In den Medien wurde im Laufe der letzten Monate immer wieder die explizite oder implizite Forderung, nach einer außerfamiliären Betreuungsform für Kinder unter drei Jahren, gestellt. Die Bereitstellung eines bedarfsgerechten Platzangebots in den Tagesstätten wird im Zusammenhang mit der Verbesserung der Chancengleichheit, mit der finanziellen Sicherung der Familien, mit der fehlenden Wahlmöglichkeit für Alleinerziehende oder, wie in jüngster Zeit, mit dem volkswirtschaftlichen Nutzen gefordert. Zwei Aspekte werden in der öffentlichen Diskussion allerdings nur wenig berücksichtigt:
(1) Obwohl die oben genannten Gründe den Ausbau der Betreuungsplätze für 0-3-Jährige zwar hinreichend rechtfertigen würden, gehen sie lediglich von den Bedürfnissen und Wünschen der Erwachsenen aus. Für die Kleinsten scheint nach wie vor die Erziehung in der Familie die pädagogisch beste Lösung zu sein. Diese Einstellung kann so nicht mehr gelten, da die Realität der Familie heute großenteils nicht mehr mit dem klassischen Bild der Kleinfamilie, bestehend aus Mutter, Vater und mehreren Kindern übereinstimmt. Die pädagogischen Motive einer außerfamiliären Betreuung in Tageseinrichtungen verdienen meiner Ansicht nach wesentlich mehr Beachtung. Anspruch dieser Arbeit ist es daher nicht, den Bestand und die Erweiterung entsprechender Einrichtungen zu rechtfertigen. Vielmehr möchte ich die außerfamiliäre Betreuungsform als wertvolle Alternative und Ergänzung voraussetzen, deren Anspruch über eine Definition als eine Kompromisslösung zur Kompensation des postmodernen, gesellschaftlichen Wandels - den man in Kauf nehmen muss - klar hinausgeht.
(2) Ebenso stiefmütterlich beachtet werden die konkreten pädagogischen Forderungen an Betreuungsarrangements für Kleinstkinder. Ziel dieser Arbeit ist es aus diesem Grund, den Einrichtungen für 0-3-Jährige ein Rahmenkonzept zu liefern, innerhalb dessen sich die Erzieher auf der Basis von wissenschaftlich gesicherten Informationen, professionell gestaltend verhalten können. Diese Arbeit soll die Spontaneität und Individualität der Handlungsweisen von pädagogischen Fachkräften im Kleinstkindbereich durch empirisch gesicherte Erkenntnisse ergänzen und in professionelles, begründbares Verhalten überführen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1 Einleitung
2 Kleinstkindbetreuung in Deutschland
2.1 Entstehungsgeschichte der Kinderkrippen in Deutschland
2.2 Einfluss pädagogischer Theorien und Modelle
2.3 Versorgungsqualität von Kleinstkindern in Deutschland
2.4 Gesetzliche Rahmenbedingungen
3 Theorien der frühkindlichen Entwicklung
3.1 Wahrnehmung als Grundlage der Interaktion
3.2 Neuronale Entwicklungen als Grundlage kognitiver Fähigkeiten
3.3 Aspekte der Primärsozialisation
3.3.1 Definition
3.3.2 Soziabilität von Anfang an
3.3.3 Frühkindliche Interaktionsformen
3.3.4 Die Bedeutung der frühkindlichen Peer-Beziehungen
3.3.5 Förderung der sozialen Entwicklung und der Peer-Interaktionen
3.4 Physische Entwicklung des Kleinstkindes
3.4.1 Motorische Entwicklung in den ersten drei Lebensjahren
3.4.2 Die Bedeutung von Bewegung
3.4.3 Psychomotorische Überlegungen und Erkenntnisse
4 Anforderungen an Tageseinrichtungen für Kleinstkinder
4.1 Ergebnisse aus der bindungstheoretischen Diskussion
4.1.1 Die Bindungstheorie Bowlbys
4.1.2 Bedeutung der Bezugspersonen und Bindungssicherheit
4.1.3 Die Eingewöhnung als Qualitätskriterium in der außerfamilialen Kleinstkindbetreuung
4.2 Sprache – Bedeutung, Bestandteile, Voraussetzungen und Entwicklung
4.2.1 Bedeutung des Spracherwerbs
4.2.2 Komponenten des Spracherwerbs
4.2.3 Voraussetzungen des Spracherwerbs
4.2.4 Sprachentwicklung
4.3 Zur Ontogenese der Identität
4.3.1 Definition
4.3.2 Grundvoraussetzungen der Identitätsbildung
4.3.3 Der Körper als Grundlage der Selbsterkenntnis
4.4 Frühkindliche Bildung – Überlegungen
4.4.1 Der Bildungsbegriff
4.4.2 Autopoiesis
4.4.3 Ein frühkindliches Bildungskonzept
5 Pädagogische Modelle
5.1 Pädagogisches Curriculum aus Schweden
5.2 Das Konzept der Early Excellence Centres aus Großbritannien
5.3 Der situationsorientierte Ansatz als vorherrschendes pädagogisches Konzept deutscher Kindergärten
5.3.1 Pädagogische Zielorientierung
5.3.2 Grundlagen und Entwicklung des Ansatzes
5.3.3 Die Bedeutung von und der Umgang mit Situationen
5.3.4 Bestandteile des pädagogischen Konzepts
5.3.5 Übertragung auf die Altersgruppe der unter Dreijährigen
5.4 Das pädagogische Modell aus Reggio-Emilia
5.4.1 Historische Entwicklung und Erklärung des Begriffs
5.4.2 Die Bedeutung der kindlichen Wahrnehmung
5.4.3 Die Bedeutung eigener kindlicher Erfahrungen
5.4.4 Die Bedeutung der individuellen Wertschätzung
5.4.5 Besonderheiten des Konzepts
5.4.6 Reggio-Pädagogik für Kleinstkinder?
5.5 Das Konzept Emmi Piklers
5.5.1 Historisch-biographische Entwicklung des Konzepts
5.5.2 Der kompetente Säugling
5.5.3 Beziehungen als Grundlage der frühkindlichen Entwicklung
5.5.4 Die selbständige Bewegungsentwicklung und ihre Bedeutung
6 Rahmenbedingungen für ein Konzept zur Betreuung und Förderung von 0-3-jährigen Kindern in Tageseinrichtungen
6.1 Präambel
6.2 Zielsetzung
6.3 Kontext der frühkindlichen Förderung
6.3.1 Erfüllung kindlicher Grundbedürfnisse
6.3.2 Sichere Bindungsrepräsentation
6.3.3 Soziale Kontakte
6.3.4 Komplexe Erfahrungen
6.4 Fortführende Überlegungen
7 Fazit und Schlussbetrachtung
8 Literaturverzeichnis
Vorwort
„Wenn Menschen anfangen etwas zu schreiben, glauben sie, dass sie etwas Bestimmtes schreiben müssen…ich glaube, dass diese Haltung fatal ist. Die Einstellung, die man zum Schreiben haben sollte, lautet: ‚Ich habe eine ziemlich interessante Geschichte zu erzählen. Ich hoffe, jemand interessiert sich dafür. Jedenfalls ist es das Beste, was ich zur Zeit leisten kann.’ Wenn man sich nach diesen Zeilen richtet überwindet man sich und legt los.“[1]
Zumindest für mich hat sich diese Überwindung gelohnt, da ich in Form dieser Arbeit nicht nur eine – hoffentlich - interessante Geschichte erzählen kann, sondern im Laufe ihrer Entstehung, zumindest einen kleinen Teil des spannendsten Geschehens überhaupt kennen lernen durfte. Die Beschäftigung mit den Themen der frühen Kindheit auf der einen Seite und die Beobachtung der kleinen Wunderwerke im Alltag einer Kindertagesstätte auf der anderen Seite, waren ebenso anstrengend wie überwältigend.
Während ich kindliche Verhaltensweisen anfangs noch als selbstverständlich hinnehmen konnte, führte mein aufschlussreicher aber doch verhältnismäßig kurzer Weg vorbei an kompletter Ver wunderung zur anerkennendsten Be wunderung überhaupt.
Im Vergleich zu den Leistungen eines Kindes in den ersten drei Lebensjahren war die Erstellung dieser Diplomarbeit vermutlich ein Spaziergang.
Stuttgart, den 12. März 2003
1 Einleitung
In den Medien wurde im Laufe der letzten Monate immer wieder die explizite oder implizite Forderung, nach einer außerfamiliären Betreuungsform für Kinder unter drei Jahren, gestellt. Die Bereitstellung eines bedarfsgerechten Platzangebots in den Tagesstätten wird im Zusammenhang mit der Verbesserung der Chancengleichheit, mit der finanziellen Sicherung der Familien, mit der fehlenden Wahlmöglichkeit für Alleinerziehende oder, wie in jüngster Zeit, mit dem volkswirtschaftlichen Nutzen gefordert. Zwei Aspekte werden in der öffentlichen Diskussion allerdings nur wenig berücksichtigt: (1) Obwohl die oben genannten Gründe den Ausbau der Betreuungsplätze für 0-3-Jährige zwar hinreichend rechtfertigen würden, gehen sie lediglich von den Bedürfnissen und Wünschen der Erwachsenen aus. Für die Kleinsten scheint nach wie vor die Erziehung in der Familie die pädagogisch beste Lösung zu sein. Diese Einstellung kann so nicht mehr gelten, da die Realität der Familie heute großenteils nicht mehr mit dem klassischen Bild der Kleinfamilie, bestehend aus Mutter, Vater und mehreren Kindern übereinstimmt. Die pädagogischen Motive einer außerfamiliären Betreuung in Tageseinrichtungen verdienen meiner Ansicht nach wesentlich mehr Beachtung. Anspruch dieser Arbeit ist es daher nicht, den Bestand und die Erweiterung entsprechender Einrichtungen zu rechtfertigen.[2] Vielmehr möchte ich die außerfamiliäre Betreuungsform als wertvolle Alternative und Ergänzung voraussetzen, deren Anspruch über eine Definition als eine Kompromisslösung zur Kompensation des postmodernen, gesellschaftlichen Wandels - den man in Kauf nehmen muss - klar hinausgeht. (2) Ebenso stiefmütterlich beachtet werden die konkreten pädagogischen Forderungen an Betreuungsarrangements für Kleinstkinder. Ziel dieser Arbeit ist es aus diesem Grund, den Einrichtungen für 0-3-Jährige ein Rahmenkonzept zu liefern, innerhalb dessen sich die Erzieher[3] auf der Basis von wissenschaftlich gesicherten Informationen, professionell gestaltend verhalten können. Diese Arbeit soll die Spontaneität und Individualität der Handlungsweisen von pädagogischen Fachkräften im Kleinstkindbereich durch empirisch gesicherte Erkenntnisse ergänzen und in professionelles, begründbares Verhalten überführen.
Um die ursprünglichen Voraussetzungen der Kleinstkindbetreuung aufzuzeigen, werden im zweiten Kapitel die Rahmenbedingungen seit der Entstehung der ersten Einrichtungen aufgezeigt. Der erste Teil beschäftigt sich daher mit den Entstehungsbedingungen der ersten Kinderkrippen in Deutschland und deren Weiterentwicklung. Krippen waren im 18. Jahrhundert die einzige außerfamiliäre Betreuungsform für 0-3-Jährige. Da die Bezeichnung praktisch und unmissverständlich ist, wird die Begrifflichkeit „Krippe“ (auch in der Verwendungsform Krippenkinder) im Verlauf der Arbeit teilweise beibehalten, wenngleich Kleinstkinder heute sowohl in Krippen, als auch in altersgemischten Tageseinrichtungen betreut werden. Der zweite Teil des Kapitels widmet sich dann den aktuellen Voraussetzungen für die Betreuung von Kleinstkindern, zum einen durch einen Diskurs über die aktuelle Versorgungsqualität, zum anderen durch die Betrachtung und Interpretation von Landes- und Bundesgesetzen.
Kapitel drei betrachtet die natürlichen Entwicklungsbereiche von Kleinstkindern.
Exkurs: Kleinstkinder sind im Sinne dieser Arbeit Kinder zwischen null und drei Jahren, die zum Teil auch dem jeweiligen Alter entsprechend synonym mit den Begriffen Neugeborene, Säuglinge, Babys oder Krippenkinder bezeichnet werden. Dieselbe Verwendung findet der Begriff der frühen Kindheit. Kleinkinder bezeichnen eher die Altersgruppe der 1 ½- bis 5-Jährigen.
Die wesentlichen Bereiche der frühkindlichen Entwicklung – Sensorik, Kognition, Soziabilität und Motorik – werden in Kapitel drei betrachtet und im vorliegenden Kontext die Aspekte herausgestellt, die bei der Betreuung in Tageseinrichtungen berücksichtigt werden müssen.
Daran schließt das vierte Kapitel an, indem es die spezifischen Anforderungen an Tageseinrichtungen gesondert bearbeitet. Auf der Grundlage der frühkindlichen Bedürfnisse ergeben sich Anforderungen, die sich insbesondere an Einrichtungen für Kleinstkinder richten, wie beispielsweise die Gestaltung der Eingewöhnungssituation zur Sicherung der Bindungsbeziehung. Auch die Förderung des Spracherwerbs ist eine solch wesentliche Aufgabe, die ausführlich beschrieben und erklärt wird. Ebenso die Entwicklung der kindlichen Identität als Voraussetzung sozialer Erfahrung und der Möglichkeit zur Bildung. Wie die Ansprüche des Bildungsauftrags an Kindertageseinrichtungen (§ 22, SGB VIII) konkret interpretiert und umgesetzt werden könnten, wird abschließend vorgeführt und erläutert.
Im fünften Kapitel werden zunächst Ideen aus den Bildungsplänen Schwedens und Großbritanniens als zwei internationale Beispiele aus dem Bereich der frühkindlichen Bildung und Erziehung vorgestellt. Nachfolgend werden zwei ausgewählte Modelle der Pädagogik, anhand ihrer konkreten Umsetzung in Tageseinrichtungen für Kleinstkinder auf ihre Tauglichkeit hin überprüft. Dazu werden zuerst die wichtigsten Grundsätze und Annahmen vorgestellt und dann mit den Erkenntnissen aus den vorangehenden Kapiteln abgestimmt. Weil pflegerischen Situationen in der Kleinstkindbetreuung eine wesentliche Bedeutung zukommt, wurde als Letztes noch ein pädagogisches Modell ausgewählt, das die Pflegeaspekte in seinen Ansätzen und Inhalten als wichtigen Punkt verankert und integriert.
Im sechsten Kapitel werden aus den gewonnenen Erkenntnissen der entwicklungstheoretischen Betrachtung, den besonderen Anforderungen, die an die Einrichtungen gestellt werden und aus internationalen und nationalen pädagogischen Modellen die wesentlichen Faktoren extrahiert. Aus diesen Folgerungen ergibt sich die Entwicklung der benötigten Rahmenbedingungen für ein Konzept zur Betreuung und Förderung von 0-3-jährigen Kindern in Tageseinrichtungen. Dieses enthält neben fundierten Angaben zu Bereichen der frühkindlichen Förderung, einen weiterführenden Ausblick, der Maßnahmen der Umstrukturierung und weitere gesellschafts-kulturelle Anforderungen diskutiert.
2 Kleinstkindbetreuung in Deutschland
Nach den Entstehungsbedingungen der ersten Einrichtungen für 0-3-Jährige in Deutschland wird deren Weiterentwicklung unter Berücksichtigung der pädagogischen Reformen im 19. und 20. Jahrhundert betrachtet. Wesentliche Strömungen und Erkenntnisse dieser Zeit werden aufgezeigt und mit den Neuerungen im Bereich der Kleinstkindbetreuung verglichen. Anschließend werden die Einrichtungen zum aktuellen Zeitpunkt auf Qualität und Quantität hin betrachtet. Gründe für Unterschiede und Veränderungen in Ost- und Westdeutschland werden aufgezeigt und erläutert. Um die Aktualität der Arbeit herauszustellen, werden abschließend die aktuellen gesetzlichen Vorgaben präsentiert, erläutert und diskutiert.
2.1 Entstehungsgeschichte der Kinderkrippen in Deutschland
Die Notwendigkeit zur Eröffnung der ersten Kinderkrippen ergab sich aus den Folgen der Industrialisierung. Vornehmlich in Familien aus der Arbeiterschicht, in der beide Elternteile einer ganztägigen außerhäuslichen Berufstätigkeit nachgingen, stellte sich das Problem der Kinderbetreuung. Die Geburt eines Kindes führte zunächst automatisch zum Verlust einer verdienenden Arbeitskraft, was dann finanziell so schnell wie möglich wieder kompensiert werden sollte und musste. Die Mutter begann demnach bald wieder zu arbeiten, wenngleich die Kinder währenddessen zu Hause nahezu sich selbst überlassen waren. Die Missstände wurden schließlich an der zunehmenden Verwahrlosung der Kinder und an einer immens hohen Säuglingssterblichkeit sichtbar. „1779 gründete Pfarrer Oberlin in Waldersbach eine ‚Aufbewahrungsanstalt’, die Säuglinge und Kleinstkinder bis zum 4. Lebensjahr tageweise versorgte.“[4] Erst über 70 Jahre später wurden dann in Dresden, Berlin, Frankfurt, Hamburg, München und Nürnberg die ersten Kinderkrippen nach französischem Vorbild gegründet.[5]
Beller zufolge lässt sich die Krippeneinrichtung durch einen dreifachen Zweck begründen:
“einen bevölkerungspolitischen, der Sterblichkeit von Kindern entgegenzuwirken, einen ökonomischen, die Erhaltung der Arbeitskraft der Mutter, die für den Produktionsprozeß notwendig war und einen moralischen, nämlich die Gewährleistung der sittlichen, schichtspezifischen Erziehung des Kindes.“[6]
Von Anfang an definierte sich die Krippe allerdings über ein widersprüchliches Selbstverständnis. Die Familien sollten durch die Krippen bei der Erziehungsarbeit unterstützt werden, da man den Frauen aus der Unterschicht die Fähigkeit ihre Kinder moralisch, sittlich, ordentlich und strebsam zu erziehen absprach. Gleichwohl war man der Meinung, dass es für die Kinder das Beste sein musste, der Krippe so oft wie möglich fern zu bleiben. Die Pflegerinnen orientierten sich sogar am idealisierten Mutterbild als pädagogisches Modell. Man übersah offensichtlich die exorbitanten Unterschiede zwischen dem Ideal und der Realität der Familie.[7] Des Weiteren verurteilte man die Einrichtungen auf der einen Seite, weil sie die Mutter-Kind-Bindung schwächen könnten, auf der anderen Seite waren es ja gerade die Kinder, denen eine angemessene Betreuung durch die Mutter schon vor dem Besuch fehlte, die in den Krippen vor der völligen Verwahrlosung geschützt werden sollten. Unter diesen Voraussetzungen waren die Einrichtungen ein Notbehelf, der in seiner Funktion stets „pflegerisch und nicht pädagogisch definiert war.“[8] Dass die Einrichtungen sogar annähernd frei von pädagogischen Maximen waren, wie wir sie beispielsweise aus heutigen Kindergärten kennen, lässt sich anhand der folgenden Betrachtungen nachweisen.
Obwohl es ein erklärtes Ziel war, die Eltern hinsichtlich der Erziehung und Pflege ihrer Kinder weiterzubilden, waren die Institutionen nach außen völlig geschlossen. Die beiden Lebensräume der Kinder waren klar voneinander getrennt, da das Kind an der Türe abgegeben und dort später auch wieder entgegengenommen wurde. Gespräche zwischen den Eltern und den Pflegerinnen fanden praktisch nicht statt, da die Mütter durch die Leiterin informiert und aufgeklärt wurden, die wiederum mit der Kinderbetreuung nichts zu tun hatte. Die pädagogischen Inhalte beschränkten sich darauf, das Kind zu „Liebe und anstrengender Arbeit, zu einem einfachen, anspruchlosen Leben und zu solchen sittlichen Eigenschaften wie Pünktlichkeit, Dienstfertigkeit, Mäßigung, Dankbarkeit, Gehorsam und Freude an nützlicher Tätigkeit“[9] zu erziehen. Deshalb waren die Einrichtungen auch so spärlich wie möglich ausgestattet, um sicher zu gehen, dass die Kinder nicht mit Luxus verwöhnt würden, den sie zu Hause sowieso nicht besaßen und niemals besitzen würden. Um die Erkrankungsrate gering zu halten, war allenfalls die Einhaltung hygienischer Standards wichtig, nicht aber die Berücksichtigung von pädagogischen Überlegungen. Üblich war die Einteilung in drei altershomogene Gruppen, die sich in den jeweiligen Räumen für „Säuglinge, ‚Kriechlinge’ und ‚Gehlinge’“[10] aufhielten.
2.2 Einfluss pädagogischer Theorien und Modelle
Der Großteil der pädagogischen Reformbewegungen im 19. Jahrhundert ging an den Kinderkrippen fast spurlos vorüber. „Die Pädagogik Pestalozzis für die Mutter war für die ersten drei Lebensjahre ihres Kindes bestimmt.“[11] Im Grunde genommen bestärkte Pestalozzi in seinen Ausführungen gar die negativsten Seiten der Krippen. Die Erziehung getrennt nach Standeszugehörigkeit, die von Anfang an in allen Einrichtungen praktiziert worden war, gehörte ebenso zu seinen Auffassungen, wie die strenge Disziplinierung des Kindes und seine unbedingte Erziehung zur Folgsamkeit.[12] Auch Fröbel klammerte die Krippen aus seiner pädagogischen Sichtweise aus und setzte damit den Grundstein für eine klare Abgrenzung zwischen der Kinderbetreuung für Säuglinge und für Kinder unter drei Jahren und Kleinkinder über drei Jahren. Während sich der Kindergarten bis heute zu einer Institution entwickeln konnte, die aus dem deutschen Bildungssystem nicht mehr wegzudenken ist, stehen die Krippen aktuell in keinem viel besseren Licht als noch vor 100 Jahren. Besonderen Einfluss auf die Qualität des Kindergartens hatte Fröbels Theorie des Spiels, die in Zusammenhang mit der Ausbildung der kindlichen Sprache steht. Zuvor ist „das Innere noch eine ungegliederte Einheit“[13], die pädagogisch weder bearbeitet werden kann, noch soll.
Die ersten wesentlichen Änderungen in der Krippenpädagogik sind deshalb auf die Erkenntnisse der psychoanalytischen Pädagogik zurückzuführen. Erstmalig rückten Säuglinge und Kleinstkinder ins Blickfeld pädagogischer Interessen und wurden Gegenstand einiger Untersuchungen über die frühkindliche Entwicklung. So lieferte Vera Schmidt mit dem Ergebnis ihrer Untersuchungen mit 1-5-jährigen Kindern Anfang der 20er Jahre in Moskau einen wichtigen Beitrag zur besseren Ausbildung der Erzieherinnen.[14] Auf psychoanalytischer Basis wurde die reziproke Beeinflussung kindlicher Verhaltensweisen und erwachsener Handlungen erforscht und ihre Wichtigkeit herausgestellt. Die Bedeutung pädagogischer Inhalte im Umgang mit Kleinstkindern wächst und macht die professionelle Ausbildung der Krippenerzieher notwendig.
Einen ebenso wichtigen Beitrag für die Weiterentwicklung der Krippenpädagogik liefert Nelly Wolffheim. Die Definition der Krippe als reiner Notbehelf wird von ihren Erkenntnissen determiniert, indem sie erstmalig die Gruppenerfahrungen als positives Element der außerfamiliären Erziehung herausstellt. „Für das Kind bietet die Gruppe von anderen Kindern eine neue Quelle sozialen Vertrauens und Selbstvertrauens, während die Erzieherin für die Mutter eine Gelegenheit bieten mag, die Belastung zu einer starken Bindung an ihr Kind zu verringern.“[15]
Ausgehend von den Schriften der Frankfurter Schule und der Studentenbewegung um Adorno, Horkheimer und Mabuse entfaltete sich eine wahre Reformbewegung in der Kleinstkindpädagogik. Als Gegenstück zu den autoritären und direktiven Krippen und Kindergärten wurden die Kinderläden initiiert, die einen „repressionsarmen“[16] Erziehungsstil vertraten. Im Sinne der Kollektiverziehung öffneten sich die Betreuungseinrichtungen nach außen und wurden in die Gemeinde als Teil des öffentlichen Lebens integriert. Auch der pädagogische Diskurs hinsichtlich der Erzieher-Kind-Beziehung wurde fortgeführt und weiterentwickelt. Das Kind wurde zunehmend als aktiver Partner im Erziehungsprozess verstanden, der Entwicklungsimpulse selbst setzt und dahingehend gefördert werden möchte. Diese Aufgabe stellt sich den Eltern ebenso wie den professionellen pädagogischen Einrichtungen, im Optimalfall wird sie von beiden kooperativ bearbeitet. Eltern werden bewusst in die „Gestaltung der Erfahrungswelt ihrer Kinder in der Kindergruppe“[17] eingebunden, um die strikte Trennung der kindlichen Lebenswelten mehr und mehr aufzulockern.
Daraus ergibt sich eine steigende Legitimation der Krippen, die in der Kleinstkinderziehung ergänzend wichtige Funktionen übernehmen können, welche die Herkunftsfamilie allein nicht erfüllen kann. Durch die Gruppenerfahrungen wird der Alltag der Kinder bereichert und erfährt nicht, wie bisher angenommen, automatisch eine Einschränkung.
Ein weiterer grundlegender Schritt in der Verbesserung der pädagogischen Qualität in den Einrichtungen für Kleinstkinder ist die Arbeit von Kuno E. Beller an der Freien Universität Berlin. Seit 1988 gibt es dort die Studienrichtung „Kleinkindpädagogik“, die „Eigenart der Entwicklungs- und Lernprozesse in der frühen Kindheit“[18] untersuchen und „dem Bedarf nach wissenschaftlich qualifizierten Kräften in diesem Bereich Rechnung tragen und damit die Erziehung in früher Kindheit stärker zum Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Arbeiten machen“[19] möchte. Die akademische Anerkennung des eigenen Arbeitsbereichs der 0-5-Jährigen und die weitläufigen internationalen Fortschritte auf diesem Gebiet sorgen bis heute für eine fortschreitende Entwicklung. Großen Einfluss auf die Kleinstkindpädagogik nahmen die Erkenntnisse aus Reggio Emilia in Italien ebenso wie die Auffassungen Emmi Piklers aus Ungarn. Beide Modelle werden im fünften Kapitel näher erläutert, trotzdem sollen hier kurz die gemeinsamen Grundzüge dargestellt werden.
Große Bedeutung hat die Achtung vor dem Kind als eigenständige Person, die von Geburt an die nötigen Kompetenzen und Fähigkeiten besitzt um zu lernen.[20] Es ist Aufgabe des Erziehers herauszufinden, an welcher Stelle das Kind im Moment Hilfe benötigt oder in anderen Worten, auf welchem Entwicklungsniveau es sich im Moment befindet. Der nun häufig praktizierte Erziehungsstil kann als demokratisch, empathisch, emotional und bedürfnisorientiert beschrieben werden.
2.3 Versorgungsqualität von Kleinstkindern in Deutschland
Nach wie vor hat es die außerfamiliäre Kleinstkindbetreuung schwer, sich in der deutschen Gesellschaft zu etablieren. „Während Kindergärten inzwischen als ergänzende Einrichtungen der sozialen und kognitiven Förderung akzeptiert werden, kämpfen vor allem Krippen (...) immer noch um die gesellschaftliche Anerkennung ihres Auftrags.“[21] Die Entwicklungsgeschichte ist daran nicht unbeteiligt, die vielfältigen Widersprüche in der Betrachtung und im Selbstverständnis der Krippen wurden bereits an früherer Stelle aufgezeigt.
Gegenwärtig gibt es in Deutschland 166.927 verfügbare Plätze für Krippenkinder, was einem Versorgungsgrad von ca. 7% aller Kleinstkinder entspricht.[22] Das Ost-West-Gefälle ist dabei ebenso wesentlich, wie die regionalen Unterschiede, insbesondere zwischen Stadt und Land. So sind in Ost-Berlin 52,4% der 0-3-Jährigen in außerfamiliären Betreuungseinrichtungen untergebracht, während in Baden-Württemberg nur eine Auslastung von 1,3% erreicht werden kann.[23] Hintergrund dieser bemerkenswerten Diskrepanzen ist die unterschiedliche Entwicklung des Krippenwesens in Ost- und Westdeutschland. In der ehemaligen DDR wurde der Ausbau stark forciert, um den jungen Müttern die Erwerbstätigkeit zu ermöglichen und damit ihre Gleichberechtigung mit dem Mann sicherzustellen. Die Krippen, die dem Gesundheitswesen unterstellt und zuerst vordergründig an medizinischen und pflegerischen Aspekten orientiert waren, begründeten später beispielsweise im „Programm für die Erziehungsarbeit in Kinderkrippen“, wo vor allem das Ziel verfolgt wurde, das Kind auf die sozialistische Arbeitswelt vorzubereiten, ihr Interesse an pädagogischen Themen für Kleinstkinder.[24]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In anderen Ländern, wie zum Beispiel in Frankreich oder Belgien, wo die Versorgungsquote der unter Dreijährigen jeweils mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland ist und bei ca. 20% liegt, wurde die Kleinstkinderziehung ins Bildungswesen integriert.[25] Spitzenreiter im internationalen Vergleich des Angebots an Krippenplätzen ist allerdings Dänemark mit einem Platzangebot für 40 von 100 Kleinstkindern.[26] Trotzdem nimmt die Betreuung der unter Dreijährigen im gesamten europäischen Raum eine stiefmütterliche Stellung gegenüber den anderen vorschulischen und schulischen Bildungs- und Betreuungsangeboten ein, wenngleich durch die neuen Entwicklungen des sozialen Wandels eine Veränderung praktisch unausweichlich zu sein scheint. Im Folgenden sollen nur kurz und ohne Anspruch auf Vollständigkeit die wichtigsten Merkmale der aktuellen und zukünftigen kindlichen Lebenswelt dargestellt werden:
- Pluralisierung familialer Lebensformen (Patchworkfamilie, Alleinerziehende,…) und damit Rückgang der Kernfamilien (Mutter, Vater, Kinder)
- Rückgang einer stabilen, finanziell und emotional belastbaren Familienstruktur, die die angemessene Erziehung des Kindes in den ersten drei Lebensjahren sicherstellen könnte
- Anstieg der emotionalen Wertigkeit, die Kinder für ihre Eltern besitzen und damit die Gefahr, dass Kinder „als Substitut emotionaler Bedürfnisse oder (prospektiver) Erwartungen der Eltern funktionalisiert werden.“[27]
- Zunahme der mütterlichen Berufstätigkeit im Zuge von längeren Ausbildungszeiten und Gender Mainstream
- Geringe Geschwisterzahlen innerhalb einer Familie und „damit implizierte Reduzierung von Sozialkontakten“[28]
- Zunahme an finanziellen Belastungen der Eltern durch die Aufgabe der mütterlichen Berufstätigkeit, die Geburt eines Kindes und die allgemeine Inflationsrate
- „Verinselung“[29] kindlicher Lebensräume und damit Einschränkung der kindlichen Handlungsmöglichkeiten, die nur auf bestimmte Räume begrenzt sind
Neben weiteren, in dieser Arbeit vernachlässigten Veränderungen kindlicher Lebenswelten, setzen die oben genannten Punkte eine Neudefinition der außerfamiliären Betreuungsform für Kleinstkinder voraus, um in den nächsten Jahren den Aufgaben des gesellschaftlichen Wandels nachkommen zu können. „Eine Frühpädagogik, die sich dem demokratischen Postulat einer ‚offenen Gesellschaft’ verpflichtet fühlt und sich auch in der Frage der Gewichtung von Familien- und Berufsaufgaben am Prinzip der Wahlfreiheit orientiert, wird sich insofern fragen müssen, welchen Beitrag sie zu leisten hat, damit Eltern mit Kindern so leben können, dass ein Miteinander und kein Gegeneinander entsteht, dass der Vielfalt an familialen Lebensformen eine pädagogisch verantwortete Vielfalt an institutionellen und privaten Betreuungsangeboten gegenübersteht.“[30] Betont werden soll in dieser Arbeit vor allem der pädagogische Vorteil, den die Ergänzung einer außerfamiliären Kleinstkindbetreuung bieten kann, da die gesellschaftliche Akzeptanz und politische Priorität sich aktuell fast ausschließlich auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, nicht aber auf Lern- und Entwicklungschancen für die Kinder stützt. Dies betont auch der Elfte Kinder- und Jugendbericht, indem er wiederholt den Bildungsauftrag, neben dem Betreuungsauftag als tragendes Element der Kindertagesstätten herausstellt und den zunehmenden „Aufbau eines flächendeckenden und bedarfsgerechten Angebots an Kindertageseinrichtungen (…) und die Bereitstellung eines entsprechenden Angebots (…) weit über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Männer und Frauen hinaus“[31] fordert.
2.4 Gesetzliche Rahmenbedingungen
Welche Bedeutung der Krippenbetreuung beigemessen wird macht das, am 1.Januar 1991 in Kraft getretene SGB VIII in den Paragraphen 22 ff. „Grundsätze der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen“ deutlich:
„§22 (1) In Kindergärten, Horten und anderen Einrichtungen, in denen sich Kinder für einen Teil des Tages oder ganztags aufhalten (Tageseinrichtungen), soll die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gefördert werden. (2) Die Aufgabe umfasst die Betreuung, Bildung und Erziehung des Kindes. Das Leistungsangebot soll sich pädagogisch und organisatorisch an den Bedürfnissen der Kinder und ihren Familien orientieren.“[32] (Herv. durch den Verf.)
Die Krippenbetreuung wird explizit im Gesetzestext gar nicht erwähnt, sondern fällt unter die Bezeichnung „andere Einrichtungen“. Und während der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für alle Kinder in §24 SGB VIII begründet und proklamiert wird, bleibt es den Bundesländern zunächst frei gestellt, überhaupt Plätze im Krippenbereich einzurichten.[33] Daran lässt sich ablesen, dass der außerfamilialen Kleinstkindbetreuung in Deutschland bis heute keine große gesellschaftliche Relevanz beigemessen wird.
Eine Veränderung diesbezüglich scheint sich allerdings langsam abzuzeichnen. Baden-Württemberg, im bundesdeutschen Vergleich Schlusslicht der Versorgungsquote der 0-3-Jährigen, drückt dies im Gesetzesentwurf zur Novellierung des Kindergarten-Gesetzes vom 15.März 1999 aus. Die wesentlichen Neuerungen sollen hier nur stichwortartig wiedergegeben werden, eine vollständige Aufzählung findet sich in der veröffentlichten Synopse des Sozialministeriums Baden-Württemberg vom 10.Dezember 2002.[34]
- Erweiterung der Überschrift:
“Gesetz über die Betreuung von Kindern in Kindergärten, anderen Tageseinrichtungen und der Tagespflege (Kindergartengesetz KGaG)“
- Erweiterung des Geltungsbereichs und der Begriffsbestimmungen:
§ 1 Abs.1 KGaG (Regierungsentwurf, voraussichtlich gültig ab dem 1.1.2004)
“Dieses Gesetz gilt für Kindergärten, Tageseinrichtungen mit altersgemischten Gruppen, Kleinkindbetreuung (Betreuung in Kinderkrippen) und Tagespflege.“
§ 1 Abs.6 KGaG (Regierungsentwurf, voraussichtlich gültig ab dem 1.1.2004)
“Die Kleinkindbetreuung im Sinne dieses Gesetzes (Betreuung in Kinderkrippen) erfolgt in Einrichtungen von Trägern der freien Jugendhilfe, Gemeinden und Zweckverbänden zur Förderung der Entwicklung von Kindern bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres.“
- Bestimmung des pädagogischen Auftrags von Krippen:
§ 2 Abs.1 KGaG (Regierungsentwurf, voraussichtlich gültig ab dem 1.1.2004)
“Die Tageseinrichtungen im Sinne von §1 Abs.2 bis 4 und 6 (…) ergänzen und unterstützen die Erziehung des Kindes in der Familie. Ihre Aufgabe umfasst die Betreuung, Bildung und Erziehung des Kindes zur Förderung seiner Gesamtentwicklung.“
- Ergänzung der finanziellen Unterstützung für Einrichtungen der Kleinstkindbetreuung durch den Erlass von Richtlinien:
“Das Land unterstützt Träger von Einrichtungen zur Kleinkindbetreuung (Betreuung in Kinderkrippen) durch die Gewährung von Zuwendungen. Zweck der Zuwendungen ist eine pauschale Beteiligung des Landes an den Betriebskosten der Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres.“[35]
Diese Verankerung, nicht im Gesetz selbst, sondern in Richtlinien des Sozialministeriums ist sachgerecht, da auf das Vorhalten der Betreuungsform für Kleinstkinder nach wie vor kein Rechtsanspruch besteht.
Das KGaG vom 15.März 1999 ist allerdings in seiner Fassung durch die Änderung des § 8 Zuschüsse für Gruppen KGaG aktuell bis zum 31.Dezember 2003 verlängert. Danach treten die oben genannten Neuregelungen frühestens zum 1.Januar 2004 in Kraft.
Im laufenden Jahr unterstützt das Land Baden-Württemberg jedoch unabhängig davon erstmalig Einrichtungen der Kleinstkindbetreuung mit einem pauschalierten Zuschuss durch den 10% der laufenden Betriebskosten abgedeckt werden sollen.[36] Dies scheint im Hinblick auf die Bedarfsplanung in der Tagesbetreuung ausreichend begründet, wo „für den Kleinkindbereich (…) von einem Bedarf von 10 bis 15%“[37] ausgegangen wird, aktuell aber nur 1,3% erreicht werden.
3 Theorien der frühkindlichen Entwicklung
Dieses Kapitel beschreibt den Entwicklungsstand 0-3-jähriger Kinder, der in einem Konzept der frühkindlichen Tagesbetreuung berücksichtigt werden muss. Entscheidende Kategorien sind dabei die Aspekte frühkindlicher Wahrnehmung, die neuronalen Entwicklungen, die zur Ausdifferenzierung der kognitiven Strukturen führen, die Faktoren der Primärsozialisation, die das Kind zu einer selbstbewussten, gemeinschaftsfähigen Person machen, sowie die körperliche Entwicklung. Die ganzheitliche Persönlichkeit des Kleinstkindes im Zentrum eines sozialpädagogischen Konzepts, kann nur durch die Integration aller vier Entwicklungsbereiche formuliert werden.
3.1 Wahrnehmung als Grundlage der Interaktion
Entgegen früherer Annahmen kann man nach dem heutigen Stand der Forschungen davon ausgehen, dass praktisch alle Sinnesempfindungen des Säuglings bei seiner Geburt hinreichend entwickelt sind.[38] Von den ersten Lebenstagen an können Babys Geschmäcker, Gerüche und verschiedene Hautberührungen differenzieren und zusammen mit einem sich ständig weiterentwickelnden auditiven und visuellen Sinnessystem sind damit alle Voraussetzungen der frühkindlichen Wahrnehmung und Interaktion gegeben.[39] Daraus folgend können Neugeborene nicht nur von Anfang an verschiedene Stimmen wahrnehmen, sondern sogar die Stimme der Mutter von anderen unterscheiden.[40] Auch das Sehen verhilft dem Kind bereits in den ersten Monaten, sich in der ‚fremden‘ Welt zurecht zu finden. „Säuglinge kommunizieren mit Gesichtern, nicht mit Glühbirnen oder attraktiven Mustern.“[41] Dies setzt voraus, dass ihr visueller Sinn ihnen von Beginn an Aufschluss über die Frage nach Belebtem oder Unbelebtem, ja gar Menschlichem oder Unmenschlichem gibt. Und genau darauf ist die Sehfähigkeit des Säuglings spezialisiert: „menschliche Gesichter, die in der Nähe mit ihnen interagieren.“[42] Im Verlauf der ersten sechs Monate differenzieren sich die Sinneswahrnehmungen des Kindes dadurch aus, „dass die Sinnesorgane (bes. die Augen und Ohren) die Reize genauer aufnehmen können und sich präziser auf die Reizquellen ausrichten können.“[43] So unterscheiden sich Kleinstkinder dieses Alters bezüglich ihrer auditiven und visuellen Differenzierungsfähigkeit kaum mehr von Erwachsenen.[44]
Wesentlicher als die Aspekte der bloßen Reizaufnahme über die entsprechenden Sinnesorgane ist allerdings ihre Verarbeitung durch kognitive Prozesse, mit dem Ergebnis der Wahrnehmung. „Durch unsere Wahrnehmung erhalten wir Aufschluß über unsere Umwelt und auch über uns selbst. Alles, was wir wissen, ist über unsere Sinnesorgane zu uns gelangt.“[45] Die frühkindliche Bildung des Kleinstkindes ist somit auf die eigenen Wahrnehmungen des Kindes angewiesen. Der Zusammenhang zwischen frühen Wahrnehmungsvorgängen und der Entwicklung des Gehirns, sowie des gesamten neuronalen Systems wird im folgenden Kapitel gesondert bearbeitet.
Wenn man aber davon ausgehen kann, dass das Sinnessystem des Säuglings schon sehr früh in der Lage ist, die verschiedensten Reize aufzunehmen, so stellen sich zwei Fragen: (1) Welchen Filter setzen Kleinstkinder ein, um nicht von zu vielen Reizen überflutet zu werden, die ja eigentlich zu Beginn alle unbekannt und neu sind? Wie schaffen sie es, nur die Reize wahrzunehmen, die die aktuell benötigten Informationen liefern?
Und: (2) Wie ist es den Kindern möglich, die unterschiedlichen Sinneseindrücke aus dem visuellen, dem auditiven, dem taktilen und dem haptischen Bereich zu einem logischen Gesamtbild der Welt zu integrieren? Schließlich geben oft mehrere Reize Informationen über ein und denselben Gegenstand oder Sachverhalt.
(1) „Ohne Wahrnehmungen nach biologisch vorgegebenen und kulturell erweiterten Ordnungen zu strukturieren, kann nichts Bedeutungshaftes in der Welt erkannt werden.“[46] Deshalb rückt vor allem der „Prozess des Filterns, Wählens, Konzentrierens, Hervorhebens, Präzisierens, welcher der Wahrnehmung ihre subjektive Gestalt gibt, in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit.“[47] Prof. Dr. Schäfer sieht die Repräsentation von inneren Bildern und vor allem unseren persönlichen Beziehungen zu diesen Objekten und Personen als Erklärungsmodell für frühkindliche Wahrnehmungsvorgänge an. Jede kindliche Handlung und jeder Sinnesreiz ist von einer subjektiven, emotionalen Erfahrung des Kindes mit einem anderen Objekt geprägt und begründet damit eine Beziehung zwischen beiden. „Wenn Kinder eigene Wahrnehmungserfahrungen denken wollen, dann können sie nicht irgendwelche abstrakten und scheinbar in uns eingebauten Denkkategorien auf einen ‚sinnlichen‘ Inhalt anwenden.“[48] Die inneren Bilder, die in der Auseinandersetzung mit der Umwelt entstehen, dienen später als Vergleich und Erklärungsmodell, das neue Nachforschungen an die Welt nach sich zieht. Dass bereits Kleinstkinder vor diesem Hintergrund in der Lage sind, aus dem Überfluss an Reizen und Stimuli, die jeweils Wesentlichen zu extrahieren, entspricht auch Daniel N. Sterns Meinung: „Sie haben deutliche Vorlieben und Abneigungen im Hinblick auf die Sinneseindrücke, die sie aufnehmen wollen, und die Wahrnehmungen, die sie bilden. (...) Von Geburt an scheint es ein zentrales Bestreben zur Bildung und Prüfung von Hypothesen über das, was in der Welt geschieht, zu geben.“[49]
(2) Die zweite Frage war, ob bzw. wie Kleinstkinder die sie umgebende Welt als ‚logisches Ganzes‘, als System, als Einheit erleben. Damit gemeint ist die Erfahrung, „dass die Welt, die wir sehen, mit der Welt, die wir hören oder fühlen, identisch ist.“[50] Offensichtlich verfügen bereits Neugeborene über ein Konzept der Welt, über Theorien des Menschseins, ja gar über physikalische, biologische und psychologische Grundkenntnisse. Neueste Erkenntnisse beweisen, dass Säuglinge bereits über ein „Objektkonzept“[51] verfügen, das es ihnen ermöglicht, die Welt nicht als chaotisches Durcheinander von unzähligen, unabhängigen Reizen zu sehen. In unterschiedlichen Versuchsreihen konnte nachgewiesen werden, dass Babys sowohl kausale Zusammenhänge, als auch Konzepte von Bewegung, Entfernung und Geschwindigkeit begreifen. Ebenso irren sie eigentlich nie in der Entscheidung zwischen unbelebten und lebendigen Objekten, was beispielsweise Piagets Theorie des ‚Animisten‘ widerlegt.[52] Auch die Theorie des Kindes als tabula rasa verliert hiermit endgültig an Gültigkeit. „Säuglinge scheinen also dank einer angeborenen, generellen Fähigkeit, (...) die in einer bestimmten Sinnesmodalität aufgenommene Information irgendwie in eine andere Sinnesmodalität übersetzen zu können.“[53] Um welche Fähigkeit es sich dabei im Speziellen handelt, haben die Forscher nicht herausfinden können. Was die generelle Wahrnehmung der Säuglinge angeht, kamen sie jedoch zu greifbaren Erkenntnissen. Neugeborene entwickeln danach „abstrakte Repräsentationen von Wahrnehmungseigenschaften“[54], die sie dann als Handlungskonzept integrieren. Es sind also nicht einzelne akustische, visuelle oder taktile Reize, die vom Säugling wahrgenommen werden, sondern vielmehr „Formen, Intensitätsgrade und Zeitmuster – die eher globalen Merkmale des Erlebens. Und das Bedürfnis sowie die Fähigkeit, abstrakte Repräsentationen von primären Wahrnehmungseigenschaften zu entwickeln und nach ihnen zu handeln (...).“[55]
3.2 Neuronale Entwicklungen als Grundlage kognitiver Fähigkeiten
Der Prozess der Wahrnehmung ist also von externen Stimuli ebenso bedingt wie von der Funktionsweise des Gehirns. Die materiellen Grundvoraussetzungen sind zwar bereits bei der Geburt des Kindes vorhanden, die Ausreifung des Gehirns allerdings setzt sich während des gesamten Lebens fort.[56] Wesentlich ist dabei nicht die Anzahl der Neuronen, die in den ersten achtzehn Lebensjahren von einer Billion auf 100 Milliarden schwindet, sondern die Anzahl der Verknüpfungen zwischen den einzelnen Gehirnzellen, den so genannten Synapsen.[57] Sie beeinflussen schließlich die Leistungsfähigkeit des Gehirns und damit das kognitive Potential des Menschen, wenngleich von einem symmetrischen Zusammenhang nicht die Rede sein kann. Die Ausbildung der Synapsen erfolgt durch regelmäßige Aktivierung bestimmter Neuronenverbindungen im Zuge der kindlichen Aktivität und Erfahrung. „Wire together, if you fire together. Nach diesem Prinzip trifft das Gehirn seine Auswahl, welche Kontakte erfolgreich sind. Werden Nervenzellen häufig gleichzeitig erregt, bleiben die Verbindungen erhalten.“[58] Die Auslese der unzähligen Neuronenverbindungen ist jedoch nicht, wie zu Beginn der neuen Hirnforschung oftmals missverstanden wurde, ein Rückschritt in der Entwicklung des Gehirns, sondern zur Ausreifung bestimmter Gehirnregionen äußerst effektiv. Das so genannte „Synaptic Pruning“[59] sorgt sogar dafür, „dass das hoch spezialisierte Gehirn des Erwachsenen genau auf seine jeweilige Umgebung eingestellt ist.“[60] Im Alter von circa zwei oder drei Jahren haben die Neuronen von Kleinkindern beispielsweise durchschnittlich 15.000 Synapsen ausgebildet und damit ihren Maximalwert erreicht, das Intelligenzniveau eines 40-jährigen Arztes ist trotzdem nicht annähernd vergleichbar.[61] Die Ausreifung des Gehirns zur „Spezialisierung des Denkens und der Fähigkeiten“[62] ist also erst durch die Reduktion der überflüssigen Neuronenverbindungen möglich.
Die Aspekte der neuronalen Entwicklung sind außerdem oft verbunden mit der Ansicht, dass bestimmte Erfahrungen nur in einem sehr begrenzten Zeitraum zur Ausbildung von Synapsen im Gehirn führen. Das Vorhandensein von Entwicklungsfenstern ist zwar für einige Bereiche, wie etwa den Spracherwerb mittlerweile bewiesen, wenngleich vor übertriebenen Reaktionen gewarnt wird.[63] So ist das Gehirn in diesen kritischen Phasen lediglich auf Reize angewiesen, die in normalen menschlichen Umwelten überall zu finden sind, denn was einzelne Forscher unter ‚anregenden’ oder ‚förderlichen’ Umwelten verstehen, lässt sich empirisch allenfalls damit belegen, dass es schädlich ist, die Kinder in einem dunklen Schrank aufzuziehen.[64] Des Weiteren entwickelt sich das Gehirn im Laufe des ganzen Lebens aufgrund vielfältiger Erfahrungen, Bewusstseinsveränderungen und Lernvorgängen, so dass es unwahrscheinlich ist, dass die kritischen Phasen auf viele Bereiche der kindlichen Entwicklung zutreffen. Wesentlicher kann die „Forderung nach der ‚Selbstwirksamkeit’ des Lernens“[65] als Ergebnis der neuen Hirnforschung dazu beitragen, das Gehirn als aktives Organ des Kleinstkindes wahrzunehmen, dass sich selbst hingehend der jeweiligen Bedürfnisse entwickelt. Dabei beeinflussen die Umwelt, die Persönlichkeit und die genetische Disposition die individuelle plastische Ausformung des Gehirns, die sich immer bestmöglich an die äußeren Gegebenheiten anpassen wird.
3.3 Aspekte der Primärsozialisation
3.3.1 Definition
„Sozialisation bezeichnet nach dieser Definition den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundmerkmalen, die für den Menschen die »innere Realität« bilden, und der sozialen und physikalischen Umwelt, die für den Menschen die »äußere Realität« bilden.“[66]
Primärsozialisation meint davon ausgehend die ersten Sozialisationsbedingungen, denen ein Kind zumeist in der Familie begegnet. Im Falle von Kindertageseinrichtungen für Kleinstkinder wird sich herausstellen, dass die institutionelle Betreuung in den ersten drei Lebensjahren die familiäre Sozialisation um wesentliche Faktoren ergänzen kann. Außerdem sind die Einrichtungen dazu in der Lage, die an die Familie gestellten Anforderungen im Primärbereich zum Teil vervollständigend, zum Teil stellvertretend für die Familie, zu erfüllen.
3.3.2 Soziabilität von Anfang an
Die vergangenen Kapitel stellten zuerst die beeindruckenden Fähigkeiten im Bereich der Sensorik und der Reizverarbeitung bei Kleinstkindern dar. Darauf aufbauend wurde auch die Wahrnehmung als ein wesentliches Attribut frühkindlicher Leistungen und als Grundvoraussetzung menschlicher Verhaltensweisen konstatiert. Ein weiteres Element menschlicher Grundkompetenzen ist die Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Umwelt im Sinne der Kommunikation und Interaktion. Auch in diesem Bereich sind die rudimentärsten Fähigkeiten bereits von Anfang an vorhanden. „Der Mensch kommt mit einer natürlichen Tendenz zur Soziabilität zur Welt.“[67] Wenngleich der Säugling in den ersten Tagen und Wochen noch wenig Eigeninitiative in der Interaktion mit seinen Bezugspersonen zeigt, so reagiert er doch bereits auf deren Äußerungen und Zuwendung und ist bereits nach wenigen Wochen zu ersten Nachahmungen von Gesichtszügen in der Lage. Dies bestätigt die These von Gopnik et al., dass Kinder bereits bei ihrer Geburt über ein menschliches Konzept verfügen und sich sofort als Artgenossen erleben. „Indem kleine Kinder die Erwachsenen in ihrer Umgebung nachahmen, lernen sie, wie man sich in der jeweiligen Gesellschaft verhält, (…) in die sie hineingeboren wurden.“[68] Eine weitere Beobachtung aus den vorangegangenen Kapiteln wiederholt sich in der Betrachtung der angeborenen sozialen Fähigkeiten: zwar sind sie von der Entwicklungsstufe eines Erwachsenen, ja sogar eines Schulkindes immens weit entfernt, und doch genügen sie den Anforderungen der ersten Monate in hohem Maße. Die sozialen Möglichkeiten, wie die Vokalisierung durch Schreien und Glucksen, das soziale Lächeln, die ersten Nachahmungen oder die Fähigkeit zwischen menschlichen Gesichtern, ja sogar Kindern und Erwachsenen oder der Stimme der Bezugsperson und fremden Stimmen zu differenzieren, sind zwar „einfache, aber wirkungsvolle Mittel, soziale Kontakte aufzunehmen“[69] und damit die Versorgung durch die erwachsenen Bezugspersonen sicherzustellen. Diese Erkenntnis und vor allem das Zugeständnis an die frühkindlichen sozialen Handlungsmöglichkeiten ziehen eine veränderte Betrachtungsweise der Säuglinge nach sich, die im täglichen Umgang berücksichtigt werden muss. Den Gefühlen des Säuglings muss eine größere Bedeutung und vor allem eine inhaltliche Ausrichtung und Absicht zukommen. Sie müssen als frühkindliche Kommunikationsform geachtet werden, die vom Erwachsenen interpretiert werden muss. Aber der Erwachsene ist nicht der alleinige Gestalter der Interaktionssequenzen bzw. der Beziehung zwischen Säugling und Bezugsperson. Im globalen Sinne meint dies, die Anerkennung einer reziproken Beeinflussung von Kind und sozialer Umwelt.[70] Neueren Untersuchungen zufolge gilt diese These unabhängig vom Alter des Kindes.
3.3.3 Frühkindliche Interaktionsformen
Die ersten Formen frühkindlicher Interaktionen zwischen den Säuglingen und ihren Bezugspersonen bestehen überwiegend aus dem Prinzip der Nachahmung. Das wechselseitige Imitieren von Gesichtsausdrücken oder Körperbewegungen zwischen Erwachsenen und Kleinstkindern stellt die Voraussetzung und zugleich die rudimentärste Form der zwischenmenschlichen Kommunikation dar. Damit verbunden ist die Annahme, dass Kleinstkinder erst in der Lage sind mit anderen Menschen in höhere Interaktionsformen zu treten, wenn sie sich selbst von ihrer Umwelt abgrenzen können. Zu beobachten sind die ersten Formen der frühkindlichen Individuation zwischen dem sechsten und achten Monat als Fremdenangst und Bindungsverhalten.[71] Das Kleinstkind kann sich sowohl gegenüber seinen Bezugspersonen eindeutig und offensichtlich abgrenzen, als auch zwischen unterschiedlichen Menschen differenzieren und seine Erkenntnisse mit seinen emotionalen Bedürfnissen verknüpfen. Deutlich wird dies in der Situation des Fremdelns, wo „die Ausbildung der ersten Zugehörigkeitsgefühle in der Ontogenese zu ihrem Komplement die Abwehr von Nicht-Zugehörigen hat.“[72]
Diese Abgrenzung differenziert sich schließlich in der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme einer anderen Person. Darin manifestiert sich die Grundbedingung schlechthin des menschlichen Handelns, Lernens und des Selbstbewusstseins, denn die „Doppelung (...) des Ich auf sich selbst entwickelt sich, indem man lernt, sich mit den Augen anderer zu sehen.“[73] Da die Entwicklungsschritte bis zum Ergebnis des Rollenwechsels oder der Symbolisierung im ‚als-ob-Spiel‘ zahlreich sind, sollen sie an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden. Eine Beleuchtung der Entwicklung des kindlichen Selbst findet sich allerdings im Kapitel zur kindlichen Identität.
Eine weitere Determinante der kindlichen Interaktionsfähigkeit könnte die Theorie der kommunikativen Fiktion erklären. Sie beruht auf der Vorstellung, dass die erwachsenen Bezugspersonen den Äußerungen und Handlungen des Säuglings von Anfang an eine Bedeutung und damit einen kommunikativen Aspekt zuschreiben. Zusammengefasst: „Die vorgreifende Zuordnung von Kompetenzen durch die Bezugspersonen bringt die Kompetenzen hervor, denen sie vorgreift.“[74]
Die Anfänge einer eigentlichen Interaktion allerdings lassen sich im Alter von acht bis neun Monaten nachweisen, wenn die Kleinstkinder beginnen einen Gegenstand in die Interaktion mit einem Erwachsenen oder einem Altersgenossen einzubeziehen.[75] Bei der so genannten „joint attention“[76] kommunizieren Kind und Erwachsener über einen gemeinsam beachteten Gegenstand als Medium.
Entscheidende Entwicklungen vollziehen sich schließlich im zweiten Lebensjahr des Kindes. Allmählich konkretisieren sich die Vorstellungen des Kindes von den umgebenden sozialen Strukturen und Kommunikationsformen, ebenso wie den innerpsychischen Vorgängen und der „Welt der Vorstellungen und Phantasie.“[77]
Der wesentliche Fortschritt ist allerdings erst durch den Spracherwerb erreicht. Die Sprache als gängiges und häufigstes Kommunikationsmittel unserer Kultur befähigt das Kind schließlich am sozialen Leben teilzunehmen, seine Wünsche und Bedürfnisse zu äußern und die Mitteilungen anderer zunehmend fehlerfrei zu dekodieren.
3.3.4 Die Bedeutung der frühkindlichen Peer-Beziehungen
Die Kontakte zu Gleichaltrigen (sog. Peers) blieben in der Altersklasse der 0-3-Jährigen lange Zeit unberücksichtigt. Man ging davon aus, dass Beziehungen zwischen Kindern niemals die Qualität einer Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen erreichen würden und schloss damit die Bedeutsamkeit dieser besonderen Form der kindlichen Interaktion von vornherein aus.[78] In seinen Untersuchungen konnte Eckermann allerdings 1975 nachweisen, „dass auf allen Altersstufen das andere Kind der bevorzugteste Spielpartner war und nicht die eigene Mutter.“[79] Und während sich das Interesse an Peers im Alter von sechs Monaten noch auf spontane Sympathiebezeugungen erschöpft, sind knapp drei Monate später schon Verhaltensweisen zu beobachten, die als „echt sozial bezeichnet“[80] werden können. Damon schreibt dabei vor allem den Gegenständen eine große Bedeutung zu, über die die Kleinstkinder miteinander in Kontakt treten. Dabei beruft er sich auf Untersuchungen von Mueller und Lucas, die in ihrer Behauptung sogar soweit gehen, die ersten Kontakte zwischen Säuglingen nur auf die „beidseitig begehrten Gegenstände“[81] einzuschränken und ihnen jegliche kommunikative Absicht abzusprechen. Ihrer Meinung nach rührt der starke Bezug zu Gegenständen auf dieser Entwicklungsstufe von „fehlenden Strategien für den Umgang mit Gleichaltrigen“[82], der dann über die gemeinsame Exploration eines dritten Objekts kompensiert werden kann. Auch die amerikanischen Untersuchungen von Hay et al. haben sich mit der Wirkung von Gegenständen bzw. Spielzeug auf die Peer-Kontakte auseinandergesetzt und kamen dabei zu folgendem Ergebnis: „However, despite the consistency with wich the effect of toys on early peer interaction has been documented, it would be a mistake to assume that infants view their peers as just another set of toys that become less attractive when commercial toys are available. Exploration of toys was not correlated with exploration of peers in the absence of toys. Furthermore, when toys were present contact episodes occurred less often but seemed more under the control of social factors: the frequency of contacting the peer was not reliably predicted by an overall tendency to gesture; initiation and reciprocation of contact were reliably correlated; an the members of each dyad matched each other over time in an overall frequency with which they contacted each other and the toys they held. “[83]
Da ihnen die Sprache als Kommunikationsmedium noch nicht zur Verfügung steht verständigen sich Kleinstkinder über Mimik, Gestik und Körperhaltung, die überwiegend imitative Elemente enthalten.[84] Dabei ist die Art der Interaktion unter Gleichaltrigen vorrangig von symmetrisch reziproken Beziehungen geprägt, während die Erwachsenen-Kind-Beziehung vorrangig durch ein komplementäres Verhältnis charakterisiert werden kann. Das Pflegeverhalten der Erwachsenen ist so konstruiert, dass die Erwachsenen immer darauf bedacht sind die Bedürfnisse des Kindes zu erfüllen. Dies ist lebensnotwendig und beispielsweise bei der Nahrungsbeschaffung die Voraussetzung für ein Heranwachsen des Kindes. Geht es aber um soziale Kompetenzen, so lernen Kleinstkinder in Peer-Kontakten, mit welchen Mitteln sie die Aufmerksamkeit des Anderen erreichen können und wie sie ihre Absichten in verständlicher Form vermitteln können.[85]
Ab dem zweiten Lebensjahr ist das Spiel die bedeutendste Form der kindlichen Kommunikation. Dabei verwenden die Kleinstkinder bereits differenzierte Interaktionsformen untereinander und scheinen beispielsweise zu wissen, dass gleichaltrige Kinder mit der entsprechenden Kapazität wie sie selbst ausgestattet sind.[86]
3.3.5 Förderung der sozialen Entwicklung und der Peer-Interaktionen
Da die Verständigung, vor allem aber die Kontaktaufnahme offensichtlich über Gegenstände initiiert wird, kann die Bereitstellung von geeignetem Spielzeug die Interaktion der Kinder untereinander fördern.[87] Daneben können auch Räumlichkeiten, die die kindlichen Bedürfnisse nach Kommunikation, aber auch nach Ruhe und Rückzugsmöglichkeiten beachten, einen guten Rahmen für die frühkindliche Sozialentwicklung bieten. Auch die Vertrautheit und der Bekanntheitsgrad der Gleichaltrigen beeinflusst nach Untersuchungen von Mueller und Rich die Qualität der Interaktionen.[88] Die Gruppenzusammensetzung sollte daher möglichst stabil sein, damit den Kindern die Möglichkeit geboten wird, die Gleichaltrigen als Sozialpartner in ihren Reaktionsweisen und Spielvorlieben kennen zu lernen.
Insgesamt sollten die Interaktionen zwischen frühkindlichen Peers nicht als zufällige Ereignisse ohne tiefere Bedeutung abgewertet werden, sondern als Möglichkeiten wahrgenommen, bei denen Kleinkinder das „Spektrum ihrer Erfahrungen in sozialen Situationen und das Repertoire ihrer sozialen Kompetenzen erweitern können.“[89]
[...]
[1] Bowlby, o.J. zit. nach Hunter 1991, S. 159-165
[2] Die nicht-schädigende Auswirkung von Kleinstkinderziehung wird z.B. bei Erath, 1992, S. 49 gut aufgezeigt, findet aber auch in Bellers Arbeiten und den Forschungen zur Bindungstheorie ausreichend Beachtung.
[3] In dieser Arbeit wird die Berufsgruppe des Erziehers / der Erzieherin häufig genannt. Um die Lesbarkeit zu erleichtern, wird im Folgenden auf die umständliche Doppelbenennung verzichtet und an manchen Stellen die weibliche Form, an Anderen die männliche Form gewählt.
[4] Beller, 1992, S. 4
[5] vgl. ebd.
[6] Beller, 1998, S. 916
[7] vgl. Beller, 1992, S. 9
[8] Beller, 1998, S. 916
[9] ebd.
[10] a.a.O. S. 917
[11] Beller, 1992, S. 11
[12] vgl. ebd.
[13] a.a.O. S. 12
[14] a.a.O. S. 19
[15] a.a.O. S. 23
[16] Beller, 1998, S. 922
[17] Beller, 1992, S. 24
[18] www.kleinkindpaedagogik-fu-berlin.de , Stand: 13.01.2003
[19] ebd.
[20] Beller, 1998, S. 924
[21] Krappmann, 1996, S. 20
[22] Statistisches Bundesamt, 1998
[23] ebd.
[24] vgl. Ministerrat der DDR, 1986, S. 3f.
[25] vgl. Oberhuemer / Ulich, 1997, S. 23
[26] vgl. ebd.
[27] Engelbert, 1995, S. 23
[28] a.a.O. S. 24
[29] a.a.O. S. 30
[30] Erath, 1992, S. 88
[31] Elfter Kinder- und Jugendbericht, 2002, S. 45
[32] SGB VIII § 22 Abs. 1-2
[33] vgl. Däschner, 1992, S. 27f.
[34] Artikelgesetz – Änderung des KGaG und FAG - Synopse
[35] Verwaltungsvorschrift des Sozialministeriums über die Gewährung von Zuwendungen an die Träger von Einrichtungen der Kleinkindbetreuung (VwV Kinderkrippen)
[36] vgl. http://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de
[37] Vogt, 2002, Kapitel 31.10, S. 6
[38] „Empfindung ist der elementare Prozeß der Reizaufnahme und –registrierung, z.B. das Sehen der Farbe orange.“ (Wilkening / Krist, 1998, S. 488)
[39] vgl. a.a.O. S. 489-494
[40] vgl. Rauh, 1998, S. 185
[41] Saum-Aldehoff, 2001, S. 42
[42] Rauh, 1998, S. 185
[43] vgl. a.a.O. S. 202f.
[44] vgl. a.a.O. S. 215; Wilkening / Krist, 1998, S. 492.
[45] Wilkening / Krist, 1998, S. 487
[46] Schäfer, 2001, S. 8
[47] ebd.
[48] a.a.O. S. 9
[49] Stern, 1998, S. 67
[50] a.a.O. S. 220
[51] Saum-Aldehoff, 2001, S. 40
[52] vgl. a.a.O. S. 40-42
[53] Stern, 1998, S. 79
[54] a.a.O. S. 80
[55] ebd.
[56] vgl. Bachmann, 2001, S. 4
[57] vgl. ebd.; Gopnik / Kuhl / Meltzoff, 2003, S. 217ff
[58] Bachmann, 2001, S. 4
[59] Gopnik et al., 2003, S. 220
[60] a.a.O. S. 221
[61] vgl. a.a.O. S. 220
[62] Elschenbroich, 2000, S. 16
[63] vgl. Glomp, 2003, S. 46
[64] vgl. Bruer, 2000, S. 227f. und 238
[65] Elschenbroich, 2000, S. 18
[66] Hurrelmann, 2002, S. 15
[67] Damon, 1989, S. 39
[68] Gopnik et al., 2003, S. 198f.
[69] ebd.
[70] vgl. Damon, 1989, S. 41
[71] vgl. Pohlmann, 2000, S. 35ff
[72] a.a.O. S. 36
[73] a.a.O. S. 87
[74] a.a.O. S. 48
[75] vgl. Rauh, 2002, S. 183
[76] ebd.
[77] a.a.O. S. 193
[78] vgl. Reyer, 1978, S. 171
[79] Eckermann, 1975 zit. nach Reyer, 1978, S. 175
[80] Damon, 1989, S. 92
[81] a.a.O. S. 97
[82] ebd.
[83] Hay / Nash / Pedersen, 1983, S. 561
[84] vgl. Viernickel, 2002, S. 16
[85] vgl. a.a.O. S. 17
[86] Wüstenberg, 1991, S. 85
[87] vgl. Damon, 1989, S. 101
[88] vgl. a.a.O. S. 102
[89] Viernickel, 2002, S. 20
- Arbeit zitieren
- Tina Weil (Autor:in), 2003, Kleinstkinder in Tageseinrichtungen. Entwicklung eines sozialpädagogischen Konzepts zur Betreuung und Förderung von 0-3-jährigen Kindern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47366
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