In den letzten 20 Jahren hat der Begriff der „Zivilgesellschaft“ an Aktualität gewonnen. In Osteuropa wurde sie zu einer Antwort auf die Jahrzehnte währende Gleichmacherei der kommunistischen Regime. Auch die russische Politik und Öffentlichkeit hat die Anliegen der Zivilgesellschaft begriffen. Die russische Verfassung legt dafür ein Zeugnis ab. Inwieweit jedoch die Ideen der großen theoretischen Verfechter der Zivilgesellschaft in der russischen Verfassungswirklichkeit realisiert wurden, ist nicht nur eine ob ihrer Aktualität zu stellende Frage. Wenn man die russischen Perspektiven verstehen möchte, muss man inzwischen auch den Faktor Zivilgesellschaft in die Prognosen einbeziehen.
Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, die aktuelle Lage Russlands hinsichtlich dessen zivilgesellschaftlicher Entwicklung vorzustellen und zu kommentieren. Eine besondere Aufmerksamkeit kommt dabei der Region Krasnodar (synonym dazu Kuban) im Südwesten des Landes (Nordkaukasus) zu. Als eine multiethnisch geprägte Region, die sich nicht im Einflussbereich der Metropolen Moskau oder Sankt Petersburg befindet, repräsentiert sie am treffendsten die gesamtrussische Situation. Nichtsdestotrotz darf auch der Hinweis nicht fehlen, dass es in Russland starke Differenzen sowohl positiver als auch negativer Art gibt.
Die Arbeit hebt an mit einer Erläuterung des theoretischen Hintergrundes, um die Zivilgesellschaft als soziales Phänomen und als historischen Begriff fassbar zu machen. Die Vorstellung der unterschiedlichen Bereiche der Aktivität der Zivilgesellschaft im Abschnitt III.2. liefert einen groben Überblick über die russlandweit konfliktbeladenen Prozesse der Entstehung einer russischen Zivilgesellschaft auf den Gebieten der Umwelt, Öffentlichkeit, Demokratie und Soziales. Ein fünfter Bereich der Aktivität der Zivilgesellschaft, nämlich die Menschenrechte, wird an Hand der vier größten kubaner Nichtregierungsorganisationen vorgestellt, wobei ihre zivilgesellschaftlichen Funktionsleistungen erläutert werden. Die erarbeiteten Fakten fließen abschließend in eine wertende Schlussfolgerung ein.
Obwohl sich die vorliegende Arbeit auf möglichst aktuelle Befunde stützt, kann kein Anspruch auf momentane Geltung der aufgeführten Sachverhalte erhoben werden.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Konzept der Zivilgesellschaft
1. Hauptkonzepte der Zivilgesellschaft
2. Aktuelle Definitionen des Begriffs
3. Idealtypen der Zivilgesellschaft im Systemwechsel
III. Zivilgesellschaft in Russland
1. Von der Idee zur Verwirklichung?
2. Bereiche der Aktivität der Zivilgesellschaft
2.1. Umwelt – Umweltschützer zwischen Kooperation und Opposition
2.2. Öffentlichkeit – Massenmedien als Machterhaltungsinstrument der Eliten
2.3. Demokratie – Zivilgesellschaftliches Potential der Bürgerkammer
2.4. Soziales – Tver als eine Stadt mit russlandweitem Tendenzcharakter
2.5. Russische Heterogenität
3. Funktionsleistungen der Zivilgesellschaft am Beispiel der Menschenrechtsorganisationen
3.1. Allgemeine Funktionsleistungen
3.2. Funktionsleistungen der Menschenrechtsorganisationen in der Region Krasnodar
3.2.1. Menschenrechte „auf russisch“?.
3.2.2. NGO „Južnaja volna“ – „Südwelle“
3.2.3. NGO „Škola mira“ – „Schule des Friedens“
3.2.4. NGO „Krasnodarskij pravozaščitnyj centr“ – „Menschenrechtszentrum von Krasnodar“
3.2.5. NGO „Vatan“ – „Heimat“
IV. Fazit
V. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
In den letzten 20 Jahren hat der Begriff der „Zivilgesellschaft“ an Aktualität gewonnen. In Osteuropa wurde sie zu einer Antwort auf die Jahrzehnte währende Gleichmacherei der kommunistischen Regime. Auch die russische Politik und Öffentlichkeit hat die Anliegen der Zivilgesellschaft begriffen. Die russische Verfassung legt dafür ein Zeugnis ab. Inwieweit jedoch die Ideen der großen theoretischen Verfechter der Zivilgesellschaft in der russischen Verfassungswirklichkeit realisiert wurden, ist nicht nur eine ob ihrer Aktualität zu stellende Frage. Wenn man die russischen Perspektiven verstehen möchte, muss man inzwischen auch den Faktor Zivilgesellschaft in die Prognosen einbeziehen.
Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, die aktuelle Lage Russlands hinsichtlich dessen zivilgesellschaftlicher Entwicklung vorzustellen und zu kommentieren. Eine besondere Aufmerksamkeit kommt dabei der Region Krasnodar (synonym dazu Kuban) im Südwesten des Landes (Nordkaukasus) zu. Als eine multiethnisch geprägte Region, die sich nicht im Einflussbereich der Metropolen Moskau oder Sankt Petersburg befindet, repräsentiert sie am treffendsten die gesamtrussische Situation. Nichtsdestotrotz darf auch der Hinweis nicht fehlen, dass es in Russland starke Differenzen sowohl positiver als auch negativer Art gibt.
Die Arbeit hebt an mit einer Erläuterung des theoretischen Hintergrundes, um die Zivilgesellschaft als soziales Phänomen und als historischen Begriff fassbar zu machen. Die Vorstellung der unterschiedlichen Bereiche der Aktivität der Zivilgesellschaft im Abschnitt III.2. liefert einen groben Überblick über die russlandweit konfliktbeladenen Prozesse der Entstehung einer russischen Zivilgesellschaft auf den Gebieten der Umwelt, Öffentlichkeit, Demokratie und Soziales. Ein fünfter Bereich der Aktivität der Zivilgesellschaft, nämlich die Menschenrechte, wird an Hand der vier größten kubaner Nichtregierungsorganisationen vorgestellt, wobei ihre zivilgesellschaftlichen Funktionsleistungen erläutert werden. Die erarbeiteten Fakten fließen abschließend in eine wertende Schlussfolgerung ein.
Obwohl sich die vorliegende Arbeit auf möglichst aktuelle Befunde stützt, kann kein Anspruch auf momentane Geltung der aufgeführten Sachverhalte erhoben werden.
II. Konzept der Zivilgesellschaft
1. Hauptkonzepte der Zivilgesellschaft
Das Phänomen der Zivilgesellschaft ist im Abendland schon seit mehreren Jahrhunderten Gegenstand von philosophischen, soziologischen und politologischen Betrachtungen. Zu den wichtigsten zivilgesellschaftlichen Theoretikern zählen John Locke (1632-1704), Charles Montesquieu (1689-1755), Alexis de Tocqueville (1805-1859), Ralf Dahrendorf (*1929) und Jürgen Habermas (*1929). Wolfgang Merkel und Hans-Joachim Lauth stellen in ihrem Aufsatz „Systemwechsel und Zivilgesellschaft: Welche Zivilgesellschaft braucht die Demokratie?“[1] die wichtigsten Zivilgesellschaftskonzepte vor und entwickeln eine Typologie von Zivilgesellschaften und ihren spezifischen Funktionsleistungen. Die vorliegende Arbeit rekurriert in theoretischer Hinsicht auf den genannten Aufsatz.
John Locke, der zu den Begründern der liberalen Tradition der Demokratie gezählt wird[2], entwarf in seiner „Zweiten Abhandlung über die Regierung“ „eine naturrechtlich fundierte Gesellschafts- und Staatstheorie“[3]. Grundlagen dieser Theorie waren nach Manfred G. Schmidt die „Vorstellung von der natürlichen Freiheit und Gleichheit des Menschen, das Recht jedes Einzelnen auf Eigentum, worunter Locke Leben, Freiheit und Vermögen versteht, sodann die religiöse Toleranz, ferner die Suprematie der Gesellschaft über das Politische, überdies die Herrschaft des Rechts, Gewaltentrennung zwischen Legislative und Exekutive, weiterhin das Widerstandsrecht der Bürger gegen jede unrechtmäßige Regierung und überdies das Regieren auf der Basis der Zustimmung des Staatsvolkes (government by consent), mit eng begrenztem Staatszweck und begrenzten Machtmitteln der öffentlichen Gewalt“[4]. Locke postuliert damit in erster Linie die Schaffung einer unabhängigen gesellschaftlichen Sphäre in Abgrenzung zum Staat. Die Leitlinie dieser Sphäre soll der Schutz der negativen Freiheit der Bürger darstellen.
Die bei Locke ungelöste Frage nach der Vermittlung der gesellschaftlichen und der staatlichen Sphäre wird von Charles Montesquieu aufgegriffen. Dieser bringt ein komplexes „Modell der Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung“ ein, in dem gesellschaftliche Netzwerke, so genannte „corps intermédiaires“, als kontrollierende Gegengewalten die Zentralautorität einschränken respektive korrigieren. Diese unabhängigen aber rechtlich geschützten Gebilde kann man sich als „amphibische“ Körperschaften vorstellen, die sich sowohl innerhalb als auch außerhalb der politischen Struktur entfalten. Durch eine solche Verzahnung der zwei Sphären wird die größtmögliche Freiheit des Bürgers bei gleichzeitiger Sicherung des rechtlichen Rahmens ermöglicht.[5]
Auf die Eigenschaften und Funktionen dieser „freien Assoziationen“ geht Alexis de Tocqueville in seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika“ (1835-40) ein. Für ihn sind sie die Schulen der Demokratie, da sie den Bürger zu demokratischem Denken und zivilem Verhalten durch die alltägliche Praxis erziehen. Um die Demokratie einüben zu können, müssen diese Assoziationen so beschaffen sein, dass sie als Orte der Selbstregierung fungieren können. Dies bedeutet konkret, dass sie nicht übermäßig groß, dafür aber zahlreich sein müssen. Weiterhin ist es wichtig, dass die Assoziationen auf allen politischen Ebenen verteilt sind. Damit wird insbesondere die lokale Ebene bedacht. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, dann können die zivilen Vereinigungen ihre Wirkungen entfalten: „Wertebildung und Werteverankerung von Bürgertugenden wie der Toleranz, der wechselseitigen Akzeptanz, der Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und des Vertrauens sowie der Zivilcourage“. Die sich daraus ergebende Stärke der freien Assoziationen und ihrer Netzwerke drückt sich auf die Resistenzfähigkeit „gegenüber autoritären Versuchungen des Staates“ aus.[6]
Ralf Dahrendorf, der an Tocqueville anknüpft, betont in seinem Konzept der Bürgergesellschaft den Initiativcharakter, den die Zivilgesellschaft haben muss.[7] Individuen bilden durch ihre Entscheidungen zur Partizipation einzelne Mosaiksteine, aus denen die Zivilgesellschaft sich erzeugt und reproduziert.
Für Jürgen Habermas ist es eine wesentliche Funktion der Zivilgesellschaft, dass sie „den Bereich der Interessenartikulation und Interessenaggregation durch den Aufbau einer „vorinstitutionellen“ pluralistischen Interessenvermittlung“ erweitert. Darin würden vor allem benachteiligte und schwer organisierbare Interessen die Möglichkeit eines öffentlichen Raums erhalten. Zum Kern der Habermasschen Zivilgesellschaft gehören „vor allem spontan entstandene Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen, die die gesellschaftlichen Problemlagen des privaten Lebensbereichs finden, aufnehmen, kondensieren und lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weiterleiten“[8].
Die genannten Konzepte resultieren in einem Katalog zivilgesellschaftlicher Demokratisierungspotentiale, die im Abschnitt III.3.1. vorgestellt werden.
2. Aktuelle Definitionen des Begriffs
Nach Manfred G. Schmidt ist die Zivilgesellschaft ein unterschiedlich definierter Begriff der Politischen Philosophie für Soll- oder Ist-Zustände politischer Herrschaftsordnungen. Das Gemeinsame solcher Herrschaftsordnungen ist:
- „Eine gesellschaftliche und politische Ordnung, in der zwischen Bürger und Regierung Institutionen treten, die zugleich Rechte schützen und Interessen authentisch vermitteln
- Ein durch gesicherte Mitsprache und Mitwirkungsrechte der Bürger festgelegter öffentlicher Bereich, in dem gesellschaftliche Interessen sich in staatsunabhängigen Assoziationen frei organisieren und artikulieren können
- Eine Politik, deren Funktion und Reichweite im Unterschied zur tendenziellen Totalpolitisierung autoritärer Regime auf einen abgegrenzten öffentlichen Bereich unter Wahrung weitgehender Autonomie des Gesellschaftlichen und des Privaten beschränkt ist.“[9]
Nach Merkel/Lauth besteht die Zivilgesellschaft aus einer „Vielzahl pluraler, auf freiwilliger Basis gegründeter Organisationen und Assoziationen [...] im Zwischenbereich von Privatsphäre und Staat, [...] die ihre spezifischen materiellen und normativen Interessen artikulieren und autonom organisieren“[10]. Sie sind auf öffentliche Angelegenheiten ausgerichtet und orientieren sich am kommunikativen Handeln.[11]
Weiterhin existiert in Anlehnung an Taylor die Grundannahme, „dass eine vom Staat unabhängige gesellschaftliche Sphäre nur dann als Zivilgesellschaft fungiert, wenn sie Einfluss auf die politische und gesellschaftliche Willensbildung auszuüben vermag“[12]. Eine solche Einflussnahme begreift sich allerdings nicht als das Streben nach politischen Ämtern oder nach persönlichem Gewinn. Sie lässt sich vielmehr auf die Formel bringen: „privat, aber nicht gewinnorientiert, gemeinnützig, aber nicht staatlich“[13]. Damit fallen solche Gruppen wie Familien und Unternehmen, politische Parteien, Parlamente und staatliche Verwaltungen nicht unter den Begriff der Zivilgesellschaft. Die geforderte Unabhängigkeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen von der staatlichen Sphäre darf nicht als vollkommene Unabhängigkeit missverstanden werden. Beispielsweise sind viele NGOs „auf staatliche und zwischenstaatliche, also auf öffentliche Förderung angewiesen“[14].
Der normative Minimalkonsens, den die Zivilgesellschaft nach Merkel/Lauth erfüllen muss, ist die Anerkennung des Anderen (Toleranz), das Prinzip der Fairness und der Verzicht auf Anwendung der physischen Gewalt.[15]
3. Idealtypen der Zivilgesellschaft im Systemwechsel
Merkel/Lauth sehen insgesamt drei nach interner Struktur, Gestalt und Kommunikation unterschiedene Zivilgesellschaften. Je nachdem in welcher Phase des Regimewechsels sich ein Land befindet, braucht es die entsprechende Zivilgesellschaft. Man unterscheidet die strategische, konstruktive und reflexive Zivilgesellschaft, wobei ihr gemeinsames Ziel die Herstellung, Konsolidierung und Vertiefung der Demokratie ist.
Die strategische Zivilgesellschaft kommt in der Liberalisierungsphase des autokratischen Regimes zum Zuge. Es wird dabei besonders einem strategisch klugen Vorgehen und einer „cleavage-übergreifenden“ Struktur der Zivilgesellschaft Bedeutung beigemessen. Die Zivilgesellschaft muss als ein aufeinander abgestimmter Akteur nach außen treten, ohne dadurch eine Gegenreaktion des autoritären Staates zu provozieren. Daher kann es in dieser Phase nützlich sein, wenn die Zivilgesellschaft „ihr regimekritisches Potential zunächst zurückhaltend einsetzt und nicht eine frühzeitige offene Konfrontation mit dem Herrschaftsapparat [...] riskiert“. Auch darf die Zivilgesellschaft das Regime nicht durch die Übernahme von Aufgaben entlasten. In dieser Phase beschränkt sie sich „weitgehend auf die in der Lockeschen Funktion genannte Sicherung der privaten Sphäre und ihrer konstituierenden negativen Freiheitsrechte“.[16]
Während der Institutionalisierungsphase der Demokratie sollte die „konstruktive Zivilgesellschaft“ ihre Kampfbereitschaft zu Gunsten der Kommunikation und der Kooperation „mit den reformbereiten Herrschaftseliten des Ancien régime “ zurückstellen. Damit kann sie zeigen, dass sie auch am Aufbau einer neuen Ordnung mitwirken kann. Die Konstruktion einer neuen Ordnung geht damit einher, dass innerhalb der Zivilgesellschaft die Meinungen über das richtige Vorgehen differieren. Jedoch bleibt die Notwendigkeit eines einheitlich handelnden Akteurs bestehen, weil das autokratische Regime noch nicht endgültig „abgedankt“ hat. Es muss daher eine Balance zwischen dem notwendigerweise hierarchisch-strategischen Charakter und einer verfolgten pluralistischen Grundidee gefunden werden. Neben der Lockeschen Schutzfunktion, die als Kern der Zivilgesellschaft erhalten bleibt, kommt noch die Montesquieusche Vorstellung von den „amphibischen“ Körperschaften, die die institutionellen Strukturen kontrollieren und gestalten, dazu. Zunehmende Bedeutung gewinnt auch die demokratisch-partizipatorische Funktion von Tocqueville.[17]
Nach dem institutionellen Regimewechsel gewinnt die „interne demokratische Verfasstheit der zivilgesellschaftlichen Organisationen [...] an Bedeutung, da sie für die Herausbildung einer demokratieförderlichen politischen Kultur von erheblicher Bedeutung ist“[18]. Die Demokratie muss nun in freiwilligen Assoziationen geübt werden, um auf diese Weise „soziales Kapital“ anzuhäufen. Obwohl sich in der „Konsolidierungsphase der Demokratie“ die Konflikte innerhalb der Zivilgesellschaft vermehren, darf nicht auf die demokratischen Verfahren und ihre fundamentalen Werte verzichtet werden. Als wichtig erscheint überdies die Einsicht, dass der Staat kein Feind mehr ist, sondern ein „Garant rechtstaatlicher Prinzipien“[19]. Die für diese Phase notwendige „reflexive Zivilgesellschaft“ bündelt „die verschiedenen Traditionen der zivilgesellschaftlichen Diskussion“[20]. Eine besondere Funktion kommt in dieser Phase der Selbstreflexion der Zivilgesellschaft zu, da sie sich in einem gewandelten System innerhalb veränderter Realitäten neu identifizieren muss.[21]
III. Zivilgesellschaft in Russland
1. Von der Idee zur Verwirklichung?
Das Konzept der Zivilgesellschaft erfuhr in der neuesten Zeit vor allem im Kontext des Niedergangs totalitärer Regime des ehemaligen Ostblocks eine intensive Hinwendung.[22] Die Grundannahme der Wichtigkeit der Zivilgesellschaft für die Demokratisierung der neu entstandenen autonomen Staaten war ein wichtiges Movens zur umfassenden Erforschung dieses nicht unbekannten sozialen Phänomens. Diese Annahme war nicht unbegründet: Schließlich hatte man in der Mobilisierung der Bürger das Mittel der Demokratisierungsbewegungen lokalisiert (siehe „strategische Zivilgesellschaft“ in II.3.). Zumindest erkannte man auf dem Hintergrund des osteuropäischen Geschehens der letzten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts die vernachlässigten Potentiale auch der eigenen, westeuropäischen Gesellschaft[23] und sah in einer zivilcouragierten Gesellschaft die Möglichkeit, dem in die Steuerungsunfähigkeit entdrifteten Staat abzuhelfen[24]. Freilich soll damit nicht eine zivilgesellschaftliche Äquidistanz zwischen Westeuropa und den ehemaligen Ostblockstaaten postuliert werden. Während in Westeuropa eine Gewöhnung an die Errungenschaften der liberalen Demokratie die Zivilgesellschaft in Vergessenheit geraten ließ[25], erkannten die osteuropäischen Reformer in ihr ein Heilmittel respektive ein apolitisches Instrument[26] gegen den erlahmten autoritären Staat.
Wenden wir uns nun speziell Russland zu. Die idealisierten Reformer der ersten Stunde scheiterten an der krassen Gegensätzlichkeit ihrer Vorstellungen und der postsowjetischen Realitäten. Die Auflösung der Sowjetunion brachte nicht den erhofften Wohlstand für die ehemals zahlreiche Mittelschicht, sondern schuf in Russland eine Masse von Verlierern, deren täglicher Kampf ums Überleben die Herausbildung einer Zivilgesellschaft verhinderte.[27] Das Russland der 90er Jahre konnte nicht von den „segensreichen Wirkungen postmaterialistischer Gesinnung“[28] profitieren. Die zum Ende der Sowjetära herausgebildete Ellenbogenmentalität konnte nicht mit dem „überidealisierten Konzept“ der Zivilgesellschaft konformiert werden.[29]
[...]
[1] Merkel, Wolfgang/Lauth, Hans-Joachim (1998): Systemwechsel und Zivilgesellschaft: Welche Zivilgesellschaft braucht die Demokratie?, in: ApuZ, B 6-7.
[2] Er selbst benutzte nach Manfred G. Schmidt nicht das Vokabular der Demokratietheorien oder des damals noch nicht vorhandenen Liberalismus.
[3] Schmidt, Manfred G. (2000): Demokratietheorien: Opladen: S. 68.
[4] Ebd.
[5] Merkel/Lauth (1998): S. 4.
[6] Vgl. ebd.: S. 5.
[7] Vgl. ebd.
[8] Ebd.: S. 5-6.
[9] Schmidt, Manfred G. (1995): Wörterbuch zur Politik: Stuttgart: Stichwort „Zivilgesellschaft“, S. 1096.
[10] Merkel/Lauth (1998): S. 7.
[11] Vgl. ebd.
[12] Bister (2002): S. 118.
[13] Ebd.
[14] Curbach, Janina (2003): Global Governance und NGOs. Transnationale Zivilgesellschaft in internationalen Politiknetzwerken: Opladen: S. 31.
[15] Vgl. Merkel/Lauth (1998): S. 7.
[16] Ebd.: S. 9.
[17] Vgl. ebd.: S. 9-10.
[18] Ebd.: S. 10.
[19] Ebd.: S. 11.
[20] Ebd.
[21] Vgl. ebd.
[22] Vgl. ebd.: S. 4.
[23] „Zivilgesellschaft wurde zum Banner, um das sich die Intelligenz scharte, die weder die westliche Demokratie noch den realen Sozialismus erstrebenswert fand. Die Anhänger der negativen Konvergenz gingen davon aus, dass auch die Intelligenz in westlichen Demokratien weitgehend in einer unzivilen Gesellschaft lebte.“ Beyme, Klaus von (1994): Systemwechsel in Osteuropa: Frankfurt am Main: S. 104.
[24] Vgl. Schily, Otto (2005): Bürgerschaftliches Engagement und seine verfassungsrechtliche Grundlagen. [http://www.staat-modern.de/Buerokratieabbau/Reden-,10018.802877/Buergerschaftliches-Engagement.htm?global.back=/Buerokratieabbau/-%2C10018%2C0/Reden.htm%3Flink%3Dsmo_liste (gesehen am 4.09.2005)].
[25] Vgl. Jasin, E. (2005): Graždanskoe obščestvo i gosudarstvo (Zivilgesellschaft und Staat). [http://www.liberal.ru/ngo/ngo.pdf (gesehen am 4.09.2005), S. 5].
[26] Um sich unter den Bedingungen eines totalitären Einparteienstaates eine einigermaßen legale Basis schaffen zu können, betonte man seine apolitische Haltung. Man wies darauf hin, dass die Handlungen nur dem Zwecke dienten, die Menschenrechte zu verteidigen und vom Staat diejenigen Gesetze einzufordern, die er sich selbst gegeben hatte. [Vgl. Sungurov, A. Ju. (2000): Učastie pravozaščitnikov v politike i predely ich sotrudničestva s vlast’ju (Teilnahme der Menschenrechtler an der Politik und die Grenzen ihrer Zusammenarbeit mit der Staatsmacht), in: Pravozaščitnik, 2000, 1.: http://www.auditorium.ru/aud/table/prava/hr-act.pdf (gesehen am 4.09.2005), S. 23-24].
[27] Vgl. Pleines, Heiko (2003): Aspekte der postsowjetischen Gesellschaft, in: Informationen zur politischen Bildung, bpb, Heft 281. [http://www.bpb.de/publikationen/JZ19ST,0,0,Aspekte_der_postsowjetischen_Gesellschaft.html#art0 (gesehen am 4.09.2005)].
[28] Beyme (1994): S. 114.
[29] Vgl. ebd.
- Arbeit zitieren
- Ilja Kalinin (Autor:in), 2005, Zivilgesellschaft in Russland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/49336
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