Theodor Fontane schrieb „Irrungen, Wirrungen“ in den 1880er Jahren. Seit 1870 war Preußen mit seiner Hauptstadt Berlin erstarkt wie nie zuvor. Bei seinem Sieg im deutsch-dänischen Krieg 1864 hatte es Schleswig und Holstein gewonnen, im deutsch-französischen Krieg, in dem Preußen erneut als Sieger hervorging, Elsass-Lothringen erobert. Die Kriegsentschädigung, die Deutschland von Frankreich forderte, kurbelte die deutsche Wirtschaft an wie nie zuvor. Das Deutsche Reich, das 1871 nach Beendigung des Krieges unter Ernennung des preußischen Königs Wilhelm I. zum deutschen Kaiser, gerade erst gegründet worden war, erhielt einen immensen Aufschwung. Diese Zeit wird allgemein als die deutschen Gründerjahre bezeichnet, in der eine wahre Industrielle Revolution stattfand. Wo früher der Großteil der Menschen in der Landwirtschaft arbeiteten, setzte jetzt eine wahre „Landflucht“ in Richtung der Städte ein, in denen die zahlreichen, neu erbauten Fabriken dringend vieler Arbeiter bedurften. Die Möglichkeit, durch seiner Hände Arbeit nicht nur berufsmäßig auf der Stelle zu treten, sondern eventuell sogar in der Arbeiterhierarchie aufzusteigen so wie die Unabhängigkeit von Wind und Wetter in Bezug auf die finanzielle Lebenssicherung machten die Städte für eine Vielzahl von Menschen so attraktiv, dass die Bevölkerungsrate der Städte stetig anstieg. In Berlin wuchs die Anzahl der Einwohner zum Beispiel von 930.000 im Jahr 1871 auf ganze 1.800.000 im Jahr 1887, was einer Verdoppelung der Bevöl kerungsdichte innerhalb von nur 16 Jahren entspricht 1 . Die wirtschaftliche Macht Deutschlands wurde vorangetrieben durch die Arbeit der bürgerlichen Unterschicht, des so genannten Vierten (Arbeiter)Standes, die Macht lag jedoch ausschließlich beim Adel. Das Militär genoss allerhöchstes Ansehen, allerdings konnten nur Adlige höhere militärische Ränge ausüben. [...]
Gliederung der Hausarbeit und Inhaltsverzeichnis
1. Der zeithistorische Hintergrund des Romans
2. Ausführliche Inhaltsangabe
3. Die Charakteristik der handelnden Personen
3.1 Magdalene Nimptsch
3.2 Botho von Rienäcker
3.3 Käthe von Sellenthin
3.4 Frau Dörr
3.5 Gideon Franke
4. Die Charakteristik der Paarbeziehung zwischen Magdalene Nimptsch und Botho von Rienäcker
4.1 Lenes Liebe zu Botho
4.2 Bothos Liebe zu Lene
5. „Irrungen, Wirrungen“ – Ein realistischer Roman
5.1 Realismus- Eine Definition
5.2 Fontanes Umsetzung seines Realismusbegriffes im Roman „Irrungen, Wirrungen“
Theodor Fontane: „Irrungen, Wirrungen“
1. Der zeithistorische Hintergrund des Romans
Theodor Fontane schrieb „Irrungen, Wirrungen“ in den 1880er Jahren. Seit 1870 war Preußen mit seiner Hauptstadt Berlin erstarkt wie nie zuvor. Bei seinem Sieg im deutsch-dänischen Krieg 1864 hatte es Schleswig und Holstein gewonnen, im deutsch-französischen Krieg, in dem Preußen erneut als Sieger hervorging, Elsass-Lothringen erobert. Die Kriegsentschädigung, die Deutschland von Frankreich forderte, kurbelte die deutsche Wirtschaft an wie nie zuvor. Das Deutsche Reich, das 1871 nach Beendigung des Krieges unter Ernennung des preußischen Königs Wilhelm I. zum deutschen Kaiser, gerade erst gegründet worden war, erhielt einen immensen Aufschwung. Diese Zeit wird allgemein als die deutschen Gründerjahre bezeichnet, in der eine wahre Industrielle Revolution stattfand. Wo früher der Großteil der Menschen in der Landwirtschaft arbeiteten, setzte jetzt eine wahre „Landflucht“ in Richtung der Städte ein, in denen die zahlreichen, neu erbauten Fabriken dringend vieler Arbeiter bedurften. Die Möglichkeit, durch seiner Hände Arbeit nicht nur berufsmäßig auf der Stelle zu treten, sondern eventuell sogar in der Arbeiterhierarchie aufzusteigen so wie die Unabhängigkeit von Wind und Wetter in Bezug auf die finanzielle Lebenssicherung machten die Städte für eine Vielzahl von Menschen so attraktiv, dass die Bevölkerungsrate der Städte stetig anstieg. In Berlin wuchs die Anzahl der Einwohner zum Beispiel von 930.000 im Jahr 1871 auf ganze 1.800.000 im Jahr 1887, was einer Verdoppelung der Bevölkerungsdichte innerhalb von nur 16 Jahren entspricht[1]. Die wirtschaftliche Macht Deutschlands wurde vorangetrieben durch die Arbeit der bürgerlichen Unterschicht, des so genannten Vierten (Arbeiter)Standes, die Macht lag jedoch ausschließlich beim Adel. Das Militär genoss allerhöchstes Ansehen, allerdings konnten nur Adlige höhere militärische Ränge ausüben. Der Kaiser vertraute in politischen Fragen seinem Kanzler Otto von Bismarck, der sich durch seine Unterstützung der liberalen Parteien den konservativen Adel zum Feind machte. Obwohl nicht eben sozial eingestellt, sah sich Bismarck gezwungen, aufgrund des stetig anwachsenden Bevölkerungsstromes in die Städte und der damit einhergehenden starken Verschmutzung der Reichshauptstadt Gesetze zu erlassen, die den Arbeitern der Unterschicht das Leben etwas erleichterten. Wo zu Zeiten von „Irrungen, Wirrungen“ noch kaum hygienische Zustände herrschten (die Straßen waren einzige Kloaken, es gab kaum fließend Wasser, die Menschen lebten auf engstem Raum zusammen, immer in der Angst, eine Seuche könne ausbrechen), schuf er ein Abwassersystem, das Berlin reinigte, eine Trinkwasserversorgung für Jedermann so wie eine medizinische Grundversorgung. Er regelte die Kinderarbeit in halbwegs erträgliche Bahnen, führte die Schulpflicht ein und sorgte für arbeiterfreundliche Gesetze. All diese Zugeständnisse an das einfache Volk riefen beim Adel wahre Empörungsstürme hervor, der das darin investierte Geld lieber dem Militär wollte zukommen lassen. In der eingeführten Schulpflicht und der Verbilligung des Buchdrucks sah der Adel eine Bedrohung seiner eigenen Vorrechte und Privilegien (wie etwa Bildung). Und tatsächlich kam es in der folgenden Zeit immer wieder zu Bürgerrechtsbewegungen, die, angespornt durch die neuen Freiheiten, mehr Rechte für sich forderten. Denn trotz der neuen Gesetze waren die Zustände in den Fabriken noch immer schlecht, das Los der Arbeiter hart. Die Liberalen so wie der Adel ignorierten diese Zustände und verwiesen die Bürger auf ihr Schicksal, während Anhänger des Proletariats vehement dagegen aufbegehrten. Die „Soziale Frage“ führte zu langwierigen, schier unlösbaren Problemen, die letztendlich immer wieder in Arbeiteraufständen und deren militärische Niederschlagung endeten. Bis zur Emanzipierung des Kleinbürgertums und der Arbeiterschicht war es noch ein langer Weg, der erst nach dem Ende des deutschen Kaisertums in der Weimarer Republik wirklich gelöst werden konnte.
2. Ausführliche Inhaltsangabe
Fontanes Roman „Irrungen, Wirrungen“ beschäftigt sich mit der schicksalhaften Liebesbeziehung zwischen dem adligen Premierlieutnant des kaiserlichen Kürassier-Regiments, Baron Botho von Rienäcker, und der bürgerlichen Kunststickerin Magdalene Nimptsch und deren langwierigen, emotionalen Folgen.
Am Ostermontag des Jahres 1875 bei einer Wasserfahrt auf dem Stralauer See kommt es zur ersten Begegnung zwischen Botho und Lene. Lene, die mit zwei Freunden mit ihrem Kahn in Lebensgefahr gerät (es naht ein Dampfer), wird von Botho und seinem Freund, die ebenfalls mit einem Kahn unterwegs sind, beherzt gerettet. Der charmanten Bitte Bothos, sie nach Hause geleiten zu dürfen, kann Lene, die sich nie wirklich zieren und zimperlich tun konnte[2], in ihrer übermütigen Art[3] nicht widersprechen. So lernen sich beide näher kennen und verlieben sich innerhalb kürzester Zeit ineinander. Botho ist beeindruckt von Lenes kleinbürgerlichen Familienidyll und besucht sie, die mit ihrer Ziehmutter, der alten Plätterin Frau Nimptsch, zur Miete im Vorhaus der Gärtnerei der Bürgersfamilie Dörr lebt, künftig häufiger. Vorerst von der alten Frau Nimptsch und ihrer Freundin Frau Dörr misstrauisch betrachtet, beweist Baron Botho schnell, dass er nicht so ( Einer) ist[4] wie die anderen Adligen, sondern sich nahezu perfekt in das kleinbürgerliche Familienidyll einfügen kann. Indem er nicht nur aus seinen Kreisen plaudert (was besonders der robusten[5] und etwas simplen[6] Frau Dörr gut gefällt), sondern auch ein offenes Ohr und Respekt für die niedrigeren Stände übrig hat (Zitat: Jeder Stand hat seine Ehre. Waschfrau auch.[7]), gewinnt er bald nicht nur die volle Sympathie von Lenes familiären Umfeld, sondern auch ihre aufrichtige Liebe. Obwohl frisch verliebt, macht Lene schon ganz zu Beginn ihrer unstandesgemäßen Beziehung deutlich, dass sie sich darauf nichts einbilde[8] und der Beziehung keine Zukunftschancen einräume, sie spricht darüber sogar mit Botho selbst, der diesem Thema jedoch geflissentlich ausweicht.[9] Auch im Gespräch mit seinem konservativen Onkel, der ihm die schlechte finanzielle Lage und die hohen Schulden der Familie von Rienäcker vor Augen führt und ihn davor warnt, sein bisschen Vermögen (zu vertun) oder (...) sich wohl gar mit einer kleinen Bourgeoise (zu verplempern)[10], anstatt sich durch eine Heirat mit der adligen Käthe von Sellenthin finanziell zu bereichern, schweigt Botho und meidet so eine Auseinandersetzung, in der er sich zu seiner Beziehung mit Lene bekennen müsste. Doch trotz dieser düsteren Vorausdeutungen bekommt der Leser zunächst einmal einen recht idyllischen Eindruck von der Beziehung der beiden. In der Zeit zwischen Ostern und Pfingsten treffen sie sich mehrere Male zu romantischen Abendspaziergängen und unternehmen sogar einen kurzen Liebesurlaub im ländlichen Idyll von Hankels Ablage in Zeuthen[11]. Hier verleben beide einen glücklichen Nachmittag, bei dem Lene Botho sogar einen Blumenstrauß schenkt, den sie mit einem Haar von sich zusammenbindet. Trotz ihrer vorherigen Warnung, dass Haar bindet[12], stimmt Botho diesem kleinen Ritual zu. Gemeinsam unternehmen sie eine Bootsfahrt und erkunden die ländliche Idylle. Doch gerade bei diesem romantischen Kurzurlaub kommt es zum endgültigen Knacks in der Beziehung zwischen beiden. Am Tag nach der ersten gemeinsam verbrachten Liebesnacht tauchen plötzlich Bothos intimste Kameraden aus dem Offiziersclub[13] mit ihren Mätressen, die aus dem Berliner Prostituiertenmillieu stammen[14], auf. Während Botho sofort auf deren clubinterne Redensart einsteigt (Zitat: Botho sah, welche Parole heute galt, und sich rasch hineinfindend, entgegnete er (...) mit leichter Handbewegung auf Lene: „Mademoiselle Agnes Sorel“.[15]), ist Lene wie vor den Kopf gestoßen und überaus gehemmt von der leichtlebigen Gesellschaft (Zitat: Jott, Kind, sie verfärben sich ja[16]). Fortan kann, selbst nach der Verabschiedung der Kameraden Bothos, zwischen den beiden keine rechte Heiterkeit mehr aufkommen[17], die Rückfahrt ist gekennzeichnet durch eine Mischung von Verstimmung, Müdigkeit und Abspannung[18] und mündet schließlich in einem ernsten Gespräch, in dem Lene Botho eindringlich mit dem nahen Ende der Beziehung konfrontiert (Zitat: Du fühlst selbst, dass ich Recht habe (...). Gestern (...) war unser letztes Glück und unsere letzte schöne Stunde[19]). Resigniert trennen sich beide voneinander, wissend, dass Lene Recht haben würde. Bereits am nächsten Tag erhält Botho einen Brief seiner Mutter, in dem sie ihm sehr eindringlich die finanzielle Bedrängnis der Familie von Rienäcker darstellt. Bothos Onkel, bisher immer bereitwilliger Geldgeber, fange langsam an, der ewigen Bitten um finanzielle Unterstützung überdrüssig zu werden, zumal es ja offenkundig eine Lösung des Geldproblems gebe. Beharrlich führt Baronin von Rienäcker Botho den einzigen Ausweg aus der finanziellen Misere vor Augen: Er müsse endlich aufhören zu zögern und in die bereits vor langer Zeit zwischen den Familien von Rienäcker und von Sellenthin arrangierte Verlobung zwischen ihm und der Tochter des Hauses von Sellenthin, Käthe, einwilligen. Die Familie von Sellenthin sei überaus vermögend, doch hinsichtlich des kontinuierlich schwindenden Rienäckerschen Vermögens und des völlig offensichtlichen Zögern Bothos überaus gereizt und nicht mehr willens, länger auf eine Einwilligung Bothos in die geplante Verheiratung zu warten. Sie erwarteten einen endgültigen Entschluss seitens von Botho, oder aber sie würden Käthe anderweitig vergeben.[20] Josephine von Rienäcker ermahnt Botho eindringlich, hinsichtlich der bedrohlichen finanziellen Lage möglichst bald einen Entschluss zu fällen. Sie betont, dass sie ihn nicht bei der Entscheidungsfindung beeinflussen wolle, appelliert jedoch eindringlich an seine Vernunft: Was ich wünsche, weißt du. Meine Wünsche sollen aber nicht verbindlich für dich sein. Handle, wie eigene Klugheit es dir eingibt, entscheide dich so oder so, nur handele überhaupt.[21] Um jedoch den Ernst der Lage noch einmal zugunsten ihrer Wünsche auszudrücken, schließt sie mit den Worten: Säumst du länger, verlieren wir nicht nur die Braut, sondern (...) was (...) das schlimmste ist, auch die freundlichen und immer hilfsbereiten Gesinnungen deines Onkels. (...) Ich wiederhole dir, es wäre der Weg zu deinem und unser aller Glück.[22] Botho, der diese Entscheidung bisher nur allzu gern verdrängt hatte, sieht sich nunmehr gezwungen, so bald wie möglich einen Entschluss zu fassen. Er ist angespannt und aufgewühlt und bedenkt seine eigene Lage. Er führt sich vor Augen, dass er eigentlich nichts könne, nichts gelernt habe außer ein Mann seines Standes zu sein.[23] Bedrückt unternimmt er einen Ausritt, bei dem er sich (zumindest für den Leser) das erste Mal eingesteht, dass er Lene wirklich von Herzen liebt. Doch schnell folgt diesem Gedanken die Betonung, sie niemals heiraten zu wollen oder ihr dergleichen versprochen zu haben. Bestätigt wird er in seinen Gedanken, als ihn sein Weg am Grabmahl eines Adligen vorbeiführt, der für die Ehre (seines Standes) im Duell starb (Zitat: Wer (dem Herkommen) gehorcht, kann zugrunde gehen, aber er geht besser zugrunde als der, der ihm widerspricht.[24]) und einigen Fabrikarbeitern, deren Arbeitsalltag ihm verdeutlicht, dass Ordnung (...) viel und mitunter alles (ist).[25] In der festen Ansicht, dass auch Lene so entschieden hätte[26], entscheidet er sich endgültig zugunsten seiner Familie und schreibt Lene einen Brief, in dem er die Beziehung der beiden beendet. Ein letztes gemeinsames Treffen verläuft unkompliziert und rational. Lene macht ihm keinerlei Vorwürfe. Sie akzeptiert seine Entscheidung und nimmt ihm sogar die Angst, sie könnte sich aus Liebeskummer etwas antun. Im Gespräch beschreibt sie ihre Lage sachlich: Ich hab es so kommen sehn, von Anfang an, und es geschieht nur, was muß. (...) Ich habe dich von Herzen liebgehabt, das war mein Schicksal, und wenn es eine Schuld war, so war es meine Schuld.[27] Nachdem sich Botho jedoch von der alten Frau Nimptsch verabschiedet hat, schwinden Lenes Kräfte und sie bittet Botho um einen schnellen Abschied. Nach zwei letzten Küssen trennen sich beide endgültig.[28]
Das Geschehen wird für eine kurze Zeit unterbrochen, der Wiedereinstieg erfolgt im September. Botho und Käthe von Sellenthin haben in Zwischenzeit geheiratet und eine Wohnung in der unmittelbaren Nähe von Lenes Zuhause bezogen. Als sich diese auf dem Weg zur Arbeit befindet, kommt es zu einer Begegnung mit Botho und seiner neuen Frau, die jedoch nur von Lene bemerkt wird. Sie erlebt Botho und Käthe als trautes, glückliches Ehepaar, was sie seelisch nicht verkraftet. Es gelingt ihr im letzten Augenblick, sich vor beiden zu verbergen, doch in einer Nebenstraße verliert sie die Fassung und bricht in völliger emotionaler Auflösung zusammen. Sie schleppt sich mit letzter Kraft nach Hause, wo sie von ihrer Ziehmutter und Frau Dörr versorgt wird.[29] Hier macht Fontane den nächsten, diesmal jedoch weitaus größeren zeitlichen Einschnitt in seinem Roman und setzt erst im August des Jahres 1778[30] die Schilderung der Ereignisse fort. Der Leser bekommt erste Einblicke in die Ehe von Käthe und Botho, die diese so ganz anders darstellen als wie Lene sie damals auf der Straße erlebte. Botho ist nicht in der Lage, Käthe aufrichtig zu lieben. Er fühlt sich gestört von ihrer oberflächlichen, verspielten Art[31] sowie ihrer Fähigkeit, die Kunst des gefälligen Nichtssagens mit einer wahren Meisterschaft (zu üben)[32]. Immer wieder kommt ihm Lene in den Sinn, deren Einfachheit, Wahrheit und Unredensartlichkeit[33] ihm fehlen. Doch dieses Bild aus glücklichen Tagen vermag er nie lang vor seinem geistigen Auge halten zu können, obgleich es von Zeit zu Zeit durch zufällige Erinnerungen erneut wachgerufen wird und dann aufs heftigste seine Gefühle berührt.[34] Um ihrer Kinderlosigkeit entgegenzuwirken begibt sich Käthe auf eine Badekur. Während ihrer Abwesenheit erhält Botho einen überraschenden Besuch des Fabrikmeisters Gideon Franke. Nachdem Lene aus Angst, die zufällige Begegnung mit Botho und Käthe könne sich wiederholen, gemeinsam mit der alten Frau Nimptsch in eine neue Wohnung am anderen Ende Berlins gezogen war, hatte sie Gideon kennen gelernt. Als dieser begann, um sie zu werben, entschloss sich Lene gemäß ihrer aufrichtigen Art, ihm ihre vorherige Liebesbeziehung zu Botho zu beichten. Gideon Franke, obgleich ein sehr religiöser Mann, schätzt Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit höher schätzt als das Gebot der Enthaltsamkeit vor der Ehe[35] und erhält seine Werbung aufrecht. Doch bevor er Lene endgültig heiraten will beschließt er, Botho einen Besuch abzustatten und sich vom wirklichen Ende der Beziehung und von Lenes wahrheitsgemäßen Aussagen zu überzeugen. Das Gespräch mit Botho, in dem dieser die Ereignisse identisch wie Lene schildert und diese obendrein in den höchsten Tönen für ihre Charaktereigenschaften lobt, bestätigt Gideon Franke in seinem Vorhaben, Lene zu heiraten.[36] Nachdem dieser gegangen ist, kehren die Erinnerungen an die Zeit mit Lene zu Botho zurück. Er erinnert sich an sein einstiges Versprechen an die alte Frau Nimptsch, ihr nach ihrem Tod (von dem er durch Gideon Franke erfuhr) einen Kranz aufs Grab zu legen. Auf dem Weg zum Friedhof überkommen ihn alte Erinnerungen in ihrer heftigsten und schmerzhaftesten Weise.[37] Er erfüllt sein Versprechen, kehrt in seine Wohnung zurück und beschließt nun, sich endgültig von diesen allzu schmerzlichen Erinnerungen zu trennen. Symbolisch verbrennt er die Briefe Lenes und auch den Blumenstrauß, den sie ihm auf Hankels Ablage schenkte. Diese endgültige Trennung von seinen Erinnerungen kostet ihn viel Überwindung, doch am Ende muss er feststellen, dass auch ein solches Ritual die glückliche Zeit mit Lene nicht aus seinen Gedanken vertreiben kann (Zitat: Ob ich nun frei bin? Will ich’s denn? Ich will es nicht. Alles Asche. Und doch gebunden.[38] ). In den folgenden Tagen Begegnet Botho dem adligen Bekannten Bozel von Rexin, der ihn um seine aufrichtige Meinung betrefflich einer Herzensangelegenheit bittet. Rexin erzählt Botho von seiner Liebe zu einer bürgerlichen Frau und seinem Vorhaben, mit dieser trotz der Standesschranken eine offizielle Beziehung einzugehen, selbst auf die Gefahr hin, dann alles zu verlieren. Botho sieht sich erneut mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert und rät Rexin eindringlich von dieser Art der Untergrabung der Standesschranken ab. Zwar macht er deutlich, dass eine Aufgabe der Liebe schmerzvoll sein wird, doch dass jeder, der seinem Stand zuwider handle sich sehr bald selbst ein Greuel und eine Last sein werde[39]. Schon bald nach dieser Begegnung kehrt Käthe aus ihrem Badeurlaub zurück. Botho ist zwar einerseits recht glücklich über ihre Rückkehr, muss aber erkennen, dass sie sich kaum verändert hat (Zitat Botho: ... aber eine dalbrige junge Frau ist immer noch besser als keine.[40] / Zitat Käthe : Und warum sollt ich auch verändert sein? Ich bin ja nicht nach Schlangenbad geschickt worden, um mich zu verändern, wenigstens nicht in meinem Charakter und meiner Unterhaltung.[41] ). Durch Zufall entdeckt Käthe die Überreste der verbrannten Erinnerungsstücke im Kamin, doch macht sie Botho dafür keine Vorwürfe, sondern reagiert symbolisch: Sie verbrennt sie lieber zweimal (...): erst zu Asche und dann zu Rauch.[42] Kurze Zeit später berichtet sie Botho schließlich von einer Annonce in der Zeitung, die sie selbst in ihrem Hang zur Albernheit äußerst amüsant findet: Ein Paar mit den Namen Magdalene Nimptsch und Gideon Franke habe geheiratet. Magdalene Franke, geb. Nimptsch... Nimptsch. Kannst du dir was Komischeres denken? Und dann Gideon![43] Botho indes reagiert darauf scheinbar nichts sagend, doch in Wirklichkeit höchst tiefsinnig: Was hast du nur gegen Gideon, Käthe? Gideon ist besser als Botho.[44]
3. Die Charakteristik der handelnden Personen
3.1 Magdalene Nimptsch
Magdalene Nimptsch, die im Roman stets nur bei ihrem Spitznamen „Lene“ genannt wird, ist ein junges Mädchen von etwas über 20 Jahren (im Vergleich zu sich selbst sieht sie ihre achtzehnjährige Freundin Lina noch als sehr jung und unschuldig an[45] ). Sie ist ein sehr hübsches Mädchen[46] mit aschblondem[47], langen Haar[48] und einer zierlichen Figur[49]. Lene ist ein Findelkind und lebt bei ihrer Ziehmutter, der alten Frau Nimptsch, für die sie sorgt. Ihren Lebensunterhalt verdient sie sich damit, dass sie zuhause den Arbeiten einer Plätterin[50] und Stickerin[51] nachgeht. In der Verrichtung ihrer Arbeit scheint sie sehr gewissenhaft und talentiert zu sein, sie erhält von ihrem Arbeitgeber selbst Stickaufträge für eine Prinzessin[52]. Es wird nicht klar, ob sie dem Vierten Stand, also der Arbeiterschicht / dem Proletariat, angehört oder aber dem niedrigen Bürgertum[53], was allerdings auch keinen großen Ausschlag gibt. Sie gehört zu den etwa 11.000 Heimarbeiterinnen der Berliner Bekleidungsindustrie, was Ende des 19. Jahrhunderts etwa acht Prozent der weiblichen Stadtbevölkerung betrug[54]. Wenn Lene nicht arbeitet, hilft sie ihrer alten Pflegemutter im Haushalt und hat dementsprechend neben all diesen Pflichten auch kaum die Gelegenheit zu einer individuellen Freizeitgestaltung, die sie in die Gesellschaft anderer junger Leute ihres Alters bringen würde (Zitat: Gott, man freut sich doch, wenn man mal was erlebt. Es ist oft so einsam hier draußen.[55]). Umso ausgelassener und unbefangener genießt sie sie wenigen Gelegenheiten, einmal etwas zu unternehmen, was besonders bei ihrer Schilderung der Kahnfahrt sichtbar wird. Da erhält sie die Gelegenheit zu lachen und scherzen[56], sich übermütig mit ihrer Freundin zu necken und junge Herren zu grüßen[57]. Hier bekommt der Leser erste Eindrücke ihres Temperaments und ihres ungezwungenen, lebenslustigen Wesens. Im Gespräch mit den beiden Kavalieren, die sie gerettet hatten, verhält sie sich übermütig und frei heraus, lässt sich von Botho von Rienäcker sogar nach Hause begleiten. Hierzu bekennt sie ihrer Nachbarin Frau Dörr, dass das sich Zieren und zimperlich Tun so überhaupt nicht ihrer Art entspreche[58]. Frau Dörr beschreibt sie als ein tüchtiges Mädchen, das mit beiden Beinen im Leben steht, zupacken kann, sie (is) woll grade (...) (kein) Engel, aber propper und fleißig un kann alles und is für Ordnung und fürs Reelle[59]. Doch genau diese unbefangene Lebenseinstellung ist letztendlich die, die sie dazu bringt, sich mit dem adligen Baron Botho von Rienäcker einzulassen, was nahezu allen damals gültigen Moral- und Standesvorstellungen widerspricht. Lene selbst hält eigentlich nicht viel von der oberflächlichen Art des Adels (und versteht auch nicht, wie Botho diese auch noch unterhaltsam finden kann[60] ) und ist eigentlich eine kleine Demokratin[61], was sie dazu bringt, Baron Botho, der so ganz anders zu sein scheint als die übrigen Vertreter seines Standes, über alle Standesschranken hinaus ihr Herz zu schenken. Denn obwohl sie anzügliches Gerede[62] nicht ertragen kann, da es sie stets (ob auf dem Spatziergang mit Frau Dörr oder aber auf Hankels Ablage) in extreme Verlegenheit bringt (Zitat der Prostituierten Königin Isabeau: Jott, Kind, Sie verfärben sich ja;[63]), ist sie keine junge Frau von strengen moralischen Ansichten (im Gespräch zwischen Frau Dörr und der alten Frau Nimptsch im Siebzehnten Kapitel wird deutlich, dass sie vor Botho bereits ein emotional für sie unbedeutendes Verhältnis mit einem anderen Mann hatte) und interessiert sich nicht dafür, was die Leute von ihr denken, Hauptsache, sie ist mit sich selbst im Reinen. Als Lene ihre Affäre mit Botho beginnt, warnt Frau Dörr sie eindringlich davor, sich auf diese Beziehung beziehungsweise bezüglich der Zukunft dieser etwas einzubilden. Lene aber wehrt sich empört gegen diesen Fingerzeig: Einbilden? Ich bilde mir gar nichts ein. Wenn ich einen liebe, dann lieb ich ihn. Und das ist mir genug[64]. Sie ist auch diejenige, die Botho stets an die Vergänglichkeit ihrer Liebesbeziehung erinnert, was besonders in den Gesprächen im Dörrschen Garten[65] und auf dem Rückweg von Hankels Ablage[66] deutlich wird. Hier zeigt sie wieder ihre gewohnt rationale Art, die Beziehung zu betrachten, die sie nur ganz selten wirklich ablegen kann. Doch auch in Lene steckt eine kleine Träumerin, was sich allerdings immer wieder nur ganz versteckt zeigt. Ein Beispiel ist ihr Verhalten am Ufer von Hankels Ablage, wo sie das erste Mal ihr Glück völlig ohne düstere Gedanken genießen kann (Zitat: Ja, sie war glücklich, ganz glücklich und sah die Welt in einem rosigen Lichte. (...) So schwanden ihr alle Betrachtungen von Leid und Sorge, sie sonst wohl, ihr selbst zum Trotz, ihre Seele bedrückten, und alles, was sie fühlte, war Stolz, Freude, Dank.[67] ) und wo sie Botho durch den mit ihrem Haar zusammengebundenen Blumenstrauß symbolisch an sich bindet. Sie selbst erklärt diese Gedanken (Haar bindet[68] ) mit einem Sprichwort , doch der Ernst[69], mit dem sie diese beinahe feierlichen Worte spricht, zeigen nur zu deutlich den Wunsch hinter dem scheinbar abergläubischen Daherreden. Auch ihre Schilderung des Spatzierganges auf der Lästerallee, in dem sie beschwört, was sie sprichwörtlich alles dafür geben würde, allen Moral- und Standesvorstellungen zum Trotz öffentlich und für jeden sichtbar ihre Beziehung zu Botho zu genießen, zeigt deutlich den Wunsch, den Träumen, die sie insgeheim hegt, Ausdruck beziehungsweise Erfüllung zu verleihen. Doch ihre rationale Art verleiht der ganzen Schilderung, die man vielleicht als schönen Traum ansehen könnte, sofort einen bitteren und ironischen Beigeschmack. Lene ist Realistin mit einer vielleicht kleinen Tendenz zum Pessimismus. Ihr Sinn fürs Reelle[70] lässt nicht zu, sich in Träumereien und Wünschen zu verlieren, sondern sieht die Beziehung zu Botho von Anfang an als zum Scheitern verurteilt. Als Botho sie tatsächlich beendet trägt Lene dies äußerlich mit äußerster Fassung. Kein Vorwurf kommt über ihre Lippen (Du hast mir kein Unrecht getan (...) und wenn es eine Schuld war, so war es meine Schuld.[71] ), wünscht ihm sogar noch alles Glück der Welt und dass er unbedingt so glücklich werden müsse wie er es verdiene[72]. Sie nimmt ohne Tränen Abschied, doch bittet sie ihn, sich schnell von ihr zu verabschieden, da sie merkt, dass sie diese äußerliche Gefasstheit trotz aller Bemühungen nicht lang aufrecht erhalten kann[73]. Diese unterdrückten Emotionen übermannen sie erst, als sie einige Zeit später nach seiner Hochzeit Botho und Käthe begegnet und diese in trauter Zweisamkeit miteinander erblickt. Sie hat nicht die Kraft, sich der Situation zu stellen, verbirgt sich an einem Schaufenster und schleppt sich mit Müh und Not noch in eine kleine Seitenstraße, bevor sie von Trauer und Schmerz überwältigt zusammenbricht[74]. Hier erlebt man überdeutlich, dass Lenes gesamte Fassung immer nur äußerlich war. Sie besitzt eine immense seelische Stärke, mit der sie sich nach außen präsentiert. Doch innerlich befindet sie sich stets im Kampf. Anfangs zwischen ihrer weichen, verliebten, träumerischen Seite, die sie sich aufgrund ihrer stark ausgeprägten Vernunft nicht zugestehen will. Später dann zwischen der äußeren Gefasstheit, die ihr robustes Wesen ihr aufzwingt und der ungeheuren Verletztheit ihrer Seele und all dem inneren Schmerz, der sie schließlich körperlich dort überwältigt, wo sie sich seelisch selbst bezwingen wollte. Doch Lene beweist auch hier wieder einmal, dass sie eine „Frau der Tat“ ist, anstatt sich in ihren Gefühlen zu verlieren. Ratio bezwingt Emotio, sie packt das Problem sprichwörtlich bei den Hörnern und lässt ihr altes Leben mit all den Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Botho hinter sich (symbolisiert durch den Umzug)[75]. Obwohl sie sich selbst und ihrer Umgebung gegenüber ehrlich und frei heraus eingesteht, dass (ihr) Herz (...) noch an ihm (hängt)[76], verliert sie sich nicht in traurigen Erinnerungen an die gemeinsame Zeit, verzweifelt nicht daran und wählt vielleicht sogar den Freitod (Zitat: Ich bin nicht wie das Mädchen, das an den Ziehbrunnen lief und sich hineinstürzte (...) Ich wäre gerne da (oben im Himmel). Da hätt ich Ruh. Aber ich kann es abwarten.[77]), sondern organisiert ihr Leben nach bestem Gewissen. Sie lernt in Gideon Franke einen Mann kennen, den sie für ehrlich und zuverlässig[78] hält. Dies ist für sie ein Grund, in seinen Antrag einzuwilligen und so seine Frau zu werden. Nicht aus Liebe, aus der Emotio, wie bei Botho von Rienäcker, sondern aufgrund der Vernunft, der Ratio, die eine „Versorgungsehe“ durchaus für angemessen hält. Hier beweist Lene nur einmal mehr Charakter. Obwohl sie Gideon nicht gut kennt, erzählt sie ihm gleich zu Beginn von ihren zwei vorehelichen Affären und auch davon, dass ihr Herz noch an Botho hängt. Sie weiß nicht, wie er darauf reagiert, zumal diese Lebensweise gegen alle damals gültigen Moralvorstellungen verstößt und ihre Ehrlichkeit bezüglich ihrer leichtlebigen Vergangenheit die geplante Verbindung mit Gideon sofort hätte zerstören können. Doch auch hier geht ihr Ehrlichkeit über alles (Zitat: (...), hätt ich ihm das alles sagen müssen, weil ich keinen und am wenigsten ihn hintergehen wolle.[79] ) und sie riskiert eher ihre gesicherte Zukunft als ihren Prinzipien untreu zu werden.
3.2 Botho von Rienäcker
Baron Botho von Rienäcker ist ein großer, schlanker Mann mit blondem Haar und blauen Augen[80]. Seine Familie gehört dem Landadel der Neumark an[81], doch sind die Zeiten, in denen sie vermögend war, längst vorbei[82]. Botho selbst lebt weit über seine Verhältnisse um seinen gesellschaftlichen Status zu wahren. So hat (er) 9000 jährlich und gibt 12.000 aus[83], was ihn immer weiter entgegen dem finanziellen Ruin bringt. Beruflich dient er im Kaiser-Kürassier-Regiment, doch nimmt er die damit verbundenen Vorgaben nicht gerade sehr eng (zum Beispiel geht er in seiner Freizeit ohne die vorgeschriebene Uniform aus[84] ). Überhaupt scheint Botho zunächst so gar nicht innerlich konform mit den allgemeinen Verhaltensweisen seines Standes. Er ist mehr dem Natürlichen[85] zugetan, was man immer wieder beobachten kann. Als er das erste Mal zu Besuch bei den Nimptschs ist, behandelt er Lenes Familie nicht etwa von oben herab, sondern begibt sich direkt in deren Mitte (Zitat Bothos, als Frau Dörr ihn auf einen Ehrenplatz setzen möchte: Um´s Himmels willen, liebe Frau Dörr (...) Ich sitz am liebsten auf einem Schemel, wie mein Freund Dörr hier.[86] ). Er scheint der Ständeordnung im allgemeinen nicht gerade viel Bedeutung beizumessen, was zum Einen durch die freundschaftliche Art deutlich wird, mit dem er Lenes Familie begegnet (er nennt Frau Nimptsch Mütterchen[87], Herrn Dörr seinen Freund[88], initiiert gar ein Rollenspiel mit Gräfin Lene und Baronin Dörr[89]), zum Anderen durch seinen offen bekundeten Respekt vor allen Menschen, unabhängig davon, welchem Stand sie angehören (Zitat: Jeder Stand hat seine Ehre. Waschfrau auch.[90]). Seine Kameraden sehen ihn als einen Mann voll Weichheit und Herzensgüte[91]. Doch eben diese Charaktereigenschaften machen Botho von Rienäcker auch verwundbar. Denn seine Gesinnung ist sehr modern, um ihr zu folgen und diese auch zu leben bräuchte er einen starken Charakter. Doch eben diesen besitzt Botho nicht. Er ist in seinem Charakter eher schwach[92] und lässt sich, wie Lene einmal treffend bemerkt, stets von den Stärkeren beherrschen, wobei sie diese Stärkeren nur allzu treffend benennt: Nun, entweder ist´s deine Mutter oder das Gerede der Menschen oder die Verhältnisse. Oder vielleicht alle drei...[93] Und tatsächlich sind es genau diese drei Faktoren in eben dieser Reihenfolge, die schließlich dazu führen, dass Botho Lene verlässt. Obwohl Lene stets diejenige ist, die Botho an die Vergänglichkeit ihrer Beziehung erinnert, ist Botho eher die Art von Mensch, die Probleme und Schwierigkeiten gern verdrängt. Immer wieder geht er Lenes Andeutungen aus dem Weg, schiebt sie gedanklich bei Seite und versucht sie so weit wie möglich zu ignorieren (Zitate: Ach, Lene (...)[94] / Sprich nicht so, Lene[95] / Laß es, Lene[96] / Lene, Lene, sprich nicht so[97]). Er ist ein Mensch, der stets die Seite des geringsten Widerstandes bevorzugt. Obwohl er Lene mit all ihrer Einfachheit, Wahrheit (und) Natürlichkeit[98] von Herzen liebt[99], ist er nicht stark genug, sich in der Öffentlichkeit zu ihr zu bekennen (dies zeigt sich unter anderem im Gespräch mit den Kameraden in der Ablage, beim Treffen mit dem Onkel und seinem Verhalten nach Erhalt des Briefes seiner Mutter). Er ist zwar modern genug, seine eigenen, offenen Ansichten bezüglich der unteren Stände und dem Umgang miteinander gegenüber diesen auch zu vertreten (zum Beispiel bei jedem Treffen mit Lenes Familie), doch offenbart und vertritt er sie nur, wenn er sich dadurch nicht in Konflikt mit dem eigenen Stand bringt (zum Beispiel vor den Kameraden oder dem Onkel). Die nach außen hin demonstrierte Ordnung bedeutet ihm viel und mitunter alles[100], nichts ist ihm unangenehmer, als ins Gerede der Leute zu kommen[101] oder gar konträre Ansichten vor anderen vertreten zu müssen (Zitat: Es liegt nicht in mir, die Welt herauszufordern und ihr und ihren Vorurteilen öffentlich den Krieg zu erklären; ich bin durchaus gegen solche Donquixoterien[102] ). Dies ist auch der Grund, warum er die Beziehung zu Lene letztendlich (von Mutter und Onkel wegen der finanziellen Situation der Familie stark bedrängt) beendet, obwohl sie seinen Traum, seine Hoffnungen und sein Glück bedeutete[103]. Er ist bereit, dieses Glück zu opfern und sich der Ordnung, wie er sie versteht, zu beugen, auch wenn dies bedeutet, dass er sich nun vollständig in die Gesellschaftsschicht begeben muss, die zwar seine eigene ist, doch von der er weiß, dass sie niemals sein Glück sein wird, ja die er sogar insgeheim verabscheut (Zitat: Ich habe eine Gleichgiltigkeit gegen den Salon und einen Widerwillen gegen alles Unwahre, Geschraubte, Zurechtgemachte. Chic, Tournure, savoir-faire - mir alles ebenso häßliche wie fremde Wörter[104] ). Doch gemäß seinem schwachen Charakter beugt sich Botho letztendlich eben diesen Gesellschaftsvorstellungen und stimmt der Geldheirat mit seiner Cousine Käthe zu. Obwohl er nun nach außen hin das perfekte Bild seiner Sicht von Ordnung verkörpert und von seinen Kameraden sogar um die reizende kleine Frau[105] beneidet wird, kann diese Art von Ordnung Bothos Sehnsucht nicht stillen. Anfangs verdrängt er zwar typischerweise alle Bedenken und zeigt sich zufrieden und recht glücklich in seiner Rolle[106], doch sehnt er sich mit fortschreitender Zeit zusehends nach dem kleinbürgerlichem Idyll fernab von all der Kunst des gefälligen Nichtssagens[107], die der Adel und allen voran Käthe praktizieren. Botho, der schon immer das Leben der „einfachen Leute“ verklärend bewundert und beneidet hat (zum Beispiel den Wirt in Hankels Ablage: entzückend (...) Wissen sie, daß ich sie beneide (...) Es überkommt einen die Lust, daß man´s auch so gut haben möchte.[108] oder die Familien Nimptsch und Dörr: Aber sehen sie sich mal um hier, wie leben sie? Wie Gott in Frankreich.[109] ), ist gefangen zwischen dem, was er der Ordnung halber glaubt, verkörpern zu müssen und dem, was er sich im tiefen Herzen ersehnt. In seinem Hang zur Natürlichkeit und Ehrlichkeit vermisst er eben dieses kleinbürgerliche Idyll mindestens genauso wie Lene, denn sie hat es ihm damit (...) angetan, da liegt der Zauber, aus dem zu lösen es ihm wohl sein ganzes Leben nicht mehr gelingt[110]. Herausgerissen aus seiner halbherzigen Verdrängung wird er erst durch den Besuch Gideon Frankes. Das Gespräch über vergangene Zeiten zwingt ihm die Erinnerung und die damit einhergehende Stellungnahme zu seinen Gefühlen förmlich auf. Wieder allein durchlebt er innerlich noch einmal die gesamte Zeit mit Lene. Doch typisch für seinen Charakter kann Botho sich diesen Gefühlen nicht lange stellen. Aus Angst, diese toten Dinge könnten nur Unruhe stiften und (ihm sein) bisschen Glück und seinen Ehefrieden kosten[111], flüchtet er sich in die unsinnige Annahme, das Verbrennen der Erinnerungsstücke könnte ihn nicht nur vor unbequemen Offenbahrungen, sondern auch vor dem süßen Schmerz[112] schützen. Doch nach Vollendung dieser Zeremonie durchlebt er für sich eine ganz entscheidende Erfahrung: Er wird nie frei sein von diesen Erinnerungen, egal wie sehr er auch versucht, sie zu verbergen. (Zitat: Ob ich nun frei bin...? Will ich´s denn? Ich will es nicht. Alles Asche. Und doch gebunden.[113] ), was ihn jedoch nicht davon abhält, auch weiterhin die Standesnormen des Adels zu vertreten. Besonders tragisch ist das Gespräch zwischen ihm und Rexin, in dem er dem Adelskameraden trotz eigen erfahrenen Leids zu der Entscheidung rät, sich nicht gegen die nun mal vorherrschenden Verhältnisse zu stellen. Trotz seines immer noch vorherrschenden Liebeskummers und des Unglücks, das ihm seine eigene Entscheidung gebracht hat, spricht er sich entschieden für die herrschenden Normen aus und stellt beinahe sarkastisch fest: (Wer mit) Stand und Herkommen und Sitte (bricht), (...) (wird sich) über kurz oder lang (...) selbst ein Greuel und eine Last sein. (...) (Schließt man jedoch seinen) Frieden mit Gesellschaft und Familie, dann ist der Jammer da. (...) Und das tut weh. (...) (Und doch ist all das,) (w)as ihnen Gewinn dünkt, (...) Bankrutt, und was ihnen Hafen scheint, ist Scheiterung.[114] Für ihn helfen alle gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen nichts: (...) Resignation. Ergebung ist überhaupt das beste.[115] – Auch wenn es weh (tut) und ein Stückchen Leben daran hängen bleibt[116].
[...]
[1] Vgl. Lowski, Martin: Theodor Fontane. Irrungen, Wirrungen. In: Königs Erläuterungen und Materialien. Band 330. 3.Auflage. Hollfeld: Bange 2005. S.10.
[2] Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. 4. Auflage. Berlin und Weimar: Aufbau Taschenbuch 2004. S.18, Z.23f.
[3] Ebd. Z.15.
[4] Ebd. S.7, Z.9.
[5] Ebd. S.6, Z.14.
[6] Ebd. S. 8, Z.2.
[7] Ebd. S.22, Z.11f.
[8] Vgl. Ebd. S.19.
[9] Vgl. Ebd. S.32ff.
[10] Ebd. S.47, Z.20ff.
[11] Vgl. Lowski, Martin: Theodor Fontane. Irrungen, Wirrungen. In: Königs Erläuterungen und Materialien. Band 330. 3.Auflage. Hollfeld: Bange 2005. S.17.
[12] Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. 4. Auflage. Berlin und Weimar: Aufbau Taschenbuch 2004. S.70, Z.18.
[13] Ebd. S.82. Z.30f.
[14] Vgl. Lowski, Martin: Theodor Fontane. Irrungen, Wirrungen. In: Königs Erläuterungen und Materialien. Band 330. 3.Auflage. Hollfeld: Bange 2005. S.22.
[15] Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. 4. Auflage. Berlin und Weimar: Aufbau Taschenbuch 2004. S.83, Z.3-6.
[16] Ebd. S.89, Z.11.
[17] Ebd. S.91, Z.7ff.
[18] Ebd. S.91 Z.32f.
[19] Ebd. S.92, Z. 29-34.
[20] Vgl. Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. 4. Auflage. Berlin und Weimar: Aufbau Taschenbuch 2004. S.95 f.
[21] Ebd. S.96, Z.5ff.
[22] Ebd. Z.9-16.
[23] Vgl. Ebd. S.96.
[24] Ebd. S.99, Z.13ff.
[25] Ebd. Z. 34.
[26] Vgl. Ebd. S. 100.
[27] Ebd. S.102, Z. 25ff und S.103, Z. 3ff.
[28] Vgl. Ebd. S.104.
[29] Vgl. Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. 4. Auflage. Berlin und Weimar 2004: Aufbau Taschenbuch . S.109fff.
[30] Lowski, Martin: Theodor Fontane. Irrungen, Wirrungen. In: Königs Erläuterungen und Materialien. Band 330. 3.Auflage. Hollfeld: Bange 2005. S.17.
[31] Vgl. Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. 4. Auflage. Berlin und Weimar: Aufbau Taschenbuch 2004. S.113.
[32] Ebd. S.123, Z.11f.
[33] Ebd. S.114, Z.4f.
[34] Vgl. Ebd. S.114.
[35] Vgl. Ebd. S.141.
[36] Vgl. Ebd. S. 142.
[37] Vgl. Ebd. S.149.
[38] Ebd. S.154, Z.15f.
[39] Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. 4. Auflage. Berlin und Weimar: Aufbau Taschenbuch 2004.S.161, Z.20f.
[40] Ebd. S.156, 30f.
[41] Ebd. S.164, Z.3fff.
[42] Ebd. S.172, Z.14f.
[43] Ebd. S.175, Z.15ff.
[44] Ebd. Z.21 f.
[45] Vgl. Ebd. S.18.
[46] Ebd. S.174, Z.7f.
[47] Ebd. S.14, Z.19.
[48] Ebd. S.70, Z.13.
[49] Vgl. Ebd. S.7.
[50] Vgl. Ebd. S.14.
[51] Vgl. Ebd. S.108.
[52] Vgl. Ebd.
[53] Vgl. Sollmann, Kurt: Grundlagen und Gedanken zum Verständnis Erzählender Literatur. Theodor Fontane. Irrungen, Wirrungen. Frankfurt am Main: Moritz Diesterweg 1990. S.42.
[54] Vgl. Ebd. S.80.
[55] Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. 4. Auflage. Berlin und Weimar: Aufbau Taschenbuch 2004. S.19, Z.3f.
[56] Ebd. S.17, Z.15f.
[57] Vgl. Ebd. S.17.
[58] Vgl. Ebd. S.18.
[59] Ebd. S.11ff.
[60] Vgl. Ebd. S.26, 36 und 116.
[61] Ebd. S.32, Z.36.
[62] Lowski, Martin: Theodor Fontane. Irrungen, Wirrungen. In: Königs Erläuterungen und Materialien. Band 330. 3.Auflage. Hollfeld: Bange 2005. S.37, Z.14.
[63] Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. 4. Auflage. Berlin und Weimar: Aufbau Taschenbuch 2004. S.89, Z.11.
[64] Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. 4. Auflage. Berlin und Weimar: Aufbau Taschenbuch 2004.. S.19, Z.23f.
[65] Vgl. Ebd. S.31-34 / S.101ff.
[66] Vgl. Ebd. S.91f.
[67] Ebd. S.79f., Z.31f./ Z.4ff.
[68] Vgl. Ebd. S.70.
[69] Vgl. Ebd. Z.29.
[70] Ebd. S.8, Z.13.
[71] Ebd. S.103, Z.1-5.
[72] Vgl. Ebd. S.116.
[73] Ebd. S.104, Z.10ff.
[74] Ebd. S.110.
[75] Vgl. Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. 4. Auflage. Berlin und Weimar: Aufbau Taschenbuch 2004.S.116.
[76] Ebd. S.129, Z.36f.
[77] Ebd. S.101, Z.37ff.
[78] Vgl. Ebd. S.129.
[79] Ebd. S.130, Z.3f.
[80] Vgl. Ebd. S.33.
[81] Vgl. Lowski, Martin: Theodor Fontane. Irrungen, Wirrungen. In: Königs Erläuterungen und Materialien. Band 330. 3.Auflage. Hollfeld: Bange 2005. S.17.
[82] Vgl. Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. 4. Auflage. Berlin und Weimar: Aufbau Taschenbuch 2004. S.47.
[83] Ebd. S.51, Z.2f.
[84] Vgl. Ebd. S.8.
[85] Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. 4. Auflage. Berlin und Weimar: Aufbau Taschenbuch 2004. S.52, Z.10.
[86] Ebd. S.21f, Z.37 / Z.1f.
[87] Ebd. S.21, Z.19.
[88] Ebd. S.22, Z.2.
[89] Vgl. Ebd. S.24f.
[90] Ebd. S.22, Z.11f.
[91] Ebd. S.52, Z.18.
[92] Ebd. S.33, Z.37.
[93] Ebd. S.34, Z.2ff.
[94] Ebd. S.33, Z.32.
[95] Ebd. S.34, Z.23.
[96] Ebd. S.92, Z.8.
[97] Ebd. Z.30.
[98] Ebd. S.97, Z.31f.
[99] Vgl. Ebd. S.33 / S.97.
[100].Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. 4. Auflage. Berlin und Weimar: Aufbau Taschenbuch 2004. S.99, Z.34.
[101] Ebd. S.110, Z.7f.
[102] Ebd. S.98, 5fff.
[103] Vgl. Ebd. S.98.
[104] Ebd. S.98, Z.14fff.
[105] Ebd. S.125, Z.30.
[106] Vgl. Ebd. S.105f./ 113f.
[107] Ebd. S.123, Z.11.
[108] Ebd. S.73f., Z.36f./1f.
[109] Ebd. S.22, Z.24ff.
[110] Vgl. Ebd. S.97.
[111] Ebd. S.152, Z.30ff.
[112] Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. 4. Auflage. Berlin und Weimar: Aufbau Taschenbuch 2004. S.154, Z.5.
[113] Ebd. S.154, Z.15f.
[114] Vgl. Ebd. S.161, Z.18-27 / Z.36f.
[115] Ebd. S.93, Z.14f.
[116] Ebd. S.52, Z.21f.
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