Ein Seminar, das sich der modernern französischen Literatur widmet, sollte kaum auf das Oeuvre François Bons verzichten. Mit wohl einzigartiger Tiefe, Präzision und Leidenschaft lässt gerade Bon Welten auferstehen, die uns weit entfernt und längst vergessen scheinen. Dass diese Welten jedoch Realität für den Schriftsteller und seiner Familie waren, wird sowohl durch Bons fast kryptischen Stil und seine empirische Schärfe zum Ausdruck gebracht. Aber nicht nur sein Schaffen lässt den Schriftsteller zu einem wahren Unikat unter der modernen Literaturelite avancieren; Vielmehr auch- oder vielleicht sogar wegen einer wohl mehr als ungewöhnlichen Schriftsteller-Vita muss François Bon als außergewöhnlicher Romancier betrachten werden. Als Sohn eines Automechanikers und einer Grundschullehrerin wird François Bon im Jahr 1953 geboren. Er arbeitet nach Besuch der Ingenieursschule in der Luftfahrt- sowie der Atomindustrie. Spät beginnt Bon das Schreiben. Erst im Jahr 1982 erscheint sein erstes Buch sortie d’usine im Minuit-Verlag. Stark beeinflusst von Erfahrungen aus Lehre und Arbeitswelt zeigt François Bon sowohl Schönheit als auch die Grausamkeit einer Ära, die in der komplexen kulturellen Relation Fabrik - Mensch wurzelt. Temps machine, 1993 erschienen im Verdier_Verlag knüpft nach sortie d’usine erneut an diesen Themenkomplex an. Das zum Teil autobiographische Werk um das es in dieser Arbeit gehen wird, wird mit großer Detailliebe in Bons Kathedralen der Industrie inszeniert. In sechs von einander autarken Kapiteln bietet Bon Erinnerungen, Bruchstücke und Einblicke, die auf individuellen Erfahrungen basieren und eben diese Epoche nicht unbedacht verstreichen lassen. [...]
Gliederung
1. François Bon - un technicien devenu écrivain
2. Moderne Trauerarbeit – François Bon sucht das Verlorene
2.1 Mythos Mensch und Maschine – Das Ende einer Ära
2.1.1 Agonie - eine Ära liegt im Sterben
2.1.2 Perte - Gefährliche Geschwindigkeit
2.1.3 Sclérose de l’existence - kollektiver Zusammenbruch
2.2 Temps Machine - e[s]t l’usine
2.2.1. Equivalence - Literatur unf Fabrik
2.2.2 Violence - Die Sprache François Bons
3. Temps Machine - Inscrire pour mémoire
4. Bibliographie
1. François Bon - un technicien devenu écrivain
« La revanche qu’on voulait de mots et d’une
langue qui ressemble à tout ça, les bruits, le fer et l’endurcissement même, un travail de maintenant fort comme nos machines. »
François Bon[1]
Ein Seminar, das sich der modernern französischen Literatur widmet, sollte kaum auf das Oeuvre François Bons verzichten. Mit wohl einzigartiger Tiefe, Präzision und Leidenschaft lässt gerade Bon Welten auferstehen, die uns weit entfernt und längst vergessen scheinen. Dass diese Welten jedoch Realität für den Schriftsteller und seiner Familie waren, wird sowohl durch Bons fast kryptischen Stil und seine empirische Schärfe zum Ausdruck gebracht. Aber nicht nur sein Schaffen lässt den Schriftsteller zu einem wahren Unikat unter der modernen Literaturelite avancieren; Vielmehr auch- oder vielleicht sogar wegen einer wohl mehr als ungewöhnlichen Schriftsteller-Vita muss François Bon als außergewöhnlicher Romancier betrachten werden. Als Sohn eines Automechanikers und einer Grundschullehrerin wird François Bon im Jahr 1953 geboren. Er arbeitet nach Besuch der Ingenieursschule in der Luftfahrt- sowie der Atomindustrie. Spät beginnt Bon das Schreiben. Erst im Jahr 1982 erscheint sein erstes Buch sortie d’usine im Minuit-Verlag. Stark beeinflusst von Erfahrungen aus Lehre und Arbeitswelt zeigt François Bon sowohl Schönheit als auch die Grausamkeit einer Ära, die in der komplexen kulturellen Relation Fabrik - Mensch wurzelt. Temps machine, 1993 erschienen im Verdier_Verlag knüpft nach sortie d’usine erneut an diesen Themenkomplex an. Das zum Teil autobiographische Werk um das es in dieser Arbeit gehen wird, wird mit großer Detailliebe in Bons Kathedralen der Industrie inszeniert. In sechs von einander autarken Kapiteln bietet Bon Erinnerungen, Bruchstücke und Einblicke, die auf individuellen Erfahrungen basieren und eben diese Epoche nicht unbedacht verstreichen lassen. Der Schriftsteller dazu:
„[…]j’avais toujours ces rêves, des souvenirs occultés […] Là c’était tout un travail de mémoire personelle. Là-dessus, sur ce sujet, tout discours est disloqué. Ne restent que quelques images […]“ (BON zitiert in SCHÖCH(2002):48).
Bons Erinnerungswerk zeigt dabei den Mensch nicht an der Schwelle eines neuen Zeitalters, sondern vielmehr vor dem Abgrund einer „apocalypse silencieuse“ (VIART(1999):4). Dieser Spur möchte ich folgen und versuche die menschliche Katastrophe von der die Erinnerungen in Bons temps machine berichten, aufzuzeigen. Dabei soll zunächst die Einbettung des Werks in die für die Moderne charakteristische Trauerarbeit erläutert werden. Anschließend wird die erwähnte kulturelle Relation Mensch-Fabrik in deren komplexen Facetten temps machine Einblick gewährt, erarbeitet. Schließlich soll die metapoetische Dimension des Werks erläutert werden. Dabei werde ich mich an die Arbeiten von Viart und Schöch halten, die mir große Hilfe beim Verständnis der schwierigen Lektüre waren.
2. Moderne Trauerarbeit – François Bon sucht das Verlorene
« Un monde emporté vivant dans l’abîme »
François Bon[2]
Sieht man die einzelnen Kapitel von temps machine als Bruchstücke der Erinnerung - als Bilder, aus denen der Romancier eine Art Collage fertigt, muss man zunächst dringend einen Schritt zurücktreten, um das große Ganze - den Gesamteindruck zu erhalten. Temps machine ist sicherlich kein Roman, der zum Schmökern einlädt oder sich durch eine besonders fesselnde histoire auszeichnet. Das möchte Bon auch sicherlich nicht. Winfried Engler schätzt das Werk Bons als „diegetisches Universum, das sich dank einer poetisch-gewalttätigen Sprache, […] und einer unmittelbare narrative Kohärenz ausschließenden histoire jeder vordergründigen Repräsentativität verweigert“(ENGLER zitiert in ASHOLT (1994):306). Wie bei jeder Form moderner Kunst, sei es Malerei, Bildhauerei oder Architektur, muss der Betrachter bzw. nun auch der Leser moderner Literatur über den oft verschlossenen oder gar verwirrenden Mantel von Objektivität und Oberflächlichkeit hinausgehen um Wege zu finden, in tiefere
Bedeutungsschichten eines Werkes vorzudringen. Fest steht, dass diese Form der Kunst über reine Belustigung hinaus Bedeutung und Aussage transportiert:
Bon, der die Collage temps machine dem Leser übergibt, berichtet in Form von Augenblickserinnerungen in abstrakt-bildlicher Sprache von einer im Sterben liegende Ära. Temps machine ist die blasse Erinnerung an eine Epoche, die in ihrer grausamen Schönheit eine große Faszination für den Romancier ausübt, jedoch unwiederbringlich verloren ist. Mit diesem Anliegen schreibt sich Bon in die von Asholt zitierte „moderne Trauerarbeit“ ein. Das Werk- eine temps machine im wahrsten Sinne- zeigt dem Leser bei genauer Betrachtung Bruchstücke einer verlorenen Welt.
Wolfgang Asholt beschreibt die Stimmungslage einiger Protagonisten der modernen Literatur als „narzistische Melancholie“(ASHOLT (1994):303). Dem narrateur autodiégétique in temps machine könnte eine ähnliche Grundhaltung zugeschrieben werden. Jedoch kann von einer „starken Ich-Bezogenheit“(ASHOLT (1994):303) weit weniger gut gesprochen werden. Wie später näher erläutert wird, steht im Zentrum der Erinnerung das Gemeinschaftserlebnis einer sich ändernden Umwelt und der damit zusammenhängenden sozialen Katastrophe. So verweisen die Personaldeiktika nous und on stets auf das gemeinsame Erlebnis, dem sich der narrateur autodiégétique zugehörig fühlt. Es ist vielmehr das Trauern um das „geliebte Objekt“, mit dem der Romancier den Zeitgeist so trefflich bedient.
„Da das ‚geliebte Objekt’ nicht mehr bzw. so nicht länger existiert, kann es dann zu jener Trauerarbeit kommen, bei der sich, wie im Falle der Analyse, in der Abfolge von ‚Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten’ ein unvermeidbarer schmerzhafter Prozess vollzieht“ (ASHOLT (1994):304).
2.1 Mythos Mensch und Maschine – Das Ende einer Ära
«[…] la fin et la relégation du monde de fer et de tôle, des travaux qui en découlaient, remplacé d’un coup par la grosse tête ahurie embarrassée de câbles plastiques»
François Bon[3]
Die Erfahrungen aus dem direkten Kontakt des Menschen mit seiner Arbeit prägt eine ganze Ära. François Bon möchte nicht kaschieren. Keinesfalls stellt er die Eindrücke
glorifizierend oder gar harmlos da. Die Begeisterung gegenüber der monde industriel liegt gerade im Zusammenspiel von brutaler Realität und mechanischer Schönheit begründet.
„Il y a de la beauté à ces situations étranges, que l’effort physique poussé jusqu’à la fatigue extrême rend plus intimement proches, là haut à quinze mètres dans le tunnel de tôle étanche et surchauffé, où nos disques à air comprimé détachaient des étincelles violentes, des gerbes d’éclats“(S.44).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die emotionale Nähe zwischen Mensch und Arbeit, die Komplexität und Präzision einer direkten Zusammenarbeit zweier ungleicher Partner- Mensch und Maschine ist Alltag vieler Arbeiter. Ein Zusammenspiel, das man heute in der Form nicht mehr kennt. So ist die Faszination am offensichtlich Brutalen, am harten Zusammentreffen von menschlichen Schicksal und Fabrikalltag wohl nur auch dem vorbehalten, der das Universum Fabrik in seiner alten Form noch kennen gelernt hat. François Bon berichtet aus seiner Zeit als Praktikant der Ecole Nationale Supérieure des Arts et Métiers. Diese Authentizität lässt temps machine zum Zeugnis für eine vergangene Welt werden.
2.1.1 Agonie – eine Ära liegt im Sterben
„Temps machine ne répond pas à un autre projet que celui de rendre compte d’un univers au moment de son basculement ultime. François Bon met en évidence la ruine sociale que marque le passage vers ce que Daniel Bell a nommé dans les années soixante-dix l’ère ‘post-industrielle’“(VIART (1999):2).
Dominique Viart beschreibt hier trefflich das Anliegen von temps machine. Sensibilisiert für die Prozesse einer sich ändernden Um- und Arbeitswelt, beschreibt François Bon eindringlich eine ‚Ära im Todeskampf’. Als Sohn einer Familie, die seit jeher in der monde industriel aufgegangen zu sein scheint, bemerkt der Autor:
„Qu’une usine est partout et aujourd’hui toujours comme d’entrer à nouveau dans une maison d’enfance. Roulement au fond des bruits, l’odeur reconnaissable d’huile chaude, sous les doigts le nylon épais des portes et la lenteur certaine du temps, certitude qu’on est là pour tenir jusqu’au terme du compte“(S.67).
Die zunehmende Automatisierung der ère post-indutrielle hält der Autor wie in Momentaufnahmen fest. Nicht umsonst spricht Christine Jérusalem vom „écrivain en photographe“ (JÉRUSALEM(2003):1) Auch in temps machine bedient sich der Autor dieses eindrucksvollen Schreibstils. Anaphorisch wiederholt Bon bewusst fantôme gleich zu Beginn des Werkes. Dabei beschreibt er typische Szenen, der ère industriel, die wie verschwommene Bilder aus längst vergangenen Zeiten berichten (fantômes). Die spürbare Verschmelzung von Mensch und Maschine, das Aufgehen der Arbeiter im Fertigungsprozess steht programmatisch für die von Bon geschätzte, dennoch brutale Welt der ère industriel.
„Fantôme que la construction du train de soudure au centre du hall: non pas une machine mais leur suite organisée dans l’armature d’acier traînant les carcassesà assembler d’automobiles […]“ (S.9).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Hart trifft die Realität den Charme der Nostalgie. Denn diese Realität ist Zeugnis für das Ende einer Ära. Geschickt sät Bon Spuren in temps machine, die den schleichenden Verlust einer Welt beschreiben. Vorbei die Zeit in der das Gemeinschaftserlebnis in Fabrik und Werkstätte Teil der Identität ganzer Generationen von Arbeitern war. Die Fabrik- ein Ort voller Leben, ein Ort mit Persönlichkeit verfällt der stummen Präsenz von Automaten und Rechnern. Der Mensch ist nicht mehr unersetzbarer Teil eines Ganzen im empfindlichen Ablauf tausender Arbeitsgänge, sondern assistiert nunmehr der Arbeit seiner seelenlosen Kollegen.
„[…] et au milieu des calculateurs une femme seule sous l’inscription en sept langues et elle porte un voile[…]“(S. 85).
„C’est une usine en Allemagne sans images accrochés ni coussins brodés sur les tabourets ni cartes postales ni photos des enfants, ni badges à slogan ni inscriptions vite fait au feutre ouà la craie, mais la répétition obstinée, en sept langues, du mot travail et de l’adjectif bon“ (S.89).
2 .1.2 Perte – Gefährliche Geschwindigkeit
«tout était donc trop tard, ils ne le savaient pas.»
François Bon[4]
Das was wir im vorhergehenden Punkt als Endergebnis eines Prozesses feststellen müssen, hat bereits mit der Industriellen Revolution seinen Anfang genommen.
Glauben wir Paul Virilio, so ist es eine gefährliche Geschwindigkeit, die uns zwangsläufig in das „déstastre colléctif“ treibt. Mit der „Perfektionierung der großen Fahrzeig-Archetypen: dem Dampfross und dem Dampfschiff“(VIRILIO(1990):53) wird nach Virilio die monde industriel zur regelrechten „Fabrikation von Geschwindigkeit.“(VIRILIO(1990):52). Die Beschleunigung, die in der monde industriel seinen Ursprung hat, bedingt gleichzeitig eine Beschleunigung auf sozialer Ebene. Das Aufkommen so genannter Transitstädte in denen nunmehr „Passagiere […] Mieter für wenige Stunden, nicht mehr für Jahre sind“(VIRILIO(1990):57) steht programmatisch als Beweis für den sich verändernden Charakter einer Gesellschaft. Leicht lässt sich der Querverweis zur Bon’schen Kritik an einer sich wandelnden Ära ziehen, in der der Mensch als Verlierer zurückbleibt. Er wird nach Virilio zum „Bewohner des Nicht-Orts“ (VIRILIO(1990):56). Ähnlich den Transitstädten von Virilio ergeht es den Fabriken, die allmählich zu toten Häusern werden. Menschliche Interaktion, Fleiß, Schweiß und Aktivität einer monde industriel geht verloren. Der Reiz der Langsamkeit des Industriezeitalters, in der der Arbeiter mit Liebe und durch Generationen gereiftes Wissen gleichsam in persönlichem Kontakt zu seiner Arbeit steht und sie somit valorisiert, erfährt nun mit der ère-post-industrielle ein jähes Ende. Die Geschwindigkeit zerstört die Emotion und wie der „Flughafenkunst“ nach Virilio gewisse Minderwertigkeit anhaftet, so kritisiert auch Bon die Konventionalität und Sterilität post-industrieller Erzeugnisse.
Denn Fabriken sind nicht mehr nur Orte physischer Aktivität, sondern vielmehr Orte nervöser Aktivität, in denen nach Virilio Zwischenräume verknappt werden und somit jede Form von Zwischenmenschlichkeit verloren geht[5] (vgl. VIRILIO(1990):61).
[...]
[1] Zitat aus temps machine (1993):94
[2] Zitat aus temps machine (1993):93
[3] Zitat aus temps machine (1993):98
[4] Zitat aus temps machine (1993):72
[5] siehe Zitate Seite 5 (S.85/89)
- Citation du texte
- Thomas Kahl (Auteur), 2004, François Bon - Temps Machine [Zeitzeugnis Fabrik - Nostalgie, menschliche Tragödie und Kathedrale der Erinnerung], Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47921
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