Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Drama "Huis Clos" (1944) von Jean-Paul Sartre. Neben einer Darstellung des gewählten Rahmens, der drei Protagonisten Garcin, Ines und Estelle und der „höllischen Konstellation“ sollen an diesem Stück auch einige wichtige Elemente des Sartre'schen Existenzialismus aufgezeigt werden. Dies ist möglich, da seine Stücke grundsätzlich philosophische Lehrsätze demonstrieren oder zumindest beinhalten. Sartres Literatur erfüllt immer auch den Zweck, seine Philosophie konkreter darzustellen.
Dies zeigt sich bis zu einem gewissen Maße auch in „Huis clos“, wo die Figuren offenbar entsprechend ihrer auszufüllenden Funktionen in Bezug auf die Darstellung existenzialistischer Thesen erdacht und eingepasst wurden. Zentrale existenzialistische Elemente, die in der vorliegenden Arbeit untersucht werden, sind die Bedeutung des „Anderen“, mit ihm der „Blick“, der „Spiegel“, das „Urteil“, außerdem die „Unaufrichtigkeit“ („mauvaise foi“) und der Mangel an „Authentizität“. Hinzu kommen das Handeln als Existenzgrundlage und die Unterscheidung von Taten und leeren Entscheidungen.
Die Arbeit gipfelt in einer Abwägung der Interpretationen des viel zitierten und oft missverstandenen Satzes „Die Hölle, das sind die andern“.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Hauptteil
1. Rahmen
1.1 Tod
1.2 Schauplatz – Hölle
2. Personen
2.1 Garcin
2.2 Ines
2.3 Estelle
2.4 Konstellation und Entwicklung
3. Elemente des Sartre'schen Existenzialismus in „Huis clos“
3.1 Der Andere
3.1.1 Der Blick
3.1.2 Der Spiegel
3.1.3 Das Urteil
3.1.4 Furcht
3.1.5 Kommunikation und Sprache
3.2 „Mauvaise foi“ (Unaufrichtigkeit)
3.3 Authentizität
3.4 Taten vs. Leere Entscheidung
4. Bedeutung des zentralen Satzes „Die Hölle, das sind die andern.“
III. Schlussbemerkung
IV. Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur
2. Sekundärliteratur
I. Einleitung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einem Drama von Jean-Paul Sartre - „Huis clos“(1944). Neben einer Darstellung des gewählten Rahmens, der drei Protagonisten Garcin, Ines und Estelle und der „höllischen Konstellation“ sollen an diesem Stück auch einige wichtige Elemente des Sartre'schen Existenzialismus aufgezeigt werden. Dies ist möglich, da seine Stücke grundsätzlich philosophische Lehrsätze demonstrie-ren oder zumindest beinhalten. Sartres Literatur erfüllt so auch den Zweck, seine Phi-losophie konkreter darzustellen. Hans Mayer ist ähnlicher Ansicht:
„Es gibt kein belletristisches Werk Sartres, das nicht einer Demonstration von Thesen des Phi-losophen zu dienen hätte. Alle Gestalten in Sartres Erzählungen, Dramen, Romanen sind Exemplifizierungen und haben kaum Anspruch auf künstlerische Existenz „an sich“.“1
Das zeigt sich bis zu einem gewissen Maße auch in „Huis clos“, wo die Figuren offen-bar entsprechend ihrer auszufüllenden Funktionen in Bezug auf die Darstellung exis-tenzialistischer Thesen erdacht und eingepasst wurden.
Leo Pollmann sieht ebenfalls diesen engen Zusammenhang von Philosophie und Dich-tung, wenn er sagt:
„Zwar betont Sartre, daß man seine Dichtung auch als Dichtung lesen und verstehen könne [...], aber Sartres Dichtung ist so angelegt, daß sie als Dichtung zur Deutung, daß sie zur Frage nach dem Dahinter reizt.“2
Dem stimme ich zu. Der Sinn, der sich im Stück verbirgt, „liegt [...] nie auf der mate-riellen Wortebene, er ist in keinem Fall ein praktischer und das heißt praktizierbarer, moralischer Sinn, sondern ein erkenntnistheoretischer, philosophischer.“3 Diese Aus-sage trifft definitiv auf „Huis clos“ zu.
Dorothy McCall verdeutlicht die Bedeutung gerade des vorliegenden Stückes:
„Yet No Exit is not a thesis play in the conventional sense [...]. What makes No Exit a mas-terpiece is that Sartre is able to translate philosophy into dramatic form.“4
Diese Transformation ist offenkundig sehr gut gelungen.
Von den drei essenziellen Erfahrungen, die Sartres Werk zu Grunde liegen und die McCall nach Colette Audry zitiert: „First discovery: I exist in the world. Second dis-covery: There are also others in the world. Third discovery: I must die; what does that mean?“5 treffen die zweite und dritte genau das Thema von „Huis clos“.
Zentrale existenzialistische Elemente in „Huis clos“ sind die Bedeutung des „Ande-ren“, mit ihm der „Blick“, der „Spiegel“, das „Urteil“, außerdem die „Unaufrichtig-keit“ („mauvaise foi“) und der Mangel an „Authentizität“. Hinzu kommen das Han-deln als Existenzgrundlage und die Unterscheidung von Taten und leeren Entschei-dungen. Die Arbeit gipfelt in einer Abwägung der Interpretationen des viel zitierten und oft missverstandenen Satzes „Die Hölle, das sind die andern“, dem verschiedene Bedeutungsmöglichkeiten unterlegt wurden.
II. Hauptteil
1. Rahmen
Der Name des Stücks „Huis clos“ hat im Deutschen zwei Übersetzungen erfahren: zu-nächst 1949 „Bei geschlossenen Türen“ (Harry Kahn) und später bei einer Neuausga-be „Geschlossene Gesellschaft“ (Traugott König)6. Hans Mayer kritisiert treffend:
„Der französische Ausdruck bezeichnet einen Zustand „unter Ausschluß der Öffentlichkeit“. Der deutsche Titel „Geschlossene Gesellschaft“ deutet ein bißchen auf trauliche Gemeinschaft und gemütliches Beisammensein, wovon der französische Originaltitel nichts durchschimmern läßt. Mit höchster Berechtigung, wie jeder weiß, der das Stück kennt.“7
Auch die andere Übersetzung scheint mir nicht gelungen; so sind die Türen keines-wegs permanent verschlossen, wie Garcin im Verlauf des Stückes sehr wohl bemerkt. „Huis clos“ läuft auf etwas ganz anderes hinaus als lediglich auf vermeintlich ge-schlossene Türen: Es ist der Teufelskreis, in den die drei Figuren gezwungen werden, fernab jeder Ablenkung und weit entfernt von ihrem alten Umfeld und überhaupt ei-nem Zugang zur Welt – eben im Tode, zumal in der Hölle.
Was den eigenen Anspruch an die Theaterstücke des Existenzialismus betrifft, erklärt Sartre:
„Unsre Stücke sind gewaltsam und knapp, um ein einziges Ereignis zentriert; sie haben wenige Darsteller, und die Geschichte ist auf eine kurze Zeitspanne komprimiert, mitunter auf nur we-nige Stunden. Daraus resultiert, daß sie einer Art „Regel der drei Einheiten“ folgen, die nur et-was verjüngt und modifiziert worden ist. Ein einziges Bühnenbild, einige Auftritte, einige Ab-gänge, lebhafte Dispute zwischen den Figuren, die leidenschaftlich ihre individuellen Rechte verteidigen [...].“8
„Huis clos“ entspricht klar den von Sartre ausgewählten Vorgaben: Es bleibt bei ei-nem Raum, einem unveränderten Bühnenbild, den drei Auftritten der Protagonisten jeweils mit dem Kellner, lediglich den drei jeweils folgenden Abgängen des Kellners und dazu den „lebhaften Disputen“ zwischen den Figuren, die versuchen, ihre Sicht-weisen und Selbstbilder den anderen aufzudrängen.
Biemel erklärt, „daß Sartre kein Charakterdrama, kein Schicksalsdrama, kein psycho-logisches Drama im überkommenen Sinne schreiben [wollte], sondern ein Situations-drama, also ein Drama, in dem das Verhalten des Menschen in einer bestimmten Situ-ation sichtbar gemacht werden soll, so daß wir überhaupt verstehen, wie er für die Si-tuation, in die er gelangt ist, auch verantwortlich ist.“9 Das erfährt der Zuschauer in „Huis clos“ zweifellos.
Weiterhin gibt Sartre zu verstehen, dass sein Theater „versucht, das Dasein in seiner Totalität zu erforschen und dem zeitgenössischen Menschen ein Bild von sich selbst, von seinen Problemen, seinen Hoffnungen und seinen Kämpfen zu bieten.“10 Es soll „ihnen von ihren allgemeinen Sorgen sprechen, ihre Ängste ausdrücken in Form von Mythen, die jeder verstehen und zutiefst nachempfinden kann.“11 In „Huis clos“ wer-den das Ende der Möglichkeit freiheitlichen Handelns, die Unaufrichtigkeit, die feh-lende Authentizität und mögliche Folgen thematisiert.
1.1 Tod
Es lohnt sich, ein paar Worte über den Tod und seine Bedeutung für das Stück zu verlieren. Formal bedeutet die Tatsache, dass Sartre die Begegnung der drei Figuren in ein Jenseits verlegt hat, zugleich einen Verzicht auf die dramatische Funktion der Zeit. Spannung kann nicht durch von außen kommende Ereignisse oder auch persön-liche Veränderungen erzeugt werden, weil von vornherein feststeht, dass alles auf ewig so bleibt, wie es sich dem Zuschauer darstellt, sobald die Gruppe komplett und der Kellner verschwunden ist. Zunächst können Garcin, Estelle und Ines noch eine Zeit lang verfolgen, was in der Welt der Lebenden vor sich geht, aber sobald diese Verbindung gekappt ist, sind sie und mit ihnen der Zuschauer auf den kleinen Raum und ihre Gruppe angewiesen. Nichts wird sich mehr verändern. Trotzdem hat „Huis clos“ eine Spannung, die sich aus dem kommunikativen Teufelskreis ergibt, in dem sich die drei Figuren bewegen.
Sartre zeigt mit der Verwendung des Todes als Rahmen für das Stück mehrere Ele-mente seiner persönlichen Sichtweise. Walter Biemel erklärt, dass Sartre durch den Kunstgriff, den drei Protagonisten nach und nach den Blick auf ihr altes Umfeld zu nehmen, sichtbar macht, „daß der Tod darin besteht, daß wir keinen Einfluß mehr ha-ben auf das, was die Anderen von uns denken, von uns sagen. Wir sind ihnen ausge-liefert.“12 Das erleben besonders stark Garcin und Estelle. Doch für alle gilt:
„Das Unwiderrufliche des Todes – wir können nichts mehr ändern, wir können nicht mehr in-tervenieren, das Leben geht ohne uns weiter. Sobald man den Menschen aus dem Leben nichts mehr bedeutet, bricht auch der Kontakt der Gestorbenen ab. Zunächst geschieht das bei Ines – dann bei Estelle und schließlich bei Garcin.“13
Die Unwiderruflichkeit des Todes hat auch noch eine weitere Auswirkung, die eine besonders große Rolle für unseren Zusammenhang spielt. Im Tod erstarrt der Mensch zu den Möglichkeiten, die er verwirklicht hat. Die Zeit des freiheitlichen Handelns ist vorüber und man „hat kein Recht mehr, sich auf die anderen Möglichkeiten zu beru-fen, die man noch hätte verwirklichen können. Mit dem Tod ist die Möglichkeit der Wahl und die Möglichkeit der Verwirklichung, also der Tat, zu Ende.“14 Garcin, Es-telle und Ines müssen diese Erstarrung begreifen und annehmen, was den ersten bei-den kaum gelingt. Die drei haben weder Gegenwart noch Zukunft, sie werden allein nach ihrer Vergangenheit beurteilt. Das drückt auch Joseph McMahon aus, indem er sagt:
„They are fixed and presumably inalterable because their past, now that it is over, has the quality of an object. Nothing that they say or do now can redefine, reform, or compensate for what they were then.“15
McCall erklärt: „The characters of No Exit are identified by a past over which they have no control; it has become their destiny.“16
Noch einen weiteren Zweck hat die Situation des Todes, zumindest wenn man Sieg-fried Dangelmayr in seiner Interpretation folgt. Er sieht die Sartre'sche Verwendung des Todes als ein Mittel der Verschärfung an, um die Zuschauer mit seinen Thesen zu erreichen:
„Das Leben des Menschen als Ganzes ist [...] niemals sicher gegeben, sondern stets auf neue Bewährung und Wahl angewiesen. Erforderlich ist stets ein seiner selbst Gewahrwerden, das als ein Durchsetzen des Ichs in den Augen bzw. gegenüber dem Urteil der anderen erfolgen muß. Das findet seine äußerste Verschärfung in der Situation des Todes, in der das Leben end-gültig wird, so daß die existentiellen Strukturen ebenfalls in letzter Schärfe hervortreten.“17
Er fasst zusammen: „Vom Tode her tritt das Leben eines Menschen als das in Er-scheinung, was der Mensch im ganzen war.“18
1.2 Schauplatz – Hölle
Zunächst ist zu bemerken, dass „Death in No Exit thus becomes analogous to the Christian idea of the Last Judgment“19- auch wenn man diesen Teil nicht zu sehen be-kommt. Doch es gibt offenbar eine höhere Macht, welche die drei Protagonisten in die Hölle verbannt hat. McCall verdeutlicht ihre Einschätzung:
„The dramatic idea of No Exit depends upon the existence of some Supreme Power that has seen what Inez, Garcin, and Estelle are and has condemned them to eternity in Hell.“20
Selbstverständlich sollte man sich hüten, Sartre christliche Ansätze zu tun unterstellen – er ist Atheist – und auch McMahon warnt vor einer falschen Interpretation der Höl-lenmetapher. Zudem erteilt er auch den Interpreten eine Absage, die die Hölle auf der psychologischen Ebene verstanden haben wollen:
„The play ran the danger of being misunderstood [...] because the metaphor of hell easily slipped into the Christian economy and was seen by many as an attempt to sophisticate and modernize the idea of hell by making it a psychological rather than a physical state [...].“21
Volker Roloff spricht dagegen von einer „Ironisierung der Höllenkonzeption“, einer „Gleichsetzung der Hölle mit dem alltäglichen Leben“ und erklärt die Wahl im Hin-blick auf die Zuschauer sehr überzeugend:
„Entscheidend ist dabei, daß das Bewußtsein der möglichen Freiheit von der Hölle und den Höllenängsten nicht den dargestellten Figuren, sondern dem Zuschauer vorbehalten ist: Er ist es, der das Spiel als solches, die Ironie des Spiels und damit Hölle, Gefängnis usw. als Sym-bole der Literatur durchschauen soll. [...] Sartre selbst hat die Jenseitsperspektive mit Brechts Verfremdungseffekt verglichen: als eine Form der Distanz des Spiels, das den Zuschauer be-fremdet, zugleich aber zu einer Einsicht seiner eigenen Situation führt.“22
Peter Weyland erwägt folgende Interpretation des Höllenmotivs mit Bezug auf die Fi-guren, die ich gleichfalls unterstütze:
„Die Hölle ist [...] gleichbedeutend mit dem absoluten, von außen auferlegten Zwang zum Be-wußtsein, in einer Situation der äußersten Begrenztheit, bei gleichzeitiger Reduktion des pour-soi, der veränderungsfähigen Freiheit dieses Bewußtseins also, auf ein nur innerhalb der Höl-lensituation wirksames Minimum [...].“23
Diese Reduktion kann man auch in Bezug auf den Raum erkennen:
„There is constantly in No Exit a sense of things closing in, of the room becoming ever smaller. At first the three can look outside the room to what is happening to them in the world. These glimpses soon fade into darkness, leaving only the relentless light of the room. For a while they can hide in lies, but that recourse too is taken away as gradually each exposes the others until they all find themselves „naked right through.“ Finally there is only the glaring room and the three of them together, each with his truth and with his two fellow torturer-vic-tims.“24
Es gibt keine Dunkelheit, keinen Schlaf, nicht einmal ein Blinzeln der Augen - „all das soll andeuten, daß es hier keine Unterbrechung gibt, keinen Rhythmus, wie im Leben, zwischen Wachen und Schlafen, Sehen und die Augen schließen, Hell und Dunkel. Die Zeit wird zum Stehen gebracht [...].“25 Garcin erkennt sehr schnell: „Ich hab's: es ist das Leben ohne Einschnitt.“ (S. 70) Ihm dämmert, dass das eine wahre Folter sein kann, zumal er schon große Schwierigkeiten hat, sich selbst permanent zu ertragen; umso unerträglicher wird die Situation mit zwei weiteren Höllen-Insassen.
2. Personen
Zentral sind die zwischenmenschlichen Verhältnisse in „Huis clos“, wie auch Philip R. Wood beschreibt:
„The play is really an allegory about human relations under certain conditions: the three oc-cupants of the room – as they realize to their growing horror – have been carefully chosen as the kinds of people best suited to be one another's infernal tormentors.“26
In diesem Stück gibt es, anders als sonst oft bei Sartre, keinen Einzelhelden, sondern eine Gruppe von Hauptpersonen, die gleichgestellt sind. Möglicherweise befindet sich Garcin in einer etwas herausgehobenen Rolle, da er als Erster in den Raum kommt und beide Frauen sich bei ihrem Eintreten auf ihn beziehen, ihn für jemanden halten (den Henker bzw. den toten Geliebten), der er nicht ist. Grundsätzlich aber befinden sich alle in derselben Situation und sind dadurch miteinander verbunden. Dangelmayr ergänzt, dass es „keine elitären Helden, sondern Durchschnitts-, oder besser Quer-schnittsmenschen sind.“27 Mit McCall sei hinzugefügt:
„Garcin, Estelle, and Inez are not independently interesting characters endowed, as the ex-pression goes, with „a life of their own“. What gives them interest is that they are incarcerated together. And it is their existence together, for eternity, that creates Sartre's idea and maintains it in dramatic action.“28
Sie erläutert, wie Sartre die Einstellungen seiner Figuren gewählt und ausgeführt hat, so, dass jeder Zuschauer sich wiederfinden könne, wenn er es zuließe:
„Sartre's characters in No Exit express attitudes that are common enough in their basic form; Sartre takes those attitudes to their extreme possible consequences.“29
Im Folgenden möchte ich die drei Protagonisten jeweils kurz charakterisieren und vorstellen. Den Kellner berücksichtige ich nicht, da sich meiner Ansicht nach an die-sem Charakter, der nur sehr kurze Auftritte hat, keine Elemente des Sartre'schen Exis-tenzialismus aufzeigen lassen. Der Ablauf des Dramas und die Handlungsweisen der Figuren werden im Anschluss untersucht, wo ich zudem – im dritten Teil – auf Be-griffe der Philosophie Sartres eingehen und auf „Huis clos“ beziehen werde.
2.1 Garcin
Joseph Garcin stellt sich als Journalist und Literat vor, aus Rio stammend. Er ist ein Intellektueller, hebt sich aber nicht als Außenseiter von der Gruppe ab, wie beispiels-weise in „Les mains sales“.30
Interessant sind die unterschiedlichen Reaktionen der drei Protagonisten, wenn sie in den Raum geführt werden, sagen sie doch bereits etwas über den jeweiligen Charakter aus. Garcin kommt zuerst. Er gibt sich gefasst und versucht, vernünftig und sachlich zu sprechen und zu agieren. Systematisch befragt er den Kellner und will damit seine Gefasstheit demonstrieren. Er will der Situation ins Auge sehen, sich nichts vorma-chen lassen: „Aber denken Sie daran: mich kann man nicht überrumpeln; kommen Sie bloß nicht und rühmen Sie sich, Sie hätten mich überrascht. Ich sehe der Situation ins Auge.“ (S. 70) Doch er kann seine Angst nicht ganz verbergen, als er nach den er-warteten Folterinstrumenten fragt, und gerade dass er beständig wiederholt, „keine Angst zu haben, sich nichts vormachen lassen will“31, könnte verdächtig wirken. Als er realisiert, dass in dieser Hölle keine körperlichen Qualen zu erwarten sind, ist Gar-cin offenbar beruhigter, so dass es ihm möglich wird, sich über Banalitäten wie die fehlende Zahnbürste zu echauffieren. Das heftige Verhalten steht in keinem Verhältnis zum Gegenstand seines Zorns. Er herrscht den Kellner an: „Ich bin mir keineswegs darüber im unklaren, wo und was ich hier bin; aber ich dulde nicht, daß Sie...“ (S. 69)
Garcin versucht, die Situation zu verstehen, mit Vernunft aufzudecken, was ihn er-wartet. Er probiert einen logischen Ansatz, den er sich lange nicht nehmen lassen will: „Ich werde nicht schreien, nicht jammern, doch ich will der Situation ins Auge sehen. Sie soll mich nicht von hinten anfallen, ohne daß ich sie erkennen kann.“ (S. 70) Als der Kellner gehen will, versucht er doch, durchaus angstvoll, ihn aufzuhalten und als er dann allein ist, verfällt er in rastlose Unruhe.
Garcin bleibt, auch als Ines erscheint, zunächst bei seiner vernunftorientierten Linie und sagt: „Ich nehme die Situation nicht auf die leichte Achsel; ich bin mir ihrer Schwere durchaus bewußt. Aber Angst habe ich nicht.“ (S. 73) Er meint, er könne hier sein „Leben in Ordnung bringen“ (S. 73). Doch damit kommt er zu spät!
Sein Verhältnis zu Frauen ist offenkundig schlecht. Er betrachtet sie nicht als eben-bürtig oder überhaupt als bedeutsam. Das erfährt man zum einen aus dem, was er über sein Verhalten seiner Ehefrau gegenüber erzählt, zum anderen daraus, wie er sich Ines und Estelle gegenüber verhält. Außerdem erklärt er des Öfteren, dass ihm einzig die Meinung seiner Kollegen, Männern selbstverständlich, wichtig sei. Männer und ih-re Gesellschaft bedeuten ihm deutlich mehr als Frauen, Vorzüge sieht er bei Ersteren, zum Beispiel das Schweigenkönnen.
Frauen „liebte“ er trotzdem und sie ihn, offenbar oberflächliche, gedankenlose Lust, ohne Bedeutung. Charles Hill betont, dass Garcin Frauen generell als Objekte behan-delt:
„He has in fact treated all women as objects, of indifference or pleasure, and he will try at first to ignore Inez and Estelle. The female Other does not exist for him. On the other hand, before he is completely cut off from his former life, he learns that his male comrades still alive have labeled him a deserter and a coward. Their look has made him guilty, has nullified him, just as he has negated the existence of women. And now, ironically, he must try, eternally, to con-vince two women he is not guilty. That is, now that his friends have passed judgment, only through the women can he prove to himself that he did not act as a coward, can he find „sal-vation“.32
Auch McCall sieht ein problematisches Verhältnis zu Frauen:
„Although Garcin is aggressively heterosexual, he is not really concerned with women. Their admiration has always been easy for him to win; it was in the world of men that he wanted to make his mark. It is entirely fitting, then, that Hell should put Garcin for eternity with two wo-men.“33
Dem stimme ich unumwunden zu. Estelle, die sich Garcin in gewohnter Manier an den Hals werfen möchte, vermag es nicht, ihn freizusprechen von seiner Feigheit, die ihm schwer auf der Seele liegt. Ines wiederum, die er gezwungenermaßen auserkoren hat, kraft ihres eigenen Lebens und den Gemeinsamkeiten zwischen ihnen (Er sagt: „Du weißt, was das heißt: ein Feigling zu sein.“ „Du weißt, was das bedeutet: das Böse, die Schande, die Furcht. [...] Ja, du kennst den Preis des Bösen.“ (S. 95f.)) sein Ver-halten zu verstehen und zu entschuldigen, weigert sich klar und deutlich, demonstriert damit ihre Macht über ihn.
Worin liegt nun eigentlich Garcins Schuld? Wie bei allen dreien, liegt auch bei Garcin „eine doppelte 'Schuld' vor.“34 Zum einen besteht sie im demütigenden Verhalten sei-ner Frau gegenüber, zum anderen, wie er annimmt und was ihm wesentlich mehr Schmerz bereitet, in seinem feigen Desertieren. Er hat seine Frau fünf Jahre lang ge-quält und es ist ihm wohl bewusst, dass dies der Grund für seine Verdammnis ist. Trotzdem interessiert er sich nicht für sie, noch immer nicht. Als Ines nach den Grün-den fragt, aus denen er seiner Frau Schmerzen bereitete, antwortet Garcin: „Weil es so leicht war.“ (S. 83) Er erklärt: „Mit einem Wort: sie bewunderte mich zu sehr.“ (S. 83) Das war ihm lästig, diese Anhänglichkeit, diese Schwäche; er wollte die Aner-kennung seiner männlichen Kollegen.
So ist es auch die Frage der Feigheit, die er zu beantworten sucht. Er möchte sich ent-lastet und sein Selbstbild bestätigt sehen:
„Daher hängt er auch in der Hölle zunächst noch von seinen ehemaligen Arbeitskollegen ab: wie beurteilen diese seine 'Fahrt' nach Mexiko? Dann, als der Kontakt zur Erde abgebrochen ist, ohne ihm Klarheit verschafft zu haben, bedarf er der Anerkennung mindestens einer der beiden Frauen“35
Es fällt ihm ausgesprochen schwer, seine Schuld ein- und sein positives Selbstbild zer-schmettert zu sehen:
„Damned in Hell, Garcin is still desperately seeking salvation. For him most of all, the action of the play is a movement toward increasingly painful self-knowledge. [...] Of the three of them in Hell, Garcin's truth takes the longest to come out. He has lived his life with the image of himself as a tough; that ideal alone has been important.“36
2.2 Ines
Sie stellt sich vor als Mademoiselle Ines Serrano, zu Lebzeiten war sie Postangestell-te.
Ines schweigt, als sie von dem Kellner hereingeführt wird, gibt keinen Laut und keine Frage von sich. Erst als dieser gegangen ist, wendet sie sich an Garcin, den sie für den Henker hält, und fragt nach Florence. Deren Abwesenheit hält sie für versuchte, wenn auch misslungene Folter. Ihre Kälte und Härte gegenüber Menschen zeigen sich in ih-rem ersten Auftreten. Über Forence, von der man annehmen könnte, sie hätte ihr nahe gestanden, sagt sie: „Florence war ein dummes kleines Ding, ich traure ihr nicht nach.“ (S. 72)
Ines „ist illusionslos, besitzt zweifellos eine intellektuelle Schärfe.“37 Sie hat keine Angst, ihr Leben sei in Ordnung, sie stehe dazu, betont sie. Ihr negatives Selbstbild ist sicher zutreffend. Sie sieht ihre Schuld und betrachtet sich als schlecht und böse, spä-ter auch als ausgedörrt und weder zum Geben noch zum Nehmen in der Lage: „Even before being finally damned in Hell, Inez has seen herself as a fixed, eternal essence of evil.“38
Offenbar wurde sie, als lesbisch Veranlagte, bereits von der Gesellschaft verdammt, was ihr nichts auszumachen scheint; es hinderte sie jedenfalls nicht daran, ihre Sexua-lität offen auszuleben, führte aber möglicherweise zu ihrem Zynismus und auch Sadis-mus. Wood erklärt:
„She says of herself, „I was what they call, down there, a woman damned“ [...], a conventio-nal euphemism of the period for a lesbian.“39
Deutlicher wird McCall:
„For Inez, then, damnation is nothing new; she had already made it her destiny in life. [...] Inez does not learn about herself in the course of the play; from the outset – and as far back as we know – everything has been clear. Her self-chosen epithet of femme damnée is entirely ap-propriate.“40
Auch Hills Einschätzung geht in diese Richtung:
„Inez is the most lucid of the three about her own situation and the meaning of their present position. A lesbian, she has chosen to accept condemnation by society during her lifetime. From the beginning of the play she is more explicit than Garcin in stating that her whole aim in life was to make others suffer.“41
Doch könnte die Homosexualität auch positive Aspekte für sie (gehabt) haben. Wey-land erklärt:
„D.h., es ist gerade die lesbische Liebe, die [...] Inès eine autonome Stellung gibt, die sie so-wohl gegen die Verachtung, mit der Estelles bürgerliche Doppelmoral sie bedenkt, als auch gegen Garcins patriarchalischen Männlichkeitswahn und seine sexuellen Repressionsversuche immun sein läßt, und ihr erst jene Vormachtstellung über die ihr sozial überlegenen Gegen-spieler gibt, die im Dialog ihren Ausdruck findet. Denn was aus ihr geworden wäre, hätte sie sich gefügig und anpassungsfähig auf der sozialen Leiter nach oben bewegt, lassen Werde-gang und Schicksal von Garcins Frau erahnen.“42
Ihr Verhältnis gegenüber anderen ist deutlich gestört: „Ich bin schlecht: das heißt: ich brauche das Leiden anderer, um bestehen zu können.“ (S. 84) McCall fasst den Sadis-mus, den Ines zur Schau trägt, zusammen:
„Inez's sadism is a way to burn an ineffaceable image of herself into another. The diabolical nature of the image does not matter, since she has the pleasure of knowing that she is respon-sible for it. Inez is aware of herself only through what she does to her victims [...].“43
Ihre Macht hängt allerdings von den anderen ab, denn sie hat diese Macht nur, wenn diese die Rolle der Opfer akzeptieren:
„When Estelle by her contemptuous indifference refuses that role, it is Inez who becomes the victim. Tortured by jealousy and frustrated desire, she is condemned to be forever at Estelle's mercy.“44
Anderen gegenüber ist sie ironisch, drastisch, geradezu unbarmherzig grausam, durch-blickt pfeilschnell Fassaden und Selbstbilder:
„She immediately recognizes Garcin's fear and thinks he is the torturer. She was a torturer du-ring her lifetime; she thus readily understands the fear torturer's victims inspire in them.“45
„Im Gespräch mit Garcin ist sie sehr sachlich, beinahe brutal, weist ihn zurecht, wenn er in ei-nem Tic seinen Mund verzieht, sagt ihm auf den Kopf zu, daß er feige ist.“46
Ines' Schuld bezieht sich auf zwei Menschen. Zum einen hat sie die Beziehung zwi-schen Florence und deren Ehemann zerstört. Sie hat dafür gesorgt, dass Florence ih-ren Mann mit Ines' Augen sah und verließ. Das war Ines offenbar in der Folge doch nicht genehm, denn sie sagt: „Zu guter Letzt blieb sie mir auf dem Hals.“ (S. 84) Als Florences Mann von einer Tram überfahren wird, redet Ines Florence grausam ein, dass die beiden Frauen den Mann umgebracht hätten, womit sie wiederum Schuld auf sich geladen hat. Zudem ist sie nicht wirklich frei von Schuld an seinem Tod. Wenn er auch, nach ihren Aussagen, nicht fähig zum Selbstmord gewesen wäre, so gibt sie doch zu, dass er sehr gelitten hat. Möglicherweise erwischte ihn die Tram in einem Moment der kummerbedingten Unachtsamkeit. Große Schuld ist Ines jedoch zuzu-weisen dafür, dass sie Florence in den Selbstmord getrieben hat. Diese drehte eines Nachts den Gashahn auf, beide Frauen starben.
[...]
1Mayer (1972): Anmerkungen zu Sartre. S. 26.
2Pollmann (1967): Sartre und Camus. Literatur der Existenz. S. 12f.
3Ebd.: S. 12.
4McCall (1969): The Theatre of Jean-Paul Sartre. S. 111.
5Ebd.: S. 110.
6Vgl. Biemel (1964): Jean-Paul Sartre. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. S. 190.
7Mayer (1972): S. 31.
8Sartre (1946): Mythen schaffen. In: ders. (1979): Mythos und Realität des Theaters. Aufsätze und Interviews 1931-1971. S. 37.
9Biemel (1964): S. 53.
10Sartre (1946): S. 35.
11Ebd.
12Biemel (1964): S. 56.
13Ebd.
14Ebd.: S. 61.
15McMahon (1971): Human Beings. The World of Jean-Paul Sartre. S. 71f.
16McCall (1969): S. 123.
17Dangelmayr (1988): Der Riß im Sein oder die Unmöglichkeit des Menschen. Interpretationen zu Kafka und Sartre. S. 305.
18Dangelmayr (1988): Der Riß im Sein oder die Unmöglichkeit des Menschen. Interpretationen zu Kafka und Sartre. S. 305.
19McCall (1969): S. 123.
20Ebd.
21McMahon (1971): S. 81.
22Roloff (1988): Existentielle Psychoanalyse als theatrum mundi. Zur Theatertheorie Sartres. In: König (Hg.) (1988): Sartre. Ein Kongreß. S. 103.
23Weyland (1979): Sartre – Aktualität und literarische Form. Zwei Studien zu Huis Clos und L'Engrenage. S. 26.
24McCall (1969): S. 127.
25Biemel (1964): S. 54.
26Wood (1990): Understanding Jean-Paul Sartre. S. 190.
27Dangelmayr (1988): S. 305.
28McCall (1969): S. 111.
29McCall (1969): S. 120.
30Vgl. Dangelmayr (1988): S. 305.
31Biemel (1964): S. 55.
32Hill (1992): Jean-Paul Sartre. Freedom and Commitment. S. 82f.
33McCall (1969): S. 115.
34Weyland (1979): S. 32.
35Ebd.
36McCall (1969): S. 115.
37Biemel (1964): S. 56.
38McCall (1969): S. 117.
39Wood (1990): S. 191.
40McCall (1969): S. 117.
41Hill (1992): S. 83.
42Weyland (1979): S. 77.
43McCall (1969): S. 117.
44McCall (1969): S. 118.
45Hill (1992): S. 82.
46Biemel (1964): S. 55f.
47Ebd.: S. 56.
- Citar trabajo
- Claudia Kollschen (Autor), 2003, Jean-Paul Sartre: "Der Andere" und weitere Elemente des Existenzialismus im Drama "Huis Clos", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48066
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