Das Thema der Benachteiligung von Lernenden mit Migrationshintergrund im Schulsystem der Bundesrepublik Deutschland hat seit der Publizierung der Ergebnisse von Studien nationaler und internationaler Dimension eine umfassende Debatte in der (Fach-)Öffentlichkeit initiiert. Seit dem PISA-Schock im Jahr 2000 wissen wir, dass eine Reihe von Schieflagen im hiesigen Bildungssystem gegeben ist, in deren Mittelpunkt die allochthonen Schulkinder stehen.
Ob im Alltag, in den Medien oder in der Bildungspolitik, häufig gelangt zu Gehör, dass Migrantenkinder und -jugendliche die "Bildungsverlierer" sind. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, vor allem, wenn sie bildungsfernen Familien entstammen, können ihren Startnachteil im Laufe ihrer Bildungskarriere nur schwer überwinden, wodurch sie eben zu sogenannten Bildungsverlierern werden.
Ziel der Arbeit ist es, den Istzustand, d. h. die Schulsituation und die damit verbundenen Schulleistungen sowie den
Kompetenzzustand dieser Zielgruppe im deutschen Schulsystem, zu beleuchten. Es wird danach gestrebt, hierfür plausible Erklärungen bereitzustellen.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Migration: Umfang des Phänomens in Deutschland, begriffliche Abgrenzung und Herausarbeitung charakteristischer Merkmale
2.1 Umfang und zentrale Eigenschaften der Migration in Deutschland
2.2 Der Terminus Migrant
2.3 Migration und Pädagogik: Der Übergang von der „Ausländerpädagogik“ zur „interkulturellen Pädagogik“
3 Migration und Schule: Die Situation allochthoner Kinder und Jugendlicher im deutschen Schulsystem
3.1 Bildungsbeteiligung der zugewanderten Schülerschaft im Vergleich zu deutschen Kindern / Jugendlichen an verschiedenen Schultypen der Sekundarstufe
3.2 Abgänger / -innen und Absolventen / -innen mit und ohne Migrationshintergrund an allgemeinbildenden Schulen
3.3 Schulleistungsstudien
3.3.1 Konzeption und Ergebnisse der Schulleistungsstudie IGLU
3.3.2 Resultate der Schulleistungsstudien PISA
4 Ursachen für die Benachteiligung von Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund im Schulsystem der Bundesrepublik Deutschland
4.1 Familiäre Zusammenhänge
4.2 Institutionelle Diskriminierung
4.3 Sprachliche Defizite
5 Voraussetzungen für eine erfolgreiche Schullaufbahn
5.1 Die Rolle der vorschulischen Bildung
5.2 Die Bedeutung der Sprache im monolinguistischen Schulsystem
6 Fazit
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Das Thema der Benachteiligung von Lernenden mit Migrationshintergrund im Schulsystem der Bundesrepublik Deutschland hat seit der Publizierung der Ergebnisse von Studien nationaler und internationaler Dimension eine umfassende Debatte in der (Fach-)Öffentlichkeit initiiert. Seit dem PISA-Schock im Jahr 2000 wissen wir, dass eine Reihe von Schieflagen im hiesigen Bildungssystem gegeben ist, in deren Mittelpunkt die allochthonen Schulkinder stehen. Ob im Alltag, in den Medien oder in der Bildungspolitik, häufig gelangt zu Gehör, dass Migrantenkinder und -jugendliche die „Bildungsverlierer“ sind. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, vor allem, wenn sie bildungsfernen Familien entstammen, können ihren Startnachteil im Laufe ihrer Bildungskarriere nur schwer überwinden, wodurch sie eben zu sogenannten Bildungsverlierern werden.
Für die Wahl des Themas der vorliegenden Examensarbeit steht mein persönliches Interesse im Vordergrund: Ich trachte danach, durch diese Arbeit mein Wissen zu vertiefen, da ich den Umgang mit Heterogenität als bedeutsam für die Ausübung meines Lehrerberufs ansehe. Ich verfüge über einen kurdisch-türkischen Migrationshintergrund und meine Eltern sind als Kinder von Gastarbeitern aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Ich bin in Deutschland geboren, habe aber die vorschulische Bildungseinrichtung lediglich für einige Monate besucht, sodass ich mit unzureichenden Deutschkenntnissen eingeschult wurde. Als mein Abgang von der Grundschule und der Wechsel in die weiterführende Schule anstand, wies ich Noten von befriedigend bis ausreichend vor, weswegen mir nahegelegt wurde, die Hauptschule aufzusuchen. Doch meine Mutter setzte sich der Empfehlung der Lehrerin entgegen und forderte, mich auf die Realschule zu schicken. Meine Mutter selbst besuchte aufgrund unzureichender Deutschkenntnisse die Sonderschule – es war halt in der damaligen Zeit so, dass die Gastarbeiterkinder in die Sonderschule geschickt wurden (dies wird auch im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit zur Sprache gebracht) –, weshalb sie wusste, dass mit der Bildungsentscheidung für die Hauptschule und damit mit dem niedrigsten Abschluss die Aussichten für den Arbeitsmarkt schlecht wären.
Meine Familie verfügte über einen niedrigen soziökonomischen Status, sodass ich die auf der Realschule bestehenden Schwierigkeiten in Form von sprachlichen Defiziten nicht durch das Wahrnehmen von Nachhilfe mindern konnte. Trotz der unterschiedlichen Gründe der Benachteiligung habe ich die Realschule ohne Klassenwiederholung und mit einem Notendurchschnitt von 2,5 erfolgreich gemeistert, sodass ich die Möglichkeit hatte, mich weiterzubilden. Mit der Qualifikation für die gymnasiale Oberstufe besuchte ich zunächst für ein Jahr das Gymnasium. Ich bin nur ein Jahr geblieben, weil mir der Übergang von der Realschule auf das Gymnasium schwer gefallen ist. Ferner meinte ein Lehrer zu mir, dass es besser für mich sei, die Schule zu wechseln, da das Niveau vom Gymnasium nicht mit dem von der Realschule vergleichbar sei. Meine Startbedingungen seien im Vergleich zu denjenigen, die von Anfang an das Gymnasium besuchen, unvorteilhaft. Ich habe die 12. Klasse auf der Gesamtschule fortsetzen können. Der Besuch der Gesamtschule stärkte mein Selbstvertrauen in meine Fähigkeiten und bestärkte mich auch darin, mein Ziel, Lehramt zu studieren, zu erreichen, da ich mich mit meinen Erfahrungen und Schwierigkeiten, die ich in meiner Schulzeit erlebt habe, gut in die aktuelle Situation der Migrantenkinder und -jugendlichen hineinversetzen kann und auch dementsprechend handeln kann.
Zwar wäre es für mich interessant gewesen, zu erforschen, wie Kinder und Jugendliche, die ähnliche Biografien wie ich vorweisen, trotz des Bestehens von Benachteiligungen einen erfolgreichen Werdegang haben, doch um dies zu erreichen, wäre eine empirische Untersuchung vonnöten gewesen. Wie sich durch eine erste Inaugenscheinnahme der Literatur herausstellte, ist mein gewähltes Thema viel diskutiert und wurde bereits umfassend erforscht. Eine weitere empirische Forschung hätte die Debatte nicht viel weitergeführt. Von größerem Belang ist es aus meiner Sicht daher, eine Bestandsaufnahme zu betreiben. Die thematische Auseinandersetzung eröffnet mir so einen vertiefenden Blick auf die Zusammenhänge. Daraus können Schlüsse gezogen werden. So beschäftige ich mich mit dem Thema „Schule und Migration ‒ Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem“ theoretisch auf dem Sockel einer Sekundäranalyse. Es wird folglich methodisch von einer Literaturrecherche Gebrauch gemacht.1
Ziel der Arbeit ist es, den Istzustand, d. h. die Schulsituation und die damit verbundenen Schulleistungen sowie den Kompetenzzustand dieser Zielgruppe im deutschen Schulsystem, zu beleuchten. Es wird danach gestrebt, hierfür plausible Erklärungen bereitzustellen. Intendiert ist ferner, am Ende zwei mögliche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Schulkarriere exemplarisch abzuleiten, um damit die Situation zu begünstigen bzw. die Benachteiligung zu mindern.
Daher lautet meine Forschungsfrage für die vorliegende Arbeit: Wie lässt sich erklären, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem benachteiligt sind und welche Voraussetzungen sollten gegeben sein, um eine Benachteiligung zu verhindern bzw. zu mindern. Für die Auseinandersetzung habe ich mir folgende Gliederung überlegt.
Im zweiten Kapitel wird das Phänomen der Migration in Deutschland thematisiert. Im Zuge dessen sollen die Merkmale der Migration erläutert werden, woraufhin der Terminus Migrant erklärt wird. Im weiteren Verlauf dieses Kapitel soll auf die mit der Migration verbundenen pädagogischen Konzepte bzw. Ansätze und ihre Entwicklung eingegangen werden.
Im dritten Kapitel liegt das Augenmerk auf der Schule, d. h. auf der Erörterung der Situation der Schülerschaft mit Migrationshintergrund im Schulsystem hierzulande. Hier soll einerseits ihre Bildungsbeteiligung vertiefend inspiziert werden und per Vergleich derjenigen von deutschen Kindern an verschiedenen Schultypen der Sekundarstufe gegenübergestellt werden. Andererseits ist es von Belang, darzulegen, wie viele von ihnen einen Abschluss erlangen bzw. mit welchem Abschluss sie die Schule verlassen. Auf der Grundlage internationaler Schulleistungsstudien soll der Leistungsstand der Migrantenkinder und -jugendlichen in Deutschland analysiert werden. Auf diese Weise wird ein tieferer Einblick in die Situation gewährt.
Das vierte Kapitel soll dazu fungieren, für die aufgedeckten Schulsituationen und die gegebene Benachteiligung der Migrantenkinder und -jugendlichen die Ursachen aufzudecken. Dabei ist zwischen außerschulischen und innerschulischen Ursachen zu kategorisieren, die familiäre Zusammenhänge, sprachliche Defizite und institutionelle Diskriminierung einschließen.
Im vorletzten, fünften Kapitel werden exemplarisch zwei Voraussetzungen (nämlich die vorschulische Bildung und die Bedeutung der Sprache als Schlüssel) für den Schulerfolg aufgegriffen. Durch ihre Beachtung kann einer Benachteiligung entgegengewirkt werden. Im letzten Kapitel soll in den Schlussbemerkungen ein Resümee der Arbeit gezogen werden.
2 Migration: Umfang des Phänomens in Deutschland, begriffliche Abgrenzung und Herausarbeitung charakteristischer Merkmale
2.1 Umfang und zentrale Eigenschaften der Migration in Deutschland
Der Begriff Migration besitzt seinen Ursprung im lateinischen „migratio“, was übersetzt (Aus-)Wanderung bedeutet, bzw. der Terminus stammt von „migrare“ (wandern).2 Allerorten und zu sämtlichen Zeiten haben Wanderungsbewegungen von Menschen über relevante naturräumliche und politische Grenzen hinweg existiert. In Deutschland ist die vorindustrielle Zeit durch die Gesellenwanderung der Handwerker, durch Saisonwanderungen, durch Migrationen zwecks Niederlassung in bislang nicht oder von anderen Völkern besiedelte Regionen, durch Flüchtlingsströme aufgrund religiöser Diskriminierung und infolge von Hungersnöten gekennzeichnet. Von der Größe und Relevanz herauszustellen sind in der industriellen Zeit zweifelsohne Wanderungen, die aufgrund der zunehmenden Nachfrage nach Arbeitskräften in den Industriegebieten initiiert wurden. Der Wunsch nach einem wirtschaftlichen Aufstieg kam insofern zum Tragen. Ein begünstigender Faktor war der Eisenbahnbau; erst durch die Verbesserung dieses Transportsystem in Bezug auf die Schnelligkeit und die Zuverlässigkeit sowie durch den Ausbau des Schienennetzes finden größere Migrationsbewegungen statt. Die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts und die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts war Deutschland – vor allem kriegsbedingt, infolge der von der Industrie heraufbeschwörten Massenverelendung und wegen der Glückssuche in Übersee ‒ ein Auswanderungsland. Danach kehrten sich die Verhältnisse um.3 Im Zuge der Charakterisierung der Migrationsbewegungen in Deutschland in der Zeit nach 1945 sollen die folgenden vier unterschiedlichen Gruppen näher betrachtet werden: Aus- und Übersiedler, Arbeitsmigranten, Flüchtlinge sowie Zuwanderer aus EU-Ländern und weitere Personen. Diese Gruppen repräsentieren die zentralen Wanderungsanlässe.
Aus- und Übersiedler
Mit dem Niedergang des im Ostblock vorzufindenden staatlichen Sozialismus und der Aufhebung der etablierten Reisebeschränkungen kam es in der Zeitspanne ab dem Ende der 1980er-Jahre bis zum Anfang der 2000er-Jahre zu einem erheblichen Anstieg des Zuzugs von Aussiedlern. Es waren die Nachkommen deutscher Siedler, die im europäisch geprägten Gebiet der (ehemaligen) Sowjetunion lebten. Sie wurden nach dem Jahr 1941 zwangsumgesiedelt und in Orten zusammengefasst. Aufgrund ihrer deutschen Abstammung wurden sie unterdrückt, aus deutscher Sicht sind es „Volkszugehörige“.4
In der zeitlichen Spanne seit dem Jahr 1950 bis zum Jahr 2014 hat Deutschland in toto annähernd 4,5 Millionen Aussiedler sowie Spätaussiedler aufgenommen und versucht einzugliedern. Allein in der Periode von elf Jahren nach 1988 waren es über 2,6 Millionen Individuen. Das bedeutendste Herkunftsland war die ehemalige Sowjetunion ‒ darunter zuvorderst die heutigen Staaten Kasachstan, Russische Föderation und Ukraine ‒ mit einem Anteil von 52 %. Diesen Ländern folgt Polen (32 %) nach, dem wiederum Rumänien mit 10 % folgt.5
Arbeitsmigranten
Von 1950 bis zum Jahrtausendwechsel wurden in der westdeutschen Wirtschaft in einem beträchtlichen Ausmaß Arbeitsplätze geschaffen und es waren – u. a. auch aufgrund der Existenz geburtenschwacher Jahrgänge und der Arbeitszeitverkürzung ‒ derart viele Arbeitskräfte vonnöten, dass trotz des erheblichen Zuzugs von Aussiedlern aus dem Ostblock und von Übersiedlern aus der DDR der Bedarf an Arbeitskräften in Westdeutschland nicht gedeckt werden konnte. Deswegen wurden zwecks des Zuzugs von Gastarbeitern zunächst bilaterale Anwerbevereinbarungen mit Italien (1955), danach mit Spanien und Griechenland (1960), mit der Türkei (1961), mit Marokko (1963), mit Portugal (1964), mit Tunesien (1965) und zuletzt mit dem ehemaligen Jugoslawien (1968) abgeschlossen.6 In der Mehrzahl fanden die Arbeitsmigranten in industriell geprägten Unternehmen als Fließbandarbeiter eine Anstellung, gehörten Reinigungsteams an, waren mit Arbeiten am Hochofen befasst oder waren in den Minen des Ruhrgebiets tätig. Erst 1973 kam die Rekrutierung wegen der Weltwirtschaftskrise zum Erliegen. In diesem Jahr, in dem aufgrund der weltweiten Ölkrise auch Deutschland in eine Rezession gerät, folgte ein Anwerbestopp. Dennoch wanderten, im Wesentlichen bedingt durch den Zuzug von Familienmitgliedern, noch 14 Millionen Menschen ein, während etwa elf Millionen Personen zurückwanderten.7 Diese Situation hatte zur Folge, dass die Zahl der „neuen“ Arbeitsmigranten stark schrumpft, demgegenüber schwoll die Zahl weiterer Migranten an, weil deren Familien nachzogen.8 Dies war aus folgendem Grund der Fall: Normalerweise hatten die Angeworbenen zunächst eine auf zwölf Monate befristete Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis ausgestellt bekommen. Die Einführung einer Befristung war zweifach motiviert:
- Die Migranten sollten sich nicht dauerhaft in Deutschland niederlassen und sesshaft werden, dies war nicht gewünscht.
- Migranten, deren Arbeitsleistung nachließ oder schon kurz nach Beginn der Beschäftigung nicht den Wünschen entsprach, sollten so schneller ausgetauscht werden können.
Widerstand gegen diese Regelung hegten die Arbeitgeber, insbesondere die Industrieunternehmen, bei denen ein Großteil der Migranten angestellt war. Sie kritisierten die Rotationspolitik, weil sie wegen der fortwährenden Einarbeitung neuer Kräfte mit hohen Kosten verbunden war. Daher setzten sie sich für eine zeitliche Ausweitung der Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse der bereits von ihnen angelernten Beschäftigten ein. Damit hatten sie Erfolg. Insgesamt wuchs die Zahl derjenigen Migranten, die Arbeitsverhältnisse eingingen, seit den 1980er-Jahren beständig.9
Flüchtlinge
Flucht ist eine Form der Migration, Flüchtlinge machen etwa 10 % der Migranten weltweit aus – inbegriffen sind hier aber lediglich diejenigen Individuen, die begrifflich den Bestimmungen offizieller Organisationen wie dem Flüchtlingskommissariat der United Nation (UNHCR) genügen. So definiert „Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention einen Flüchtling als Person, die sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in dem sie ihren ständigen Wohnsitz hat, und die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren kann.“10 Tatsächlich ist die Zahl der Personen, die wegen kriegerischer Auseinandersetzungen, infolge politischer, religiöser und kultureller Repressalien oder der Gewaltandrohung ihre Flucht einleiten müssen, erheblich größer. Zu akzentuieren ist ebenso, dass in dieser Definition aus dem Jahr 1951 aktuelle Entwicklungen wie der Meeresspiegelanstieg aufgrund des Klimawandels und damit Fluchtgründe ökologischer Art keine Berücksichtigung erfahren.
Weltweit, aber auch in Deutschland wird der Status als Flüchtling und damit die Existenz durch Gesetze determiniert. Das Asylgesetz regelt formal die einzelnen Etappen des Vorgehens bei Einreichen eines Asylantrages. Ist ein solcher Antrag abgegeben, erhält die Person den Status des Asylbewerbers – in sozialer Hinsicht der niedrigste verfügbare Status in Deutschland. Mit dem Status gehen Maßnahmen der Kontrolle und Einschränkung einher, als da sind: Verringerung der Sozialhilfe gegenüber dem Regelsatz und teilweise Auszahlung in Form von Sachleistungen, verringerte Bewegungsfreiheit im Land, zwangsweise Unterbringung (oft in Gemeinschaftsunterkünften mit wenig Privatsphäre), Obliegenheit zur Verrichtung gemeinnütziger Arbeiten, nachrangige Arbeitsvermittlung, Verzicht auf Eingliederungshilfen, begrenzte Gesundheitsversorgung und Unterbindung der Familienzusammenführung. Das Maßnahmenbündel bewirkt, dass das Leben in Deutschland und die Eingliederung im erheblichen Maße behindert werden. Die kreierten Umstände sind als deutlicher Wunsch des Staates zu interpretieren, Asylsuchende nicht willkommen zu heißen.11 Den Erwartungen von Fachleuten zufolge werden die Flüchtlingszahlen in den kommenden Jahrzehnten einer deutlichen Steigerung unterliegen. Diese Entwicklung ist Resultat der Ausweitung von Kriegen und Anschlägen, religiöser oder politischer Hetze, des Klimawandels oder Hunger / Durst und Armut.12
Zuwanderer aus EU-Ländern und weitere Personen
Als eher kleineres Migrantensegment sind Zuwandernde aus den EU-Mitgliedsstaaten sowie sonstige Mitbürger zu betrachten, die aus Gründen der Arbeitsaufnahme einreisen. Sie bleiben zwar längerfristig in der Bundesrepublik, allerdings ist ihr Aufenthalt als temporär anzusehen.
Die benannten verschiedenartigen Migrationsvarianten signalisieren, dass es sich bei den Migranten nicht um eine homogene Gruppe handelt, sondern eine ausgeprägte Heterogenität zu erkennen ist. Sie wird bei näherer Inaugenscheinnahme der Abstammung der Familien sichtbar: Es dominieren mit einem Anteil von 38 % deutschstämmige, aus dem Osten Europas zugewanderte Aussiedler. Ihnen folgen, was den Anteil betrifft, Familien türkischer und jugoslawischer Herkunft mit 16,9 % respektive 8,2 %. Es schließen sich in dieser Reihenfolge Familien italienischer, griechischer, spanischer und portugiesischer Herkunft an.13
Zu welchem Typus Zuwanderer ein Mensch gehört, bedingt maßgeblich, ob er die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben kann und ob er der ersten (zugewanderten) oder zweiten (hier geborenen) Generation Zuwanderer angehört.
Klare Steigerungen sind in Deutschland betreffs der Zahl der Personen mit Migrationshintergrund zu registrieren: In den Jahren von 2005 bis 2013 ist ein Anstieg von 15,3 Millionen auf 16,5 Millionen Individuen erfolgt. Die Zahl der Personen in Deutschland ohne Migrationshintergrund ist im angesprochenen Zeitabschnitt um drei Millionen von 67,1 Millionen bis auf 64,1 Millionen Personen gesunken. Ein rasantes Wachstum ist im Hinblick auf den Anteil der Deutschen mit Migrationshintergrund zu verzeichnen, denn bei ihnen ist seit 2005 eine Erhöhung um 50 % zu bemerken. Verglichen mit anderen strukturellen Veränderungen der Bevölkerung ist dieser Anstieg als die bedeutendste Änderung in dem Zeitraum zu klassifizieren.
Hervorgerufen durch Flüchtlingsströme – so gibt das Ausländerzentralregister Auskunft – hat sich die Zuwandererzahl im vergangenen Jahr in den ersten acht Monaten um 488000 Personen erhöht. Doch dies ist eine vorläufige Auskunft, denn es sind noch längst nicht alle Flüchtlinge im System der Ausländerbehörden aufgenommen. Deswegen wird das reale Bevölkerungswachstum noch größer ausfallen.
Zur präzisen Determinierung der Beweggründe für die Migration sind in der Migrationssoziologie diverse Modelle entfaltet worden. Der Diskurs soll hier nicht in aller Ausführlichkeit aufgegriffen werden. Es seien lediglich zwei Modelle skizziert: Dem Modell der Kettenmigration liegt die Annahme zugrunde, dass sich Wanderungsbewegungen auf der Grundlage von sozialen Beziehungen vollziehen. Demnach wird geografisch und sozial in eine Richtung gewandert, in der sich bereits Freunde und familiäre Angehörige niedergelassen haben. Das Push-pull-Modell erklärt die Zuwanderung auf eine andere Weise: Unter Zuhilfenahme des Push-pull-Modells werden Abstoßungsfaktoren in den Ursprungsländern genauso identifiziert wie Anziehungsfaktoren in den Ländern, in die gewandert wird. Beispielsweise sind fehlende Arbeitsplätze in der Heimat ein Abstoßungsfaktor, während vorhandene Beschäftigungsmöglichkeiten im Empfängerland ein Anziehungsfaktor sind. Es kann allgemeingültig schwerlich bestimmt werden, was die einzelnen personenbezogenen Abstoßungs- und Anziehungsfaktoren sind. Essenziell ist, dass in der Regel ökonomische Gesichtspunkte nicht für eine Begründung reichen. In den Mittelpunkt zu rücken ist überdies, dass oftmals ein Bündel von Aspekten ausschlaggebend ist. Hinzu kommt, dass ermittelt werden muss, für wie bedeutungsvoll einzelne Personen einzelne Wanderungsmotive angesichts ihrer individuellen Lebenssituation halten. Die Gründe für den dauerhaften Wechsel des Lebensortes sind von Person zu Person verschieden. Es können persönliche und familiäre Gründe vorliegen und es können sich Aussichten auf eine Verbesserung der Lebenssituation ergeben, die politischer, gesellschaftlicher und sozialer Natur sein können.
In jedem Fall gilt, dass diejenigen Menschen, die sich über längere Zeit an einen anderen Ort binden wollen, tief greifende Erlebnisse machen und Einsichten gewinnen.14
Zwar wurde im Vorfeld schon umfassend über Migration diskutiert, doch eine genaue begriffliche Festlegung hat noch nicht stattgefunden. Sie soll nun nachgeholt werden, damit kann für den weiteren Verlauf der Arbeit begrifflich eine gemeinsame Basis geschaffen werden.
2.2 Der Terminus Migrant
Der Migrant ist als ein Anderer oder Fremder, dessen Lebenslauf verschieden von denjenigen einheimischer Personen ist, dessen Verhaltensweisen sich von denen der hiesigen Einwohner unterscheiden und der ein anderes Ichbewusstsein mitbringt.15
Migration ist als ein Faktor des Wandels der Gesellschaft aufzufassen; häufig ist mit ihm eine Modernisierung derselben verbunden. Ursächlich bedingt ist der Wandel dadurch, dass die Zuwanderer neues Wissen, andere Anschauungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten in ihre neue soziale Lebenswelt einbringen und sie gestalterisch prägen.16
Um sich dem Terminus Migrant anzunähern, sei zunächst angemerkt, dass mit dem Begriff grundsätzlich eine Einwanderungsbevölkerung gemeint ist. Insofern lässt sich ein erster Unterschied zu einem Ausländer ans Tageslicht fördern. Festlegen lässt sich ferner, dass der Ausdruck Migrant durchaus diskutiert wird, er findet in verschiedener Weise Anwendung, sodass er diffus wirkt und ihm letztlich andersartige Bedeutungen zugeschrieben werden: Er kann die Wanderungserlebnisse einer Person anbelangen, der Terminus kann sich auf eine Abweichung ethnischer oder kultureller Art zur heimischen Bevölkerung beziehen, die eigene Herkunft oder diejenige der Familie aus einem anderen Staat meinen oder Individuen kennzeichnen, die keine deutsche Staatsangehörigkeit aufweisen.
Castro Varela und Mecheril nehmen zur näheren Determinierung des Migrantenstatus die Unterscheidung zwischen der formellen und der informellen Festlegung in Gebrauch. Im Rahmen der formellen Festlegung wird die Staatsangehörigkeit herangezogen, um genau zu bestimmen, wer Migrant und wer Deutscher ist. Die Staatsangehörigkeit wird einer Person entweder per Einbürgerung oder per Askription zugeschrieben. Zur Einbürgerung lässt sich sagen, dass sie mit hohen Hürden verbunden ist und ihr das Staatsangehörigkeitskonzept zugrunde liegt. Dies wiederum beruht auf dem völkischen Abstammungs- und Vererbungsrecht. Demgegenüber meint Askription, dass die Staatsangehörigkeit eine zugeschriebene Zugehörigkeit ist, denn Personen werden dadurch zu Staatsangehörigen eines Landes, dass sie Kinder von bisherigen Staatsangehörigen sind. Sie werden nicht durch die Ausübung eines Wahlrechts zu Staatsangehörigen einer bestimmten Nation.
Mit Wirkung vom 1. Januar 2000 gelangte ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz zur Anwendung. Im Kern ist dort die Aussage verbrieft, dass das Kind ausländischer Eltern per Geburt in Deutschland die Staatsangehörigkeit erlangt. Dies geschieht unter der Bedingung, dass sich ein Elternteil hierzulande seit mindestens acht Jahren legitim aufhält. Dazu muss entweder eine Aufenthaltsberechtigung oder seit drei Jahren eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis vorliegen. Hat das Kind wegen vorhandener staatlicher Vorschriften in der Heimat der Eltern wegen des Abstammungsprinzips eine oder mehrere zusätzliche Staatsbürgerschaften, wird ihm der Status des Mehrstaatlers zugewiesen. Um dauerhaften Komplikationen vorzubeugen, ist es ein bestimmendes Element des neuen Staatsangehörigkeitsrechts, dass sich der Nachkomme bis zur Vollendung des 22. Lebensjahres für eine der Staatsangehörigkeiten entscheiden muss.
Unter der informellen Festlegung wird Folgendes verstanden: Die gesetzlichen Beschlüsse, in denen fixiert ist, welche Person eine begründete Anwartschaft auf eine Staatsangehörigkeit hat, sind von außerordentlichem Belang. Doch nicht allein sie entscheiden, wer Deutscher ist und wer nicht. Bedeutsam sind zudem Zugehörigkeitsdiskurse und Lebenswelten. In ihnen kommt eine informelle, alltagsweltliche Sicht zum Ausdruck, die eine Praxisnähe vermittelt. Hier wird informell bestimmt, wer fremd und wer nicht fremd ist. Dem Pass wird somit eine tendenziell eher untergeordnete Rolle zugewiesen, belangvoller sind in informeller Hinsicht der Name, das Gehabe und das Aussehen.
Mithin wird sowohl durch formelle als auch durch informelle Faktoren vorherbestimmt, wer Migrant oder Nichtmigrant ist.17
Um dem eigentlichen Thema der vorliegenden Arbeit „Schule und Migration ‒ Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem“ näherzukommen, wird nun das spezielle Augenmerk auf Migrantenkinder gelenkt.
In der sie betreffenden Auseinandersetzung existiert darüber eine geteilte Ansicht, welche Individuen als Migrantenkinder betrachtet werden können. Vertreten wird etwa die Anschauung, dass es die Nachkommen von Arbeitsmigranten sind, also die Kinder der sogenannten Gastarbeiter. Diese Auffassung kann aber nicht geteilt werden, weil – man denke an die Kinder von Aussiedlern – die Zahl der Migrantenkinder diejenige der Kinder von Gastarbeitern übersteigt. Hinzuweisen ist außerdem auf die Kinder von sogenannten Gastarbeitern, die im Ursprungsland geboren worden sind und später nach Deutschland eingereist sind. Deswegen greift die Beschränkung auf Nachkommen von Arbeitsmigranten zu kurz.
Ebenso ist zu überlegen, ob sämtlicher Nachwuchs der nach Deutschland eingereisten Gastarbeiter Migrantenkinder geheißen werden können. Dies betrifft etwa ein Kind türkischer Gastarbeiter, welches in Deutschland geboren wurde und die deutsche Staatsangehörigkeit trägt.
Sich mit diesen definitorischen Aspekten zu befassen, ist zur Heranbildung des theoretischen Hintergrundes genauso von Relevanz wie zum Umgang mit praktischen Aspekten.
Entscheidend für die Entwicklung einer treffenden Auffassung zu Migrantenkindern ist zuvorderst, dass eine Zuwanderung von einem anderen Gebiet nach Deutschland praktiziert worden sein muss. Sie ist mit dem längerfristigen Wechsel der soziokulturellen Umgebung verkettet. Im Besonderen ist mit dem Übertritt von einem anderen Gebiet nach Deutschland nicht ein Standortwechsel innerhalb des Landes gemeint, sondern ein Zuzug aus dem Ausland. Diskutiert werden kann und muss, welche Person der Migrant gewesen ist, also in welcher Generation die Wanderungsbewegung stattgefunden hat. Fraglos ist ein Kind, das im Ausland geboren wurde und danach nach Deutschland eingereist ist, ein Migrantenkind. Präziser: Es ist ein Migrantenkind erster Ordnung.
Erfolgt die Betrachtung von einer anderen Warte aus, muss unterstrichen werden, dass ein Kind, dessen Eltern nicht in Deutschland geboren, sondern die später eingereist sind, ein Migrantenkind ist. Diese Art Migrantenkinder sind Kinder zweiter Ordnung; sie werden auch als zweite Generation bezeichnet. Der Begriff kann verschieden interpretiert werden, und zwar vornehmlich, wenn die Migrantenkinder keine Kinder der ersten Generation sind, denn sie sind hierzulande geboren, also nicht zugewandert. Im Umkehrschluss muss nicht jedes Migrantenkind der ersten Generation zugleich der zweiten Generation zugehörig sein. Dies trifft auf Flüchtlinge zu, die ohne Elternteile eingewandert sind.
Der Status des Migrantenkindes wird vielfach mit dem des Ausländers verknüpft. Dieser Eindruck wird dadurch evoziert, dass Migrantenkinder beider Generationen mehrere Dekaden lang Ausländer gewesen sind. In diesem Punkt sind mittlerweile jedoch Änderungen zu verspüren, denn zwei Faktoren kommen zum Tragen: Erstens die Migration von Aussiedlern, die die deutsche Staatsangehörigkeit vorweisen. Zweitens die eingebürgerten Migrantenkinder beider Generationen.18
Sofern in der vorliegenden wissenschaftlichen Arbeit Migrantenkinder oder Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien gegen deutsche Kinder abgegrenzt werden, ist im Zuge dessen hervorzuheben, dass mit deutschen Kindern nicht in jedem Fall Kinder gemeint sind, die eine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Subsumiert werden hier die Kinder, die nicht als Migrantenkinder in dem im Vorfeld benannten Sinn zu verstehen sind.
Weil die Migrantenkinder in die Schule gehen, rückt die sich mit ihnen befassende Pädagogik ins Zentrum des Interesses.
2.3 Migration und Pädagogik: Der Übergang von der „Ausländerpädagogik“ zur „interkulturellen Pädagogik“
Migration und die mit ihr verbundenen Faktoren sozialer und wirtschaftlicher Art nehmen generell für die heutige Gesellschaft, aber auch speziell für schulbezogene Organisations- und Handlungsweisen einen bedeutenden Stellenwert ein.19
Bis in die 1970er-Jahre hinein rückte die Situation der Gastarbeiter und ihrer Kinder nicht in den Brennpunkt des Interesses. Dafür gibt es zwei Gründe: Einesteils sollten die Gastarbeiter nur kurzfristig angeworben und dann wieder ausgetauscht werden (Prinzip der Rotation, vgl. Kap. 2.1), anderenteils kamen die süd- und südosteuropäischen Gastarbeiter im Normalfall alleine, waren also überwiegend männlichen Geschlechts, reisten zwar oft in ihrer Eigenschaft als Familienoberhaupt, aber zunächst ohne Frau und Kinder ein. Dies ist der Grund, warum sich die Zahl der schulpflichtigen Kinder in engen Grenzen hielt und sich die Schulpolitik nicht veranlasst sah, konkrete Änderungen am bisherigen Vorgehen einzuleiten.
Die Situation änderte sich grundlegend mit dem Anwerbestopp zu Beginn der 1970er-Jahre, denn dieser bewirkte, dass zusätzlich keine Gastarbeiter mehr nach Deutschland einreisten, die vorhandenen Migranten im größeren Maße ihre Familien nachholten und die Anzahl der schulpflichtigen Kinder stieg.
Auf diese Änderungen und Herausforderungen musste das deutsche Bildungssystem reagieren, was es mit der Ausländerpädagogik tat.
In der Bildungspolitik musste beurteilt werden, ob heimischen Kindern und Migrantenkindern die gleichen Chancen eröffnet werden. Insofern war zu debattieren, ob sich die Einrichtung von Vorbereitungsklassen, in denen sie mehrjährig separat geschult wurden, und der Verzicht auf die Integration in Regelklassen als günstig erweisen.20 Eigens entwickelte Integrationsmaßnahmen sollten ihre Schlechterstellung ausgleichen. Sie zielten vorzugsweise auf die Anreicherung der deutschen Sprachkenntnisse ab. Zugleich sollte begünstigt werden, dass sie für den Fall der Rückkehr in die Heimat gerüstet sind, indem sie kulturell ihre Identität bewahren. Dazu dienten pädagogische Maßnahmen zur Vermittlung der Kulturen des Ursprungslandes sowie ein Unterricht in der Muttersprache.21 Demnach war es Intention, die Zwei- und Mehrsprachigkeit zu begünstigen, also bestehende Defizite der Kinder der Arbeitsmigranten abzubauen.22
Anfang der 1980er-Jahre wurde die Kritik an der Ausländerpädagogik lauter: Vermehrt wurden die Defizithypothese, gemäß welcher Migrantenkinder Mankos betreffs der deutschen Sprache, dem Kulturverständnis, der Brauchtumserfassung und des deutschen Verhaltens hätten, und die mit ihr verbundene Ausgrenzung hinterfragt. Beliebter wurde die Differenzhypothese, nach der weder die Sozialisation noch die Sprache als Beschränkung für die weitere Entwicklung zu erachten sind. Die Schule sollte, anders als bei der Defizithypothese, auf diese Schülermerkmale eingehen und sich auf die durch sie hervorgerufene Lage einstellen.23
Die Unübersehbarkeit persistierender Schwierigkeiten der nicht erwachsenen Zuwanderer, die ursächlich den hierzulande kreierten Bedingungen zuzuschreiben sind, war Anlass, Mitte der 1980er-Jahre mit der interkulturellen Pädagogik ein neuartiges Konzept zu entwickeln, mit dessen Hilfe die Multikulturalität sämtlicher Schüler befördert werden sollte. Wesentliches Element dieses Konzepts war es, dass die Schüler in die Lage versetzt werden sollten, die mit ihrer Umwelt verbundenen Probleme sozioökonomischer und politischer Natur kritisch zu analysieren und zu behandeln. Die Schüler sollten demnach an einem Wandel mitarbeiten und interkulturelle Treffen meistern können. Die interkulturelle Erziehung ist eine Entwicklung mit zwei Elementen: mit dem begegnungsorientierten und mit dem konfliktorientierten Ansatz. Auf dem Unterbau des Ersteren sollen die Schüler in die Lage versetzt werden, aufgeschlossen gegenüber dem Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen zu sein und ihr Wissen diesbezüglich auszubauen. Durch Letzteren sollen Furcht und Feindseligkeit, die in Rassismus oder Diskriminierung enden, gemindert oder im besten Fall vollständig beseitigt werden.24
Die beiden Kerngedanken dieser Erziehungsart sind Anerkennung und Gleichheit. Dies meint, die Andersheit von Personen anzuerkennen und Sorge für gleiche Rechte und Chancen zu tragen. Anerkennung und Gleichheit erlangen in dem Konzept ein unterschiedliches Gewicht. Deswegen wird der multiperspektivischen Allgemeinbildung als ein Herzstück der interkulturellen Pädagogik besonders stark die Rolle der Förderung der Anerkennung zugewiesen. Demgegenüber spiegelt sich in der antirassistischen Arbeit eher das Gleichheitsmotiv wider. Dies ist deswegen der Fall, weil der Rassismus dazu fungiert, Ungleichheit zu begründen. Im Zuge dessen ist generell Wissen elementar, speziell sind es etwa diejenigen Kenntnisse um die Funktionsweisen der institutionellen Diskriminierung.
Desgleichen ist in dieser Hinsicht das Lernen signifikant. In erster Linie findet dies Beachtung im Falle bedenklicher Momente und Konstellationen, spielt aber auch eine Rolle bei der Diskussion um persönliche Zustände wie etwa individuelle Sorgen.25
Im Zentrum der interkulturellen Pädagogik stehen fernerhin der Aufbau oder die Verbesserung der interkulturellen Kompetenz. Damit gehen eine Ausdehnung der Befähigung zur Gesprächsführung und ein Fortschritt des Verstehens des Gegenübers einher. Diese Gedanken beruhen auf dem Anerkennungs- und Gleichheitsansatz. Zum Einsatz gelangt überdies die Besserung der multiperspektivischen Allgemeinbildung durch die Verbreiterung der Wissensgrundlage, die durch das Bewusstmachen bisher fremder Lebenseinstellungen oder Ansichten gestützt wird.
Für das Schulsystem ergeben sich aus den beiden Ansätzen strukturelle wie curriculare Effekte: Die Anerkennung hebt auf die für die Minderheiten essenziellen Sprachen ab, mit denen sie ihre Identität stützen. Dieser Aspekt muss im Schulcurriculum widerhallen. Dafür sind folgende Facetten wichtig:
- Relevanz der Familiensprache in der Schule,
- Umgang mit Mehrsprachigkeit und
- Vorhandensein von bilingualem Unterricht.26
Inwiefern die Sprache im Hinblick auf die Benachteiligung von Migrantenkindern und -jugendlichen eine Rolle spielt und damit entscheidend für den Schulerfolg bzw. -misserfolg ist, darauf wird im weiteren Verlauf der Arbeit näher eingegangen.
Nachstehend wird ‒ einer Überschau betreffs der Aufteilung der Migrantenkinder auf die unterschiedlichen Schularten folgend ‒ skizziert, wie sich der Übertritt der deutschen Kinder und derjenige der Migrantenkinder von der Primastufe in die Sekundarstufe gestaltet. Zudem wird betrachtet, wie der weitere Verlauf des Bildungsweges ist.
3 Migration und Schule: Die Situation allochthoner Kinder und Jugendlicher im deutschen Schulsystem
3.1 Bildungsbeteiligung der zugewanderten Schülerschaft im Vergleich zu deutschen Kindern / Jugendlichen an verschiedenen Schultypen der Sekundarstufe
Erklärend sei zunächst angeführt, dass der Terminus Bildungsbeteiligung aufklärt, in welchem Maße ausgewählte Schülergruppen an bestimmten Lehranstalten vertreten sind oder in welchem Maße sie bestimmte Bildungswege einschlagen. In Deutschland ist das Bildungssystem hierarchisch organisiert, d. h., die Bildungseinrichtungen bauen aufeinander auf. Eröffnet werden außerdem verschiedene Bildungswege, wodurch andere Arten von Abschlüssen gemacht werden können. Aus diesem Grund kann analysiert werden, welche Schülergruppen in welchen Einrichtungen vertreten sind und wie viele den angestrebten Abschluss erreichen.27
Die Schulstatistik für das Jahr 2012 besagt, dass 8,6 % der Kinder und Jugendlichen, die auf einer allgemeinbildenden Schule angemeldet sind, einen Migrationshintergrund aufweisen. Es existieren mit Grundschulen verbundene Schulvorbereitungsklassen. Sie besuchen schulpflichtige Kinder, von deren Einschulung aber abgesehen wird, weil sie die nötige Schulreife noch nicht erlangt haben. Nach einem Jahr in solch einer Klasse findet eine erneute Prüfung der Reife statt, woraufhin die Entscheidung getroffen wird, ob der Schüler besser in einer Förderschule aufgehoben ist oder die Regelschule absolvieren darf. Migrantenkindern wird vielfach eine besondere Hilfe zuteil, und zwar durch Sprachförderkurse. Wert zu legen ist auf die Feststellung, dass Migrantenkinder in besagten Klassen zur Schulvorbereitung überproportional vertreten sind. Gültigkeit besitzt dies ebenfalls für Hauptschulen, an denen sie einen Anteil von fast 20 % erreichen. Hingegen sind sie zum einen an Gymnasien, zum anderen an Schularten mit unterschiedlichen Bildungsgängen mit einem Prozentsatz von 5 % eindeutig unterrepräsentiert. An der Realschule sind sie annähernd mit dem Anteil vertreten, den sie im Mittel in der Schulstatistik erreichen. Vergleichsweise stärker vertreten sind sie in integrierten Gesamtschulen genauso wie in der schulartunabhängigen Orientierungsstufe. An Förderschulen ist ihr Anteil auf 14 % zu beziffern; hier sind sie überrepräsentiert. Äußerst gering sind sie mit lediglich 2 % an Freien Waldorfschulen anzutreffen.28
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1 Vgl. Döring, N. & Börtz, J. (2016): Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften (5. Auflage). Berlin / Heidelberg: Springer-Verlag, S. 19-20, S. 158-163.
2 Vgl. Meinhardt, R. (2006): Einwanderungen nach Deutschland und Migrationsdiskurse in der Bundesrepublik – eine Synopse. In: Leiprecht, R. & Kerber, A. (Hrsg.): Schule in der Einwanderungsgesellschaft (S. 24-55). Schwalbach: Wochenschau, S. 25.
3 Vgl. Mecheril, P. (2010): Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive. In: Andresen, S.; Hurrelmann, K.; Palentien, C. & Schröer, W. (Hrsg.): Migrationspädagogik (S. 7-22). Weinheim / Basel: Beltz Verlag, S. 7 f.
4 Vgl. Castro Varela, M.; Mecheril, P. (2010): Grenze und Bewegung. Migrationswissenschaftliche Klärungen. In: Andresen, S.; Hurrelmann, K.; Palentien, C. & Schröer, W. (Hrsg.): Migrationspädagogik (S. 23-53). Weinheim / Basel: Beltz Verlag, S. 26 f.
5 Vgl. Auszug aus dem Datenreport (2016): Sozialstruktur und soziale Lagen. URL: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Datenreport/Downloads/Datenreport2016Kap7.pdf?__blob=publicationFile, o. S.
6 Vgl. Seitz, S. (2006): Migrantenkinder und positive Schulleistungen. Kempten: Julius Klinkhardt Verlag, S. 10.
7 Vgl. Castro Varela, M. & Mecheril, P. (2010), S. 28 ff.
8 Vgl. Holzbrecher, A. (2004): Interkulturelle Pädagogik (4. Auflage). Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor. S. 49.
9 Vgl. Castro Varela, M. & Mecheril, P. (2010), S. 29 f.
10 UNHCR (2016): Fragen und Antworten: Flüchtling. URL: http://www.unhcr.de/questions-und-answers/fluechtling.html., o. S.
11 Vgl. Castro Varela, M. & Mecheril, P. (2010), S. 31 ff.
12 Vgl. Nuscheler, F. (1995): Internationale Migration, Flucht und Asyl. Opladen: Leske + Budrich, S. 68 f.
13 Vgl. Baumert, J. & Schümer, G. (2001): Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb. In: Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich (S. 323-407). Opladen: Leske + Budrich, S. 342.
14 Vgl. Castro Varela, M. & Mecheril, P. (2010), S. 44 ff.
15 Vgl. Castro Varela, M. & Mecheril, P. (2010), S. 37 ff.
16 Vgl. Mecheril, P. (2010), S. 9.
17 Vgl. Castro Varela, M. & Mecheril, P. (2010), S. 37 ff.
18 Vgl. Diefenbach, H. (2007): Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien im deutschen Bildungssystem. Erklärungen und empirische Befunde. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 19 ff.
19 Vgl. Mecheril, P. (2010), S. 7.
20 Vgl. Holzbrecher, A. (2004), S. 52.
21 Vgl. Auernheimer, G. (2006a): Gleichheit und Anerkennung als Leitmotive interkultureller Pädagogik. In: Tanner, A.; Badertscher, H.; Holzer, R.; Schindler, A. & Streckeisen, U. (Hrsg.): Heterogenität und Integration. Umgang mit Ungleichheit und Differenz in Schule und Kindergarten (S. 29-45). Zürich: Seismo Verlag, S. 30.
22 Vgl. Dirim, I. & Mecheril, P. (2010a): Die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft. In: Andresen, S.; Hurrelmann, K.; Palentien, C. & Schröer, W. (Hrsg.): Migrationspädagogik (S. 99-120). Weinheim / Basel: Beltz Verlag, S. 99.
23 Vgl. Seitz, S. (2006), S. 17.
24 Vgl. Seitz, S. (2006), S. 18 f.
25 Vgl. Auernheimer, G. (2006a), S. 35 f.
26 Vgl. Auernheimer, G. (2006b): Das deutsche Bildungssystem ‒ für die Einwanderungsgesellschaft disfunktional. In: Tanner, A.; Badertscher, H.; Holzer, R.; Schindler, A. & Streckeisen, U. (Hrsg.): Heterogenität und Integration. Umgang mit Ungleichheit und Differenz in Schule und Kindergarten (S. 109-122). Zürich: Seismo Verlag, S. 111.
27 Vgl. Diefenbach, H. (2007), S. 48 f.
28 Vgl. Stürzer, M.; Täubig, V.; Uchronski, M. & Bruhns, K. (2012): Schulische und außerschulische Bildungssituation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Jugend – Migrationsreport. Ein Daten- und Forschungsüberblick. URL: http://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs/DJI_Jugend-Migrationsreport.pdf, o. S.
- Citar trabajo
- Hülya Karadag (Autor), 2017, Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/490920
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