Die Zweiteilung Deutschlands schien für lange Zeit die wahrscheinliche Zukunft deutscher Staatlichkeit zu sein. Jeweils fest in die Systemblöcke integriert, rückte die von beiden Seiten zumindest verbal angestrebte Vereinigung im Laufe der Koexistenz von Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik in immer größere Ferne. Spätestens seit der Schließung der innerdeutschen Grenze durch den Bau der Berliner Mauer 1961, bedeutete die Trennung der Staatsgebiete für die Menschen der DDR eine Festschreibung der Lebensumstände für unabsehbare Zeit. Ohne die Möglichkeit selbst zu entscheiden, wo sie ihr Leben am ehesten nach ihren Wünschen, Vorstellungen und Interessen planen und führen könnten, galt es sich in das öffentliche Leben der DDR zu integrieren oder mit Konsequenzen zu rechnen, die in ihrem Umfang nur selten vorhersehbar waren. Diese Arbeit wird im folgenden einen Aspekt des staatlichen Unrechts der DDR behandeln: Den Umgang mit den Bürgern, die sich zur Ausreise in die Bundesrepublik entschlossen hatten. Da der Wohnortwechsel nach Westdeutschland bis zum Bau der Mauer relativ problemlos erfolgen konnte, fokussiere ich auf die Aussiedler und Flüchtlinge aus der DDR, die diesen Schritt während der „zementierten“ Zweistaatlichkeit zwischen 1961 und 1989 getan haben. Der langwierigste, aber dennoch am häufigsten gewählte Weg die DDR zu verlassen, war der „Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR“. Auf Grund internationalen Drucks, westdeutschen Forderungen und Verhandlungen sowie vermeintlichen Funktionslogiken der Machterhaltung der DDR-Führung gab es den Weg der Familienzusammenführung. Diese war auch der einzig offiziell beschreitbare Weg der „Wohnsitzveränderung von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nach dem Ausland“ Den Ausreisewilligen bot sich darüber hinaus die Möglichkeiten den illegalen Weg über die Grenze nehmen. Die dritte Möglichkeit bestand darin, nach einer genehmigten Auslandsreise, nicht wieder in die DDR einzureisen. Diese Übersiedler und Flüchtlinge sollten allerdings getrennt voneinander betrachtet werden. Ihre Motive zum Verlassen der DDR mögen sich zwar nicht unterschieden haben, jedoch die Art und das Ausmaß der Konsequenzen, die sie bereit waren zu tragen und in nicht unerheblichem Umfang auch erfuhren.
Inhalt
1. Einleitung
2. Rechtliche Hintergründe
2.1. Internationale Verträge und Abkommen
2.2. Ostdeutsche Gesetze und Verordnungen zur Möglichkeit der „Wohnortveränderung nach dem Ausland“
2.3. Bundesrepublikanisches Selbstverständnis und Gesetze zur Aufnahme und Integration von Deutschen aus der DDR
3. Gründe und Motive zur Ausreise
3.1. Methodische Schwierigkeiten bei der quantitativen Angabe der Wanderungssaldi
3.2. Zur Motivlage der Ausreisewilligen und die Schwierigkeiten deren Ergründung
3.3. Motivgruppen nach Gründen zur Ausreise
4. Die verschiedenen Gruppen der Aussiedler
4.1. Flüchtlinge
4.2. Übersiedler
4.3. Freigekaufte politische Häftlinge
4.4. Integration in die BRD
5. Fazit
6. Literatur
1. Einleitung
Die Zweiteilung Deutschlands schien für lange Zeit die wahrscheinliche Zukunft deutscher Staatlichkeit zu sein. Jeweils fest in die Systemblöcke integriert, rückte die von beiden Seiten zumindest verbal angestrebte Vereinigung im Laufe der Koexistenz von Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik in immer größere Ferne. Spätestens seit der Schließung der innerdeutschen Grenze durch den Bau der Berliner Mauer 1961, bedeutete die Trennung der Staatsgebiete für die Menschen der DDR eine Festschreibung der Lebensumstände für unabsehbare Zeit. Ohne die Möglichkeit selbst zu entscheiden, wo sie ihr Leben am ehesten nach ihren Wünschen, Vorstellungen und Interessen planen und führen könnten, galt es sich in das öffentliche Leben der DDR zu integrieren oder mit Konsequenzen zu rechnen, die in ihrem Umfang nur selten vorhersehbar waren.
Diese Arbeit wird im folgenden einen Aspekt des staatlichen Unrechts der DDR behandeln: Den Umgang mit den Bürgern, die sich zur Ausreise in die Bundesrepublik entschlossen hatten. Da der Wohnortwechsel nach Westdeutschland bis zum Bau der Mauer relativ problemlos erfolgen konnte, fokussiere ich auf die Aussiedler und Flüchtlinge aus der DDR, die diesen Schritt während der „zementierten“ Zweistaatlichkeit zwischen 1961 und 1989 getan haben. Der langwierigste, aber dennoch am häufigsten gewählte Weg die DDR zu verlassen, war der „Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR“. Auf Grund internationalen Drucks, westdeutschen Forderungen und Verhandlungen sowie vermeintlichen Funktionslogiken der Machterhaltung der DDR-Führung gab es den Weg der Familienzusammenführung. Diese war auch der einzig offiziell beschreitbare Weg der „Wohnsitzveränderung von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nach dem Ausland“[1] Den Ausreisewilligen bot sich darüber hinaus die Möglichkeiten den illegalen Weg über die Grenze nehmen.[2] Die dritte Möglichkeit bestand darin, nach einer genehmigten Auslandsreise, nicht wieder in die DDR einzureisen. Diese Übersiedler und Flüchtlinge sollten allerdings getrennt voneinander betrachtet werden. Ihre Motive zum Verlassen der DDR mögen sich zwar nicht unterschieden haben, jedoch die Art und das Ausmaß der Konsequenzen, die sie bereit waren zu tragen und in nicht unerheblichem Umfang auch erfuhren.
In dieser Arbeit werde ich den staatliche Umgang mit dem wachsenden Wunsch nach Ausreise und die Motive der Aussiedler betrachten. Dabei spielte es eine Rolle, ob ein Flüchtling einen relativ kurzfristigen Entschluss zum Verlassen der DDR fällte oder ob ein Übersiedlieder einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft stellte, in dem Wissen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Reihe von Einschränkungen im als beengend empfundenen gesellschaftlichen Alltag hinnehmen zu müssen. Auf der einen Seite also Flüchtlinge (sog. Sperrbrecher und von Reisen nicht heimgekehrte) die staatliche Repressionen der DDR nicht mehr befürchten oder gar hinnehmen mussten, auf der anderen Seite Übersiedler, die während des Wartens auf die Genehmigung systematische Desintegration erfuhren.[3]
Im Ersten Kapitel werde ich die verschiedenen gesetzlichen Regelungen und Verfahrensweisen der beiden deutschen Staaten vorstellen, die sich mit der Problematik der innerdeutschen Umsiedlung befassen. Dabei werde ich verschiedene gemeinsam abgeschlossene Verträge, Gesetze und unterzeichnete internationale Abkommen hinsichtlich ihrer Relevanz für Übersiedlungswillige betrachten.
Der zweite Abschnitt beschreibt die Motive derjenigen, die sich entschlossen die DDR zu verlassen. Zu unterscheiden sind hier die beiden Gruppen Flüchtlinge und Übersiedler, je nach dem wie die Einreise in die BRD erfolgte. Als weitere Gruppe, die sich auf die beiden verschiedenen Ausreisemöglichkeiten aufteilt, werde ich die 34.000 Freigekauften politischen Häftlinge vorstellen.
Wie sich diese Motive, die zum Ausreiseentschluss führten, insbesondere bei den Personen änderten bzw. vertieften, die den legalen Weg über den Ausreiseantrag wählten, werde ich im dritten Teil beschreiben. Schwierigkeiten, die sich auf Grund der Antragstellung ergeben konnten dabei die gleichen sein, die bei anderen erst zur Antragstellung führten. Des Einen Motivation zur Ausreise, also Ursache der Unzufriedenheit, konnte genau so gut die Folge der durch einen Ausreiseantrag geäußerte Unzufriedenheit eines Anderen sein.
2. Rechtliche Hintergründe
Vorneweg: Hätten sich beide Staaten, ausdrücklich die DDR, an ihre eigenen Gesetze und die ratifizierten internationalen Verträge und Abkommen gehalten, verlöre diese Arbeit ihren Gegenstand. Auch die DDR hatte UN- und KSZE-Abkommen zu Menschenrechten unterschrieben und ratifiziert. In ihrem Bestreben nach einer Aufnahme in die Vereinten Nationen, gab sie sich offiziell jedenfalls immer als Musterstaat. Zwar erst 1969, aber dennoch während die Berliner Mauer stand, unterschrieb die DDR den UN-Pakt über „bürgerliche und politische Rechte“.[4] Es bedurfte aber größter Anstrengungen und internationalen Drucks, dieser Erklärung ansatzweise Gültigkeit zu verschaffen.
Neben den internationalen Verträgen, zu denen auch die KSZE-Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975 und deren Folgekonferenz 1983 in Madrid zählen, hatten sich beide Länder des Problems des Wohnortwechsels mit eigenen Gesetzen angenommen. Waren die westdeutschen Gesetze alle um die Theorie der (gesamt-) deutschen Staatsbürgerschaft angesiedelt, schuf die DDR Gesetze, um ihre Bürger an der Ausreise zu hindern. Erst der Grundlagenvertrag aus dem Jahr 1972 vereinfachte einige Bereiche des Personenverkehrs und Warenaustauschs zwischen den deutschen Staaten.
2.1. Internationale Verträge und Abkommen
In der Bundesrepublik gab es keine juristischen Vorbehalte Deutsche aus anderen Ländern aufzunehmen, vielmehr wurde deren Aufnahme sogar von Maßnahmen begleitet, die eine langfristig erfolgreiche Integration ermöglichen sollten.
Von internationalen Verträgen und Abkommen wird hier nur insofern die Rede sein, als dass sie den Grenzverkehr in Ost-West-Richtung erleichterten. Zunächst sind die Abkommen zu nennen, die sich, im Rahmen der Konkretisierung der Menschenrechte, mit der Freizügigkeit beschäftigen. Für den Zeitraum der Grenzschließung sind das die Internationale Konvention über zivile und politische Rechten vom 16.Dezember 1966 (im Folgenden UN-Konvention) und die KSZE-Treffen in Helsinki 1975 (KSZE-Schlussakte) und Madrid 1983 (KSZE-Folgetreffen). Neben allgemeinen Richtlinien für faire Verfahren vor Gericht, besagte bereits die UN-Konvention ausdrücklich: „es steht jedem frei, jedes Land, auch sein eigenes, zu verlassen.“ (Art. 12 Abs. 2) Diese Freiheit durfte nur durch Gesetze beschränkt werden, „die zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind...“ (Art. 12. Abs. 3)[5].
Ähnlich 1975 in der KSZE-Schlussakte: Die staatlichen Behörden sollten Gesuche auf Besuchsreisen zu Familienangehörigen „wohlwollend prüfen“ (Art. 1. Abs. a.) und Gesuche auf Familienzusammenführungen (FZF) „in positivem und humanitärem Geist“ (Art. 1 Abs. b.) behandeln. Darüber hinaus bestätigen die Teilnehmerstaaten, „daß die Einreichung eines Gesuchs betreffend Kontakte auf Grundlage familiärer Bindungen [oder in Abs. b.: betreffend Familienzusammenführung, D.R.] zu keiner Veränderung der Rechte und Pflichten des Gesuchstellers oder seiner Familienmitglieder führen wird“[6], und dass sie beabsichtigen, „die Verfahren für die Aus- und Einreise zu vereinfachen und flexibel zu handhaben.“ (Art. 1 Abs. d.) Konkretisiert wurden diese Absichtserklärungen auf dem KSZE-Folgetreffen 1983 in Madrid. Familienbegegnungen in Notfällen sollten so zügig wie möglich, FZF und Eheschließungen innerhalb von sechs Monaten und Familienbegegnungen in allmählich kürzer werdenden Fristen genehmigt werden.[7]
Da die DDR die UN-Konvention ratifizierte, womit diese am 23. März 1976 in Kraft trat, hätte sie, völkerrechtlich zulässig, die Ausreise nur mit Gesetzen und Argumenten konform zu Art. 12 Abs. 3 einschränken dürfen. Es kann aber mit Recht bezweifelt werden, dass der von der eigenen Regierung verursachte Braindrain in diesem Sinne als Gefahr für die öffentliche Ordnung oder nationale Sicherheit herangezogen werden konnte. In der Rechtsgüterabwägung stünden die individuellen Menschenrechte in Form politischer und ziviler Recht vor dem Recht des Staates alternative Gesellschaftsmodelle auszuprobieren bzw. durchzusetzen – zumal wenn die ersteren als verbindlich anerkannt wurden. Genau so verhält es sich mit den zentralen Punkten der KSZE-Treffen. Auch wenn diese bloße Absichtserklärungen waren, lässt sich auf Grund des erheblichen Einigungsaufwandes solcher Abschlusserklärungen eine – zumindest völkerrechtliche – Geltung ableiten. Die Erfahrungen der Antragsteller belegen jedoch eindeutig, dass der DDR an einer Erfüllung der unterzeichneten Erklärungen nicht gelegen war. Wie ich Kapitel 4.2. darlegen werde, betrieb die DDR-Führung ganz im Gegenteil ein System der Benachteiligung und Einschränkung der bürgerlichen Teilhabe, um Antragsteller auf Ausreise wieder umzustimmen, obwohl sie mit dem Gesetz zu FZF und Eheschließung von 1983 die zentralen Punkte des Madrider Treffens in nationales Recht umgesetzt hatte.
Der Grundlagenvertrag von 1972 brachte beiden deutschen Staaten eine Klärung ihrer Rolle auf internationalem Parkett. Zwar wurden keine Aussagen über die Vereinigung getroffen und lediglich der „Konsens über den Dissens in der nationalen Frage“[8] festgestellt. Die Bundesrepublik musste ihren Alleinvertretungsanspruch aufgeben, konnte aber „an ihrer Ansicht vom Fortbestand der deutschen Nation [festhalten], während es der DDR unbenommen blieb, mit ihrer eingeschränkten Zwei-Nationen-These zu operieren.“[9] Gutnachbarschaftliche Beziehungen (Art. 1) gleichberechtigter Staaten und das Selbstbestimmungsrecht des in beiden Staaten lebenden deutschen Staatsvolkes (Art. 2), Anerkennung der Grenzen (Art. 3) und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen durch den Austausch ständiger Vertretungen am Sitz der jeweiligen Regierung (Art. 8) standen für die angestrebte Normalisierung im Verhältnis der beiden deutschen Staaten. Besonders aber in Artikel 7 wurde die Normalisierung ausgekleidet: Beide Staaten werden „im Zuge der Normalisierung ihrer Beziehungen praktische und humanitäre Fragen“ regeln.[10] Dies erfolgte auch in wichtigen Bereichen. Abkommen zum Transitverkehr, Post- und Fernsprechverkehr sowie Straßenbenutzungsgebühren dienten überwiegend „den Interessen Berlins“.[11] Eine Normalisierung der Reisen und Zuwanderung von Ost nach West konnte im Gefolge des Grundlagenvertrags jedoch nicht erreicht werden. Wie weiter unten zu lesen sein wird, setzte die DDR die Ausreisewilligen immer wieder als Druckmittel bei Verhandlungen über die konkrete Ausgestaltung der gemeinsamen Beziehungen ein. Pauschale Zahlungen der Bundesrepublik für die Straßenbenutzung oder den Transport von Post wurden so gegen politische Zugeständnisse eingetauscht.
Das Entstehen gutnachbarschaftlicher Beziehungen lässt sich jedoch hinsichtlich der Übersiedler bis zum Ende der DDR nicht feststellen. Entgegen aller Absichtserklärungen und Verhandlungen richtete die DDR bis 1989 kein legales Verfahren ein, das es den Bürgern ermöglicht hätte, dauerhaft aus der DDR auszureisen. Vielmehr versuchten ihre Behörden weiterhin jeden Antrag, der sich auf geltendes DDR-Recht bzw. ratifizierte internationale Verträge bezog, zurückzuweisen. Nach außen gab sie sich den Anschein einer Gesetzgebung nach UN-Menschenrechtsstandards, was ihr im Gefolge des Grundlagenvertrags am 18. September 1973 gemeinsam mit der BRD die Mitgliedschaft in der UNO ermöglichte, ohne diese Standards im täglichen Umgang mit den eigenen Bürgern einzuhalten.
2.2. Ostdeutsche Gesetze und Verordnungen zur Möglichkeit der „Wohnort-veränderung nach dem Ausland“
Die in Bürger- und Menschenrechtskatalogen vorkommende Freizügigkeit der Bürger eines Staates, wurde durch die Regierung der DDR spätestens am 13. August 1961 aufgehoben. Die letzte bestehende Möglichkeit den sozialistischen deutschen Staat über Berlin zu verlassen, wurde seitdem durch die Mauer unterbunden. Der oben erwähnte Art. 12 Abs. 2 der UN-Konvention über zivile und politische Rechte, wurde mit seinen Möglichkeiten zur Einschränkung dieser Freiheiten durch die DDR-Regierung schlichtweg ignoriert.
In der Regel ist Grenzsicherung eine Aufgabe des Staates zum Schutz der Bürger vor äußeren Gefahren. In der DDR wurde zwar immer vom „antiimperialistischen Schutzwall“ gesprochen, tatsächlich aber der Verbleib der Bürger auf dem eigenen Territorium erzwungen. Vom Zeitpunkt des Mauerbaus bis hinein in die 70er Jahre, stand die Frage „gehen oder bleiben“[12] nicht mehr zur freien Entscheidung. Erst mit Unterzeichnung des Grundlagenvertrages zwischen den beiden deutschen Staaten im Jahr 1972 sickerte in der Bevölkerung durch, dass gelegentlich Ausreisen genehmigt wurden. Dennoch, erst 1977 „bestätigte Honecker in einem Interview mit der Saarbrücker Zeitung, daß ca. 10.000 Bürger Ausreiseanträge gestellt hätten.“[13] Auch wenn im Anschluss an das Madrider KSZE-Folgetreffen 1983 eine formelle Verfahrensweise eingeführt wurde, blieben Ausreiseanträge formal bis 1989 illegal.[14]
Im Staatsbürgerschaftsgesetz der DDR vom 20. Februar 1967 wurde zwar neben Regelungen zum Erwerb der Staatsbürgerschaft auch die Möglichkeit einen Antrag „auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft“[15] zu stellen eingeräumt, zur Ausreise gab es aber keine einschlägigen Bestimmungen. Es wurde also nicht erläutert, was mit Personen passiert, die nicht mehr im Besitz der Staatsbürgerschaft der DDR waren. Das ist um so verwunderlicher, da in den §§ 9 bis 14 ausführlich die Handhabung des Entzugs dargestellt wurde.[16] Im „Gesetz zur Regelung der Fragen der Staatsbürgerschaft“ vom 16. Oktober 1972 und der „Verordnung zu Fragen der Staatsbürgerschaft“ vom 21. Juni 1982, den heute als Amnestiegesetzen bezeichneten Konkretisierungen des Staatsbürgerschaftsgesetzes, finden sich auch keine Hinweise auf den Verbleib der theoretisch staatenlos gewordenen. Höchstens indirekt wird auf die Möglichkeit des Verlassens der DDR hingewiesen: „Eine Strafrechtliche Verfolgung der in §1 Abs. 1 des Gesetzes genannten Personen wegen ungenehmigten Verlassens der Deutschen Demokratischen Republik findet nicht statt.“[17] Ähnlich die Formulierung der Verordnung von 1982: „Bei Personen gemäß §1 Abs. 1 wird von Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit wegen des ungesetzlichen Verlassens der Deutschen Demokratischen Republik abgesehen.“[18]
Erst die „Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließung zwischen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik und Ausländern vom 15. September 1983“[19] beschrieb die erste legale Begründung einen Ausreisewunsch durchzusetzen. Demnach war es für Bürger der DDR möglich, einen Antrag „auf Wohnsitzveränderung nach dem Ausland“ (§1 Abs. 2) bei den „dafür zuständigen Organe[n] der Deutschen Demokratischen Republik“(§ 5) zu stellen, wenn er oder sie einen Ausländer heiraten wollte. Womit der „zuständige Rat des Kreises, Stadtkreises oder Stadtbezirks, Abteilung innere Angelegenheiten“ (§ 10 Abs. 1) gemeint war. Ebenso regelte diese Verordnungen die Fristen, in denen solche Anträge zu bearbeiten waren. § 12 Abs 1. schreibt in Anlehnung an das Eingabengesetz von 1975[20] eine maximale Bearbeitungszeit von 6 Monaten vor. 14 Jahre nach Schließung der innerdeutschen Grenzen gab es nun ein gesetzliches Verfahren die DDR dauerhaft verlassen zu können, das im Gesetzesblatt der DDR für jedermann einsehbar veröffentlicht wurde. Hier klafften jedoch der rechtstaatliche Anspruch und die Realität in der DDR weit auseinander. Wie die Befragungen der Übersiedler der Ausreisewelle von 1984 ergab, warteten sie nach der Antragstellung im Schnitt zwei Jahre.[21] Für den behördlichen Umgang mit den Antragstellern war es auch unerheblich, ob dem Antrag tatsächlich eine FZF oder Eheschließung zugrunde lag, oder ob es ein bloßer Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft war. Angesichts der offenbar absichtlich ungenauen bzw. Nicht-Regelung einer gesetzeskonformen Ausreise ohne FZF-Hintergrund, kann man an dieser Stelle von zynischer Verachtung der eigenen Bürger und deren Lebensplanung sprechen – gerade angesichts der erst in den 70er Jahren in Kraft getretenen Konvention über zivile und politische Rechte.
[...]
[1] Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließung zwischen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik und Ausländern vom 15. September 1983 (GBl. I Nr. 26 S. 254) §§ 5-8. Zit nach: Gräf, Dieter: Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. Hinweise, Dokumente, Anhang. Meerbusch 1987. S. 48-51
[2] Im Strafgesetzbuch der DDR gab es den Straftatbestand des ungesetzlichen Grenzübertritts (§213 StGB der DDR). Allein der Versuch und die Beihilfe wurden mit mehrjährigen Haftstrafen belegt. Vgl.: Kimminich, Otto: Fluchthilfe und Flucht aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland. Hamburg 1974. S. 57
[3] Vgl.: Ronge, Volker: o.T. In: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“. Band VII/1: Möglichkeiten und Formen abweichenden und widerständigen Verhaltens und oppositionellen Handelns, die friedliche Revolution im Herbst 1989, die Wiedervereinigung Deutschlands und Fortwirken von Strukturen und Mechanismen der Diktatur. Protokoll der 69. Sitzung. Baden-Baden und Frankfurt am Main 1995. S. 330-341
[4] Rehlinger 1991. S. 165
[5] Zitiert nach Gräfe 1987. S. 72
[6] Art. 1 Abs a. und b. UN-Konvention. Zit. nach: Gräfe 1987. S. 58-59
[7] Vgl.: Abschließendes Dokument des Madrider KSZE-Folgetreffens vom 6. September 1983. Zit nach: Gräfe 1987. S. 89
[8] Hacke, Jens: Grundlagenvertrag. In: Weidenfeld, Werner/ Korte, Karl-Rudolf: Handbuch zur deutschen Einheit. Bonn 1996. S. 365
[9] Hacke 1996. S. 366
[10] Vgl. Grundlagenvertrag. Zit. nach Kimminich 1974. S. 78-79
[11] Hacke 1996. S. 370
[12] Schumann 1995. S. 2367
[13] Schumann 1995: S. 2367
[14] Ebd. S. 2366, Gemeint ist die „Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließung zwischen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik und Ausländern vom 15. September 1983“.
[15] Gesetzt über die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik. Vom 20.Februar 1967. §17. In: Gräf 1987. S. 80
[16] So bestand die Möglichkeit die Staatsbürgerschaft zu verlieren, wenn man sich den damit übernommenen „Verpflichtungen nicht würdig erweist“ (§ 12 Abs. 1b) oder „grober Verletzung der staatsbürgerlichen Pflichten“ überführt wurde (§ 13). Staatsbürgerschaftsgesetz der DDR in: Gräf 1987. S. 79f
[17] § 2 des Gesetzes von 1972
[18] §2 der Verordnung von 1982. Da jedes Verlassen der DDR gesetzeswidrig war, macht es auch keinen Sinn, eigens den Passus „unter Verletzung der Gesetze [...] und ihren Wohnsitz nicht wieder in der [DDR] genommen haben...“ in § 1 Abs. 1 aufzuführen. Hätte ein Flüchtling die DDR wieder betreten, wäre er mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit nach § 219 (Ungesetzliche Verbindungsaufnahme), § 213 (Fluchtversuch) oder Ähnlichen bestraft worden.
[19] Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließung zwischen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik und Ausländern vom 15. September 1983. (GBl. I Nr. 26 S. 254) (Verordnung zur FZF und Eheschließung). Zit. nach: Gräf 1987. S. 48-53
[20] Gesetz über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger – Eingabengesetz – vom 19. Juni 1975 (GBl. I Nr. 26 S. 461) Zit. Nach: Gräf 1987. S. 148-152
[21] Siehe Kapitel 2.4. zur legalen Übersiedlung nach Westdeutschland in dieser Arbeit.
- Citation du texte
- David Runschke (Auteur), 2005, Flucht und Übersiedlung aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland zwischen 1961 und 1989, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48343
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