Die „luxemburgische Kanzleisprache [ist] mit Fug und Recht die wesentliche Grundlage unserer Schriftsprache gewesen“ (Bernt, S.121). Der Sprachwissenschaftler Bernt bringt in diesem Satz zum Ausdruck, dass er der Prager Kanzlei des Kaisers Karl IV. eine enorme Wirkung auf die Genese der neuhochdeutschen Schriftsprache zuspricht. Da durch die neueren sprachwissenschaftlichen Forschungen allerdings immer mehr evident wurde, dass die Entwicklung der neuhochdeutschen Sprache nicht auf einzelnen Phänomenen, Herrscherhäusern oder Personen basiert, scheint es interessant, auch die kaiserliche Kanzlei Karls IV. einer erneuten Überprüfung hinsichtlich ihres tatsächlichen Einflusses auf die Entstehung unserer Schriftsprache zu unterziehen. Nimmt die Prager Kanzlei des luxemburgischen Kaisers – wie nicht nur Bernt, sondern auch andere bekannte Wissenschaftler behaupten – tatsächlich eine der zentralen Rollen bei der Genese des Neuhochdeutschen ein oder hat sie wie zahlreiche andere Faktoren lediglich eine kleine, eingeschränkte Wirkung auf die Entwicklung unserer Schriftsprache?
Um sich der Antwort auf diese Frage zumindest anzunähern, erscheint es sinnvoll den Blick zunächst auf die kaiserliche Kanzlei Karls IV. selbst zu richten, um über die Ordnungsstrukturen dieser höfischen Institution Klarheit zu erlangen. Diese Ergebnisse sollen den Weg hin zur Untersuchung der in Karls IV. Kanzlei verwende-ten Urkundensprache ebnen. Erst nach diesen allgemeinen Feststellungen zur Kanzlei an sich wird in dieser Arbeit eine Korpusauswertung folgen, in der eine Urkunde aus der kaiserlichen Kanzlei Karls IV. mit einer Regensburger Urkunde aus dem bairischen Sprachraum, die in etwa der gleichen Zeit wie das Schriftstück aus der kaiserlichen Kanzlei entstanden ist, aus sprachwissenschaftlicher Sicht verglichen werden wird. Der begrenzte Rahmen dieser Arbeit macht es nötig, sich auf ein bestimmtes Untersuchungsgebiet zu beschränken. Aus diesem Grund werden lediglich die phonetischen Gegebenheiten der beiden Urkunden näher beleuchtet werden. Allerdings bringt die Erforschung der jeweiligen Lautverhältnisse automatisch eine enge Anbindung an die Graphemik der beiden Texte mit sich, da allein diese Grundlage für die Untersuchung sein können.
Inhaltsverzeichnis
1. Die kaiserliche Kanzlei Karls IV. – Die ausschlaggebende Institution für die Vereinheitlichung der neuhochdeutschen Schriftsprache?
1.1 Einleitende Gedanken zur Thematik und Methodik
1.2 Überblick über die Forschungsliteratur zur Thematik
2. Die kaiserliche Kanzlei Karls IV.
2.1 Die Beamten der kaiserlichen Kanzlei
2.2 Die Bedeutung des Kanzlers für die kaiserliche Kanzlei
2.3 Der Einfluss der kaiserlichen Kanzlei auf die Sprachentwicklung
3. Die Urkundensprache unter Karl IV.
4. Untersuchung zweier Urkunden
4.1 Entwicklungen im Vokalismus
4.1.1 Neuhochdeutsche Diphthongierung
4.1.2 Neuhochdeutsche Monophthongierung
4.1.3 Dehnung kurzer Vokale und Kürzung langer Vokale
4.1.4 Rundung und Entrundung
4.1.5 Senkung
4.1.6 Vokalismus der Nebensilben
4.2 Entwicklungen im Konsonantismus
4.2.1 Lenisierung
4.2.2 Entwicklung der Affrikaten
4.2.3 Entwicklung von [s] zum palatalen Zischlaut [∫]
4.2.4 Assimilation
5. Ergebnis der Korpusauswertung
6. Resümee
Verwendete Urkunden
Literatur
1. Die kaiserliche Kanzlei Karls IV. – Die ausschlaggebende Institution für die Vereinheitlichung der neuhochdeutschen Schriftsprache?
1.1 Einleitende Gedanken zur Thematik und Methodik
Die „luxemburgische Kanzleisprache [ist] mit Fug und Recht die wesentliche Grundlage unserer Schriftsprache gewesen“(Bernt, S.121). Der Sprachwissenschaftler Bernt bringt in diesem Satz zum Ausdruck, dass er der Prager Kanzlei des Kaisers Karl IV. eine enorme Wirkung auf die Genese der neuhochdeutschen Schriftsprache zuspricht. Da durch die neueren sprachwissenschaftlichen Forschungen allerdings immer mehr evident wurde, dass die Entwicklung der neuhochdeutschen Sprache nicht auf einzelnen Phänomenen, Herrscherhäusern oder Personen basiert, scheint es interessant, auch die kaiserliche Kanzlei Karls IV. einer erneuten Überprüfung hinsichtlich ihres tatsächlichen Einflusses auf die Entstehung unserer Schriftsprache zu unterziehen. Nimmt die Prager Kanzlei des luxemburgischen Kaisers – wie nicht nur Bernt, sondern auch andere bekannte Wissenschaftler behaupten – tatsächlich eine der zentralen Rollen bei der Genese des Neuhochdeutschen ein oder hat sie wie zahlreiche andere Faktoren lediglich eine kleine, eingeschränkte Wirkung auf die Entwicklung unserer Schriftsprache?
Um sich der Antwort auf diese Frage zumindest anzunähern, erscheint es sinnvoll den Blick zunächst auf die kaiserliche Kanzlei Karls IV. selbst zu richten, um über die Ordnungsstrukturen dieser höfischen Institution Klarheit zu erlangen. Diese Ergebnisse sollen den Weg hin zur Untersuchung der in Karls IV. Kanzlei verwendeten Urkundensprache ebnen. Erst nach diesen allgemeinen Feststellungen zur Kanzlei an sich wird in dieser Arbeit eine Korpusauswertung folgen, in der eine Urkunde aus der kaiserlichen Kanzlei Karls IV. mit einer Regensburger Urkunde aus dem bairischen Sprachraum, die in etwa der gleichen Zeit wie das Schriftstück aus der kaiserlichen Kanzlei entstanden ist, aus sprachwissenschaftlicher Sicht verglichen werden wird. Der begrenzte Rahmen dieser Arbeit macht es nötig, sich auf ein bestimmtes Untersuchungsgebiet zu beschränken. Aus diesem Grund werden lediglich die phonetischen Gegebenheiten der beiden Urkunden näher beleuchtet werden. Allerdings bringt die Erforschung der jeweiligen Lautverhältnisse automatisch eine enge Anbindung an die Graphemik der beiden Texte mit sich, da allein diese Grundlage für die Untersuchung sein können.
1.2 Überblick über die Forschungsliteratur zur Thematik
Die Forschung, die sich mit der Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache befasst hat, hat im Laufe der Zeit sehr unterschiedliche Thesen hervorgebracht. Im Verlauf dieser Forschungsgeschichte wurden der kaiserlichen Kanzlei Karls IV. ganz verschiedene Bedeutungsgrade zugewiesen. Müllenhoff etwa geht in seiner Theorie von der Entwicklung der neuhochdeutschen Schriftsprache von einem großen Einfluss der Kanzlei Karls IV. aus. Diese hätte die sprachlichen Eigenheiten des Mittel- und Oberdeutschen kombiniert und damit in erheblichem Maße zur Einheit der neuhochdeutschen Schriftsprache beigetragen (Vgl. Müllenhoff, S.XXXIII). Auch Burdach betonte in seiner These die hervorgehobene Stellung der kaiserlichen Kanzlei Karls IV., wobei er Müllenhoffs Forschungsansätze dahingehend erweiterte, dass die Bedeutung der Kanzlei Karls IV. vor allem auch auf der Entwicklung eines deutschen Frühhumanismus in Prag, der Entstehung eines neuen Bildungszentrums in Böhmen, basiert (Vgl. Burdach 1925, S.130). In der heutigen Forschung gelten diese Meinungen allerdings als völlig obsolet. Nicht nur, dass Müllenhoff und Burdach die Wirkung der Prager Kanzlei Karls IV. vollkommen überbewerteten, vor allem für die zu enge Fokussierung auf spezielle Phänomene, die durch den fehlenden Überblick falsche Ergebnisse einbrachte, ernten die beiden Sprachwissenschaftler oft harsche Kritik. Bernts Thesen, die die Theorien Burdachs untermauern sollten (Vgl. Bernt, S.1-136), sind ebenfalls hinreichend widerlegt worden; unter anderem von Ernst Schwarz (Vgl. Schwarz, S.1-15) und Ludwig Erich Schmitt (Vgl. Schmitt 1936b, S.191-203). Auch Frings und Gutjahr haben wichtige Beiträge zur neueren Erforschung der Rolle der kaiserlichen Kanzlei Karls IV. für die Entwicklung unserer heutigen Schriftsprache geleistet.
Fest steht heute, dass die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache nicht auf wenigen einzelnen Faktoren basiert, sondern in dieser Entwicklung ein komplexer Prozess vorliegt, der durch zahllose Einflüsse geprägt worden ist. Inwieweit die kaiserliche Kanzlei Karls IV. auf diesen Prozess einwirken konnte, kann in dieser Arbeit in letzter Konsequenz sicherlich nicht geklärt werden. Die Thematik ist allerdings interessant genug, um einen Versuch zu unternehmen, auch wenn man die letztendliche Wahrheit nicht findet, sondern sich ihr maximal nur annähert.
2. Die kaiserliche Kanzlei Karls IV.
Die Kanzlei des Kaisers Karl IV. eine „Schreibstube“(Moraw 1983, S.39) zu nennen, wäre wahrlich untertrieben. Die Kanzlei im 14. Jahrhundert war eine zentrale Institution am Hofe des Kaisers. Ihr Aufgabengebiet beschränkte sich keineswegs auf das Anfertigen von Schriftstücken, sondern erreichte sogar politische Dimension. Höhere Kanzleibeamten waren oft zugleich Räte am Hof des Kaisers und hatten dadurch Möglichkeiten auf die Politik Karls IV. Einfluss zu nehmen (Vgl. Moraw 1978, S.290).
2.1 Die Beamten der kaiserlichen Kanzlei
Das Kanzleipersonal Karls IV. war in einer gewissen Hierarchie geordnet, an deren Spitze ganz klar der Kanzler stand. Durch seine „Zwischenstellung zwischen Herrscher und Kanzlei“(Moraw 1985, S.28) hatte er in der Regel eine große Machtfülle auf sich vereint. Die Stellung des Kanzlers, vor allem die des bekanntesten und wohl auch wichtigsten Kanzlers Karls IV., Johann von Neumarkt, wird im Laufe dieser Arbeit noch näher erläutert werden. Gleich unter dem Kanzler nehmen in der Hierarchie des Kanzleipersonals die so genannten Protonotare, die auch als „Oberste Schreiber“(Lindner, S.18) bezeichnet werden können, ihren Platz ein. Sie waren für die „gehobene […] Kanzleiarbeit“(Moraw 1985, S.36) zuständig, vor allem juristische Angelegenheiten zählten zum Aufgabengebiet der Protonotare (Vgl. Moraw 1978, S.291). Unsicher ist aber bis heute, wie viele Protonotare gleichzeitig in der Kanzlei Karls IV. beschäftigt waren. Die Benennungen der verschiedenen Schreibergruppen wurden nicht kontinuierlich eingehalten, so dass daraus oft Missverständnisse resultierten. Bis in die heutige Forschung hinein hält sich zum Beispiel der Irrtum, dass Rudolf II. Rule von Friedberg Kanzler in der Kanzlei Karls IV. gewesen sei (Vgl. Vogtherr, S.191), obwohl ihn bereits Lindner vor über 100 Jahren ganz richtig in die Reihe der Notare und Protonotare eingeordnet hat (Vgl. Lindner, S.22). Tatsächlich hatte Rudolf von Friedberg nicht die Stellung des Kanzlers inne. Stattdessen darf er als einer der „bedeutendsten Notare Karls“(Schmitt 1936a, S.84) gelten. Eine Stufe unter den Protonotaren standen die Notare, denen wiederum die Registratoren und Sigillatoren untergeordnet waren.
Neben der Hierarchie innerhalb des Kanzleipersonals erscheint für eine sprachwissenschaftliche und nicht ausschließlich historische Untersuchung besonders interessant, woher die in der kaiserlichen Kanzlei Beschäftigten stammten. Mit Hilfe der Frage nach der Herkunft der einzelnen Schreiber lassen sich unter Umständen Rückschlüsse auf die in der Kanzlei verwendete Sprache und deren Eigenarten ziehen.
Die Kanzleimitglieder lassen sich bezüglich ihrer Herkunft in fünf Gruppen einteilen (Vgl. Schmitt 1936a, S.76-81). Obwohl das Personal der Kanzlei dem gesamten deutschen Sprachraum angehört (Vgl. Schmitt 1936a, S.74), kristallisieren sich zwei zentrale Gebiete des deutschen Reiches heraus, aus denen die bedeutendsten Schreibergruppen für die Kanzlei des Kaisers rekrutiert wurden: Die meisten wichtigen Kanzleibeamten gehörten entweder dem mainischen oder dem rheinischen Raum, also dem mitteldeutschen Sprachgebiet, an. Schmitt nennt diese Anhäufung von mitteldeutschen Sprechern in der kaiserlichen Kanzlei als den entscheidenden Grund dafür, dass die Kanzleisprache Karls IV. der sich entwickelnden neuhochdeutschen Schriftsprache in wichtigen Punkten ähnlich ist. Denn auch die neuhochdeutsche Schriftsprache entwickelte sich zum Großteil im mitteldeutschen Gebiet, dem geographischen Zentrum des deutschen Reiches (Vgl. Schmitt 1936b, S.219). Ist diese These haltbar? Skala zumindest relativiert Schmitts Ansicht mit dem Argument, dass sich das Deutsch in Karls kaiserlicher Kanzlei nicht grundlegend vom Deutsch unterscheidet, das in der Prager Stadtkanzlei geschrieben wurde. Dort arbeiteten aber im Gegensatz zu Karls mitteldeutschem Personal vor allem aus Böhmen stammende Beamte (Vgl. Skála, S.86). Aus diesem Grund kann die Beschäftigung von vielfach mitteldeutschen Schreibern in Karls Kanzlei nicht der entscheidende Anstoß für die Entwicklung hin zur neuhochdeutschen Schriftsprache gewesen sein (Vgl. Skála, S.86).
2.2 Die Bedeutung des Kanzlers für die kaiserliche Kanzlei
Innerhalb der kaiserlichen Kanzlei kommt – wie bereits angedeutet – dem Kanzler eine bedeutende Stellung zu. Er ist derjenige, der das Geschehen in der Kanzlei lenkt. Wie groß seine Einflussmöglichkeiten am Hof sind, hängt aber ganz essentiell davon ab, welche Beziehung er zum Kaiser unterhält. Es liegt ganz in der Hand des Herrschers, ob der Kanzler die Kanzlei ganz nach seinen Vorstellungen führen kann oder ob er in seiner Arbeit zahlreichen Beschränkungen unterliegt (Vgl. Moraw 1978, S.290).
Demnach muss wohl Johann von Neumarkt einen sehr guten Kontakt zu Karl IV. gepflegt haben, da dieser als der in der Geschichte der kaiserlichen Kanzlei Karls IV. wichtigste Kanzler gilt. In seiner Stellung als Kanzler brachte er einige Entwicklungen voran, die für die Kanzlei den Weg vom Spätmittelalter in die frühe Neuzeit ebneten. Auch wenn nicht mehr genau nachvollzogen werden kann, für welche Neuerungen an Karls Hof Johann von Neumarkt verantwortlich war (Vgl. Klapper, S.1), so besteht trotz allem kein Zweifel daran, dass er zu den Reformen maßgeblich beigetragen hat. Vor allem für die unter seiner Führung in Angriff genommene Kanzleireform, die für eine gewisse Normierung der Kanzleiregeln sorgte, muss Johann als die treibende Kraft betrachtet werden (Vgl. Lindner, S.125/126).
2.3 Der Einfluss der kaiserlichen Kanzlei auf die Sprachentwicklung
Untersucht man, inwiefern die kaiserliche Kanzlei Karls IV. Einfluss auf die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache hatte, so sollte man zunächst feststellen, welchen Einfluss die kaiserliche Kanzlei allgemein überhaupt auf ihre Zeitgenossen hatte. Wurde die in der kaiserlichen Kanzlei verwendete Schriftsprache als Vorbild gesehen und dementsprechend versucht, diese auch in anderen Gebieten des deutschen Reiches umzusetzen, oder spielte sie für andere Kanzleien keine bzw. nur eine geringe Rolle? Da es sich heute nicht mehr genau nachvollziehen lässt, kommen diesbezüglich verschiedene Forscher zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen: Während etwa Gutjahr die These vertritt, dass der „Einfluß [der kaiserlichen Kanzlei] […] bei dem von Jahr zu Jahr immer mehr wachsenden Einfluß des Kaisers ein stetig zunehmender [ist], der auch der spezifisch kaiserlichen Kanzleisprache immer mehr Geltung verschafft“(Gutjahr, S.185) oder auch Burdach davon ausgeht, dass die Sprache der kaiserlichen Kanzlei zu einer „Reichssprache“ wurde, nach der sich nach und nach alle richteten (Vgl. Burdach 1884, S.1/2), bestreitet etwa Ehrismann jeglichen Einfluss auf andere Kanzleien (Vgl. Ehrismann, S.917). Es ist wohl anzunehmen, dass die kaiserliche Kanzlei Karls IV. zwar für andere Kanzleien eine Rolle spielen konnte, aber sicherlich keine große. Dass sich diese Meinung in der Forschung lange nicht durchsetzte, liegt womöglich an den Gemeinsamkeiten, die die in der kaiserlichen Kanzlei Karls IV. verwendete Schriftsprache mit den frühneuhochdeutschen Tendenzen hatte. Diese Ähnlichkeit ließ viele vermuten, dass die kaiserliche Kanzlei in Prag als eine der ersten zum Frühneuhochdeutschen über ging und sich diese Entwicklungen nach und nach im gesamten deutschen Gebiet verbreiteten. Auf den ersten Blick wäre dies eine logische Erklärung, doch bei näherem Hinsehen ergibt sich ein anderes Bild. Da sich im Spätmittelalter Menschen aus dem deutschen Sprachgebiet im Osten niederließen, entstand dort eine koloniale Mischsprache, die von mitteldeutschen und oberdeutschen Spracheigentümlichkeiten dominiert wurde. Durch die so genannte Ostkolonisation bildete sich im Osten eine Form der deutschen Sprache heraus, die der frühneuhochdeutschen Form relativ nahe kommt. Allerdings darf nicht der Fehler gemacht werden, eine direkte Abhängigkeit in den beiden Formen zu sehen. Die frühneuhochdeutsche Form vereint zwar auch mittel- und oberdeutsche Phänomene in sich, allerdings wurde diese Entwicklung von anderen Faktoren als von der Ostkolonisation hervorgerufen. Der Kompromisscharakter der Sprachform, die in Böhmen entstanden ist, ist außerdem in erster Linie Ergebnis des Zusammentreffens vieler Menschen aus unterschiedlichen deutschen Sprachräumen und nicht – wie teilweise behauptet (Vgl. Vancsa, S.102) – durch eine bewusste Ausbildung einer mitteldeutsch-oberdeutschen Mischform durch das Personal der kaiserlichen Kanzlei in Prag. In der Kanzleisprache der kaiserlichen Kanzlei Karls IV. kommen die Veränderungen in der Sprachform zum Tragen und werden in Schriftstücken der Prager Kanzlei dokumentiert. Angestoßen wurden diese Entwicklungen aber keineswegs aktiv durch die Beamten der kaiserlichen Kanzlei, sondern durch die Ostkolonisation. Als aktive Schöpfer der Neuerungen dürfen Karl IV. und sein Kanzleipersonal keinesfalls gesehen werden; sie setzen zwar die sich entwickelnde neue Sprachform um, werden aber von den sich ihnen bietenden Umständen geleitet: „Daß sein [Karls] Deutsch mit dem späteren >mittelsten dütsch< Luthers zusammentrifft, liegt in dem Stand der böhmischen Mundart des vierzehnten Jahrhunderts und nicht in der Absicht des Urhebers“(Ehrismann, S.918). Obwohl die kaiserliche Kanzlei Karls IV. also nicht selbst für das Aufkommen der sprachlichen Veränderungen verantwortlich war, sondern diese Entwicklungen „lediglich“ umgesetzt hat, darf die Bedeutung der Prager Kanzlei für die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache nicht heruntergespielt werden. Sie ist durch die Mischung ober- und mitteldeutscher Spracheigenschaften die erste Kanzlei, in der sich Ansätze zu einer „überlandschaftlichen Schreib- und Verkehrssprache […]“(Schmidt, S.298) zeigten.
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- Annette Schießl (Author), 2005, Die kaiserliche Kanzlei Karls IV. und ihre Rolle im Entstehungsprozess der neuhochdeutschen Schriftsprache - Ein Urkundenvergleich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48943
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