Im Februar 2005 waren in Deutschland über fünf Millionen Menschen ohne Arbeit. Die rot-grüne Bundesregierung hatte es sich zur Aufgabe gemacht, gegen die Arbeitslosigkeit vorzugehen und mit den so genannten „Hartz-Gesetzen“ die Reformation des deutschen Arbeitsmarktes angekündigt. Zu Beginn dieses Jahres trat der letzte Teil der Reform in Kraft, das „Hartz IV-Gesetz“. Schon vor der Einführung zeigten die Menschen in allen Bundesländern ihren Protest gegen das neue Gesetz und drückten so ihre Unzufriedenheit mit den bevorstehenden Veränderungen aus. Die Betroffenen fühlen sich ungerecht behandelt und befürchten große Einschnitte in ihrer Zukunft.
Warum erscheinen ein Gesetz und seine Folgen, vor Allem in den Augen der Betroffenen, als „ungerecht“? Was genau wäre im Gegenteil „gerecht“? Ist Hartz IV gerecht? Wenn die gegebene Situation als ungerecht empfunden wird, muss man Gerechtigkeit nicht nur messen können, sondern es muss auch ein akzeptabler Gerechtigkeitsbegriff entwickelt werden. Um den überaus vagen und deswegen schwammigen Begriff der Gerechtigkeit definieren und anwenden zu können, soll die Frage “Ist Hartz IV gerecht?“ anhand der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls analysiert und beantwortet werden.
Rawls entwirft in seinem kontraktualistischen Gerechtigkeitsmodell einer „Theory of Justice“ zwei Gerechtigkeitsgrundsätze, mit denen er einen liberalen und sozialen Rechtsstaat begründet. Seine Gerechtigkeitsauffassungen lassen sich dem Verständnis der Sozialen Gerechtigkeit zurechnen, die wiederum als Form einer ausgleichenden Gerechtigkeit angesehen werden und somit mit Begriffen wie Chancengleichheit und sozialer Gleichheit umschrieben werden kann. Die Frage ist nun, ob dies auch auf Hartz IV zutrifft.
Um dies zu beantworten, wird zunächst Rawls Theorie dargestellt. Mit einem Blick auf den von Rawls erdachten Ausgangszustand werden seine beiden Gerechtigkeitsgrundsätze und das sich daraus ergebende Prinzip der „Gerechtigkeit als Fairness“ dargestellt. Es folgt eine Darstellung der Grundzüge des Hartz IV-Gesetzes. Die abschließende Untersuchung des Gesetzes auf Übereinstimmung mit Rawls Theorie der Gerechtigkeit bildet den Abschluss der Arbeit und gleichzeitig den Versuch, ein sehr aktuelles Thema auf Rawls Gerechtigkeitstheorie hin zu beziehen und anhand der Theorie zu analysieren.
Inhalt
1. Vorwort
2. John Rawls: A Theory of Justice. Ein Überblick
2.1 Der Urzustand
2.2 Die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit
2.3 Gerechtigkeit als Fairness
3. Die Arbeitsmarktreform und Hartz IV
3.1 Die Hartz-Gesetze
3.2 Hartz IV und ALG II im Detail
3.3 Tiefgreifende Veränderungen und Auswirkungen
4. Ist Harzt IV nach Rawls gerecht?
4.1 Urzustand als legitime Gerechtigkeitsgrundlage?
4.2 Hartz IV und die Grundsätze der Gerechtigkeit
4.3 ALG II und das Prinzip der Fairness
5. Schlussbetrachtungen
6. Zusammenfassung
Literatur
1. Vorwort
Im Februar 2005 waren in Deutschland über fünf Millionen Menschen ohne Arbeit.[1] Die rot-grüne Bundesregierung hatte es sich zur Aufgabe gemacht, gegen die Arbeitslosigkeit vorzugehen und mit den so genannten „Hartz-Gesetzen“ die Reformation des deutschen Arbeitsmarktes angekündigt. Zu Beginn dieses Jahres trat der letzte Teil der Reform in Kraft, das „Hartz IV- Gesetz“. Schon vor der Einführung zeigten die Menschen in allen Bundesländern in unzähligen Montagsdemonstrationen ihren Protest gegen das neue Gesetz und drückten so ihre Unzufriedenheit mit den bevorstehenden Veränderungen aus. Die Betroffenen fühlen sich ungerecht behandelt und befürchten durch die Neustrukturierung der Arbeitslosengesetze große Einschnitte in ihrer Zukunft.[2]
Warum erscheinen ein Gesetz und seine Folgen, vor Allem in den Augen der Betroffenen, als „ungerecht“? Was genau wäre im Gegenteil „gerecht“? Ist Hartz IV gerecht? In Anbetracht des historischen Höchststands der Arbeitslosenzahlen in Deutschland[3] wird meine Arbeit diesen höchst aktuellen Fragen nachgehen. Wenn die gegebene Situation als ungerecht empfunden wird, muss man Gerechtigkeit nicht nur messen können, sondern es muss auch ein akzeptabler Gerechtigkeitsbegriff entwickelt werden.[4] Um den überaus vagen und deswegen schwammigen Begriff der Gerechtigkeit definieren und anwenden zu können, soll die Frage “Ist Hartz IV gerecht?“ anhand der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls analysiert und beantwortet werden.
Rawls entwirft in seinem kontraktualistischen Gerechtigkeitsmodell einer „Theory of Justice“ zwei Gerechtigkeitsgrundsätze, mit denen er einen liberalen und sozialen Rechtsstaat begründet.[5] Seine Gerechtigkeitsauffassungen lassen sich dem Verständnis der Sozialen Gerechtigkeit zurechnen. Soziale Gerechtigkeit kann als Form einer ausgleichenden Gerechtigkeit angesehen werden, die man mit Begriffen wie Chancengleichheit und sozialer Gleichheit umschreiben kann. Die Frage ist nun, ob dies auch auf Hartz IV zutrifft. Um dies zu beantworten, wird zunächst Rawls Theorie dargestellt. Dies dient dazu den Begriff der Gerechtigkeit fassbar zu machen, denn er verlangt, neben dem Begriff der Ungerechtigkeit, eine genaue Definition und Abgrenzung um angewendet werden zu können. Mit einem Blick auf den von Rawls erdachten Ausgangszustand werden seine beiden Gerechtigkeitsgrundsätze und das sich daraus ergebende Prinzip der „Gerechtigkeit als Fairness“ dargestellt. Auf Grund der geringen Anzahl an kritischer Literatur über die Hartz-Gesetze werde ich mich im weiteren Verlauf der Arbeit auf die Darstellung der Grundzüge des Hartz IV-Gesetzes beschränken. Eine kurze Klärung der Hartz-Reform insgesamt geht der Beschreibung der Neuerungen im Zuge der Reform voraus. Die abschließende Untersuchung des Gesetzes auf Übereinstimmung mit Rawls Theorie der Gerechtigkeit bildet den Abschluss der Arbeit und gleichzeitig den Versuch, ein sehr aktuelles Thema auf Rawls Gerechtigkeitstheorie hin zu beziehen und anhand der Theorie zu analysieren.
2. John Rawls: A Theory of Justice. Ein Überblick
Für John Rawls ist die Gerechtigkeit „die erste Tugend sozialer Institutionen“.[6] Der Moralphilosoph hat mit seiner Theorie A Theory of Justice aus dem Jahr 1971 ein viel beachtetes Werk geschaffen, und wird sogar als Neubegründer der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts gefeiert.[7] Doch was ist das Besondere an seiner Konzeption, und wieso wird sie zum „Ideal der sozialen Gerechtigkeit“[8] heraufbeschworen?
Rawls entwickelt in seinem Werk zwei Grundprinzipien der Gerechtigkeit, die mit dem Schlagwort „Gerechtigkeit als Fairness“ umschrieben werden können. Ausgehend von einer theoretischen Ausgangssituation, dem so genannten Ur- bzw. Naturzustand, werden die beiden Prinzipien konstruiert. Auf deren Grundlage erfolgt die Verfassungs- und Gesetzgebung, die den Menschen einen gerechten Umgang mit ihren politischen Freiheiten und bei der Verteilung von Grundgütern garantiert. Aus dem Prinzip der Fairness folgen explizite Forderungen an den Einzelmenschen im Gegenzug zu einer gerechten Behandlung durch den Staat. Das Besondere an Rawls Konzeption der Gerechtigkeit ist zum einen, dass er rechtstaatliche Komponenten der Vertragstheorie um sozialstaatliche ergänzt hat. Zum anderen liefert er einen genauen Maßstab zur Beurteilung von Gesetzten sowie von Forderungen sozialstaatlicher Institutionen. So ist es möglich, anhand von Rawls Theorie ein Urteil darüber zu fällen, ob Hartz IV gerecht ist oder nicht.
2.1 Der Urzustand
Mit dem Urzustand zeichnet Rawls eine theoretische Ausgangssituation, in der sich freie und gleiche Individuen auf grundlegende Gerechtigkeitsdefinitionen einigen. In diesem Naturzustand haben die Beteiligten, die als Repräsentanten der Bürger gelten und nicht „die Gesamtheit aller wirklichen und möglichen Menschen“ sind[9], ein Informationsdefizit, welches sie die Fragen nach Gerechtigkeit unparteilich beantworten lässt.[10] Das Defizit an Informationen wird von Rawls als „Schleier des Nichtwissens“ bezeichnet, der zum einen die Wirkung von Zufällen unterbindet und so zum anderen die Menschen als gleiche Individuen postuliert. Auf Grund dessen können sie über die Frage nach Gerechtigkeit unter allgemeinen Gesichtspunkten entscheiden.[11] Die Menschen wissen weder etwas über ihre individuellen und natürlichen Gaben wie Intelligenz, noch haben sie Kenntnis von ihren moralischen Einstellungen und ihrem Status in der Gesellschaft. Auch ihre Generationszugehörigkeit ist ihnen unbekannt, was „deshalb angemessen [ist], weil Fragen der sozialen Gerechtigkeit auch zwischen den Generationen entstehen“.[12] Ebenso wissen die Menschen nichts über „ihre“ Gesellschaftsverhältnisse bezüglich der politischen und wirtschaftlichen Lage[13]. Eine hohe Arbeitslosigkeit wäre ihnen z.B. nicht bekannt und sie kämen so nicht in Versuchung, ihre Entscheidung allein dahingehend zu treffen. Da sie nur allgemeine Tatsachen bzw. Grundzüge aus der Wirtschaft und der Gesellschaft kennen und daneben ein Grundwissen über politische Fragen sowie den Gesetzen der menschlichen Psychologie haben, dient der Schleier des Nichtwissens zur Relativierung anderer Meinungen.[14] In einer Situation, in der die Menschen als moralisch gleichberechtigte Wesen miteinander kommunizieren, würden sie sich letzten Endes einstimmig auf zwei Gerechtigkeitsgrundsätze einigen, die von allen anerkannt und nachvollziehbar und damit fair zu Stande gekommen sind.
2.2 Die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit
Durch die im Urzustand getroffene Übereinkunft, die als „die eines zufällig ausgewählten Beteiligten“ angesehen werden kann[15], ergeben sich folgende zwei Gerechtigkeitsgrundsätze:
1. „Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreiche System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.
2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die jedem offen stehen.“[16]
Das erste Prinzip der Gerechtigkeit sichert Grundfreiheiten[17] und manifestiert politisch-rechtliche Gleichheit. Mit dem zweiten Prinzip erkennt Rawls soziale Ungleichheiten an. Sie werden durch das Differenzprinzip, welches ungleiche Behandlung nur dann zulässt, wenn sie auch dem am schlechtesten Gestellten zum Vorteil dient, wieder ausgeglichen. Außerdem wird neben Chancengleichheit (die Positionen stehen jedem offen) auch eine faire Chance für jeden gesichert. Denn durch das so genannte „Maximin-Prinzip“ ist sichergestellt, dass auch die schlecht-möglichste Position angenommen wird.[18] Die beiden Grundsätze beziehen sich somit „hauptsächlich […] auf die Grundstruktur der Gesellschaft“ und Regeln die Verteilung von Rechten und Pflichten sowie von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gütern.[19] Dabei ist das erste Prinzip dem Zweiten nicht nur optisch, sondern auch in pragmatischer Sicht vorangestellt. Ein geringeres Maß an Grundfreiheiten darf nicht für eine Verbesserung wirtschaftlicher Verhältnisse in Kauf genommen werden.[20] Daneben wird die Selbstachtung der Menschen durch die beiden Grundsätze gesteigert. Sie werden nicht als bloßes Mittel, sondern als Selbstzweck angesehen.[21] Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass durch die beiden Grundsätze jeder Mensch als „voll kooperierendes Mitglied“ in die Gesellschaft integriert worden ist.[22]
[...]
[1] REGIERUNGonline (Hrsg.): Arbeitsmarktzahlen: Reformen konsequent umsetzen, www-Dokument, http://www.bundesregierung.de/artikel-,413.795468/ Arbeitsmarktzahlen-Reformen-ko.htm (15.03.2005): „Im Februar 2005 waren laut Angaben der Bundesanstalt für Arbeit (BA) 5,216 Millionen Menschen als arbeitslos registriert, 177.000 mehr als im Januar.“
[2] REGIERUNGonline (Hrsg.): These "Hartz macht arm“ durch nichts untermauert, www-Dokument, http://www.bundesregierung.de/artikel-,413.715163/These-Hartz-macht-arm-durch-ni.htm (15.03.2005).
[3] seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
[4] Tillmann, Frank: Eine Philosophie des Teilens. Von John Rawls zu einer praktischen Gerechtigkeitsutopie, Leipzig-Weißenfels 2004. S. 12.
[5] Höffe, Otfried: Kritische Einführung in Rawls` Theorie der Gerechtigkeit, in: Otfried Höffe (Hrsg.): Über John Rawls` Theorie der Gerechtigkeit, 1. Auflage, Frankfurt am Main 1977, S. 16: Der Sozialstatt wird nach Höffe von Rawls in einer „konstitutionelle[n] Demokratie, in die eine kompetitive Ökonomie eingebunden ist“ gesehen.
[6] Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übersetzt von Hermann Vetter, 6. Auflage, Frankfurt am Main 1991. S. 19.
[7] Kaufmann, Clemens: Strauss und Rawls. Das philosophische Dilemma der Politik, in: Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Band 117, Berlin 2000. S. 229.
[8] Kühn, Hans-Jürgen: Soziale Gerechtigkeit als moralphilosophische Forderung. Zur Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls, in: Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik, Band 193, Bonn 1984. S. 31.
[9] Rawls, a.a.O., S. 162.
[10] Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, 1. Auflage, Frankfurt am Main 1999. S. 67.
[11] Rawls, a.a.O., S.159f.
[12] Ebd., S. 160.
[13] Ebd., S. 160: Er beschreibt dies genauer mit „den besonderen Verhältnissen […] ihrer eigenen Gesellschaft“ und konkretisiert diese Umschreibung, in dem neben wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen auch „den Entwicklungsstand ihrer Zivilisation und [die] Kultur“ aufführt.
[14] Brehmer, Karl: Rawls` „Original Position“ oder Kants „Ursprünglicher Kontrakt“. Die Bedingungen der Möglichkeit eines wohlgeordneten Zusammenlebens, in: Monographien zur philosophischen Forschung, Band 190, Königstein 1980, S. 48.
[15] Rawls, a.a.O., S. 162.
[16] Rawls, a.a.O., S. 81.
[17] Darunter ist politische Freiheit wie das Wahlrecht, Rede- und Versammlungsfreiheit und auch die Unverletzlichkeit der Person und das Recht auf Eigentum zu verstehen.
[18] Rawls, a.a.O., S. 177f.
[19] Ebd., S. 81.
[20] Kühn, a.a.O., S. 23.
[21] Rawls, a.a.O., S. 205.
[22] Kaufmann, a.a.O., S. 343.
- Quote paper
- Henry Mayer (Author), 2005, Hartz IV und das Arbeitslosengeld II. Eine Untersuchung nach John Rawls "A Theory of Justice", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48263
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