Die Veröffentlichung des Romans "Im Krebsgang" des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass im Februar 2002 schlug ungeheure Wellen in Deutschland: Das kollektive Gedächtnis der Deutschen schien sich plötzlich erstmals an das Schicksal der deutschen Kriegsopfer zu erinnern, und auch der jahrzehntelang tabuisierte Untergang des Schiffes Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945 wurde nach 57 Jahren erstmals Gegenstand der öffentlichen Diskussion.
Dem Buch, welches die größte Katastrophe der deutschen Seefahrtsgeschichte literarisch aufarbeitet, folgten erstaunlich schnell weitere Veröffentlichungen zu diesem Thema. So nahm sich ein Jahr nach Günter Grass auch die bis dahin als "Popautorin" geltende Berlinerin Tanja Dückers dieser Thematik an. In ihrem Roman "Himmelskörper" wird die historische Begebenheit des Untergangs der Wilhelm Gustloff ebenso wie bei Grass aufgegriffen und mit einer Familiengeschichte verwoben. Dabei geht Dückers aber völlig anders mit dem Motiv um und auch ihre Strategie ist eine andere.
Diese Arbeit wird sich mit der Darstellung der geschichtlichen Wirklichkeit als erzählte Erinnerung in den Romanen "Im Krebsgang" und "Himmelskörper" befassen. Dabei sollen die unterschiedlichen Perspektiven des Umgangs mit der Vergangenheit aufgezeigt, interpretiert und verglichen werden. Das Konzept der Generationenbildung ist dabei ein wichtiger Untersuchungspunkt.
Im Folgenden wird also zu klären sein, welche Intention die beiden Autoren durch ihre spezifische Darstellungsweise verfolgen, wie sie mit der schwierigen Thematik umgehen und welches Geschichtsbild die Autoren, die selbst zwei unterschiedlichen Generationen angehören, durch ihre Romane vertreten.
Inhalt
1. Einleitung
2. Fiktion und Wirklichkeit in Im Krebsgang
2.1. Aufbau und Erzähltechnik
2.2. Spiel mit Fiktionalität
2.3. Konstruktion der Vergangenheit
2.3.1. Die Ewiggestrigen
2.3.2. Die Nachkriegsgeneration
2.3.3. Die Enkelgeneration
2.3.4. Der Alte als Beispiel für (gescheiterte) Vergangenheitsbewältigung
3. Darstellung von Geschichte in Himmelskörper
3.1. Aufbau und Erzähltechnik
3.2. Vergangenheit als Familiengeheimnis
3.2.1. Die Achtundsechziger- versus die Tätergeneration
3.2.2. Die Enkelgeneration
4. Die Autorenstrategien
5. Fazit
6. Literatur
6.1. Primärliteratur
6.2. Sekundärliteratur
1. Einleitung
Die Veröffentlichung des Romans Im Krebsgang des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass im Februar 2002 schlug ungeheure Wellen in Deutschland: Das kollektive Gedächtnis der Deutschen schien sich plötzlich erstmals an das Schicksal der deutschen Kriegsopfer zu erinnern, und auch der jahrzehntelang tabuisierte Untergang des Schiffes Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945 wurde nach 57 Jahren erstmals Gegenstand der öffentlichen Diskussion.
Dem Buch, welches die größte Katastrophe der deutschen Seefahrtsgeschichte literarisch aufarbeitet, folgten erstaunlich schnell weitere Veröffentlichungen zu diesem Thema. So nahm sich ein Jahr nach Günter Grass auch die bis dahin als „Popautorin“ geltende Berlinerin Tanja Dückers dieser Thematik an.[1] In ihrem Roman Himmelskörper wird die historische Begebenheit des Untergangs der Wilhelm Gustloff ebenso wie bei Grass aufgegriffen und mit einer Familiengeschichte verwoben. Dabei geht Dückers aber völlig anders mit dem Motiv um und auch ihre Strategie ist eine andere.
Diese Arbeit wird sich mit der Darstellung der geschichtlichen Wirklichkeit als erzählte Erinnerung in den Romanen Im Krebsgang und Himmelskörper befassen. Dabei sollen die unterschiedlichen Perspektiven des Umgangs mit der Vergangenheit aufgezeigt, interpretiert und verglichen werden. Das Konzept der Generationenbildung ist dabei ein wichtiger Untersuchungspunkt.
Im Folgenden wird also zu klären sein, welche Intention die beiden Autoren durch ihre spezifische Darstellungsweise verfolgen, wie sie mit der schwierigen Thematik umgehen und welches Geschichtsbild die Autoren, die selbst zwei unterschiedlichen Generationen angehören, durch ihre Romane vertreten.
Bei der angewandten Zitationsweise sind direkte Zitate aus den zwei behandelten Romanen im Text unmittelbar hinter den Zitaten mit Autoren- und Seitenangaben gekennzeichnet. Die weitere Verwendung der Literatur ist, wie üblich, mit Kurztiteln durch Fußnoten in der Fußzeile der jeweiligen Seite angegeben.
2. Fiktion und Wirklichkeit in Im Krebsgang
2.1. Aufbau und Erzähltechnik
Der Roman Im Krebsgang behandelt den Untergang des Schiffes Wilhelm Gustloff, indem die historische Begebenheit in eine „hochkomplexe Erzählung“ aus Familienkonflikt, Vergangenheitsbewältigung und Gegenwartsbezügen verwoben wird.[2]
Vom Autor durch den Untertitel als „Eine Novelle“ gekennzeichnet, wird der Roman einer literarischen Kategorie unterworfen, deren allgemeiner Definition er nicht standhalten kann: Die Geschichte weist weder eine „gedrängte[…], einsträngig-geradlinig auf e. Ziel hinführende[…] und in sich geschlossene[…] Form“ noch einen „nahezu objektive[n] Berichtstil ohne Einmischung des Erzählers“ auf.[3] Im Gegensatz zu dieser Definition „erlaubt sich [Grass sogar] den erzähltechnisch eigenwilligen Kunstgriff, in seiner Erzählung immer wieder selbst aufzutreten, um die Schwierigkeit und Notwendigkeit der gewählten Thematik eingehend zu kommentieren“.[4] Der Autor tritt selbst als „der Alte“ (Grass, S. 31) in dem Bericht des Ich-Erzählers hervor. Allerdings lässt er seine Anmerkungen und Anweisungen in einer extradiegetischen Rahmenerzählung durch zitierte direkte oder transponierte indirekte Rede über „seine Hilfskraft“ (Grass, S. 78), den Ich-Erzähler Paul Pokriefke, verkünden und ausüben. Somit könnte der Autor auch als eine Person in einer dritten, der metadiegetischen Erzählebene angesehen werden, die noch über der Rahmenhandlung steht und in der die Kommunikation zwischen ihm und dem Ich-Erzähler stattfindet.[5]
Die „Prosaerzählung“ kann lediglich mit einer „neuen, unerhörten, doch im Ggs. zum Märchen tatsächl. oder mögl. Einzelbegebenheit“ aufwarten.[6] Der Untergang der Gustloff kann als das für eine Novelle notwendiges Leitmotiv angesehen werden. Allerdings bleibt der Zeitpunkt des Untergangs als Kriterium des Wendepunkts fraglich, da im Schlusssatz des Romans die Erkenntnis formuliert wird: „Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“ (Grass, S. 216).
Der Autor spielt auch innerhalb des Werkes mit der Bezeichnung Novelle, die dort aber nur ein Mal genannt wird: „Er sagt, mein Bericht habe das Zeug zur Novelle. Eine literarische Einschätzung, die mich nicht kümmern kann. Ich berichte nur.“ (Grass, S. 123)
Daraus lässt sich ableiten, dass „der Gattungsbezeichnung für die Wichtigkeit des von ihm erzählten Geschehens kaum eine Bedeutung zukommt“.[7]
Die Darstellung ist in eine extradiegetische Rahmen- und eine intradiegetische Binnenerzählung aufgeteilt. Hinzu kommend ist noch eine metadiegetische Ebene vorhanden, auf der sich der Alte, also der Autor selbst, befindet. In der Rahmenerzählung befasst sich der Ich-Erzähler Paul Prokriefke mit den Umständen seines intradiegetischen Berichts über den Untergang der Wilhelm Gustloff. Er stellt zuerst den Grund dar, warum er die Geschichte erzählen muss: Da er nämlich genau „im Augenblick des Untergangs der Gustloff geboren wurde und […] allein ob dieser Eigenschaft prädestiniert scheint, die fehlende Geschichte zu erzählen“.[8] Allerdings thematisiert Paul in der Rahmenerzählung auch das „Versäumnis“ und „Versagen“ (Grass, S. 77) des Autors, die Geschichte nicht selbst erzählt zu haben. Die Rahmenerzählung behandelt außerdem die Lebens- und Familiengeschichte des Ich-Erzählers. Dort befinden sich zudem die Erinnerungen von Tulla Prokriefke, der Mutter des Ich-Erzählers, die den Untergang der Gustloff selbst miterlebt hat und Überlebende der Katastrophe ist. Ihre Erinnerungen fließen unmittelbar durch direkte Rede in die Erzählung mit ein. Des Weiteren wird der Vater-Sohn-Konflikt zwischen Paul und seinem Sohn Konrad und die fast schon manische Versessenheit des Sohnes auf die Geschichte der Gustloff deutlich. Seine nationalsozialistisch gefärbten Ideologien verbreitet Konrad über das Internet, die der Ich-Erzähler zum Teil durch direkt zitierte, aber auch durch erzählte Rede wiedergibt.
Die Binnenhandlung befasst sich mit dem real-historischen Untergang des Schiffs Wilhelm Gustloff. Paul Pokriefke bemüht sich hierbei um eine korrekte und objektive Wiedergabe der Ereignisse, was ihm aber nicht gelingt, da seine Familiengeschichte mit der des Untergangs unweigerlich verstrickt war, ist und bleibt.
Die Erzählebenen vermischen sich immer wieder und können untereinander nur schwer durch Rahmen- und Binnenerzählung abgegrenzt werden, weshalb man von einer konsekutiven Form der Verknüpfung sprechen kann.[9]
Der Titel des Romans ist paradigmatisch für den Aufbau der Erzählung. Die komplexe Struktur des simultanen Erzählens wird mit der Bewegungsart der Krebse gleichgesetzt und sogar intertextuell problematisiert: „Aber noch weiß ich nicht, ob, wie gelernt, erst das eine, dann das andere und danach dieser oder jener Lebenslauf abgespult werden soll oder ob ich der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen muß [sic!], etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen.“ (Grass, S. 8f) Der Ich-Erzähler springt ständig in der Zeit, wechselt immer wieder zwischen historischer und von ihm recherchierter Vergangenheit, erzählter Vergangenheit aus Sicht der anderen Figuren und selbst erlebter Gegenwart. Mit dieser Art des eingeschobenen Erzählens wird die Simultanität und Verstrickung der Ereignisse erneut verstärkt.[10]
Paul Pokriefke weist Züge von Auktorialität auf, da er als „überschauender, kommentierender Erzähler in die Erzählung eingreift, Vorausdeutungen gibt, die Vorgeschichte nachholt, das Gespräch mit dem Leser sucht, seine Perspektive beeinflußt [sic!]“ und auch „[…] den Erzählablauf nach Belieben ordnet“.[11] Allerdings ist er nicht allwissend, da er die historischen Ereignisse nur durch eigene Recherche ermittelt hat und die Informationen „gefiltert durch sein [eigenes] Bewusstsein“ wiedergibt.[12] Dadurch wird er wiederum zum Ich-Erzähler degradiert.
Die Stellung des Erzählers zum Geschehen wechselt ständig. Zum einen handelt es sich bei Paul Pokriefke um einen extradiegetisch-homodiegetischen Erzähler, der seine eigene Geschichte erzählt, zum anderen um einen intradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler.[13] Der Erzähler wird durch seine Geburt genau am Höhepunkt der Binnenerzählung Teil der Handlung, wodurch er als Bindeglied zwischen den Ebenen fungiert und somit auch in der intradiegetischen Ebene zu einem homodiegetischen Erzähler wird. In der Binnenerzählung bleibt er allerdings eine „nur am Rande beteiligte Nebenfigur“, wobei er in der Rahmenerzählung eine der Hauptfiguren ist.[14]
Schon auf dieser Ebene lässt sich durch die Verschränkung und Vermischung in der Erzähltechnik ein Konzept erkennen, was zur Irritation des Rezipienten beitragen soll und auf der semantischen Ebene weiter verwendet wird.
2.2. Spiel mit Fiktionalität
Auf der inhaltlichen Ebene weist als Erstes die Dedikation „in memoriam“ (Grass, S. 5) als non-fiktives Element mit „einer bewussten und ausgewiesenen Erinnerungsfunktion, die sich auf ein reales historisches Ereignis bezieht“, darauf hin, dass hier ein beabsichtigtes Verwirrspiel des Autors vorliegt, bei dem eine Spannung zwischen Fiktion und Wirklichkeit aufgebaut werden soll.[15]
Der Autor stellt nacheinander sein „literarisches Personal“ vor.[16] Dabei wird immer wieder zwischen den fiktionalen Figuren und den realen Personen gewechselt. Eine Abgrenzung entsteht dabei auf sprachlicher Ebene: „So wird das real-historische Trio […] von Wilhelm Gustloff, Alexander Marinesko und David Frankfurter unter expliziten Hinweisen auf die Informationsquellen (bis hin zu genauen bibliographischen Angaben) rekonstruiert und Strittiges, historisch nicht Verbürgtes oder Überprüfbares in alternativen Versionen oder im Konjunktiv präsentiert.[17] In den Aussagen wird ein „Berichtstil“ verwendet, der den „Authentizitätsanspruch der Figuren zusätzlich“ unterstützt.[18] Dabei bemüht sich der Ich-Erzähler, die Darstellung des Historischen so genau und objektiv, aber auch so reflektiert wie möglich zu gestalten, was durch Zusätze wie z.B. „Das mag stimmen.“ (Grass, S. 57), „So wird, so kann es gewesen sein. So ungefähr ist es gewesen.“ (Grass, S. 101) oder „Man behauptet […]“ (Grass, S. 110) untermauert wird. Dadurch wird deutlich, dass dem Erzähler bewusst ist, „dass er es stets mit Versionen der Wirklichkeit zu tun hat […]“.[19]
Die fiktionalen Passagen weisen einen „erzählenden Duktus“ auf, bei dem „mit Überzeichnungen und umgangssprachlichen Elementen als Fiktionssignalen“ gearbeitet wird.[20] Allerdings sind wie die verschiedenen Erzählebenen auch die fiktionalen mit den faktualen Passagen stark verwoben, so dass ein Geflecht entsteht, in dem die fiktionalen Erzählungen immer wieder die Wirklichkeit aufgreifen. Ein Beispiel hierfür ist, dass Heinz Schön und seine Bücher explizit als Referenz für Paul Pokriefkes Recherchen genannt werden. Die Symbiose von Fiktion und Wirklichkeit besteht nun darin, dass nicht nur der Ich-Erzähler sich auf Schöns Dokumentationen und Recherchen beruft, sondern auch der Autor Günter Grass mit diesen gearbeitet hat. Weitere Beweise für die Verflechtung mit der Realität sind unter anderen die Zitationen der literarischen Werke Der Zauberberg, Katz und Maus, Hundejahre und Wilhelm Tell, der Filme Nacht fiel über Gotenhafen, Titanic und Panzerkreuzer Potemkin, der Medienorgane Südwestfunk, Springer-Verlag, taz und die Problematisierung der bis zum Roman bestehenden Tabuisierung des Themas in der Gesellschaft an sich: „Mochte doch keiner was davon hören, hier im Westen nicht und im Osten schon gar nicht. Die Gustloff und ihre verfluchte Geschichte waren jahrzehntelang tabu, gesamtdeutsch sozusagen.“ (Grass, S. 31).
[...]
[1] Haberl, 2004.
[2] Höfer, 2003, S. 188.
[3] Wilpert, 2001, S. 566.
[4] Höfer, 2003, S. 188.
[5] Vgl. Grass, 2004, S. 54ff.
[6] Wilpert, 2001, S. 566.
[7] Höfer, 2003, S. 194.
[8] Hesse/Krommer, 2003, S. 42.
[9] Vgl. Martinez/Scheffel, 2002, S. 78.
[10] Vgl. Martinez/Scheffel, 2002, S. 69.
[11] Wilpert, 2001, S. 57.
[12] Bernhardt, 2002, S. 47.
[13] Vgl. Martinez/Scheffel, 2002, S. 81.
[14] Vgl. ebd., S. 82.
[15] Hesse/Krommer, 2003, S. 42.
[16] Ebd.
[17] Ebd.
[18] Ebd., S. 43.
[19] Ebd., S. 44.
[20] Ebd., S. 42.
- Citar trabajo
- Nicole Giese (Autor), 2005, Geschichtliche Wirklichkeit als erzählte Erinnerung. Der Untergang der Wilhelm Gustloff als Motiv in den Romanen "Im Krebsgang" und "Himmelskörper", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47840
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