhängigkeit zueinander stehen. Mit diesem Beispiel sensibilisiert er die Athener dafür, dass sie zwingend ihren Blick und ihre Handlungsinitiative auf die zeitgenössische Gegenwart richten müssen. Eine möglichst gute Vergangenheit ist Voraussetzung für eine gute Gegenwart und somit sind die Wirkungen der vergangenen Taten immer Bestandteil der Gegenwart, wie die Athener in ihrem zeitgenössischen Zustand erfahren müssen:
„νῦν δὲ τὸ µὲν παρὸν ἀεὶ προιέµενοι, τὰ δὲ µέλλοντ' αὐτόµατ' οἰόµενοι σχήσειν καλῶς, ηὐξήσαµεν, ὦ ἄνδρες Ἀθηναῖοι, Φίλιππον ἡµεῖς καὶ κατεστήσαµεν τηλικοῦτον ἡλίκος οὐδείς πω βασιλεὺς γέγονεν Μακεδονίας.“ 27
Durch diese Skizzierung wird sein Verständnis von Geschichte und seine Mahnung deutlich, dass alle Phasen der Zeitgeschichte miteinander im kausalen Zusammenhang stehen und die Vergangenheit in den Blickpunkt genommen werden muss, um die Situation in der Gegenwart zu verstehen und die Zukunft besser gestalten zu können.
So zeigt sich also, dass Demosthenes die Vergangenheit genau analysiert, um nach den Gründen für den Zustand der zeitgenössischen Gegenwart suchen zu können und in der Hinsicht gewissermaßen einem wissenschaftlichem Untersuchungsansatz folgt. Gleichzeitig aber zeigt die Passage, dass Demosthenes daneben stets versucht, Emotionen zu wecken, um somit die Worte seiner Rede beim Publikum wirken lassen zu können: Während Demosthenes von der entschlossenen und erfolgreichen Hilfsexpedition für Euboia spricht, erzählt er aus der Wir-Perspektive; im Fall der Stadt Amphipolis, die von Philipp eingenommen wurde, geht er in die Ihr- Perspektive über und formuliert mit dieser direkten Ansprache einen impliziten Vorwurf gegenüber den Athenern, falsch gehandelt zu haben. Ebenso betont er durch diesen Wechsel der Perspektive, dass es für das Publikum um seine eigene Sache geht, über die gesprochen wird. Durch den Wechsel zu der direkten Ansprache und die Aussicht, was passiert wäre, wenn entschlossen gehandelt worden wäre -“καὶ πάντων τῶν µετὰ ταῦτ' ἂν ἦτ' ἀπηλλαγµένοι πραγµάτων“ 28 sowie „καὶ πολὺ ταπεινοτέρῳ νῦν ἂν ἐχρώµεθα τῷ Φιλίππῳ“ 29 - hebt Demosthenes das Versäumnis in der Vergangenheit hervor und versucht damit, die Athener für ihre fehlerhafte Handlungsplanung bzw. -einstellung zu sensibilisieren. Die Erwähnung der erfolgreichen Hilfsexpedition für Euboia rückt in den Hintergrund, was die Intention der Publikumsbeeinflussung durch die Hervorhebung des negativen Zustandes, die die Athener quasi für den Ernst der Lage alarmieren soll, verstärkt.
Ein ähnliches Schema bezüglich der Wiedergabe der Geschichte bildet sich an späterer Stelle ab, wenn Demosthenes zu den Athenern spricht: „εἰ δὲ προησόµεθ', ὦ ἄνδρες Ἀθηναῖοι, καὶ τούτους τοὺς ἀνθρώπους, εἶτ' Ὄλυνθον ἐκεῖνος καταστρέψεται, φρασάτω τις ἐµοὶ τί τὸ κωλῦον ἔτ' αὐτὸν ἔσται βαδίζειν ὅποι βούλεται.“ 30 Damit macht er auf die damals gegenwärtige Gefahr aufmerksam, die den Athenern bevorsteht, wenn sie weiter so agieren wie in der fehlerhaften Handlungsweise der jüngsten Vergangenheit. Um den Ernst der Lage zu untermalen, erinnert er an Philipp: „ἆρα λογίζεταί τις ὑµῶν, ὦ ἄνδρες Ἀθηναῖοι, καὶ θεωρεῖ τὸν τρόπον δι' ὃν µέγας γέγονεν ἀσθενὴς ὢν τὸ κατ' ἀρχὰς Φίλιππος;“ 31 und beschreibt prägnant den Machtaufstieg des Königs:
„τὸ πρῶτον Ἀµφίπολιν λαβών, µετὰ ταῦτα Πύδναν, πάλιν Ποτείδαιαν, Μεθώνην αὖθις, εἶτα Θετταλίας ἐπέβη· µετὰ ταῦτα Φεράς, Παγασάς, Μαγνησίαν, πάνθ' ὃν ἐβούλετ' εὐτρεπίσας τρόπον ᾤχετ' εἰς Θρᾴκην· εἶτ' ἐκεῖ τοὺς µὲν ἐκβαλὼν τοὺς δὲ καταστήσας τῶν βασιλέων ἠσθένησε· πάλιν ῥᾴσας οὐκ ἐπὶ τὸ ῥᾳθυµεῖν ἀπέκλινεν, ἀλλ' εὐθὺς Ὀλυνθίοις ἐπεχείρησεν. τὰς δ' ἐπ' Ἰλλυριοὺς καὶ Παίονας αὐτοῦ καὶ πρὸς Ἀρύββαν καὶ ὅποι τις ἂν εἴποι παραλείπω στρατείας.“32
Durch diese knappe Darstellung und nüchtern wirkende Aneinanderreihung der Geschehnisse, bei der ausschmückende Details fehlen, suggeriert er dem Zuhörer das Gefühl, dass der König durch entschlossenes Handeln seinen Machtstatus quasi in logischer Konsequenz oder auch mit einer gewissen Leichtigkeit erreicht hat. Dadurch kennzeichnet er auch erneut sein Verständnis, dass ein bestimmtes Pflichtgefühl in der Handlungsweise logischerweise zum Erfolg führen muss und dass dieses Schema genauso gut von den Athenern übernommen werden kann bzw. muss, denn andernfalls schlussfolgert er logisch für die Zukunft: „πρὸς θεῶν, τίς οὕτως εὐήθης ἐστὶν ὑµῶν ὅστις ἀγνοεῖ τὸν ἐκεῖθεν πόλεµον δεῦρ' ἥξοντα, ἂν ἀµελήσωµεν;“ 33 Mit diesen direkten und alarmierenden Worten bringt Demosthenes seine Kernaussage auf den Punkt: Wenn sich die Gegenwart nicht ändert, bleibt die zukünftige Vergangenheit schlecht, die somit kein Fundament für eine langfristig erfolgreiche Zukunft sein kann. Letztlich appelliert Demosthenes dadurch, den Sinn für ein Geschichtsbewusstseins zu wecken. Er plädiert also durch Vergangenheitsbezüge wie diese zur Vergegenwärtigung der Vergangenheit und will erklären, dass ohne diese Vergegenwärtigung der Zusammenhang zwischen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr möglich ist; wenn man eine Schlussfolgerung zu diesen Gedanken ergänzt, kann sicher gesagt werden: sobald dieser Zusammenhang nicht mehr besteht und gesehen wird, lebt eine Kultur ohne historisches Bewusstsein, weil es mental vorwiegend in einer einzigen Phase lebt und somit die Handlungen und Resultate der anderen beiden Phasen verdrängt. Natürlich muss dazu gesagt sein, dass in derzeitiger Zeit ein wirkliches Geschichtsbewusstsein nicht möglich war, da die Erinnerung und Zeugnisse der Vergangenheit nicht so weit zurück reichte wie in der heutigen Zeit, deshalb darf dennoch in diesem Kontext von einem Konzept eines kleinen Geschichtsbewusstsein gesprochen werden, das Demosthenes vielleicht vor Augen hatte.
Nachdem der Redner bei der Frage, die sich in der gegenwärtigen Situation ergab, ob Olynth von den Athenern vor Philipps Eroberung geschützt werden kann oder nicht, in der Rede angekommen ist, verweist er in die Vergangenheit Philipps und schließt diese zusammenhängende Passage über Olynth mit jener zitierten rhetorischen Frage ab, die in eine dunkle Zukunft zeigt.
Aufgrund der Tatsache, dass er bspw. bei der Beschreibung des Machtaufstiegs Philipps34 oder beim Überfall Philipps auf Lemnos und Gerastos in der Ersten Rede gegen Philipp 35 keine detaillierte Beschreibung der Ereignisse wiedergibt, fehlen somit auch subjektive Ausschmückungen, die die Wahrheit an den Stellen verfälschen könnten. Demosthenes übernimmt die Rolle eines Ratgebers, der mit einem didaktischen Gestus zu überzeugen versucht und seine eigene Meinung mit der Rede vermitteln will:
„φηµὶ δὴ διχῇ βοηθητέον εἶναι τοῖς πράγµασιν ὑµῖν, τῷ τε τὰς πόλεις τοῖς Ὀλυνθίοις σῴζειν καὶ τοὺς τοῦτο ποιήσοντας στρατιώτας ἐκπέµπειν, καὶ τῷ τὴν ἐκείνου χώραν κακῶς ποιεῖν καὶ τριήρεσι καὶ στρατιώταις ἑτέροις· εἰ δὲ θατέρου τούτων ὀλιγωρήσετε, ὀκνῶ µὴ µάταιος ἡµῖν ἡ στρατεία γένηται.“36
Demosthenes zeigt den athenischen Zuhörern also die notwendigen Bedingungen, die seiner Ansicht nach erfüllt werden müssen, um eine Wendung zum besseren Zustand erreichen zu können.
2.3.1 Fazit zur Ersten Olynthischen Rede
An dieser Rede konnte deutlich gemacht werden, dass Demosthenes sich an einigen Stellen als Analytiker zeigt, der die Geschichte mit allen Zeitphasen in einen Zusammenhang setzt. Er untersucht die Vergangenheit und die Gegenwart, vergleicht sie mit der erfolgreichen Geschichte Philipps II. und summierend daraus erstellt er eine Aussicht in die athenische Zukunft. Damit kann der Vergangenheitsbezug allgemein bei Demosthenes nicht nur als Mahnung gelten, sondern schlichtweg auch zunächst als didaktisches Argument und als Impuls, ein Bewusstsein für Geschichte zu entwickeln.
2.4 ΟΛΥΝΘΙΑΚΟΣ Β
Zweite Olynthische Rede
In der Zweiten Olynthischen Rede legt Demosthenes den Fokus weiter auf die Darstellung Philipps II. und überlegt, wie er ihn gemäß seiner eigenen Intention, die er verfolgt, darstellen sollte. Mit folgenden Worten gesteht er ein, dass das Herrscherbild des Monarchen in damaliger Zeit aus neutraler Perspektive positiv ist:
„Τὸ µὲν οὖν ὦ ἄνδρες Ἀθεναῖοι τὴν Φιλίππου ῥώµην διεξιέναι καὶ διὰ τούτων τῶν λόγων προτρέπειν τὰ δέοντα ποιεῖν ὑµᾶς, οὐχὶ καλῶς ἔχειν ἡγοῦµαι. διὰ τί; ὅτι µοι δοκεῖ πάνθ᾽ ὅσ᾽ ἂν εἴποι τις ὑπὲρ τούτων, ἐκείνῳ µὲν ἔχειν φιλοτιµίαν, ἡµῖν δ᾽οὐχὶ καλῶς πεπρᾶχθαι.“ 37
Jedoch markiert er mit den letzten Worten, warum er keine neutrale Beschreibung des Herrschers abhandeln will. Was hat das für Konsequenzen der Vergangenheitsbezüge? Da Demosthenes die Darstellung Philipps II. auch hier mit Vergangenheitsbezügen verbindet, soll diese Frage hier Beachtung finden.
Dem Rezipienten fällt auf, wie bereits festgehalten wurde, dass Demosthenes die Beschreibung von Philipps Stärke narrativ so ausschmückt, dass dessen Eigenschaften aus athenischer Sicht nicht mehr positiv wirken. Der Grund für dieses Vorgehen liegt auf der Hand: Demosthenes sagt selbst, dass er durch diese negative Beschreibung dem Volk die Augen für Philipps politisches Ziel öffnen will: der Raub der Freiheit Griechenlands. Demosthenes will also bewusst ein sehr intensiv subjektiv geprägtes Bild des makedonischen Herrschers vermitteln, nämlich das eines Barbaren, der Griechenland die Freiheit rauben wollte. Die Darstellungen des Herrschers und damit verbunden seiner vergangenen Taten sind somit gefärbt von Demosthenes´ persönlichem tendenziösen Standpunkt, den er gegenüber Philipp II. einnimmt, anders als bei anderen, wie beispielsweise Isokrates, der den makedonischen Herrscher durchaus unter einem panhellenischem Gedanken begrüßen konnte. Dabei stellt sich Demosthenes dem Zuhörer gleichzeitig als jemanden dar, der Neutralität zulassen möchte und Philipp seine Wertschätzung zugestehen würde, wenn er sagt: „ἐγὼ γὰρ ὦ ἄνδρες Ἀθηναῖοι σφόδρ᾽ ἂν ἡγούµην καὶ αὐτὸς φοβερὸν τὸν Φίλιππον καὶ θαυµαστόν, εἰ τὰ δίκαια πράττονθ᾽ ἑώρων ηὐξηµένον (...)“38 Mit „νῦν δὲ θεωρῶν καὶ σκoπῶν εὑρίσκω“39 suggeriert er beim Zuhörer das Gefühl, eine gewisse Sachlichkeit voraussetzen zu können, da er die Situation mit gründlicher Betrachtung zu analysieren sucht. Dabei entschlüsselt er die Gutgläubigkeit der Athener als die Schwachstelle, die sich Philipp zu eigen gemacht hatte, als einige Leute die Olynther fortgewiesen hatten, die um 358 v. Chr. mit den Athenern verhandeln wollten, um den Krieg auf diplomatische Weise zu beenden; jene Abfolge ist historisch belegbar40. 356 v. Chr. hatten sich die Illyrer, Thraker und Athener zusammengeschlossen; mit Makedonien bot sich für Olynth ein geeigneterer Bündnispartner, da deren Interessenlage miteinander vereinbar waren41. Im Folgenden gibt Demosthenes einen kurzen Abriss des damaligen weiteren Verlaufs42 und macht deutlich, dass Philipp alle, die mit ihm in Beziehung treten, betrügt und durch Täuschung seine Macht erweitert hat. Die negative Beschreibung des makedonischen Herrschers wird bis zum Ende der Rede weiter intensiv verfolgt43 und Demosthenes konstatiert seine Forderung, den Olynthern helfen zu müssen44.
[...]
1 Vgl. Wüst, F. R.: Philipp II von Makedonien und Griechenland in den Jahren von 346 bis 388. 1938: V f.
2 Vgl. Ebd. S. 8 f.
3 Wüst, 1938: S. 9.
4 Vgl. Jaeger, W.: Demosthenes. 1939: S. 1 f.
5 Vgl. Wüst, 1938: V f.
6 Dem. ΚΑΤΑ ΦΙΛΙΠΠΟΥ Α´: 1. In den folgenden Fußnoten wird diese Rede mit IV gekennzeichnet.
7 Dem. IV: 1
8 Dem. IV: 2
9 Dem. IV: 1 ff.
10 Dem. IV: 4.
11 Dem. IV: 5.
12 Quint. Inst. 8.3.67 f.
13 Dem. IV: 5.
14 Dem. IV: 9.
15 Dem. IV: 10.
16 Dem. IV: 11.
17 Dem. IV: 13 ff.
18 Dem. IV: 25.
19 Dem. IV: 34.
20 Dem. IV: 35 f.
21 Dem. IV: 36.
22 Dem. IV: 3.
23 Harding, P.: Rhetoric and Politics in Fourth-Century Athens. In: Phoenix 41. 1987: S. 34.
24 vgl. Demosthenes. Ausgewählte Reden: Für den Schulbuchgebrauch erklärt von C. Rehdantz und F. Blass, Band 1, Teil 1, 1893: S. 39 ff.
25 Dem. ΟΛΥΝΘΙΑΚΟΣ A (I): 8 f. In den folgenden Fußnoten wird diese Rede mit I gekennzeichnet.
26 Dem. I: 8 f.
27 Dem. I: 9.
28 Dem. I: 8.
29 Dem. I: 9.
30 Dem. I: 12.
31 Dem. I: 12.
32 Dem. I: 12 f.
33 Dem. I: 15.
34 Vgl. Dem. I: 12, 13.
35 Dem. I: 34.
36 Dem. I: 17 f.
37 Dem. ΟΛΥΝΘΙΑΚΟΣ B (II), 3. In den folgenden Fußnoten wird diese Rede mit II gekennzeichnet.
38 Dem. II: 6.
39 Dem. II: 6.
40 Vgl. auch M. Gude: A History Of Olynthos, with a prosopographia and testimona. 1933: S. 32f.
41 Vgl. Beck, H.: Polis und Koinon: Untersuchungen zur Geschichte und Struktur der griechischen Bundesstaaten im 4. Jh. v. Chr. In: Historia / Einzelschriften 114. 1997: S. 158.
42 Dem. II: 7 f.
43 Vgl. Dem. II: 10;19 f.
44 Dem. II: 11.
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