Diese Arbeit bietet einen Überblick über die Grundlagen und Erweiterungen der Theorie des
Economic Voting. Der aktuelle Forschungsstand wird vermittelt und Forschungsresultate
unter dem Aspekt ihrer Inkonsistenz analysiert und bewertet.
Gliederung:
1. EV-Kerntheorem und Ursprung
2. V-functions: Anspruch und theoretische Reichweite
3. ökonomische Kernvariablen: neure Befunde
4. Forschungstechniken, Datensets und Spezifikationen - und ihr Beitrag zur Instabilität
5. innerparadigmatische Erweiterungen ‚Clarity of Responsibility’
andere innerparadigmatische Erweiterungen
Fazit
Anhang
Literatur
Dresden, Oktober 2005
Economic Voting - Theorie und Forschungsstand.*
Martin Förster¨
Diese Arbeit bietet einen Überblick über die Grundlagen und Erweiterungen der Theorie des Economic Voting. Der aktuelle Forschungsstand wird vermittelt und Forschungsresultate unter dem Aspekt ihrer Inkonsistenz analysiert und bewertet.
Im Mai 2005 fanden in Nordrhein-Westfalen Landtagswahlen statt. Die SPD, zu dieser Zeit führende Regierungspartei auf Bundesebene, verlor ihr Stammland. Als Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) daraufhin vorgezogene Bundestagswahlen ankündigte, glaubten die meisten Analysten dieses Geschehens an seinen politischen Suizid – an eine Kamikazeaktion anstatt des Wartens auf eine dann nicht mehr von ihm kontrollierte Entthronung. Zu diesem Zeitpunkt wurde es für äußerst unwahrscheinlich gehalten, dass die CDU/CSU-Union die SPD als Regierungspartei nicht ersetzen würde. Die Ablösung der SPD an der politischen Spitze der Republik durch die Union schien eine klare Sache zu sein. Die Union war der SPD in Umfragen haushoch überlegen. Doch im Verlauf des Wahlkampfes schrumpfte dieser Vorsprung. Bis dann am Wahlabend am 18. September die ersten Hochrechnungen ein Debakel für die Union prophezeiten: Die Union würde, auch mit der FDP als Koalitionspartner, keine regierungsfähige Mehrheit erreichen. Und genau so kam es.
Die Meinungsforschungsinstitute lagen mit ihren Prognosen daneben, hieß es. Der Wahlforscher Jürgen Falter fühlte sich zu der Bemerkung genötigt, dass er keine Wahlprognosen mehr abgeben werde – diese seien in Deutschland nicht mehr möglich. Die Berichterstatter und Analysten sahen im Wähler ein nunmehr unberechenbares Wesen. Aber hatten denn die Meinungsforscher wirklich Prognosen des Wahlausganges geliefert? Hatten sie des Wählers Wahlentscheidung denn tatsächlich im Voraus berechnet oder nur dessen aktuelle Stimmung und Wahlabsicht erfragt? Letzteres war der Fall, und diese Wahl hat deutlich gemacht, dass das ermitteln der Wahlabsicht noch lange keine gute Prognose darstellt.
Prognosen von Wahlausgängen sind aber möglich. Man benötigt dafür weder Kristallkugel noch Tarockkarten. Es bedarf der Kenntnis menschlichen Verhaltens bei Wahlen. Weite Teile der Wahlforschung sind bestrebt, diese Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens freizulegen. Die Erforschung des Phänomens Economic Voting (EV), also die Erforschung ökonomischer Determinanten auf Wahlentscheidungen und Wahlausgänge, hat beachtlich dazu beigetragen. Die EV-Forschung hat handliche Funktionen zur Vorhersage von Wahlausgängen (V-functions) entwickelt und es dabei nicht versäumt, Erkenntnisse aus anderen Teilgebieten der Wahlforschung zu integrieren. Es ist aber noch nicht gelungen, Wahlverhalten vollständig zu erklären. Die EV-Forschung liefert teilweise sehr gute Ergebnisse, welche sich aber in der Summe nicht zu decken scheinen.
Im Folgenden wird zunächst der theoretische Kern des EV-Konzeptes isoliert. Im Anschluss daran differenzieren wir die Produkte der EV-Forschung – die V-functions – nach ihren Forschungszielen bzw. Ansprüchen und zeigen ihre jeweilige Begrenzung bzw. theoretische Reichweite auf. Im dritten Kapitel stellen wir die neueren Befunde vor und beleuchten diese unter dem Aspekt ihrer Unstimmigkeit. Diese Unstimmigkeiten können forschungstechnische Artefakte sein oder Ausdruck einer echten Instabilität der V-functions. Dass die produzierten Ergebnisse – also auch die Unstimmigkeiten zwischen ihnen – von Forschungstechniken mitbestimmt sind, wird Gegenstand des vierten Kapitels sein. Abschließend beschäftigen wir uns mit innerparadigmatischen Erweiterungen des EV-Konzeptes und deren Beitrag zu konsistenteren Forschungsresultaten.
1. EV-Kerntheorem und Ursprung
Die EV-Hypothese (EVH) beschreibt Wahlverhalten als Reaktion des Wählers auf ökonomische Konditionen. Wenn er diese als unbefriedigend einstuft, bestraft er die Regierung indem er nicht für sie stimmt[1]. Die EVH impliziert, dass der Wähler der Regierung die Verantwortung für die ökonomische Situation[2] zuschreibt.
Der Ursprung dieses Ansatzes zur Erklärung von Wahlverhalten liegt bei Downs (1957). Ihm zufolge kalkuliert der Wähler ein Parteiendifferential, d.h. er bewertet und vergleicht die Leistungen der Parteien gemessen an seinen Präferenzen. Dieses Parteiendifferential bildet die Grundlage seiner Wahlentscheidung: Der Wähler gibt der Partei seine Stimme, welche seine Präferenzen am meisten befriedigt. Mit Downs lässt sich also Wahlverhalten anders erklären als mit der Determinante Parteiidentifikation; das aggregierte Wahlergebnis ist nicht mehr nur Epiphänomen der Sozialstruktur.
Aber es steckt nicht das komplette Wählerbild von Downs in der EVH, sondern nur der Aspekt des von Parteiidentifikation und Sozialstruktur unabhängigen Bewertens von Parteileistung. Der idealtypische Economic Voter bildet kein Parteiendifferential und er bewertet auch nicht das komplette Leistungsspektrum einer Partei. Er bewertet nur die ökonomischen Konditionen und er bewertet diese als Regierungsleistung.
Die EVH sollte jedoch nicht als deterministische Aussage verstanden werden. Dass sich die Wähler bei ihrer Wahlentscheidung nicht nur durch die Perzeption ökonomischer Konditionen leiten lassen, ist offensichtlich. Als statistische Hypothese sagt die EVH aus, dass, neben anderen Faktoren, ökonomische Konditionen einen signifikanten Einfluss auf Wahlentscheidungen haben.
Die von Kramer (1971) vorgelegte Studie der US-Kongresswahlen war die erste methodisch und theoretisch saubere, mit welcher EV bestätigt werden konnte. Dieser Initialstudie folgte ein Forschungszyklus mit vielen Untersuchungen, welche die EVH widerlegten bzw. bestätigten (Paldam 1991:9-10). Auf dem gegenwärtigen Forschungsstand kann dieser Zyklus nun als beendet gelten: die Faktizität von EV kann nicht mehr ernsthaft bestritten werden. In allen stabilen Demokratien der Welt existiert dieses Phänomen (Wilkin et al. 1997).
Weshalb wird dann aber zu diesem Thema immer noch so kontrovers diskutiert? Welche Fragen sind noch nicht beantwortet? Warum behauptet Martin Paldam: „There is no chance or risk that research in the area will dry out in the foreseeable future” (Paldam 1991:29)? Der Grund ist die durch Raum und Zeit bestehende Instabilität der V-functions (Paldam 1991; Lewis-Beck & Paldam 2000:114). Für bestimmte Länder und für bestimmte Perioden gibt es passende V-functions mit starker Erklärungskraft. Eine stabile generelle V-function ist noch nicht in Sicht.
2. V-functions: Anspruch und theoretische Reichweite
Vereinfacht und so allgemein wie möglich sehen V-functions so aus (vgl. Paldam 1991:13):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
V ist der prozentuale Anteil der Stimmen für die Regierungspartei. Die griechischen Buchstaben in den Klammern sind Koeffizienten. Die E-Variablen sind ökonomische, die P-Variablen sind nicht-ökonomische – zumeist politische. Das D-Symbol meint, dass die Ver-änderung/Abweichung der nachfolgenden Variable gemessen wird. e ist der Fehlerterm.
Aus dieser Formel wird ersichtlich, dass V-functions nur indirekt die konkrete Stimmen-verteilung messen. Primär wird die Veränderung/Abweichung der Stimmenverteilung erfasst[3]. V-functions sind also hauptsächlich dafür konstruiert, die Wahlentscheidung von Wechsel-wählern und damit kurzfristige Veränderungen zu erklären. Das Verhalten der Stammwähler, welches sich nur langfristig verändert, wird durch andere theoretische Ansätze (bspw. Cleavage-Theorie von Lipset & Rokkan 1967; Michigan-Modelle von Campbell et al. 1954, 1960) besser erklärt. Eine weitere bedeutende Einschränkung besteht darin, dass nicht die Veränderung/Abweichung der kompletten Stimmenverteilung gemessen wird, sondern nur die des Stimmenanteils der Regierungspartei/Koalition. Wenn sich also z.B. der Stimmenanteil der Regierungspartei/Koalition verringert, dann liegt es prinzipiell außerhalb der Erklärungs-reichweite dieses Ansatzes, wohin genau sich diese Stimmen verschieben.
Wir differenzieren V-functions nach zwei verschiedenen Ansprüchen. Es gibt V-functions, welche Wahlverhalten erklären und es gibt Modelle zur Vorhersage von Wahlausgängen. Die V-functions zur Erklärung von Wahlverhalten werden mit dem Anspruch entwickelt, generell, also unabhängig von sich über Raum und Zeit ändernden Bedingungen, gültig zu sein. Eine solche V-function ist Ausdruck einer partiellen Verhaltenstheorie und hat insofern anthropologischen Anspruch. Der Kern eines solchen generellen Modells sind die unabhängigen Variablen, nicht ihre Koeffizienten. In den meisten Fällen können diese Variablen Wahlverhalten erklären. Aber in manchen Fällen haben sie keinen signifikanten Einfluss. Mit anderen Worten: es gibt keine stabile generelle V-function. Fundamentalkritiker argumentieren, dass die Instabilität einer solchen Theorie des Wahlverhaltens inhärent ist. Die Verteidiger hingegen sind zuversichtlich: „We all prefer to think that instability is apparent only. [...] if we could just find the ‘trick’, everything would be well” (Lewis-Beck & Paldam 2000:114).
[...]
* Während ich diese Arbeit verfasste, war die Mitwirkung eines Co-Autors eingeplant. Diese Zusammenarbeit wurde jedoch nicht verwirklicht. Als nicht korrigierter, schriftlich fixierter Überrest dieser Planung, ist in diesem Text an einigen Stellen von den Erkenntnissen, Meinungen etc. der Autoren (Plur.) die Rede. Diese Arbeit wurde von einem Autor verfasst, und dieser war während des Schreibens nicht schizophren.
¨ E-mail Adresse: martin.foerster-pu@web.de
[1] Andere Definitionen fügen hinzu, dass der Wähler, wenn der die ökonomischen Konditionen als gut einstuft, die Regierung belohnt indem er für sie stimmt (z.B. Lewis-Beck & Stegmaier 2000:183). Die meisten Studien, welche diese erweiterte Formulierung benutzen, sind aber nicht korrekt durchgeführt. Die Erweiterung um Belohnungsverhalten bei guten ökonomischen Konditionen ist keine logische Implikation des Bestrafungsverhalten bei schlechten ökonomischen Konditionen. Dem Wähler steht noch die Alternative der Wahlenthaltung zur Verfügung. Belohnungsverhalten müsste extra getestet werden. Duch und Stevenson (2004:29) können zumindest für Preise (Inflation) belegen, dass, mit Ausnahme von Dänemark, eine schlechte Entwicklung (Preissteigerungen) stärker wahrgenommen wird als eine gute Entwicklung. Diese Erkenntnis verweißt darauf, dass Belohnungsverhalten im Zusammenhang mit EV wenig Bedeutung hat.
[2] Eine Vielzahl von Studien testet, ob der Wähler die Regierung retrospektiv oder prospektiv beurteilt. Vereinbar mit der standard-EVH ist aber nur retrospektives Wählen. Es ist auch möglich, prospektives Wählen als ein Spezialfall von retrospektivem Wählen zu beschreiben, wie es mit den ‚Retrospective Expectations’–Modellen geschieht (vgl. Downs 1957). ‚Rational Expectations’-Modelle (s. Sargent & Wallace 1976) sind nicht kompatibel mit der standard-EVH. Eine Erweiterung der EVH diesbezüglich ist aber sinnvoll und auch Teil der Forschungspraxis.
[3] Veränderungen werden meistens von einer Wahl zur nächsten erfasst (‚first differences’). Bei Vorhersagemodellen wird oft das Wahlergebnis der vorherigen Wahl als unabhängige Variable integriert; die abhängige Variable kann dann auch der konkrete Stimmenanteil für die Regierung oder die führende Regierungspartei sein. Abweichung wird als Differenz zu einem ‚normalen’ Stimmenanteil gemessen. Tabelle 1 im Anhang bietet einen Überblick über die üblichen Spezifikationen der abhängigen Variable.
- Arbeit zitieren
- Martin Förster (Autor:in), 2005, Economic Voting - Theorie und Forschungsstand, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47307
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