Die vorliegende Ausarbeitung ist eine Szenenanalyse des Dramenfragments "Woyzeck" von Georg Büchner anhand einer zweigeteilten Aufgabenstellung.
Aufgabe 1:
Analysieren Sie die vorliegende Szene (Szene 5: Der Hauptmann. Woyzeck) aus Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“.
Die fünfte Szene aus Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“ aus dem Jahre 1836, welches vom Soldaten Woyzeck handelt, der, determiniert von äußeren Umständen und existenziellen Nöten, den Bezug zur Realität verliert und zum Mörder wird, trägt den Titel „Der Hauptmann. Woyzeck“. In der Szene rasiert Woyzeck den Hauptmann und die beiden führen ein Gespräch, vor allem über Woyzecks Leben.
Zu Beginn betont der Hauptmann, dass Woyzeck sich nicht hetzen soll, da es laut ihm mehr Zeit gibt, als man benötigt. Woyzeck stimmt ihm zu und der Hauptmann fährt fort. Er legt dar, dass der Grund für gehetztes Verhalten ein schlechtes Gewissen sei und macht sich über Woyzeck lustig. Anschließend kritisiert er Woyzecks uneheliches Kind und lässt ihn als einen nicht tugendhaften dastehen. Woyzeck erwidert, dass er sich zunächst seine Existenz sichern müsse, da er so arm sei. Schließlich bezeichnet der Hauptmann ihn am Ende der Szene als einen guten Menschen, ermahnt ihn jedoch, sich nicht zu hetzen.
Im Gesamtverlauf des Dramas verdeutlicht diese Szene, dass Woyzecks Beschränktheit auf Grund seiner psychischen und physischen Lage auf Verständnislosigkeit trifft und ausgenutzt wird. Die Handlung entwickelt sich noch, Woyzecks geistige Verwirrung ist noch nicht unertragbar, doch später führt sie zusammen mit der Erschöpfung und Maries Affäre dazu, dass er zusammenbricht, wahnsinnig wird und sie ersticht.
Schon das Bühnenbild am Anfang der Szene (vgl. S. 12, Z. 1) zeigt, dass Woyzeck für den Hauptmann arbeitet und ihm somit unterlegen ist. Dies äußert sich zudem in der Aufteilung des Redeanteils zu Beginn: Der Hauptmann hat wesentlich längere Sprechpassagen, während Woyzeck zunächst nur kurz antwortet (vgl. S. 12, Z. 9). Zudem haben die Sprechanteile des Hauptmannes einen starken Vortragscharakter, wodurch er den Eindruck entstehen lässt, dass er und Woyzeck klar voneinander getrennt sind.
Weitergehend ist der Kontext des Gesprächs wichtig zum Verständnis der Szene: Dadurch, dass Woyzeck gerade für den Hauptmann arbeitet, wird deutlich, dass de beiden nicht zum Reden zusammengekommen sind, sondern das Gespräch eher zufällig entsteht.
Der Hauptmann beginnt die Konversation mit einer Aufforderung (S. 12, Z. 2: „Langsam, Woyzeck, langsam“), welche er mit einer Wiederholung verknüpft. Dies zeigt, dass er sich Woyzeck gegenüber überlegen fühlt und deswegen der Ansicht ist, ihm Befehle erteilen zu dürfen. Die Wiederholung betont, dass Woyzeck für ihn ungebildet oder sogar dumm ist, da er meint, letzterer verstehe ihn nur, wenn er eine einfache Sprache verwende.
Der Hauptmann zeigt sich als sehr gemütliche und ruhige Person, die kein gestresstes Leben führt, was vor allem durch die rhetorische Frage „Was soll ich denn mit den zehn Minuten anfangen […]?“ (S. 12, Z. 3-5) herausgestellt wird. Auch im weiteren Verlauf der Konversation verwendet er viele rhetorische Fragen, die auch die Verständnislosigkeit gegenüber Woyzeck zeigen sollen (vgl. z.B. S. 12, Z. 7-8). Wiederholt stellt der Hauptmann sein großes Vermögen an Zeit heraus, indem er viele Wiederholungen aus dem Wortfeld Zeit einbaut; dazu gehören z.B. „ewig“ (S. 12, Z. 12) und „Augenblick“ (S. 12, Z. 14). Diese drücken gleichzeitig jedoch auch die Angst des Hauptmannes vor zu viel Zeit aus, da er nicht weiß, was man damit anfangen sollte.
Ausgehend von seinem Standpunkt zum Thema Zeit kritisiert er Woyzecks Gehetztheit zunächst indirekt. Dazu verwendet er einerseits den Absolutismus „immer“ (S. 12, Z. 20) und andererseits betont er durch Wiederholung, dass ein „guter Mensch“ (S. 12, Z. 21) sich nicht hetze. Als Erklärung führt er ein gutes Gewissen an (vgl. S. 12, Z. 20-22), wodurch klar wird, dass er Woyzeck ein schlechtes Gewissen vorwirft.
Der Gedankenstrich in Z. 22 (S. 12) zeigt, dass der Hauptmann sich dessen bewusst wird, dass Woyzeck anwesend ist. Er nutzt die Gelegenheit, um ihn direkt zu konfrontieren: „Red Er doch was“ (S. 12, Z. 22). Dazu verwendet er eine fundamental einfache Frage (S. 12, Z. 22-23: „Was ist heut für Wetter?“), um sich über Woyzecks Unwissenheit lustig zu machen und selbst besser dazustehen.
Zu einer direkten Demütigung wird dies, als der Hauptmann eine Aussage über „Süd-Nord“ (S. 12, Z. 27) macht und Woyzeck dieser zustimmt. Der Hauptmann macht sich daraufhin offen und ungehalten über Woyzeck lustig, indem er ihn mithilfe des wiederholten Ausdrucks „Ha!“ (S. 12, Z. 29) auslacht und ihn mittels einer Emphase, und zwar „dumm, ganz abscheulich dumm“ (S. 12, Z.30), als minderwertig darstellt.
Er schwächt dies ab, indem er Woyzeck als „gute[n] Mensch[en]“ (S. 12, Z. 31) bezeichnet, jedoch wirft er ihm vor, keine Moral zu haben.
Daraus lässt sich über den Hauptmann aussagen, dass dieser einen großen Wert auf moralisches und für ihn richtiges Handeln legt. Zu dieser Moral gehört auch die „Tugend“ (S. 13, Z. 14), welche sich beim Hauptmann auf konservative Werte stützt. Vor allem eine kirchliche Taufe des Kindes hält er für angebracht, denn er kritisiert, dass es ungetauft ist: „ohne den Segen der Kirche“ (S. 12, Z. 34). Andererseits kann darunter auch verstanden werden, dass er sich darauf bezieht, dass Woyzeck und Marie nicht verheiratet sind und ein Kind haben. Dieser Aspekt kann als Ursache für Woyzecks angebliches schlechtes Gewissen aus Sicht des Hauptmannes interpretiert werden.
Seinen Standpunkt betont er außerdem durch den Ausdruck von Verständnislosigkeit gegenüber Woyzeck: Er fragt ihn wiederholt, was er sage und benutzt das Adjektiv „konfus“ (S. 13, Z. 6) zur Veranschaulichung seines Unverständnisses, wobei er vermutlich davon ausgeht, dass Woyzeck den Ausdruck nicht versteht. Somit benutzt er Sprache als exkludierendes Element.
Zudem betont der Hauptmann, dass er mit „Er“ (S. 13, Z. 5), also einem sehr unpersönlichen und distanziertem Ausdruck, Woyzeck meint, um zu illustrieren, dass Woyzeck nicht verstehen kann, wovon der Hauptmann spricht.
Er erklärt, dass auch er Frauen sehr anziehend fände (vgl. S. 13, Z. 15-18), wozu er die Metapher „da kommt mir die Liebe“ (S. 13, Z. 18) verwendet. Dadurch verdeutlicht er zeitgleich nichtsdestoweniger, dass er, scheinbar schlauer und überlegener als Woyzeck, dem Drang widerstehe und somit ein „guter Mensch“ (S. 13, Z. 22) sei. Auch hier stellt er sich über Woyzeck, indem er diesen schlecht dastehen lässt.
Dass er sich selbst vorbildlich findet, verdeutlich die Regieanweisung „gerührt“ (S. 13, Z. 21). Dadurch möchte er Woyzeck indirekt nahebringen, dass dieser dem Hauptmann unterlegen ist und nicht Schritt halten kann.
Woyzeck fügt sich anfangs dem dominanten Gesprächsverhalten des Hauptmannes, sodass eine asymmetrische Kommunikation entsteht. Den Antwortsatz „Jawohl, Herr Hauptmann“ (S. 12, Z. 9) wiederholt er dreifach. Die Anrede „Herr Hauptmann“ (S. 12, Z. 9) zeigt außerdem, dass er den Hauptmann respektiert und sich selbst als unterlegen wahrnimmt.
Zwar kann man Woyzecks anfänglich als passiv zu charakterisierendes Verhalten auch auf die Tatsache zurückführen, dass er gerade den Hauptmann rasiert, jedoch zeigen sich auch einige weitere Aspekte: Zum einen deutet die Antwort Woyzecks auf Gehorsamkeit und Unterwürfigkeit hin, da er dem Hauptmann offensichtlich in seiner sozialen bzw. gesellschaftlichen Situation unterlegen ist. Außerdem handelt es sich bei weiteren Antworten um Ellipsen, wie z.B. „Schlimm, Herr Hauptmann, schlimm; Wind“ (S. 12, Z. 24). Dieser parataktische Satzbau zeigt Woyzecks Hilflosigkeit gegenüber dem Hauptmann. Weitergehend ist er kraftlos und abgearbeitet, da er als Vertreter der Unterschicht arm ist und mit mehreren Jobs versucht, seiner Familie die Existenz zu sichern.
Auffällig ist zudem , dass er nicht auf den Vorwurf des Hauptmannes eingeht, gestresst zu sein, was zeigt, dass er nicht davon ausgeht, dass dieser ihn verstehen könnte. Andererseits hat er auf Grund seiner physischen Belastung womöglich auch keine Kraft dazu, sein Handeln zu erläutern.
Anschließend, etwa ab Beginn von S. 13, nimmt der Redeanteil Woyzecks jedoch zu: Er erklärt, dass er zu arm sei, um sich Heirat oder Taufe zu leisten. Zur Veranschaulichung verwendet er ein Zitat aus der Bibel, „Lasset die Kindlein zu mir kommen“ (S. 13, Z. 3-4), was sein begrenztes Wissen, aber auch sein einfache, eher bäuerlich als bürgerlich geprägte Herkunft unterstreicht.
Die Metapher „arme[r] Wurm“ (S. 13, Z. 1-2) hebt hervor, dass Woyzeck sich selbst als unterlegen und verarmt sieht und seine Lage als aussichtslos empfindet. Er erläutert, dass er „kein“ (S. 13, Z. 9) Geld hat wozu er das Nomen „Geld“ (S. 13, Z. 8) wiederholt. Außerdem denkt er, dass die sozialen Schichten in diesem Punkt klar getrennt sind (S. 13, Z. 11: „Unseins“) und legt dar, dass er sich in seiner Situation zunächst um die Sicherung der eigenen Existenz kümmern müsse, bevor er an moralisches Handeln denken könne.
Die Tautologie „Fleisch und Blut“ (S. 13, Z. 15) hebt hervor, dass er der Natur und den äußeren Umständen unterlegen ist. Woyzeck betont die Hoffnungslosigkeit zudem durch Bezugnahme auf das Leben nach dem Tod (vgl. S. 13, Z. 11ff.), um sich verständlich zu machen.
Dass Woyzeck sehr wohl weiß, was Tugend ist und dass er gerne tugendhaft handeln möchte, wird ab Z. 23 (S. 13) deutlich. Er erklärt im Konjunktiv, dass er kein Ansehen hat und sich nichts leisten kann: „hätt ein Hut und eine Uhr“ (S. 13, Z. 26). Somit habe er keine Chance, sich anders zu verhalten. Sprachlich wird hier die Zugehörigkeit zur Unterschicht dadurch deutlich, dass er viele umgangssprachliche Abkürzungen wie „hab´s“ (S. 13, Z. 23) und „könnt“ (S. 13, Z. 27) verwendet und seine Aussagen wiederholt durch die Konjunktion „und“ (S. 13, Z. 26) verknüpft, also eine einfache Syntax verwendet.
Seine Erklärungen zeigen dem Hauptmann schließlich, dass er sich Mühe gibt, doch der Hauptmann kritisiert weiterhin, dass Woyzeck zu gestresst sei: „immer so verhetzt“ (S. 13, Z. 32). Er befiehlt ihm autoritär, zu gehen und macht sich noch ein letztes Mal über ihn lustig, indem er ihn dazu auffordert, dies „hübsch“ (S. 13, Z. 33) zu tun.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass zwischen den beiden ein unausgeglichenes Verhältnis herrscht. Der Hauptmann nutzt seine finanzielle und gesellschaftliche Stellung als Vertreter der Oberschicht aus, um Woyzeck schlecht dastehen zu lassen und demonstriert so seine Machtposition. Woyzeck hingegen fügt sich gezwungenermaßen der Dominanz der Hauptmannes, da er als Vertreter der Unterschicht determiniert von Anforderungen seines Umfeldes ist und vor lauter Arbeit, um überleben zu können, psychisch und physisch überbelastet ist. Für ihn scheint die Lage hoffnungslos zu sein, doch der Hauptmann begegnet ihm nur mit Verständnislosigkeit, da ihm Moral wichtiger ist.
Aufgabe 2:
Verbinden Sie Ihre Ergebnisse aus der Aufgabe 1 und die Standpunkte der jeweiligen Figuren mit Ihnen bekannten Theorien. Berücksichtigen Sie auch die soziale und gesellschaftliche Situation zu Zeiten Büchners.
Zu Zeiten Büchners war ein großer Teil der Bevölkerung verarmt und musste hungern. Der Pauperismus, der die massenhafte Verelendung im 19. Jahrhundert beschreibt, führte dazu, dass weite Teile der Bevölkerung in städtischen Elendsvierteln kaum mehr Gefühle entwickeln konnten und die eigene Familie zur Last wurde. Dies trifft auch auf Woyzeck zu: Wie in Aufgabe 1 bereits angedeutet, bedeutet die psychische und physische Belastung für ihn, dass er kraftlos und hilflos ist. Teil der Belastung ist neben der Arbeit beim Hauptmann und der Armut seine geschwächte Physe, da er an einem Ernährungsexperiment des Doktors teilnimmt, bei dem er lediglich Erbsen essen darf.
Dass der Hauptmann mit Verständnislosigkeit reagiert, entspricht ebenfalls einem Aspekt des Pauperismus: Die sozial höher gestellten Menschen boten keine Hilfe an und isolierten sich gewissermaßen von den Problemen der Armut, sodass klare Grenzen zwischen den Gesellschaftsschichten entstanden.
Weitergehend zeigt die Szene 5 deutlich, dass Woyzeck ein Vertreter des Materialismus ist: Seine körperliche, seelische, finanzielle und soziale Situation machen es ihm unmöglich, höhere Ideale, wie im Falle des Hauptmannes Moral und Tugend, zu persönlichen Zielen zu machen. Woyzeck fühlt sich unfrei. Ein weiterer wichtiger Begriff ist, in Bezug auf Woyzeck, der Determinismus. Er ist beschränkt und als Materialist Objekt der Natur bzw. des äußeren Umfeldes mit seinen Gesetzen. Ganz im Gegenteil zum Hauptmann sind Ideale Luxus für Woyzeck. Zwar ist der Hauptmann nicht der bedeutendste Vertreter des Idealismus im Dramenfragment „Woyzeck“, da dies der Doktor ist, doch auch er denkt vorwiegend idealistisch. Für ihn stehen nämlich Geist, Moral, Tugendhaftigkeit und Bequemlichkeit im Zentrum.
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- Citation du texte
- Anonyme,, 2017, Die soziale und gesellschaftliche Situation zu Zeiten Büchners. Analyse von "Woyzeck" Szene 5, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/471466