In den 1990er Jahren war in den Theorien der Internationalen Beziehungen ein Wiederaufleben des Liberalismus zu beobachten. Es ist kein Zufall, dass die Wiederbelebung liberaler Ideen zeitgleich mit dem Ende des Kalten Krieges und der kommunistischen Regime in Mittel- und Westeuropa in Erscheinung trat: systemische Ansätze wie der Realismus waren nicht in der Lage, diese Phänomene plausibel zu erklären. Bestehende Großtheorien sahen sich mit Vertretern einer neuen Theorierichtung konfrontiert, die auf der Basis gemeinsamer liberaler Grundlagen eine Vielzahl von relativ isolierten, kaum systematisierten Ansätzen entwickelten, die sich unterschiedlichen liberalen Strängen zuordnen lassen, abhängig davon, welcher Größe sie einen entscheidenden Einfluss auf die Außenpolitik eines Staates zuordnen.
Neben Ernst-Otto Czempiel und Robert Putnam ist vor allem Andrew Moravcsik als wichtiger Vertreter des Liberalismus in den Theorien der Internationalen Beziehungen zu nennen. Seine präferenzorientierte Theorie erklärt er selbstbewusst als gleichwertig zu den und analytisch fundierter als die dominierenden zeitgenössischen Theorien Realismus und Institutionalismus.
Das Widererstarken des Liberalismus löste Enthusiasmus in den wissenschaftlichen Diskursen über die Internationalen Beziehungen aus, da er Lösungen und Antworten zu Problemen und Fragestellungen bot, die durch die beiden führenden Großtheorien aufgrund ihrer Prämissen und Argumentationsweise nicht zu erlangen waren. Natürlich sah sich der Liberalismus bald auch den Vorwürfen von Kritikern aus den unterschiedlichsten Lagern ausgesetzt.
Die vorliegende Arbeit fasst die Kerngedanken der liberalen Theorie internationaler Politik zusammen und gibt so einen Überblick über die gemeinsamen Grundannahmen und Argumentationsweisen der verschiedenen liberalen Ansätze. Am Beispiel von Moravcsiks "Liberalen Intergouvernementalismus", einem Ansatz zur Europäischen Integration, erläutert sie die wichtigsten Einwände gegen den Liberalismus, um sie zu diskutieren und zu beurteilen sowiesowie ihre Haltbarkeit zu prüfen.
Inhalt
1. Einleitung
2. Der Liberalismus in den Internationalen Beziehungen
2.1 Grundannahmen des politischen Liberalismus
2.2 Varianten des politischen Liberalismus
2.3 Der Liberale Intergouvernementalismus
3. Kritische Gegenstimmen
3.1 Die Kritik an Moravcsiks politischem Liberalismus
3.2 Die Kritik am Liberalen Intergouvernementalismus
4. Diskussion und Fazit
Quellen:
1. Einleitung
In den 1990er Jahren war in den Theorien der Internationalen Beziehungen eine „Renaissance des Liberalismus“ (Schieder 2003: 1) zu beobachten. Es ist kein Zufall, dass die Wiederbelebung liberaler Ideen zeitgleich mit dem Ende des Kalten Krieges und der kommunistischen Regime in Mittel- und Westeuropa in Erscheinung trat: systemische Ansätze wie der Realismus waren nicht in der Lage, diese Phänomene plausibel zu erklären. Bestehende Großtheorien sahen sich nun mit Vertretern einer neuen Theorierichtung konfrontiert, darunter zu nennen Ernst-Otto Czempiel, Robert Putnam und Andrew Moravcsik. Auf der Basis gemeinsamer liberaler Grundlagen entwickelten sie und andere eine Vielzahl von relativ isolierten, kaum systematisierten Ansätzen, die sich unterschiedlichen liberalen Strängen zuordnen lassen, je nach dem, welcher Größe sie einen entscheidenden Einfluss auf die Außenpolitik eines Staates zuordnen. Dazu im Folgenden mehr.
Es war vor allem Andrew Moravcsik, der in den 1990ern den Liberalismus wieder in das Bewusstsein der Forschungsgemeinde der Internationalen Beziehungen rief. Seine präferenzorientierte Theorie erklärt er selbstbewusst als „coequal with and analytically more fundamental than the two dominant theories in contemporary IR scholarship: realism and institutionalism“ (Moravcsik 1997: 513).
Das Widererstarken des Liberalismus hat Ende der 1990er eine mit neuer Energie geführte Debatte in den Internationalen Beziehungen ausgelöst, die viele begeistert antizipierten: bot der Liberalismus doch Lösungen und Antworten zu Problemen und Fragestellungen, die durch die beiden anderen genannten führenden Großtheorien, Realismus und Institutionalismus, aufgrund ihrer Prämissen und Argumentationsweise nicht zu erlangen waren. Dennoch sah sich der Liberalismus bald den Vorwürfen einer Reihe von Kritikern aus den unterschiedlichsten Lagern ausgesetzt.
In meiner Arbeit möchte ich die wichtigsten Einwände gegen den Liberalismus aufführen und mich damit auseinandersetzen, um zu prüfen, ob sie wirklich zum Fall eines so enthusiastisch begrüßten Forschungsparadigmas führen, oder ob sie mit einigen Anpassungen aus der Welt geräumt werden können.
Zunächst möchte ich die Kerngedanken der liberalen Theorie internationaler Politik zusammenfassen, um angesichts der Vielzahl unter dieses Prädikat fallenden Ansätze einen Überblick über deren gemeinsame Grundannahmen und Argumentation zu geben. Im Anschluss dann werde ich die dem Liberalismus vorgeworfenen Schwächen erläutern, um sie im letzten Teil der Arbeit zu diskutieren und zu beurteilen.
Da Andrew Moravcsik wohl der bekannteste Vertreter des neuen Liberalismus ist und auch einen eigenen liberalen Ansatz zur europäischen Integration entworfen hat, möchte ich mich im Folgenden vor allem auf seine Ausführungen beziehen und auch seiner Integrationstheorie, dem „Liberalen Intergouvernementalismus“, gesonderte Beachtung widmen.
2. Der Liberalismus in den Internationalen Beziehungen
2.1 Grundannahmen des politischen Liberalismus
Die erste Grundannahme jeder liberalen Theorie ist, dass das Verhalten eines Staates in der internationalen Politik durch Art und Intensität der Beziehungen bestimmt wird, die zwischen ihm und zu dem eigenen, innerstaatlichen sowie dem transnationalen gesellschaftlichen Umfeld bestehen. Hieraus entwickelt Moravcsik drei Kernannahmen, die darüber hinaus im Mittelpunkt des neuen Liberalismus stehen (vgl. Schieder 2003: 5-8):
Vorrang des Akteurs und der Gesellschaft vor dem Staat
Im Gegensatz zu Neorealismus und Institutionalismus, nach deren Auffassung Staaten die zentralen Akteure in der internationalen Politik darstellen, erkennt Moravscik Individuen und gesellschaftliche Gruppen als die bestimmenden Faktoren, die bemüht sind, ihre Interessen sowohl auf nationaler Ebene als auch in der transnationalen Politik durchzusetzen. Dabei handeln sie rational und risikoscheu und rivalisieren um Einflussnahme auf die Regierung, die sie nach außen hin vertritt. Der Staat spiegelt stets die gesellschaftlichen Verhältnisse wieder, die ihn prägen.
Nach liberaler Auffassung gibt es keine Übereinstimmung zwischen den Interessen der Gruppen einer Gesellschaft, es herrscht ein andauernder Wettbewerb. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu sozialen Spannungen innerhalb der Gesellschaft kommt, wird durch drei Faktoren beeinflusst: Wertvorstellungen über das Zusammenleben in der Gesellschaft, die Verteilung von knappen Ressourcen sowie der Zugang zu politischen Entscheidungskompetenzen. Vor allem der letzte Punkt ist von Bedeutung: Besteht ein Ungleichgewicht bezüglich der Möglichkeit, Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen, sind bestimmte soziale Gruppen in der Lage, die durch gesamtgesellschaftliche Entscheidungen entstehenden Kosten anderen aufzulasten. Daher ist in einer solchen Situation die Entstehung von Konflikten wahrscheinlicher, als wenn alle sozialen Gruppen gleich gewichtig sind.
Das politische System und die Machtverhältnisse zwischen den nationalen Akteuren aus Politik und Gesellschaft bestimmen, wie der Wettbewerb der Interessen vonstatten geht und welche Präferenzen und Ideen sich letztendlich durchsetzen und Einfluss auf das Regierungshandeln gewinnen (vgl. Moravcsik 1997).
Innergesellschaftliche Repräsentation und staatliche Präferenzbildung
Nationale Institutionen und Strukturen bestimmen den Wettbewerb zwischen den sozialen Gruppen, indem sie deren Interessen an die Regierung übermitteln. Sie sind also ein „Transmissionsriemen dominanter gesellschaftlicher Präferenzen“ (Schieder 2003: 6), gleichzeitig aber auch Teil der Gesellschaft, unterworfen der „construction and reconstruction by coalitions of social actors“ (Moravscik 1997: 518).
Aus der ersten Grundannahme, die besagt, dass das staatliche Verhalten durch gesellschaftliche Akteure bestimmt wird, die in komplexen Interessensvermittlungsprozessen die Oberhand gewinnen, ergeben sich wichtige Schlussfolgerungen bezüglich der Außen- und Sicherheitspolitik: Aus Sicht des Liberalismus streben Regierungen nicht zwingend nach größtmöglicher Sicherheit und Macht im internationalen Staatengefüge. Der Grund dafür ist, dass beides im Normalfall nicht zu den Interessen zählt, die gesellschaftliche Akteure verfolgen, ihr Ziel sind vor allem Wohlfahrtsgewinne. Damit sei aber der seltene Fall nicht ausgeschlossen, dass Machtpolitik doch im Interesse einflussreicher sozialer Akteure liegt. Nur ist es nach liberaler Ansicht möglich, dass es aufgrund „interner Organisationsdefizite“ (Schieder 2003: 7) dazu kommt, dass der Staat das öffentliche Gut Sicherheit nicht in nötigem Ausmaß bereitstellt – ein dem Realismus vollkommen unbekanntes, wenn nicht unverständliches Problem.
Internationale Umwelt und interdependente Präferenzordnungen
Auch aus der internationalen Umwelt empfängt der Staat aus liberaler Perspektive Handlungsimpulse, nur werden diese nicht von der internationalen Machtverteilung oder den internationalen Institutionen bestimmt. Der Liberalismus sieht als determinierende Variable den „sozialen Kontext“ an, aus dem die Handlungsmuster internationaler Politik hervorgehen (vgl. Schieder 2003: 7). Oder, wie Moravcsik es so prägnant formuliert: „was Staaten tun, wird bestimmt durch das, was sie wollen“ (nach Schieder 2003: 7).
Moracsik verbindet die innerstaatliche Präferenzbildung und das staatliche Verhalten in der internationalen Politik durch das Konzept der „Policy Interdependence“. Im Realismus werden die Präferenzen verschiedener Staaten generell als konflikthaltig verstanden, Liberalisten sehen je nach Beziehung zwischen den Präferenzordnungen der beteiligten Staaten drei unterschiedliche Restriktionen für deren Verhalten. Bei kompatiblen bzw. konvergierenden Interessen zweier oder mehrerer Staaten ist Kooperation zwischen diesen sehr wahrscheinlich. Konflikte und Spannungen zwischen Staaten entstehen bei divergierenden staatlichen Präferenzen, da soziale Gruppen in einem Staat ihre Interessen durch staatliche Außenpolitik durchgesetzt sehen wollen, was Kosten für Gruppen in anderen Ländern bewirkt – hier verwendet Moravcsik das Konzept der „externen Effekte“ aus der Makroökonomie. Sind die nationalen Präferenzordnungen dagegen komplementär, versprechen Verhandlungen und Politikkoordination zwischen den Staaten sowie Konzessionen für alle Beteiligten hohen Nutzen (Schieder 2003: 8).
Anmerkung: Moravcsik bezeichnet als Präferenzordnung alle möglichen Weltzustände in der Reihenfolge der Nutzenfunktionen einflussreicher gesellschaftlicher Akteure.
2.2 Varianten des politischen Liberalismus
Wie eingangs bereits kurz erwähnt, lassen sich Varianten des Liberalismus danach unterscheiden, welche Einflussgröße auf die außenpolitische Präferenzordnung als am dominantesten angesehen wird. Moravcsik selbst sieht drei solcher liberalen Theorievarianten (Moravcsik 1997: 524-533):
Ideeller Liberalismus
Liberale wie Mill, Mazzini oder Wilson gehen davon aus, dass die außenpolitischen Präferenzen eines Staates von sozialen Identitäten und Werten bestimmt werden. Unter Identitäten und Werten versteht Moravcsik ein „set of preferences shared by individuals concerning the proper scope and nature of public goods provision, which in turn specifies the nature of legitimate domestic order by stipulating which social actors belong to the polity and what is owed them“ (Moravcsik 1997: 525). Öffentliche Güter wie z.B. territoriale Grenzen, legitime politische Institutionen und die sozioökonomische Wohlfahrtsregulierung bestimmen die Bildung sozialer Identität. Art und Stärke jener sozialen, politischen oder sozioökonomischen Identitäten beeinflussen das Verhalten eines Staates nach außen: Konvergierende innerstaatliche ideelle Präferenzen begünstigen zwischenstaatliche Kooperation, divergierende hingegen führen zu Konflikten. Moravcsik sucht anhand der europäischen Integration empirisch nachzuweisen, dass die Konvergenz von Werten notwendig ist für Kooperation in Politikfeldern wie z.B. Umwelt- und Verbraucherschutz sowie für die Unterordnung eines Staates unter supranationale Institutionen (Moravcsik 1997: 528).
Kommerzieller Liberalismus
Anhänger des kommerziellen Liberalismus führen das Verhalten eines Staates auf die Kräfte des Marktes zurück, denen sich nationale und transnationale Akteure der Wirtschaft ausgesetzt sehen, genau genommen von die erwarteten Gewinne und Verluste. Marktteilnehmer, also Produzenten und Konsumenten, die sich einen Vorteil von der internationalen Arbeitsteilung versprechen, treten energisch für grenzübergreifende Märkte ein und wenden sich gegen staatlichen Protektionismus. Je höher die von ökonomischer Öffnung zu erwartenden Kosten für eine soziale Akteursgruppe, desto wahrscheinlicher wird sie ihren Einfluss einsetzen, um Austauschbeziehungen nach außen zu verhindern. Damit erkennt der Liberalismus den Markt als eine Größe an, die sowohl Anreize zur Öffnung als auch zur Abschottung der eigenen Märkte schaffen und somit auch beides erklären kann.
Die nationalen Regierungen wissen, dass militärische Gewalt gegenüber anderen Staaten sehr viel mehr Kosten nach sich zieht als der freie Güteraustausch. Für die Sicherheitspolitik bedeutet dies, dass ein ökonomischer Anreiz besteht, sich nach außen kooperativ zu zeigen und vom Einsatz militärischer Mittel abzusehen (Schieder 2003: 9).
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- Quote paper
- Monika Schraft (Author), 2003, Politischer Liberalismus. Andrew Moravcsik auf dem Prüfstand, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47491
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