Schon seit einiger Zeit beschäftigt sich die wirtschaftshistorische Forschung mit den Zusammenhängen von Bildung, Bildungspolitik und wirtschaftlichem Wachstum. Dabei geht man davon aus, dass sich eine breite und möglichst umfassende Bildung der Bevölkerung stets positiv auf das Wachstum einer Nation auswirkt. Der Begriff Bildung meint hier eher eine Elementarbildung im Sinne der Vermittlung von Lese- und Schreibfähigkeit und des Erlernens mathematischer Basisfertigkeiten. Um eine solche Bildung sämtlicher Bevölkerungsschichten gewährleisten zu können, müssen jedoch zunächst bestimmte strukturelle Voraussetzungen getroffen werden, d. h. es werden in erster Linie Investitionen benötigt: Schulen müssen gebaut werden, Lehrer müssen ausgebildet und bezahlt werden und das notwendige Lehrmaterial muss bereitgestellt werden. Es handelt sich also v. a. um staatliche Ausgaben, die erst nach Ablauf einiger Zeit zu entsprechenden Rückflüssen und Gewinnen führen, denn besser ausgebildete Personen können anspruchsvollere Tätigkeiten ausüben und sorgen für eine zunehmende Spezialisierung der Arbeiterschaft, was im Regelfall sowohl für den Staat (durch Produktions- und Exportsteigerungen) als auch für den Einzelnen (durch höhere Löhne) positive Auswirkungen haben dürfte. Die in diesem Zusammenhang für eine Verbreitung und Diffusion von Bildung notwendigen Ausgaben werden unter dem Begriff “Humankapital“ zusammengefasst.
Die vorliegende Seminararbeit beschäftigt sich mit dem Humankapital in Russland und der Sowjetunion zwischen 1850 und 1939, welches anhand von Alphabetisierungsraten und Angaben über mittlere und höhere Schulbildung gemessen und dessen Auswirkungen auf wirtschaftliches Wachstum systematisch untersucht werden sollen. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf der ersten gesamtrussischen Volkszählung von 1897, daneben fließen auch die Ergebnisse aus den darauf folgenden Volkszählungen von 1926 und 1939 für die Sowjetunion mit ein.
Im ersten Abschnitt soll zunächst auf die Frage eingegangen werden, in welchen Formen Wachstum auftreten kann und wie sich dieses messen lässt, daneben sollen Korrelationen zwischen Alphabetisierung, Schulbildung und Wachstum speziell für Russland anhand ausgewählter Daten dargestellt werden.
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung
1. Alphabetisierung, Schulbildung und Wachstum
1.1 Wie lässt sich Wachstum messen?
1.2 Korrelationen zwischen Alphabetisierung, Schulbildung und Wachstum
2. Geschichtliche Hintergründe
3. Das russische Reich zum Zeitpunkt der Volkszählung von
4. Statistische Auswertung
4.1 Gesamtrussland
4.2 Regionale Unterschiede
4.3 Ethnische Unterschiede
4.4 Output aus Industrie und Landwirtschaft
5. Zusammenfassung
6. Literatur-/Quellenverzeichnis
0. Einleitung
Schon seit einiger Zeit beschäftigt sich die wirtschaftshistorische Forschung mit den Zusammenhängen von Bildung, Bildungspolitik und wirtschaftlichem Wachstum. Dabei geht man davon aus, dass sich eine breite und möglichst umfassende Bildung der Bevölkerung stets positiv auf das Wachstum einer Nation auswirkt. Der Begriff Bildung meint hier eher eine Elementarbildung im Sinne der Vermittlung von Lese- und Schreibfähigkeit und des Erlernens mathematischer Basisfertigkeiten. Um eine solche Bildung sämtlicher Bevölkerungsschichten gewährleisten zu können, müssen jedoch zunächst bestimmte strukturelle Voraussetzungen getroffen werden, d. h. es werden in erster Linie Investitionen benötigt: Schulen müssen gebaut werden, Lehrer müssen ausgebildet und bezahlt werden und das notwendige Lehrmaterial muss bereitgestellt werden. Es handelt sich also v. a. um staatliche Ausgaben, die erst nach Ablauf einiger Zeit zu entsprechenden Rückflüssen und Gewinnen führen, denn besser ausgebildete Personen können anspruchsvollere Tätigkeiten ausüben und sorgen für eine zunehmende Spezialisierung der Arbeiterschaft, was im Regelfall sowohl für den Staat (durch Produktions- und Exportsteigerungen) als auch für den Einzelnen (durch höhere Löhne) positive Auswirkungen haben dürfte. Die in diesem Zusammenhang für eine Verbreitung und Diffusion von Bildung notwendigen Ausgaben werden unter dem Begriff “Humankapital“ zusammengefasst.
Die vorliegende Seminararbeit beschäftigt sich mit dem Humankapital in Russland und der Sowjetunion zwischen 1850 und 1939, welches anhand von Alphabetisierungsraten und Angaben über mittlere und höhere Schulbildung gemessen und dessen Auswirkungen auf wirtschaftliches Wachstum systematisch untersucht werden sollen. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf der ersten gesamtrussischen Volkszählung von 1897, daneben fließen auch die Ergebnisse aus den darauf folgenden Volkszählungen von 1926 und 1939 für die Sowjetunion mit ein.
Im ersten Abschnitt soll zunächst auf die Frage eingegangen werden, in welchen Formen Wachstum auftreten kann und wie sich dieses messen lässt, daneben sollen Korrelationen zwischen Alphabetisierung, Schulbildung und Wachstum speziell für Russland anhand ausgewählter Daten dargestellt werden. Daraufhin ist es unerlässlich, auf die geschichtlichen Hintergründe in Russland und der Sowjetunion während des Untersuchungszeitraums näher einzugehen, ohne deren Kenntnis das Verständnis und die Bewertung der Zusammenhänge zwischen Bildung und Wachstum für diese Region kaum möglich ist. Im Anschluss daran wird das russische Reich zum Zeitpunkt der Volkszählung von 1897 in seiner geographischen Ausdehnung präsentiert und eine Einteilung in Großregionen vorgenommen, woraufhin im vierten und wichtigsten Abschnitt eine statistische Auswertung des Datenmaterials zunächst für Gesamtrussland, dann auch für die einzelnen Großregionen und für verschiedene ethnische Gruppierungen erfolgt und Abweichungen bzw. Unterschiede beschrieben werden sollen. Der fünfte und letzte Abschnitt fasst die Ergebnisse der Untersuchung schließlich noch einmal knapp zusammen.
1. Alphabetisierung, Schulbildung und Wachstum
1.1 Wie lässt sich Wachstum messen?
Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass sich die Frage, wie man auftretendes Wachstum messen kann, nicht eindeutig beantworten lässt, denn grundsätzlich sind zahlreiche Ausprägungen von Wachstum denkbar. Die wichtigsten davon sollen im Folgenden thematisiert werden. Am naheliegendsten erscheint es sicherlich, Wachstum anhand des Pro-Kopf-Einkommens bzw. des BIP pro Kopf zu messen. Daneben sind jedoch auch weitere Formen von Wachstum denkbar: Wirtschaftshistoriker wie Mironov[1] messen den biologischen Lebensstandard anhand von Körpergrößen. Hierbei wird ein Anstieg der durchschnittlichen Körpergröße einer Population als Indikator für eine Verbesserung der Ernährungsqualität, eine stärkere Resistenz gegen Krankheiten und damit für eine höhere Lebenserwartung angesehen, worauf später noch näher eingegangen werden soll. Auch der Output aus Industrie und Landwirtschaft kann als Wachstumsdeterminante angesehen werden. Hier ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich Output aus bestimmten Wirtschaftszweigen besonders stark staatlich steuern und auch manipulieren lässt, weshalb man bei der Interpretation solcher Daten stets vorsichtig sein sollte. Dies nicht zuletzt deshalb, weil Outputraten v. a. für die Außendarstellung eines Staates von Bedeutung waren und nicht selten versucht wurde, tatsächliche Verhältnisse durch beeindruckende Zahlen zu beschönigen (insbes. in der ehemaligen Sowjetunion!). Daneben kann auch ein Anstieg des verfügbaren Kapitals innerhalb einer Gesellschaft als Indikator für Wachstum interpretiert werden, denn mit steigender Kapitalbildung geht i. d. R. auch ein Investitionsanstieg und als dessen Folge Wachstum einher. Auf all diese Ausprägungen von Wachstum soll im vierten Abschnitt näher eingegangen werden, womit allerdings noch lange nicht alle denkbaren Formen von Wachstum erfasst sind. Man könnte beispielsweise zusätzlich ein Sinken der durchschnittlichen Todesrate oder einen prozentualen Anstieg der Stadtbevölkerung als Indikatoren für Wachstum heranziehen, was den Umfang dieser Seminararbeit jedoch übersteigen würde.
1.2 Korrelationen zwischen Alphabetisierung,
Schulbildung und Wachstum
Dass zwischen Bildung und Einkommen ein positiver Zusammenhang besteht, kann als erwiesen angesehen werden, denn es gibt zu diesem Thema bereits zahlreiche Untersuchungen, die alle zu mehr oder weniger ähnlichen Ergebnissen kommen. Hiervon ist auch Russland bzw. die Sowjetunion nicht ausgenommen. Der jüdische Wirtschaftshistoriker Arcadius Kahan beispielsweise hat sich näher mit diesem Thema befasst und veröffentlicht speziell für Russland sowohl für die Bildungskomponente “Alphabetisierung“ als auch für die Bildungskomponente “Schulbildung“ getrennte Zahlen, die dies untermauern:
1. Zusammenhang zwischen Schulbildung und Einkommen physischer Arbeiter 1919 (keine Schulbildung = 100):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1; Quelle: Kahan 1989, S. 197
2. Lohn alphabetisierter Arbeiter verschiedener Altersgruppen in der Textilindustrie als Prozentsatz nicht-alphabetisierter Arbeiter (Moskauer Distrikt, 1912):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2; Quelle: Kahan 1989, S. 195
3. Rangliste verschiedener Berufe nach Alphabetisierungsrate und durchschnittlichem Tageseinkommen, 1895-1896:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 3; Quelle: Kahan 1989, S. 193
2. Geschichtliche Hintergründe
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts ist Russland ein sowohl industriell als auch gesellschaftlich rückständiger Staat. Über 90 % der arbeitenden Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig, wobei die meisten Bauern abhängig oder gar Leibeigene sind. Die meisten Landgüter sind noch nicht von der veralteten Zwei- oder Dreifelderwirtschaft zur modernen Fruchtwechselwirtschaft übergegangen, daneben fehlt es insbes. in den entlegenen Gebieten an Verkehrsverbindungen und Absatzmöglichkeiten. Die aus diesen Gegebenheiten resultierenden fehlenden Anreize für Produktivitätssteigerungen und Investitionen sind nicht zuletzt ein Grund dafür, dass sich die Produktivität der russischen Landwirtschaft um 1850 auf einem Niveau befindet, das in England bereits um 1750 und in Mitteleuropa um 1800 überwunden war. Schulen und Universitäten als Bildungsstätten sind kaum vorhanden, die Alphabetisierungsrate liegt bei bestenfalls 15 %. Auch der Adel (insbes. kleine Landadelige), ist oftmals ebenso ungebildet wie das gewöhnliche Volk. Dennoch entsteht im Laufe des 19. Jahrhunderts revolutionäres Potential aus studentischen Gruppierungen, die sog. “Intelligenzia“, aus der sämtliche späteren revolutionären Theoretiker und Umstürzler hervorgehen sollten. Bildung erweist sich somit auch für die gesellschaftliche Erneuerung in Russland als wesentlicher Faktor[2].
Zar Nikolaus I. wird nach dessen Tod 1855 von Alexander II. abgelöst. Die Niederlage im Krimkrieg (1853-1856) auf eigenem Territorium lässt die Rückständigkeit Russlands und die Notwendigkeit von Reformen offen zu Tage treten, woraufhin der Zar 1861 die Leibeigenschaft aufheben lässt, was den Bauern jedoch nur ihre persönliche Freiheit garantiert. Die Ablösung selbst, d. h. die Ausstattung der Bauern mit abgabefreiem Land und die Entschädigung der Gutsbesitzer, ist für die überwiegende Mehrheit nicht realisierbar, denn die Bauern müssen ihre Ablösung selbst bezahlen und können nur einen Teil des von ihnen bewirtschafteten Landes erwerben, weshalb die meisten es vorziehen, weiterhin in Abhängigkeit zu leben und Frondienst zu leisten. Weiterhin fehlen Anreize für Produktivitätssteigerungen und Investitionen, woran nicht zuletzt der “Mir“, die Bauerngemeinde, Mitschuld trägt: So war nicht der einzelne Bauer Eigentümer des Landes, sondern der Mir, der das Land in bestimmten zeitlichen Abständen nach den Bedürfnissen der einzelnen Familien umverteilen konnte, was sich zunehmend als Hindernis bei der Modernisierung der Landwirtschaft erwies, denn niemand dachte daran, Investitionen auf einem Stück Land vorzunehmen, das er früher oder später einem anderen überlassen sollte. Gerade deshalb wird der Mir auch oftmals als “Urform des Kommunismus“ bezeichnet.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Grafik 1: Verhandlungen einer Dorfgemeinschaft (“Mir“)
Quelle: Egner et al. (1994), S. 176
[...]
[1] Vgl. Mironov in: Komlos (1995), S. 59-80.
[2] Die folgenden Ausführungen beziehen sich weitgehend auf Egner et al. (1994), S. 176-203 und Egner et al. (1996), S. 55-116.
- Citar trabajo
- Markus Maneljuk (Autor), 2005, Alphabetisierung, Schulbildung und Wachstum in Russland und der Sowjetunion, 1850 - 1939, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48822
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