Diese Arbeit diskutiert drei zentrale Fragestellung in Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht "Am Thurme", entstanden während eines Aufenthalts auf der Meersburg am Bodensee im Jahr 1841/42. Die erste Frage entsteht aufgrund der im Gedicht benannten sozio-politischen Aspekte und Problematiken. Ist es in der Tat so, dass die Droste gesellschaftskritisch schreibt, oder handelt es sich bei "Am Thurme" um den bloßen Ausdruck poetisch-emotionaler Schaffenskraft? Die zweite Frage beschäftigt sich mit der linguistischen Tiefe und stellt vor allem die häufig auftretenden semantischen Oppositionen in den Vordergrund. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das lyrische Ich? Die dritte Fragestellung bespricht schließlich mystische Aspekte: das Dunkle und Seltsame, Aspekte, die die Stimmung des Gedichts von Anfang bis Ende dominieren.
Gesellschaftskritik, Bipolarität und das Unheimliche in Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht „Am Thurme“
Es ist wohl nicht Unrecht zu sagen, dass Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) als die bedeutendste und über ihren Tod einflussreichste Autorin deutscher Sprache bezeichnet werden kann. Nicht umsonst zierte das Bild der Poetin aus adeligem Hause über 50 Jahre lang den zwanzig Markschein. Diese Faszination für eine Dichterin, die heute noch Generationen beschäftigt, ging sicherlich nicht von der (physischen) Stärke der Droste aus. Denn die am 10. Januar 1797 auf Schloss Hülshoff bei Münster als Anna Elisabeth Freiin von Droste zu Hülshoff geborene Dichterin war ihr Leben lang kränklich und hatte mit einer schwachen Konstitution zu kämpfen. Eine anfällige Gesundheit, eine leicht erregbare Psyche und ein reizbares Nervensystem veranlassten sie dazu, sich im Lauf ihres Lebens mehr und mehr in die Einsamkeit zurückzuziehen. Sie hatte wenig Freundschaften, verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens allein auf Schloss Rüschhausen oder Meersburg und pflegte nur sporadischen Kontakte zu anderen Menschen. Woher rührte dieser Hang zur Isolation?
Zunächst lag dies sicherlich an der streng katholischen elterlichen Erziehung, die die Droste später ein Leben lang in ihren Werken aufarbeitete sollte. Zweitens spielte wahrscheinlich die Tatsache eine Rolle, dass sie nicht die Möglichkeit hatte, sich in vollem Maße auszuleben, sich so zu verwirklichen, wie sie es sich gewünscht hätte. Als Literatur produzierende, schreibende Frau aus dem Adelsstand stieß sie auf viel Widerstand, besonders als sie begann, ihre Werke zu veröffentlichen. Der dritte Punkt, der zu Drostes Zurückgezogenheit beitrug ist die Tatsache, dass die Beziehungen, die sie mit anderen Menschen einging, in manchen Fällen ein schlechtes Ende nahmen, so wie beispielsweise ihre Liebe zu dem an Jahren jüngeren Levin Schücking.
Droste starb verhältnismäßig jung, bereits im Alter von 51 Jahren, nämlich am 24. Mai 1848, als sie sich von einer Lungenentzündung nicht mehr erholen konnte. Zwei Jahre zuvor war sie vom Familiensitz in Westfalen in die am Bodensee liegende Meersburg gezogen – vornehmlich um die aus der Beziehung mit Schücking entstandenen Krise zu überwinden. An diesem Ort entstand ihr Gedicht „Am Thurme“, dies allerdings bereits in den Jahren 1841/42, als Droste sich den Herbst, Winter und Frühling auf der Meersburg aufhielt. Nachdem das Gedicht von ihr geschrieben war (ein genaueres Entstehungsdatum lässt sich vom 30. September 1841 bis zum 29. Juli 1842 eingrenzen, der Zeit, in der sich Droste am Bodensee aufhielt), schickte es Schücking selbst, nachdem er es erhalten und gelesen hatte, an das „Morgenblatt“. Dort wurde es am 25. August 1842 zusammen mit neun weiteren Gedichten, darunter dem berühmten „ Knaben im Moor “ das erste Mal veröffentlicht. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Bereits am 25. Dezember desselben Jahres schickte Hermann Hauff, der Redakteur des „Morgenblattes“, einen Brief in Richtung Meersburg mit der Bitte um neue Beiträge, da die Gedichte „ der Knabe im Moor, die Taxuswand, Am Thurme, usw. […] von den Kennern und Freunden der Poesie sehr hoch gestellt“ werden.1
Vergleicht man den Titel mit der biographischen Information, die uns heute über Droste vorliegt so kann man spekulieren, dass es sich bei dem im Titel erwähnten Turm um einen Turm der Meersburg handelt. Sicher ist, dass Droste bei ihrem Aufenthalt auf der Burg 1841/42 ein Zimmer im Kapellenturm geben ließ, der laut einer Aufzeichnung aus dem Tagebuch Schückings „von den Wohngemächern der Familie entfernt“ lag, also abseits vom Leben und Treiben auf dem Schloss war. Dort verbrachte die Droste den Großteil ihrer Zeit mit dem Schreiben von Briefen und Anderem. Aus den Tagebucheinträgen Schückings geht weiter hervor, dass sie es war, die ausdrücklich um ein abgelegenes Zimmer auf der Burg gebeten hatte. Sie erhielt wohl eher selten Besuch und erfreute sich hauptsächlich an der Ruhe und Abgelegenheit ihrer Schlafstätte. Sich selbst beschrieb sie – so wiederum Schücking – mit den Worten: „Faul wie ein invalider Mops.“2
Diese Abgelegenheit, Einsamkeit, das Für-sich-sein der Meersburger Zeit spiegelt sich deutlich in dem Gedicht wieder, wenn sie wie folgt, ihre Gedanken niederschreibt:
1 Ich steh’ auf hohem Balkone am Thurm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und laß’ gleich einer Mänade den Sturm
mir wühlen im flatternden Haare;
5 O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Leben und Tod dann ringen!
Und drunten seh’ ich am Strand, so frisch
10 Wie spielende Doggen, die Wellen
Sich tummeln rings mit Gekläff und Gezisch,
Und glänzende Flocken schnellen.
O, springen möcht’ ich hinein alsbald,
Recht in die tobende Meute,
15 Und jagen durch den korallenen Wald
Das Walroß, die lustige Beute!
Und drüben seh’ ich ein Wimpel wehn
So keck wie eine Standarte,
Seh auf und nieder den Kiel sich drehn
20 Von meiner luftigen Warte;
O, sitzen möcht’ ich im kämpfenden Schiff,
Das Steuerruder ergreifen,
Und zischend über das brandende Riff,
Wie eine Seemöve streifen
25 Wär ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
30 Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar,
Und lassen es flattern im Winde!3
Die Droste beschreibt hier auf höchst poetische Art und Weise ihre Hin- und Hergerissenheit zwischen einer sich fügenden Passivität, die leidvoll und unter bedrückter Stimmung geschildert wird, und einem leidenschaftlichen, sie vorwärtsdrängenden Tatenwillen. Als er einst nach der Wesensart von Poesie gefragt wurde, gab der betagte Goethe, einer Gruppe junger Schriftsteller den Rat, dass Poesie immer Gehalt des eigenen Lebens sein solle. Was Goethe in seinem kurzen Satz einst forderte, nahm sich die Droste in diesem Gedicht zu Herzen. Der Leser spürt deutlich den inneren Konflikt, der sich aus dem Aufeinanderprallen eines streng an Sitte und Stand gebundenen Adelslebens mit dem Wunsch nach Freiheit äußert.
Dies führt jedoch unmittelbar zu der Frage, inwieweit dieses Gedicht gesellschaftskritisch oder gar politisch zu verstehen ist, oder ob es sich überhaupt in diesem Meinungsfeld ansiedeln lässt. Neben diesem Aspekt sollen zwei weitere Hauptfragen in dieser Arbeit näher beleuchtet werden. Und zwar einmal die nach der Bipolarität weiblicher Dichtung im 19. Jhdt. und die damit verbundene Erzeugung von Gegensätzen und Oppositionen durch linguistische Mittel. Welche Wirkung entsteht dadurch auf den Leser? Zweitens soll untersucht werden, welche Rolle die Thematik des Mystischen, Unheimlichen und Verdrängten in dem Gedicht „Am Thurme“ tatsächlich spielt. Schließt sich die Droste hier an die Erzähltradition schauriger Geschichten an? Welche Elemente des Unheimlichen und Verdrängten lassen sich in ihrem Gedicht ausmachen?
Jede der vier Strophen des Gedichts folgt einem gleichen Muster. Die ersten vier handeln vom lyrischen Ich, das (eine Situation) beobachtet, beschreibt und das Gesehene ihrem (visuellen) Standpunkt gegenüberstellt. In den darauffolgenden vier Verszeilen jeder Strophe projiziert sich das lyrische Ich dann in die vorher beschriebene Situation und bringt damit das lyrische Ich mit dem lyrischen Du, bzw. dem beobachteten Schauplatz, zusammen.
So beginnt die erste Strophe mit einer konkreten Standortfestlegung durch das lyrische Ich: „Ich steh auf hohem Balkone am Thurm“4 (1). Von hier aus beobachtet es aus bewusster Distanz das Geschehen um den Turm herum. Gleichzeitig spürt man eine Ruhe vom lyrischen Ich ausgehen, das nicht unruhig umhergeht, sondern eben gelassen und beobachtend auf dem Turm steht. Konsultiert man das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm (welches sprachliche Ausrücke und Beispiele aus der ersten Hälfte des 19. Jhdts. erklärt, also genau der Zeit, in der Droste aufwuchs), so findet man den interessanten Hinweis zu dem dort aufgeführten Wort „Thurm“, dass es sich bei dem im Gedicht synekdochisch verwendeten Begriff nicht nur um einen Schlossturm, sondern ebenso gut um einen Gefängnissturm handeln kann.5 Das lyrische Ich als Gefangene? Wovon, oder worin? Betrachtet man die ersten drei Strophen als Gegensatz zur vierten, so ließe sich folgendes Bild entwerfen: Das lyrische Ich, die Frau, die so gerne Mann sein möchte (27), fühlt sich innerhalb der Grenzen des sozialen Systems, das ihr nicht die Möglichkeit gibt, sich nach ihren Vorstellungen und Wünschen zu verwirklichen, als Gefangene. In der letzten Strophe, nach aller Träumerei und Sehnsuchtsbekundung, bleibt ihr nichts Anderes übrig, als sich zurück in ihren Turm zu setzten und dort ihre „unangebrachten“ Phantasien im Stillen fortzuspinnen (29, 31). Dies bringt uns zurück zur Frage nach einem möglichen gesellschaftskritischen Charakter des Gedichts. Scheint es sich auf den ersten Blick eher um eine solide Beschreibung der durcheinander gewirbelten Emotionen einer Frau zu handeln, die nur ansatzweise politisch-soziale und feministische Aspekte anspricht, so stellt man bei einer genaueren Untersuchung der Begrifflichkeiten und Ausrücke (vor allem im historischen Kontext des damaligen alltäglichen Sprachgebrauchs) fest, dass sich unter der Oberfläche die ein oder andere subtile Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung ausmachen lässt.
[...]
1 Woesler, Bd. I,2 S. 867
2 Woesler, Bd. I,2 S.868
3 Woesler, Bd. I,1 S.78
4 alle zitierten Beispiele aus dem Gedicht beziehen sich auf die Fassung aus Woesler, Bd. I, S.78
5 sämtliche lexikalischen Definitionen, soweit nicht anders vermerkt, beziehen sich auf das Wörterbuch der Deutschen Sprache der Gebrüder Grimm (1854-1960) 16 Bde. [32 Teilbände], Leipzig: S.Hirzel (Onlineversion)
- Quote paper
- Holger Lenz (Author), 2005, Gesellschaftskritik, Bipolarität und das Unheimliche in Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht "Am Thurme", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/489753
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