Die Synthese von Film und Literatur, die sich oftmals im Phänomen der Literaturverfilmung äußert, wirft von Natur aus die Frage nach ihren jeweiligen Grenzen und Möglichkeiten auf. Was kann der Film darstellen, wo das Buch an seine erzählerischen Grenzen stößt? Was kann der Roman eindringlicher beschreiben, wo der Film kürzen muss? Welche neuen Interpretationsebenen entstehen durch die Bearbeitung des Regisseurs? Inwieweit spielen andere Künste, nicht nur die literarische Vorlage, für den Film eine Rolle? Von diesem Umstand ausgehend, werden am Beispiel von Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ und Stanley Kubricks Film „Eyes Wide Shut“ die verschiedenen Titel und Entrees näher beleuchtet und die jeweilige Medienspezifik, also die verschiedenen „Werkzeuge“ von Regisseur und Buchautor heraus gestellt. Die Untersuchung intermedialer Zwischenspiele soll hierbei im Fokus der Betrachtung stehen, wobei nicht explizit auf die Berührungspunkte der beiden „Medien“ , sondern auf die theatralen, musikalischen und malerischen Elemente vor allem des Films eingegangen werden soll.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2 Medienspezifische Aspekte
2.1 Literatur und Film
2.2 Das Entree in der Novelle und im Film
3 Intermediale Zwischenspiele und Besonderheiten
3.1 Theatrale Elemente
3.1.1 Das Motiv der Vorhänge
3.1.2 Das geheime Treffen
3.2 Musik im Film
3.2.1 Eingangsmusik
3.2.2 Das Passwort
3.3 Malerische Elemente
3.3.1 Verarbeiten von berühmten Gemälden im Film
3.3.2 Kubricks Farbenspiel
3.4 Literarische Vorlage und filmische Umsetzung
4 Abschließende Worte
5 Literatur und Abbildungsverzeichnis
5.1 Bibliographie
5.2 Webliographie
5.3 Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
Die Synthese von Film und Literatur, die sich oftmals im Phänomen der Literaturverfilmung äußert, wirft von Natur aus die Frage nach ihren jeweiligen Grenzen und Möglichkeiten auf. Was kann der Film darstellen, wo das Buch an seine erzählerischen Grenzen stößt? Was kann der Roman eindringlicher beschreiben, wo der Film kürzen muss? Welche neuen Interpretationsebenen entstehen durch die Bearbeitung des Regisseurs? Inwieweit spielen andere Künste, nicht nur die literarische Vorlage, für den Film eine Rolle?
Von diesem Umstand ausgehend, werden wir am Beispiel von Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ und Stanley Kubricks Film „Eyes Wide Shut“ die verschiedenen Titel und Entrees näher beleuchten und die jeweilige Medienspezifik, also die verschiedenen „Werkzeuge“ von Regisseur und Buchautor herausstellen. Die Untersuchung intermedialer Zwischenspiele soll hierbei im Fokus unserer Betrachtung stehen, wobei wir uns nicht explizit auf die Berührungspunkte der beiden „Medien“ konzentrieren, sondern auf die theatralen, musikalischen und malerischen Elemente vor allem des Films eingehen werden. Abschließend werden wir ein Resümee aus unseren gewonnen Überlegungen ziehen und die Komplexität von Kubricks Werk nochmals herausstellen.
Kaum ein Werk der Literaturverfilmung hat zu soviel Diskussion und geteilten Meinungen geführt wie Stanley Kubricks „Eyes Wide Shut“. Die einen Kritiker beschreiben Kubricks New York als „auf bizarre Weise leblos“ und behaupten, „es bestehe aus Details, die sich mit dem amerikanischen Leben, wie jedermann es erlebt, nicht verknüpfen, so dass der Übergang des Films von der Realität zum Traum von uns nicht als besondere Abweichung vom Gewöhnlichen empfunden wird.[…] EYES WIDE SHUT hat weder ein sicheres Gefühl für Träume noch für die Realität.“[1] Die anderen messen dem Film eine tiefere Bedeutung bei und sprechen davon „dass Kubrick mit EYES WIDE SHUT unter vielen anderen auch vom Scheitern des psychologischen Realismus […] im Kino gesprochen hat.“[2]
Trotz dieser kontroversen Debatte möchten wir in unserer Hausarbeit offen legen, wie sehr Roman und Film miteinander verknüpft sind, ohne dabei außer Acht zu lassen, dass „Eyes Wide Shut“, als autonomes Kunstwerk, d.h. auch ohne Lektüre der Novelle Bestand hat und als distinktes Medium wahrgenommen werden muss.
2 Medienspezifische Aspekte
Wo der Spielfilm an seine pragmatischen Grenzen stößt, weil er sich aus zeitlichen bzw. finanziellen Gründen auf das Wesentliche der Geschichte beschränken muss und nicht jeder Beschreibung des Romans oder der Novelle Ausdruck verleihen kann, eröffnet gerade dieses Medium andererseits die Möglichkeit, die Geschichte visuell zu unterstützen. Das Fehlen einer Beschreibung wird somit durch eine Übertragung ins Bild ersetzt.
Die medienspezifischen Unterschiede von „Eyes Wide Shut“ und „Traumnovelle“ werden vor allem in den verschiedenen Titeln und den Entrees deutlich.
2.1 Literatur und Film
Schon die Titel für sich genommen weisen auf ihre jeweilige Medienspezifik hin; sowohl der Film als auch das Buch beinhalten im Titel einen deutlichen Verweis auf eine dem Medium zugehörige Eigenschaft. Darüber hinaus geben die Titel auch einen Vorgeschmack auf die jeweilige Interpretationsebene des Themas.
Schnitzlers „Traumnovelle“ weist unmissverständlich auf die Tatsache hin, dass es sich um Literatur handelt, nämlich um die Gattung einer Novelle, die sich dem Titel zufolge mit dem Thema „Traum“ beschäftigt. Er spielt direkt auf die Ebene des „Irrealen“ an, auf den Traum, und lässt keinen Zweifel, dass hier mit verschieden Realitätsebenen gespielt wird. Ob es sich an der einen oder anderen Stelle wirklich „nur“ um eine Traumerfahrung handelt ist unklar, dennoch lenkt der Titel die Aufmerksamkeit des Lesers von vornherein dorthin. Wann wird geträumt, wann sind die Protagonisten wach? Ist Albertines Phantasie mit dem Offizier in Dänemark ein Wunschtraum? Sind Wunschträume real oder gehören sie schon einer transzendierenden Ebene an? „Bei genauerem Nachdenken ergibt sich jedoch der Gedanke, ob es sich um eine Novelle oder um einen Traum handelt oder ob die Novelle selbst der Traum ist.“[3] Diese Frage bleibt für den Leser der Novelle offen.
Kubricks „Eyes Wide Shut“ hingegen spricht sogleich das wichtigste Sinnesorgan an, mit dem man den Film wahrnimmt: das Auge. „Augen weit geschlossen“ – „Eyes Wide Shut“. Dieser Titel fordert den Rezipienten heraus. Wie können Augen weit geschlossen sein? Wofür steht dieses Oxymoron, dieser Widerspruch in sich? Obwohl der Film darauf keine klare Antwort zulässt, sondern allenfalls Spekulation, ist dem Titel eines sicher: Aufmerksamkeit durch Befremdung sowie durch den Widerspruch in sich. Dieses ‚Fremd-Fühlen’ - obwohl etliche bekannte, alltägliche Dinge im Film gezeigt werden - verlässt den Zuschauer bis zur letzten Minute des Films nicht, und auch keine selbsterklärerische Schlusssequenz „rettet“ sie/ihn aus diesem Gefühl.
Ein Deutungsversuch soll an dieser Stelle dennoch angebracht werden: Weist der fragwürdige Ausdruck nicht vielleicht auf den Umstand hin, dass obwohl die Augen einer/eines jeden manchmal geschlossen sind, wie z.B. im Schlaf oder auch wenn man sprichwörtlich „etwas nicht sehen will“, sich gerade in diesen Momenten die Augen in einer anderen Dimension unseres Bewusstseins öffnen und diese Dimension daher keineswegs als weniger real angesehen werden darf? Umgekehrt kann man auch den Rückschluss ziehen, dass gerade in dem Moment, in dem man denkt, die Augen weit offen zu haben, sie doch geschlossen sind. Die Dinge liegen jedoch ganz anders und der Blick für das Wesentliche oder auch die Filmwirklichkeit geht verloren.
Betrachtet man im Buch und im Film eben jenes Verschwimmen von Traum und Realität, so lässt sich also in beiden Titeln ein Verweis darauf finden, auch wenn sie oberflächlich betrachtet keine Ähnlichkeiten aufweisen.
Auch in der „Traumnovelle“ wird ein zum Filmtitel passendes Bild beschrieben; „... ja ihm war, als irrte unter den halbgeschlossenen Lidern ein ferner, farbloser Blick nach dem seinen; und wie magisch angezogen beugte er sich herab.“[4] Es handelt sich dabei um die Stelle im Buch, als Fridolin eine tote Frau in dem „Pathologisch-anatomischen Institut“ als seine Retterin auf dem Maskenball zu identifizieren glaubt. „Und da ist schließlich der Blick aus den Augen der Toten in der Morgue, dieses ferne und irrlichtende Starren aus halbverhangenen Lidern – eyes wide shut. Die gesamte narrative Energie der Traumnovelle scheint sich um diesen einen, unheimlichen Moment zusammenzuziehen, in dem die Schaulust an den Abgrund ihrer Erfüllung geführt und der Tod aus den Augen des Mädchens zurückschaut, um den Träumer in sein Reich hinabzulocken.“[5]. Auch wenn dieser Moment wohl am direktesten auf den Titel verweist, bleibt eine der Vorlage entsprechende Sequenz im Film aus. Die Darstellung dieser Szene im Leichenschauhaus ist geradezu enttäuschend und der Zuschauer vermisst das ihm aus dem Buch bekannte schaudernde Gefühl. So betrachtet gibt der Titel ein von der literarischen Vorlage auferlegtes Versprechen, das der Film allerdings nicht halten kann. Hier siegt die sprachliche Darstellung über die visuelle. An der einzigen Stelle des Films in der Kubricks Titel eine Klärung erfahren könnte, versagt die Aussagekraft des Szenenbildes. Es stellt sich die Frage, ob dies wirklich in der Absicht des Regisseurs lag, oder ob das Bild der Beschreibung in diesem Fall nicht gerecht werden kann.
Neben dem Titel beschäftigt sich eine wichtige Rahmenhandlung des Films ebenfalls mit dem Organ Auge; Alice nimmt zu Beginn ihre Brille ab und setzt sie erst wieder auf, nachdem es „beiden gelungen ist, […] aus all [ihren] Abenteuern [herauszukommen]. Ob sie nun real waren oder nur geträumt.“[6] Die Brille als einfache Sehhilfe beendet also die Phase der Ungewissheit, was real und was geträumt war. Vielleicht will Kubrick damit andeuten, dass Menschen eine Art Sehhilfe, in welcher Form auch immer, brauchen, um differenzieren zu können, weil sonst die Grenzen innerhalb der verschiedenen Realitätsebenen zu verschwommen, und mit dem bloßen, täuschbaren, menschlichen Auge nicht erkennbar sind.
2.2 Das Entree in der Novelle und im Film
„Vierundzwanzig braune Sklaven ruderten die prächtige Galeere, die den Prinzen Amigad zu dem Palast des Kalifen bringen sollte. Der Prinz aber, in seinen Purpurmantel gehüllt, lag allein auf dem Verdeck unter dem dunkelblauen, sternbesäten Nachthimmel, und sein Blick -"[7]
„Traumnovelle“ zeigt ein medienspezifisches Moment schon in diesen ersten Sätzen. Die märchenhafte Textsequenz veranschaulicht das Werkzeug der Literatur, die „Maschinerie der Sprache“[8]. Dieses Beispiel zeigt deutlich die Grenzen zwischen Literatur und Film auf: „Literatur erzählt, Film zeigt.“[9] Dort, wo der Gedankenstrich dem Märchen ein Ende setzt, das Mädchen einschläft, ihre Augen „beinahe plötzlich“[10] zufallen, da beginnt der Film; das Kopf-Kino des einzelnen Lesers, das sämtliche Gedankenstriche in die Bildwelt der Phantasie weiterleitet. Führt man diesen Gedanken weiter, so könnte man annehmen, dass Kubricks Film genau da beginnt, wo der Gedankenstrich dem Geschriebenen das Ende bedeutet und somit den Anfang für die eigene Bildwelt darstellt. Das Phantastische, Traumhafte und Obskure des Films scheint also von Kubricks „Kopf-Kino“ auf die Leinwand gebracht worden zu sein. Der Rezipient nimmt Teil an Kubricks visualisierter Interpretation der „Traumnovelle“.
[...]
[1] David Denby: “Last Waltz.” in: New York Times, 16.7.1999 zit. in: Andreas Kilb/Rainer Rother u.a.: Stanley Kubrick, S.246
[2] Georg Seeßlen: „Nun sind wir wohl erwacht“. in: die tageszeitung, 19.7.1999 zit. in: Andreas Kilb/Rainer Rother u.a.: Stanley Kubrick, S.247
[3] Leoni Hof: Die unsägliche Lust des Schauens, 3.1)
[4] Arthur Schnitzler: Traumnovelle, S.99
[5] Andreas Kilb / Rainer Rother: Stanley Kubrick, S. 237/238
[6] Stanley Kubrik: Eyes Wide Shut, S. 184
[7] Schnitzler, Arthur: Die Traumnovelle/Die Braut, S. 11
[8] Dagmar von Hoff: Kunstwelten im Dialog - Literatur und Film, S. 3
[9] von Hoff: Kunstwelten, S. 3
[10] Schnitzler, Arthur: Die Traumnovelle/Die Braut, S. 11
- Arbeit zitieren
- Alexia Berkowicz (Autor:in), Irja Martens (Autor:in), 2002, Arthur Schnitzler 'Traumnovelle' vs Stanley Kubrick 'Eyes Wide Shut'. Ein Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47707
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