"Die Seelenwanderung, auch als Reinkarnation oder Metempsychose bezeichnet, ist die religiöse Vorstellung vom Übergang der Seele beim Tod in eine andere Daseinsform", so lautet die Definition in zahlreichen Sachbüchern und Lexika . Der vor allem in östlichen Religionen wie dem Buddhismus und Hinduismus beheimatete Reinkarnationsglaube beinhaltet in der Regel eine lange Abfolge von Wiedergeburten, während derer sich die Seele in unterschiedlichsten menschlichen, göttlichen, tierischen oder sogar pflanzlichen Körpern wieder finden kann. Auch die deutsche Literatur hat die Seelenwanderung thematisiert. Insbesondere die theosophische These der buddhistischen Reinkarnationslehre taucht als Seelenwanderungsglaube teilweise profanisiert in der fantastischen Literatur auf . "Die Wiedergeburt des Melchior Dronte" (1921) von Paul Busson stellt einen der wenigen Texte der Frühen Moderne (1890 - 1930) dar, welcher den Gedanken an eine Wiedergeburt nicht nur postuliert, sondern ihn sogar zum Sujet des Werkes macht. Dass es Paul Busson aber nicht nur bloß um die Umfunktionalisierung jener Reinkarnationsgedanken geht, soll in dieser Hausarbeit gezeigt und bewiesen werden. Der Begriff "Leben" spielt dabei eine besonders zentrale Rolle. Diesbezüglich geht mein besonderer Dank an Frau Prof. Dr. Marianne Wünsch der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sie hat ein Modell entwickelt, welches sich mit der Kombination der Wiedergeburt und dem "Lebensbegriff" der Welt auseinandersetzt . Dieses "Leben – Tod – (Wieder)Geburt – Neues Leben" – Modell schreibt dem Terminus "Leben" – im Gegensatz zur Goethezeit – anhand der "Drei-Ebenen-Struktur" eine andere Bedeutung zu. Jene knappe Darstellung des Modells der "Wiedergeburt" zu "neuem Leben" geht in einem theoretischen Teil der eigentlichen Analyse voran . Im Folgenden soll anhand der "Wiedergeburt des Melchior Dronte" in einer analytischen Abhandlung geprüft werden, inwieweit sich dieses System von dem fantstischen Roman Paul Bussons abstrahieren lässt. Darauf, dass das Modell dabei eine spezielle Funktion erfüllt, wird ebenfalls im Anschluss eingegangen. Anhand der folgenden Analyse sind Graphiken entstanden, welche im Anhang dieser Hausarbeit einzusehen sind. Diese sollen der Veranschaulichung dienen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretischer Teil: Das Modell der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ in erzählender Literatur 1890 – 1930
3. Praktischer Teil: Das Modell der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ in Paul Bussons Die Wiedergeburt des Melchior Dronte (1921)
3.1. Ebene 1: wörtliche Bedeutung (biologischer Sinn) à „Leben 1“
3.2. Ebene 2: metaphorische Bedeutung im Diesseits à „Leben 2“
3.3. Ebene 3: metaphorische Bedeutung im Jenseits à „Leben 3“
3.4. Das Modell und dessen elementare Merkmale
3.5. Das Modell und dessen Funktionalisierung
4. Zusammenfassung
5. Literaturverzeichnis
6. Anhang (Graphiken)
6.1. Das Modell der „Wiedergeburt“ im Überblick
6.2. Das Modell der „Wiedergeburt“ in Bussons Melchior Dronte
6.3. Das Modell der „Wiedergeburt“: Übertragung der Merkmale
1. Einleitung
„Die Seelenwanderung, auch als Reinkarnation oder Metempsychose bezeichnet, ist die religiöse Vorstellung vom Übergang der Seele beim Tod in eine andere Daseinsform“, so lautet die Definition in zahlreichen Sachbüchern und Lexika[1]. Der vor allem in östlichen Religionen wie dem Buddhismus und Hinduismus beheimatete Reinkarnationsglaube beinhaltet in der Regel eine lange Abfolge von Wiedergeburten, während derer sich die Seele in unterschiedlichsten menschlichen, göttlichen, tierischen oder sogar pflanzlichen Körpern wieder finden kann. Je nach persönlicher Bewährung, der so genannten „Läuterung“, im Vorleben erfolgt der Übergang in höhere oder niedrigere Existenzformen. Schon bei den alten Griechen war der Gedanke der Seelenwanderung sehr weit verbreitet. Nach der Lehre des Pythagoras überlebt die Seele den Tod des Körpers, da sie unsterblich und im Körper gefangen ist. Nach Platon war die Seele eine ewige und spirituelle Größe, welche sich der früheren Daseinsformen bewusst ist und sich erst nach einer Reihe von Seelenwanderungen aus dem Körper befreien kann[2].
Auch die Literatur hat die Seelenwanderung thematisiert. Insbesondere die theosophische These der buddhistischen Reinkarnationslehre taucht als Seelenwanderungsglaube teilweise profanisiert in der phantastischen Literatur auf[3]. Jene Literatur entwirft eine Welt, in welcher Phänomene (Figuren, Ereignisse) auftreten, die mit dem Realitätsbegriff dieser Welt nicht kompatibel sind. Diese Erscheinungen werden in der dargestellten Welt gleichwohl als real gesetzt, so dass ein Erklärungsbedarf entsteht[4]. Zu diesen Phänomenen zählt ebenfalls die Metempsychose.
Die Wiedergeburt des Melchior Dronte von Paul Busson[5] stellt einen der wenigen Texte der „Frühen Moderne“ dar, welcher den Gedanken an eine Wiedergeburt nicht nur postuliert, sondern ihn sogar zum Sujet des Werkes macht. Auch hier beruft sich der Autor auf buddhistische Vorstellungen und funktionalisiert diese für seine Zwecke um. Schon im Vorwort gibt das Ich seine bewusste Wiedergeburt bekannt: „…wurde mir bereits im Knabenalter bewusst, dass sie nichts anderes als Spiegelbilder von Schicksalen seien, die meine Seele in einem anderen Leibe erlitten hatte, und zwar vor der Geburt meines jetzigen Körpers.“[6] Dass es Paul Busson aber nicht nur bloß um die Umfunktionalisierung jener Reinkarnationsgedanken geht, soll in dieser Hausarbeit gezeigt und bewiesen werden. Der Begriff „Leben“ spielt dabei eine besonders zentrale Rolle. Diesbezüglich geht mein besonderer Dank an Frau Prof. Dr. Marianne Wünsch der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sie hat ein Modell entwickelt, welches sich mit der Kombination der „Wiedergeburt“ und dem „Lebensbegriff“ der Welt auseinandersetzt[7]. Dieses „Leben – Tod – (Wieder)Geburt – Neues Leben“ – Modell schreibt dem Terminus „Leben“ – im Gegensatz zur Goethezeit – anhand der „Drei-Ebenen-Struktur“ eine andere Bedeutung zu. Ebenfalls präsentiert das System markante Merkmale, welche sich in mit der Wiedergeburt befassten Werken lokalisieren lassen.
Jene knappe Darstellung des Modells der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ geht in einem theoretischen Teil der eigentlichen Analyse voran[8]. Im Folgenden soll anhand der Wiedergeburt des Melchior Dronte in einer praktischen Abhandlung geprüft werden, inwieweit sich dieses System auf den Text von Paul Busson übertragen und interpretieren lässt. Darauf, dass das Modell dabei eine spezielle Funktion erfüllt, wird ebenfalls im Anschluss eingegangen. Anhand der folgenden Analyse sind Graphiken entstanden, welche im Anhang dieser Hausarbeit einzusehen sind. Diese sollen der Veranschaulichung dienen.
2. Theoretischer Teil: Das Modell der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ in erzählender Literatur 1890 – 1930
Der Komplex des „Leben – Tod – (Wieder)Geburt – Neues Leben“ – Modells der „Frühen Moderne“ steht in bestimmten semantischen und systematischen Kontexten, im Gegensatz dazu die Goethezeit. Erstens ist der „Lebensbegriff“ neu semantisiert: „Leben“ trägt hier eine andere Bedeutung als in der Goethezeit. Zweitens aber gehören die metaphorischen und wörtlichen Verwendungen des Modells einem Teilsystem an, dem nichts in der Goethezeit entspricht. Drei Ebenen lassen sich im angegebenen Zeitraum unterscheiden: Ebene 1: die wörtliche Bedeutung: Das so genannte „Leben 1“ wird hier in einem biologischen Sinne gebraucht, wobei zwei Erfahrungen der Realität unterschieden werden können. Die normal geltende Erfahrung umfasst nur die Teilserie „Geburt 1 – Leben 1 – Tod 1“ wobei hingegen die okkultistische die Gesamtserie „Leben 1 – Tod 1 – Zustand des Nicht Lebens 1 – Wiedergeburt 1 – Neues Leben 1“ zulässt und den Begriff der Reinkarnation einführt. Ebene 2: metaphorische Bedeutung im Diesseits: Die Erfüllung eines „gesteigerten Lebens“, das so genannte „Leben 2“ in einer diesseitigen Welt wird hier mit einem „Nicht Leben 2“, also der negativen Variante, konträr gegenüber gestellt. Dabei kann das „Leben 2“ unterschiedliche Typen aufzeigen: die A. e rotisch-partnerbezogene, die B. asketisch-altruistische und die C. mystisch-narzisstische Variante. Ebene 3: metaphorische Bedeutung im Jenseits: das hier postulierte „Leben 3“ im Jenseits, also außerhalb der menschlichen Welt, steht im Gegensatz zum „diesseitigen Leben“. Es ist das „höchste eigentliche Leben“ und kann erst unter bestimmten Bedingungen erreicht werden.
Die Fälle der Reinkarnation und des Lebenswechsels, in denen wörtlich oder metaphorisch ein „Tod“ und eine „Wiedergeburt“ stattfinden, bilden in dieser Epoche kein abgeschlossenes System. Es handelt sich bei beiden nur um Glieder eines umfänglichen Systems irrealer Variationen. Beispielsweise die Wiederkehr dessen, was als verloren gelten müsste oder die Erhaltung von etwas über Grenzen hinaus, wobei ein definitives Ende erwartet wird. Diese Fälle erweisen sich als untereinander korreliert durch die begrenzte Menge an Merkmalsklassen, die sie verknüpfen bzw. unterscheiden.
3. Praktischer Teil: Das Modell der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ in Paul Bussons Die Wiedergeburt des Melchior Dronte (1921)
3.1. Ebene 1: wörtliche Bedeutung (biologischer Sinn) à „Leben 1“
Der Ebene 1 in Paul Bussons Werk liegt die okkultistische Realitätserfahrung zugrunde. Das Ich erfährt seine Realität innerhalb einer Gesamtserie „Leben 1 – Tod 1 – Wiedergeburt 1 – Neues Leben 1“[9]. Diese Begriffsreihe lässt sich exakt auf Die Wiedergeburt des Melchior Dronte übertragen: „Leben 1 als Melchior Dronte – Tod 1 durch Fall der Guillotine – Wiedergeburt 1 – Neues Leben 1 als Sennon Vorauf“[10].
Im „Leben 1“ setzt die Handlung im Alter von fünf Jahren des Melchior Dronte ein: „Ich erinnere mich sehr genau an einen Vorfall aus meinem fünften Lebensjahre.“[11] Die Größe „Geburt 1“, wie in der normal geltenden Realitätserfahrung enthalten, wird nicht genannt. Dies ist auch nicht zwingend notwendig. Wenn sich eine Person bereits in einem „Leben 1“ befindet, setzt dies eine „Geburt 1“ voraus. Im weiteren Handlungsverlauf passiert der Freiherr Melchior Dronte in seinem „Leben 1“ verschiedene Abschnitte: (1) Kind, (2) Student, (3) Soldat, (4) Bürger und (5) Sträfling.
Aufgrund der Verurteilung zum Tode – Dronte soll sich gegen gewaltsame Bürger aufgelehnt haben, um die Prinzessin Lamballe zu retten[12] – und der Tötung durch die Guillotine ergibt sich die Größe „Tod 1“. Sie bildet die Voraussetzung für eine „Wiedergeburt 1“. Dabei bedient sich Paul Busson verschiedener Darstellungen des Todes. Zum einen führt er ein „Entschlafen“ an, in dem der Held in einem Dämmerungszustand (Busson lässt seine Figur in einen krankhaften Fieberzustand verfallen: „Mein Blut ging in raschen Stößen, als ob ein Fieber nahe wäre.“[13] ) sich vom menschlichen Körper löst und in eine nicht-menschliche Welt eintaucht: „… blies die Kerzen aus und legte mich in das krachende Himmelbett […] schoss federleicht empor […] vielmehr gab ich mich mit satter Lust der Seligkeit hin, von der Körperschwere befreit durch das Mondsilber zu ziehen wie eine Wolke. Auch machte ich keine lenkenden Bewegungen mehr, sondern gab mich ganz und gar solcher Wonne eines erdbefreiten Zustands hin.“[14] Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Grenzziehung zwischen einem „Leben 1“ und einem „Neuen Leben 1“. Das Ich bzw. dessen Seele verlässt während des „Entschlafens“ sein „Leben 1“ und wechselt in einen Zustand des „Nicht Lebens 1“, welches hier später noch ausführlicher erläutert werden soll. Hier wechselt die Seele nicht in ein „Neues Leben 1“, sondern kehrt wieder in das aktuelle „Leben 1“ zurück. Infolgedessen könnte man diesen Teil von „Tod 1“ eher als „Tod 1: innerhalb von „Leben 1“ benennen. Im Gegensatz dazu steht Bussons zweite Illustrierung des Todes, der aus der Tötung an der Guillotine resultiert: „Dann Nacht - - Sausen - - Geräusch - - ein schmerzhaftes Zerreißen - - ein Faden schnellte entzwei - -“[15] . Auf diesen erst kann die „Wiedergeburt 1“ basieren.
Bevor sich jedoch die „Wiedergeburt 1“ durchsetzt, befindet sich Melchior Dronte in einem ganz wörtlichen Zustand des „Nicht Lebens 1“. In diesem verliert er seine Identität und wird zu einem Subjekt, welches sich in keinem der möglichen Jenseitsordnungen integriert fühlt[16]: „Ich befand mich außerhalb meines Körpers […] Ich hatte keine Augen und sah alles. Ich hörte. Aber ich fühlte nichts. Ich dachte auch nichts. Ich war das Bewusstsein an sich.“[17] Ein Bild von einem Subjekt, welches sich in einem „Nicht-Zustand“ eines „Nicht Lebens“ befindet, ist ziemlich schwer zu vermitteln. Paul Busson bedient sich daher folgender Variante: „Ich war etwa so von Gestalt, wenn dies zu sagen möglich ist, wie jene glasartig-durchsichtigen Körper, die an menschlichen Augen bei längerem Schauen in ganz reine, blaue Himmelsfernen vorübergleiten.“[18] Das Subjekt erklärt weiterhin:„Dennoch war ich kein Körper. Ich war auch kein Nichts. Ich war eine Seele, wie deren viele im Weltraum schwebten. Aber ich hatte Bewusstsein, ich war meines Ichs eingedenk und hatte ein Ziel.“[19] Obwohl das Subjekt ein Ziel verfolgt, weiß es dennoch nicht, welches dies ist und wo es zu erreichen gilt. Dadurch wird die Nicht-Integrierung in ein jenseitiges Ordnungssystem besonders deutlich erkennbar.
An jenen Nicht-Zustand schließt sich die „Wiedergeburt 1“ an. Im Zustand – besser gesagt Prozess von „Wiedergeburt 1“ – bekommt das Subjekt sein neues Ziel zugesprochen: das „neue Haus“. Es handelt sich hierbei um den neuen menschlichen Körper: „Ich suchte ein neues Haus […] Einen Menschenleib suchte ich.“[20] Der Geber bzw. Gönner dieser neuen Manifestation besteht aus einer göttlichen oder jenseitigen Instanz, welche entscheidet, wie der Körper im „Neuen Leben 1“ zu sein hat: „In mir trug ich das winzige Abbild eines edlen, gottähnlichen Angesichts […] Von diesem Bilde ging mein Bewusstsein aus und die Fähigkeit des Erinnerns.“[21]
Innerhalb dieser Transformation, also der fließende Übergang von „Nicht Leben 1“ zu „Neues Leben 1“, erhält das Ich eine neue Identität (in einem neuen Körper) und wird dadurch wieder zu einem Bestandteil des diesseitigen „Neuen Lebens 1“: „Bei der Vereinigung zweier Zellen umschloss mich die Kraft neuen Lebens […] Ich fühlte Wärme, Dunkel, Feuchtigkeit, Ströme von Nahrung, Rauschen von schlaffenden Kräften […] Seliges Wachsen war in mir […] Organe bildeten sich in mir, warmes Blut durchtobte mich.“[22] Die endgültige sichtbare Manifestation im „Neuen Leben 1“ ist die Folge: „… freundliche Enge presste mich zärtlich […] wies mir in schraubender Zusammenziehung den Weg zum Licht […] Alles geschah mir, was junges Leben beim Eintritt in diese Welt begleitet […] Ich hieß: Sennon Vorauf“[23]. Damit ist das „Neue Leben 1“ erreicht. Die körperliche Manifestation als Resultat der Reinkarnation kann sich sehr variantenreich vollziehen: (1) die Wiedergeburt geschieht bewusst, (2) die Wiedergeburt geschieht unbewusst („Zweierlei ist die Art der Wiedergeburt nach dem Gesetz […] Unbewusst und bewusst.“[24] ) oder (3) die Wiedergeburt findet in eine „niedere Existenzform“ statt.
In Die Wiedergeburt des Melchior Dronte finden sich die Varianten (1) und (3) wieder. Der Melchior erfährt bewusst am eigenen Leibe, dass er wiedergeboren wird, indem er den Vorgang der Reinkarnation en detail schildert. Diese Gabe – die Fähigkeit, sich an vorherige Leben zu erinnern – macht es ihm erst möglich, seine Erlebnisse als Melchior Dronte in vorheriger Existenz im „Neuen Leben 1“ niederzuschreiben. Paul Busson spielt mit dieser Befähigung, denn ohne die Erinnerung des Sennon Vorauf an das „Leben 1“ würde die eigentliche Erzählung über den Melchior Dronte, ja gar das Werk Die Wiedergeburt des Melchior Dronte, überhaupt nicht existieren. In der Regel wird eine menschliche Wiedergeburt angenommen, bei der normalerweise auch das Geschlecht konstant bleibt[25]. Melchior Dronte behält sowohl im „Leben 1“, als auch im „Neuen Leben 1“ als Sennon Vorauf, den Sexus des Mannes bei. Neben der bewussten Reinkarnation des Dronte führt Paul Busson ebenfalls die Variante (3), die Wiedergeburt in eine „niedere Existenzform“, an. Dabei handelt es sich um eine nicht-menschliche Gestalt. Der Autor spielt damit anhand der Figur des Papageis Apollonius. Wo eine Tierverwandlung vorliegt, da fungiert diese niedere Existenz als Strafe für Vergehen in einem früheren Leben[26]. Das Ich führt dazu heran: „Vielleicht bist du eine von Gott verdammte Seele und musst nun in Tiergestalt Buße tun !“[27] Ergo: Vergehen müssen in einem Leben in Form einer Buße abgeleistet werden („Mögest du bald erlöst sein, arme Seele!“[28] ). Um welche Schwere der Vergehen es sich bei Apollonius handelt, wird im Melchior Dronte nicht genannt (auch vom Vogel selbst nicht). Nur Vermutungen lassen darauf schließen: „Vielleicht hast du selbst gemordet, zausige, schändliche Bestie!“[29]. Festzuhalten ist aber: Apollonius zeigt Züge auf, die einem gewöhnlichen Tier nicht anhaften: (1) Deutliche und klare Aussprache, (2) Gestik und Mimik, und vor allen Dingen (3) Gefühlsregungen: „…ich sah, wie zwei Tränen aus den Augen des Tieres tropften.“[30] Diese Indizien weisen darauf hin, dass in dem Körper des Tieres eine „menschliche Seele“ hausen muss. Nach Melchior Dronte ist es eine bösartige:„… dem sie offenbar Verstand und menschenartige Bosheit zuerkannte.“[31] Nach Ableistung und Einsicht über frühere Schandtaten wird eine erneute Wiedergeburt in einem menschlichen Körper angenommen[32]. Ob dies auch auf Apollonius zutrifft, stellt sich im Werk als fraglich heraus. Aus seinem aggressiven Auftreten lässt sich nur partiell eine Einsicht erarbeiten. Der Vogel scheint auf jeden Fall eine Entwicklung durchgemacht zu haben. Er ist sich zwar über seinen leidigen Zustand bewusst, während der Unterhaltung mit Melchior Dronte bricht er in Tränen aus, dennoch legt er erneut negative Verhaltensweisen an den Tag: „Er bewacht mich, erzählt alles dem spanischen Gesandten […] sondern der Angst vor dem verräterischen Geschwätz des Federviehs entsprang.“[33] Erst ab der zweiten Begegnung des Dronte mit Apollonius scheint eine Verbesserung eingetreten zu sein: „Alle Bosheit wich aus seinen Augen, und zwei große Tränen kullerten über seinen Schnabel herunter.“[34] Zudem beruhigt ihn der Apollonius, indem er ihm einen roten Zettel zusteckt. Nach dessen Inhalt braucht sich der Melchior keine Veränderung seines Lebens zu befürchten. Dies lässt sich als positive Geste interpretieren: „… ergriff mich fast noch mehr Mitleid mit der Seele, die in einem elenden, langsam absterbenden Vogelleib büßen musste für eine mir unbekannte, schreckliche Sünde.“[35]
[...]
[1] Exemplarisch wurde herangezogen: Das neue große farbige Lexikon. / [Fachwiss. Mitarb.: Gerhard Follmann … Red.Leitung: Christine Liebold; Martin Werner], Niedernhausen: Bassermann, 1988, S. 638.
[2] Ebd. S. 638.
[3] KARBACH, Walter: Phantastik des Obskuren. In: Phantastik in Literatur und Kunst. Hg. v. Christian W. THOMSEN und Jens Malte FISCHER, Darmstadt, 1980, S. 294.
[4] WÜNSCH, Marianne: Phantastik in der Literatur der Frühen Moderne. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890 – 1918. Hg. v. York-Gothart MIX. München, Wien (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Band 7) 2000, S. 175.
[5] 1921 veröffentlicht. Paul Busson: 1873 – 1924.
[6] BUSSON, Paul: Die Wiedergeburt des Melchior Dronte. Wien/Hamburg: Paul Zsolnay Verlag Gesellschaft M. B. H., 1980, S. 7. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert.
[7] WÜNSCH, Marianne: Das Modell der «Wiedergeburt» zu «neuem Leben» in erzählender Literatur 1890 – 1930. In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozess (Walter MÜLLER-SEIDEL zum 65. Geburtstag). Hg. v. Karl RICHTER und Jörg SCHÖNERT, Stuttgart, 1983, S. 379 – 408.
[8] Vergleiche graphische Illustration, Anhang: 6.1., S. 34.
[9] WÜNSCH: Modell, S. 382.
[10] Vergleiche graphische Illustration, Anhang: 6.2., S. 35.
[11] BUSSON, S. 9.
[12] Ebd. Kapitel 40 und 41.
[13] Ebd. S. 132.
[14] BUSSON, S. 133.
[15] Ebd. S. 190.
[16] WÜNSCH: Modell, S. 382.
[17] BUSSON, S. 190.
[18] Ebd. S. 190.
[19] Ebd. 190.
[20] BUSSON, S. 190.
[21] Ebd. S. 190.
[22] Ebd. S. 192.
[23] Ebd. S. 192.
[24] Ebd. S. 137.
[25] WÜNSCH: Modell, S. 382.
[26] Ebd. S. 382.
[27] BUSSON, S. 84.
[28] Ebd. S. 156.
[29] Ebd. S. 84.
[30] Ebd. S. 84.
[31] Ebd. S. 83.
[32] WÜNSCH: Modell, S. 383.
[33] BUSSON, S. 83.
[34] Ebd. S. 156.
[35] Ebd. S. 156.
- Arbeit zitieren
- Ralph Marko (Autor:in), 2005, Das Modell der "Wiedergeburt" zu "neuem Leben" in Paul Bussons Die Wiedergeburt des Melchior Dronte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48179
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