Aufgrund erhöhter physischer, psychischer und psychosozialer Belastungen im Arbeitsalltag unterliegt der Beruf des Orchestermusikers einer stärkeren Gesundheitsgefährdung als andere Berufsgruppen. Mittels betrieblicher Gesundheitsförderung (BGF) ist es möglich, durch speziell auf den individuellen Bedarf abgestimmte Maßnahmen Gefahren vorzubeugen und Gesundheit zu fördern. Dadurch wird frühzeitige Arbeitsunfähigkeit durch Berufserkrankungen verringert sowie grundsätzlich ein gesundes Arbeitsklima geschaffen. Hierbei ist auf partizipatives und integratives Handeln sowie regelmäßige Evaluationen der Maßnahmen zu achten, um Effektivität, Effizienz und somit einen langfristigen Erfolg zu gewährleisten.
Die aktuelle Situation in den deutschen Kulturorchestern wurde anhand von Leitfaden gesteuerten Interviews analysiert. Es konnten dabei 58% der deutschen Kulturorchester erfasst werden. Als Ergebnis wird ersichtlich, dass die Durchführung betrieblicher Gesundheitsförderung in Kulturbetrieben für Orchestermusiker mehr nach tatsächlichem Bedarf gesteuert werden muss. Neben Impulsen im physiologischen Bereich sowie Optimierung der Arbeitsverhältnisse spielen dabei die Kommunikation von Bedürfnissen, Sensibilisierung für die Thematik und Informationsaustausch eine entscheidende Rolle.
Aufklärungsbedarf gibt es in den Bereichen der möglichen Finanzierung, der individuellen Bedarfserhebung sowie der Schaffung von Grundlagen für langfristige BGF-Maßnahmen. Vorliegende Handlungsempfehlungen können die Umsetzung von betrieblicher Gesundheitsförderung im Orchester unterstützen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung - Herleitung der Aufgabenstellung
2 Hintergrund – Klärung und Erläuterung relevanter Begriffe sowie deren Zusammenhang
2.1 Gesundheit
2.1.1 Pathogenese - Salutogenese
2.1.2 Resilienz
2.2 Gesundheitsförderung
2.3 Betriebliche Gesundheitsförderung
2.3.1 Begriffliche Abgrenzung
2.3.2 Voraussetzung - Umsetzung - Erfolg von BGF
2.4 Kulturorchester
2.4.1 Rechtsformen
2.4.2 Organigramm
2.4.3 Herausforderungen am Arbeitsplatz des Berufsmusikers
2.5 Betriebliche Gesundheitsförderung im Kulturorchester
2.5.1 Zahlen und Fakten
2.5.2 Maßnahmen
3 Situationsanalyse
3.1 Datenerhebung
3.2 Methodik
3.3 Auswertung der Befragung
3.3.1 Analyse der Ergebnisse allgemein
3.3.2 Analyse der Ergebnisse bezüglich BGF
3.3.3 Interpretation der Ergebnisse
3.4 Best-Practice
4 Schlussbetrachtungen mit Handlungsempfehlungen
5 Literaturverzeichnis
6 Anhang
Kurzfassung
Der Beruf des Orchestermusikers unterliegt aufgrund erhöhter physischer, psychischer und psychosozialer Belastungen im Arbeitsalltag einer stärkeren Gesundheitsgefährdung als andere Berufsgruppen. Innerhalb betrieblicher Gesundheitsförderung ist es möglich, durch speziell auf den individuellen Bedarf abgestimmte Maßnahmen Gefahren vorzubeugen und Gesundheit zu fördern, um frühzeitige Arbeitsunfähigkeit durch Berufserkrankungen zu verringern und generell ein gesundes Arbeitsklima zu schaffen. Aufbauend auf der Klärung grundlegender Begriffe und deren Zusammenhänge zum Thema betrieblicher Gesundheitsförderung von Berufsmusikern in den deutschen Kulturorchestern wird in der vorliegenden Masterarbeit die aktuelle Situation in den Orchestern analysiert. Dies geschieht auf Basis von 75 Leitfaden gesteuerten Interviews. Die Auswertung erfolgt durch qualitative Inhaltsanalyse von Experteninterviews nach der Methode von J. Gläser und G. Laudel. Als Ergebnis wird ersichtlich, dass die Durchführung betrieblicher Gesundheitsförderung in Kulturbetrieben mehr nach Bedarf gesteuert werden muss. Neben Impulsen im physiologischen Bereich sowie Optimierung der Arbeitsverhältnisse spielen dabei gegenseitige Wertschätzung, Kommunikation von Bedürfnissen, Sensibilisierung für die Thematik und Informationsaustausch eine entscheidende Rolle. Aufklärungsbedarf gibt es in den Bereichen der möglichen Finanzierung, der individuellen Bedarfserhebung sowie der Schaffung von Grundlagen für langfristige BGF-Maßnahmen. Vorliegende Handlungsempfehlungen können die Umsetzung von betrieblicher Gesundheitsförderung im Orchester unterstützen.
Anmerkungen:
Um einen besseren Lesefluss zu gewährleisten, wurde in dieser Arbeit bei Personenbezeichnungen ausschließlich die männliche Form verwendet. Es ist dabei jedoch auch immer die weibliche Form inbegriffen.
Die Interviewprotokolle, Tabellen und Kategorieninhalte sind aus Datenschutzgründen nur für die Gutachter einsehbar.
Abkürzungen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungen
Abbildung 1: Einordnung von BGF in eine umfassende betriebliche Gesundheitspolitik
Abbildung 2: Vorteile von betrieblicher Gesundheitsförderung im Kontext des demografischen Wandels (späteres Renteneintrittsalter)
Abbildung 3: Distanzen am Arbeitsplatz des Orchestermusikers
Abbildung 4: Prinzip der qualitativen Inhaltsanalyse
Abbildung 5: Verteilung der Eingruppierung der erfassten Orchester
Abbildung 6: Aufteilung der Eingruppierung auf die Orchesterkategorien
Abbildung 7: Verteilung der Funktion der befragten Experten
Abbildung 8: Verteilung der Funktion der befragten Experten auf die Eingruppierung der Orchester
Abbildung 9: Verteilung der verschiedenen Träger der erfassten Orchester
Abbildung 10: Aufteilung BGF in den erfassten deutschen Kulturorchestern
Abbildung 11: Verteilung BGF auf die unterschiedlichen Träger
Abbildung 12: Verteilung BGF in den unterschiedlichen Orchester-Eingruppierungen
Abbildung 13: Verteilung BGF im ost-west-deutschen Vergleich
Abbildung 14: Eingruppierung der erfassten Orchester bezogen auf Verteilung Ost-West
Abbildung 15: Dauer der BGF-Maßnahmen auf Eingruppierungen bezogen
Abbildung 16: Angaben zur Teilnahme an BGF-Maßnahmen
Abbildung 17: Veränderungen innerhalb des Orchesters durch BGF-Maßnahmen
Abbildung 18: grundsätzliche Notwendigkeit von BGF innerhalb des Orchesterbetriebes
Abbildung 19: Kreislauf ‚gesunde Orchestermusiker‘
Abb. Anhang 1: Bedürfnispyramide nach A. Maslow: befriedigte Bedürfnisse sind Basis für psychische Gesundheit
Abb. Anhang 2: das SAR-Modell: Anforderungen und Ressourcen bestimmen die Gesundheit
Abb. Anhang 3: Organigramm des Orchesters innerhalb eines Kulturbetriebes
Abb. Anhang 4: Einordnung der körperorientierten Methoden im Feld zwischen koordinativer und energetisch-konditioneller Fähigkeit
Tabellen
Tabelle 1: zu beachtende Punkte bei der Analyse des Ist-Zustandes als Grundlage für die Erstellung eines BGF-Maßnahmenplanes
Tabelle 2: Risikofaktoren auf Verhaltens- und Verhältnisebene sowie Maßnahmen, die diese beschränken können
Tabelle 3: Akteure bei der Umsetzung von BGF-Maßnahmen und deren Bedeutung
Tabelle 4: Übersicht über erstellte Ober- und Unterkategorien
Tabelle Anhang 1: Darstellung ausgewählter Maßnahmen und deren Schwerpunkte
1 Einleitung - Herleitung der Aufgabenstellung
„Gesundheit ist das erste und höchste Gebot im Leben“ (Wilde, 2012, S. 16).
Oscar Wilde beschreibt in diesem Satz die notwendige Basis, auf der es möglich ist, ein zufriedenes und erfülltes Leben führen zu können. „Psychische und körperliche Gesundheit sind wichtig für das Wohlbefinden und Voraussetzung für [eine] hohe Lebensqualität und Leistungsfähigkeit“ schreibt das Robert-Koch-Institut in seiner Gesundheitsberichterstattung aus dem Jahre 2015(Robert-Koch-Institut, 2018). Nur wenn man sich gesund fühlt, wird man in allen Bereichen des Lebens über lange Zeiträume mit Zufriedenheit seine volle Leistungsfähigkeit abrufen können.
Wann ist man gesund? Der Begriff Gesundheit unterliegt einer sehr persönlichen Wahrnehmung und Definition. Die Bedeutungsfülle hat sich auch in der Vergangenheit je nach Zeitgeist gewandelt(Schiffer, 2013, S. 38 f).
Der derzeitige gesellschaftliche Trend zeigt, dass sich die Anzahl von Stoffwechselerkrankungen, Krebs- und Muskel-Skelett-Erkrankungen erhöht sowie eine gravierende Zunahme von psychischen Störungen zu verzeichnen ist (Robert-Koch-Institut, 2018 bzw. Treier & Uhle, 2016, S. 2). Die Zunahme von Krankheiten widerspricht einer gesunden Lebensqualität. Der demografische Wandel stellt eine weitere Herausforderung im Bereich Gesundheit dar. Der Altersdurchschnitt der Bevölkerung steigt. Damit Renten auch zukünftig bezahlt werden können, verschiebt sich der Rentenbeginn ins höhere Alter. Es braucht eine gute Gesundheit, um länger belastbar und arbeitsfähig zu sein. Unter diesen und anderen Umständen wie z. B. individuellem Lebensstil, beruflichem Umfeld oder sozialem Milieu ist es keine Selbstverständlichkeit, gesund zu sein und gesund zu bleiben. Das Wissen darüber, wie Gesundheit erhalten werden kann, ist in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen. Allerdings fehlen an vielen Stellen Kompetenzen im gesundheitsbewussten Handeln (ebd.). Im Arbeits- und sozialen Umfeld verstärkt sich das Bedürfnis nach unterstützenden Maßnahmen zur Gesundheitserhaltung und Gesundheitsförderung.
Innerhalb der Arbeitswelt begann man sich seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts verstärkt mit Möglichkeiten zu befassen, Unternehmen und dortige Arbeitsbedingungen gesundheitsfördernd zu gestalten (Steffgen, 2004, S. 14). Inzwischen existiert in vielen Unternehmen ein fest verankertes betriebliches Gesundheitsmanagement, durch das das Verständnis gesundheitsbewussten Agierens von Seiten der Führungs- und Mitarbeiterebene in der Unternehmens-politik gestärkt wird.
Die vorliegende Masterarbeit hat die Arbeitswelt des Orchestermusikers in den deutschen Kulturorchestern im Fokus. Musiker werden innerhalb ihrer Arbeit mit vielseitigen Belastungen konfrontiert. Auf der einen Seite stehen die physischen Anstrengungen, die das Spielen eines Instrumentes mit sich bringt. Auf der anderen Seite entstehen häufig psychische und psychosoziale Belastungen, da Orchestermusiker ständig auf engstem Raum, ohne Rückzugsmöglichkeit, oft unter Stress und überwiegend nonverbal in einer großen Gruppe zusammenarbeiten (Hesse, 2000; Badura et al., 2015, S. 19). Zusätzlich kann der Arbeitsplatz des Orchestermusikers nicht nach Belieben optimiert werden. Oft stellen bauliche Aspekte (wenig Platz, schlechte Akustik u. a.) von Bühnen und Orchestergräben große Hindernisse dar, um auf lange Sicht in gesunder Weise den Beruf ausüben zu können (Lahme et al., 2000, S. 286 f.). Weiterhin belasten längere Reisen ins In- und Ausland die Gesundheit (Gembris & Heye, 2012, S. 159). Auch Orchestermusiker müssen aufgrund des sich verschiebenden Renteneintrittsalters länger arbeiten. Hinzu kommen eine stärkere zeitliche Inanspruchnahme sowie ein stetig wachsender Aufgabenbereich(DOV A. G., 2018, S. 4). Ein weiterer wichtiger Punkt ist die häufige Konfrontation mit kultur-politischen Sparmaßnahmen, die das Ausüben des Orchestermusikerberufs vor Herausforderungen stellen (ebd., Mertens, 2005; Gembris & Heye, 2012, S. 159).
Musiker werden bei Berufsunfähigkeitsversicherungen grundsätzlich in eine der höchsten Risikogruppen eingeordnet1. Grund hierfür ist das sehr häufige Auftreten beruflich bedingter Erkrankungen. Die Basis der Berufsausübung sollte physische und psychische Gesundheit sein, um langfristig den Anforderungen des Berufes Stand halten zu können. Dafür ist es nötig, Gesundheit von Seiten des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers zu fördern, um eine bestmögliche Arbeitsleistung von Orchestermusikern zu gewährleisten.
Die hohe Relevanz von Gesundheitsförderung bei Orchestermusikern wird durch die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Musikermedizin und Musikphysiologie (DGfMM) durch Fachartikel, Studien und Publikationen neuer Methoden in der Öffentlichkeit aufgezeigt (z. B. nachzulesen bei Altenmüller et al., 2012; Spahn, 2017 sowie in diversen Fachartikeln in der Fachzeitschrift ‚Musikphysiologie Musikermedizin‘). Außerdem wird zunehmend von Seiten der Gewerkschaft der Orchestermusiker, der Deutschen Orchestervereinigung (DOV), über die Fachzeitschrift ‚Das Orchester‘ und die eigene Website auf die Notwendigkeit präventiver Maßnahmen im Berufsleben hingewiesen (DOV, 2018).
Es fehlt allerdings derzeit ein fokussierter Blick in die Kulturbetriebe, inwiefern Gesundheit von Musikern in betrieblichen Zusammenhängen gefördert wird bzw. werden kann. Eine aktuelle Situationsanalyse und daraus resultierende Handlungsempfehlungen sollen Ziel dieser Arbeit sein. Nachdem zu Beginn alle notwendigen Begriffe der Aufgabenstellung abgegrenzt, erläutert und in Zusammenhang gebracht werden, folgt basierend auf Interviews mit Vertretern der deutschen Kulturorchester eine Situationsanalyse des Bereichs betrieblicher Gesundheitsförderung von Berufsmusikern. Durch die Erstellung einer Übersicht, in welchem Umfang derzeit Kulturorchester Gesundheitsförderung thematisieren, werden Maßnahmen aufgezeigt, die im Bereich betrieblicher Gesundheitsförderung in den deutschen Kulturorchestern ergriffen werden, sowie Umstände und Einflussfaktoren benannt, die die Umsetzung von Gesundheitsförderung ermöglichen bzw. erschweren. Auf Grundlage der Ergebnisse werden zwei herausragende Best-Practice-Beispiele erläutert und weitere Handlungs-möglichkeiten im Bereich betrieblicher Gesundheitsförderung aufgezeigt.
Die vorliegende Arbeit kann aufgrund der qualitativen Befragungsmethode eines ausgewählten Personenkreises nur einen begrenzten Einblick in die aktuelle Situation betrieblicher Gesundheitsförderung geben. Eine vertiefende Analyse sowie ein Blick in das umfassendere Feld des betrieblichen Gesundheits-managements sind wünschenswert (Badura et al., 2015, S. 230; Frei, 2015, S. 12).
2 Hintergrund – Klärung und Erläuterung relevanter Begriffe sowie deren Zusammenhang
2.1 Gesundheit
Wie einleitend schon erwähnt, unterliegt das Verständnis des Gesundheits-begriffes einer individuellen Wahrnehmung und ist vom Zeitgeist unterschiedlicher Lebensabschnitte geprägt(Schiffer, 2013, S. 38 f.). Verschiedene Philosophen, Soziologen sowie Psychologen haben ihre individuelle fachspezifische Definition von Gesundheit formuliert. Dieser Arbeit liegt neben der Begriffsbestimmung des Soziologen Aaron Antonovsky die Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO in der 1946 verabschiedeten Verfassung als konkreter Anhaltspunkt zugrunde. Darin ist zu lesen: „Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen“ (WHO V., 2018)2.
2.1.1 Pathogenese- Salutogenese
3 4 Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich dem Verständnis von Gesundheit anzunähern. Eine Betrachtungsweise bezieht sich auf die Ursachen und die Vermeidung von Krankheit. Hier spricht man von einer pathogenetischen Orientierung. Durch die Bekämpfung von Krankheitsursachen soll Gesundheit entstehen (Petzold, 2013, S. 15). Gesundheit ist dann erlangt, wenn Krankheit nicht vorhanden ist. Menschen sind somit entweder gesund oder krank. Aaron Antonovsky prägte eine weitere Betrachtungsweise von Gesundheit. Er beschreibt mit seinem Salutogenese-Modell einen Blickwinkel, der sich mit der Entstehung von Gesundheit befasst und somit das Verständnis erweitert. Gesundheit hat hier etwas mit Lebensqualität bzw. Lebensgefühl zu tun. Hier knüpfen die Gedanken Antonovskys an die Definition der WHO an. Im Konkreten empfiehlt Antonovsky, Gesundheit nicht nur als Zustand sondern als einen Wechselwirkungsprozess zwischen zwei Polen zu verstehen. Der Mensch bewegt sich demnach auf einem permanenten Gesundheits-Krankheits-Kontinuum (Antonovsky, 1997, S. 29 f.). Das Erreichen der Pole (völlige) Gesundheit oder (völlige) Krankheit ist im Leben unwahrscheinlich. Jeder Mensch trägt auch in einem Gefühl von guter Gesundheit einen Teil Krankheit in sich (Schneider, 2018, S. 31). Entscheidend ist die Frage, wo man sich auf dem Kontinuum gerade befindet und welche Faktoren daran beteiligt sind, dass man seine Position auf dem Kontinuum beibehalten bzw. sich auf den gesunden Pol hinbewegen kann. Als Kernantwort formulierte Antonovsky das Konzept des Kohärenzgefühls5. Wichtige Bestandteile hierbei sind Verstehbarkeit und Erklärbarkeit von Veränderungen im Umfeld eines Menschen. Dazu kommt das Gefühl von Bedeutsamkeit in Form von Partizipation an Prozessen im Leben sowie die Handhabbarkeit, gut mit Aufgaben und Veränderungen im Leben umgehen zu können. Ein ausgewogenes Verhältnis aller Elemente führt zu einem inneren Zusammenhang und äußeren Zusammenhalt. Der Mensch empfindet Stimmigkeit in sich und seiner Umwelt: das Kohärenz-gefühl ist stark ausgeprägt. Daraus resultiert Gesundheit (Schiffer, 2013, S. 31; Antonovsky, 1997, S. 34 f.). Ein unausgewogenes Verhältnis der drei Komponenten Verstehbarkeit, Bedeutsamkeit und Handhabbarkeit hat eine dynamische Veränderung auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum zur Folge. Je nach Ausprägung der drei Elemente entsteht ein mehr oder weniger ausgeprägtes Kohärenzgefühl. Risikofaktoren (z. B. Stress) und Schutzfaktoren (z. B. generelles Wohlbefinden) bestimmen die Balance zwischen den zwei Polen Gesundheit und Krankheit (Steffgen, 2004, S. 173). Lebenserfahrung und das Wissen um innere und äußere Ressourcen dienen in belastenden, stressigen Situationen als Kraftreserve und Bewältigungsgrundlage in herausfordernden Lebenssituationen. Je nachdem ob der Mensch ein schwach oder stark ausgeprägtes Kohärenzgefühl besitzt, wird er Stress als Belastung oder positive Herausforderung empfinden und sich somit eher krank oder gesund fühlen. Positive Bewältigungsstrategien spielen bei der Wahrnehmung eine entscheidende Rolle (Antonovsky, 1997, S. 91 f.). Ein Mensch mit stark ausgeprägtem Kohärenzgefühl wird flexibler auf hohe Anforderungen reagieren. In Stressmomenten werden dann die richtigen Ressourcen aktiviert und ein schnelles Bewältigen möglich gemacht. Zusammenfassend ist nach Antonovsky Gesundheit somit ein Prozess, der von vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst wird. Je nach individueller Prägung und äußeren Einflussfaktoren wird Gesundheit unterschiedlich wahrgenommen (ebd., S. 127, 140 f.).
2.1.2 Resilienz
6 In Anlehnung an das Salutogenese-Modell von Aaron Antonovsky hat sich das Konzept der Resilienz entwickelt. Resilienz bezeichnet nach Corinna Wustmann „die psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken“ (Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse, 2009, S. 10). Wenn Menschen unterschiedlichste Belastungen erfolgreich bewältigen und psychisch gesund bleiben können, so besitzen sie die Fähigkeit zur Resilienz. Ein stark ausgeprägtes Kohärenzgefühl stellt einen großen Teil einer guten Widerstandsfähigkeit dar. Wenn sich Menschen grundsätzlich den Heraus-forderungen des Lebens gewachsen fühlen und dann darüber hinaus einen Sinn darin erkennen, gewisse Anforderungen zu bewältigen, können sie auch besser Stresssituationen überstehen. Das Kohärenzgefühl hat sich bis zum Erwachsenenalter ausgebildet und bleibt dann relativ stabil. Resilienz ist im Gegensatz dazu ein lebenslang „dynamischer Anpassungs- und Entwicklungs-prozess“ (ebd.). Veränderungen im sozialen Umfeld, Krankheiten oder unerwartete Lebensereignisse können Stress verursachen, beanspruchen Lebensenergie und können damit Resilienz einschränken. Resilienz ist aber immer wieder neu entdeckbar bzw. erlernbar. Es gibt Faktoren, die resilientes Verhalten unterstützen können. Dazu gehören z. B. eine gute Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, soziale Kompetenz, Kommunikationsfähigkeit oder auch die Fähigkeit zur Stress- und Problemlösung (ebd., S. 40 f.). Dies sind Bereiche, die immer wieder geschult werden können. Ein kompetenter Umgang mit genannten Faktoren unterstützt uns in einer gesunden Lebensweise. Hier findet sich ein Anknüpfungspunkt zur Gesundheitsförderung.
2.2 Gesundheitsförderung
Der Wandel in der Arbeitswelt (z. B. durch Technologisierung und Globalisierung), die Veränderung der Altersstruktur in der Bevölkerung sowie der Anstieg von Erkrankungen (chronische Erkrankungen, durch Stress verursachte Erkrankungen u. a.) führte in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem Umdenken bezüglich Gesundheitsthemen. Die Erhaltung und Förderung von Gesundheit rückte neben der Behandlung von Krankheiten mehr und mehr in den Fokus (Badura et al., 1993, S. 7, 32 f.; Priester, 1998, S. 109 f.; WHO O.-C., 2018). Einen Fortschritt stellt u. a. die Erweiterung des Blickwinkels hin zu einem ressourcen-orientierten Handeln dar. Auch hier ist der Bezug zum Salutogenese-Modell zu finden. (Steffgen, 2004, S. 17). 1986 legte die WHO in der Ottawa-Charta grundlegende Gedanken, Anforderungen und Ziele zur Gesundheitsförderung fest. Darin steht: „Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. In diesem Sinne ist die Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel. Gesundheit steht für ein positives Konzept, das in gleicher Weise die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit betont wie die körperlichen Fähigkeiten. Die Verantwortung für Gesundheits-förderung liegt deshalb nicht nur bei dem Gesundheitssektor sondern bei allen Politikbereichen und zielt über die Entwicklung gesünderer Lebensweisen hinaus auf die Förderung von umfassendem Wohlbefinden hin.“ (WHO O.-C., 2018) Mit dieser Erklärung knüpft die WHO an die Definition von Gesundheit aus der Verfassung von 1946 an. Es wird über den Krankheits-Aspekt hinaus auf das Verständnis eines ganzheitlichen Menschenbildes verwiesen. Gesundheit entsteht als Wechselwirkung von physischen, psychischen sowie sozialen Prozessen und unterliegt dazu noch einer gesellschaftlichen Verpflichtung. Die WHO fordert auf, in sämtlichen Lebensbereichen des Menschen unter gesundheitsförderlichen Aspekten zu handeln. Dies betrifft Bereiche wie Politik, Umwelt, Arbeitswelt, Bildung, Freizeit oder Familie7 und erfordert Kooperation und Zusammenarbeit (Steffgen, 2004, S. 172). Es sollen durch aktives Handeln gesundheitsförderliche Lebensbedingungen geschaffen und persönliche Kompetenzen verbessert werden (WHO O.-C., 2018; Badura et al., 1993, S. 22 f.). Gerade hier setzt eine neue Denkweise ein. Bezogen auf gesundheitsförderliche Aspekte sollen neben der Verbesserung der Umgebung, in der sich ein Mensch bewegt, auch die Personen an sich darin gefördert werden, mit ihrer und der Gesundheit anderer bewusster umzugehen (Faller, 2016, S. 40). Ziel ist, die Fähigkeit auszubauen, seine eigene Gesundheit stärken zu können und damit verbunden ein selbstbestimmteres Handeln zu ermöglichen (WHO O.-C., 2018; Bamberg et al., 1998, S. 18 f.). Gesundheitsförderung bezieht sich auf die Verhaltensebene des Menschen (Förderung gesundheitsbewussten Verhaltens sich selbst und anderen gegenüber, gesunde Selbststeuerung) sowie auf die Verhältnisebene (gesundheitsförderliche Verhältnisse in der Lebensumgebung schaffen) (Schneider, 2018, S. 27).
Gesundheitsförderung geht somit über die herkömmliche Prävention8 hinaus (Priester, 1998, S. 123). Es soll nicht nur Krankheit (physisch, psychisch) verhindert oder verringert werden. Gesundheitsförderung ergänzt Prävention durch den sozialen Aspekt und zielt auf ein langfristiges Wohlbefinden ab. Es handelt sich um einen „langfristigen Prozess, der sich nicht nur auf Risikogruppen konzentriert, sondern grundsätzlich allen Personen offensteht“ (Bamberg et al., 1998, S. 19). Bei der Prävention liegt die Konzentration auf der Vermeidung von Schäden. Durch Gesundheitsförderung werden vorhandene Potenziale unterstützt (Faller, 2016, S. 34). Basis hierfür sind Informationen und Impulse sowie Optionen für eine gesundheitsförderliche Lebensweise (Badura et al., 1993, S. 24).
Prävention kann in drei Teilbereiche gegliedert werden: Primärprävention, Sekundärprävention und Tertiärprävention. Der Bereich der Primärprävention bezieht sich auf Personen, die gesund sind und beinhaltet Maßnahmen, die Risikofaktoren von bestimmten Krankheitsbildern verhindern bzw. beseitigen sollen. Sekundärprävention bezieht sich auf Personen, die entweder in einem frühen Stadium erkrankt sind oder bei denen nach der Heilung ein Wiederauftreten der Erkrankung vermieden werden soll. Hier greifen Maßnahmen zur Vermeidung einer Verschlimmerung bzw. des Wiederauftretens von speziellen Erkrankungen. Personen, die eine ausgeprägte Krankheit diagnostiziert bekommen haben, werden im Bereich der Tertiärprävention eingegliedert. Ziel sind hier Maßnahmen, die eine Chronifizierung vermeiden bzw. Folgeschäden der Krankheit minimieren (Definitionen nachzulesen z. B. bei Schneider, 2018, S. 27). Gesundheit kann generell durch unterschiedliche Maßnahmen in allen drei Bereichen gefördert werden. Am sinnvollsten ist es aber, Maßnahmen im Bereich der Primärprävention anzusiedeln, da hier noch keine Krankheit vorliegt und somit beste Voraussetzungen zur Verhütung einer solchen gegeben sind (Priester, 1998, S. 187 f.). Es wird hier zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention unterschieden. Verhaltensprävention setzt „am Menschen an (z. B. Ernährung, Bewegung, Stressmanagement)“ (Treier & Uhle, 2015, S. 516). Verhältnisprävention bezieht sich auf Maßnahmen zur Verbesserung des „organisatorischen oder technischen Systems“ (gesundheitsförderliche Gestaltung der Umgebung) (ebd.).
Das moderne Verständnis von Prävention basiert auf Partizipation, d. h. dass alle Betroffenen aktiv beteiligt werden (ebd.).
Bezüglich gesellschaftlicher Verpflichtungen zur Gesundheitsförderung waren die Entwicklungen besonders im Hinblick auf die Integration innerhalb der Gesundheitspolitik seit den 80er Jahren mit sehr viel Auf und Ab verbunden (Priester, 1998, S. 15 f., 116, 120 f.; Bamberg et al., 1998, S. 24; Faller, 2016, S. 44). Im Juli 2015 konnte das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (= PrävG - Präventionsgesetz) verabschiedet werden. Dadurch gewinnt Gesundheitsförderung auf politischer Ebene an Bedeutung. Das Gesetz regelt die Zusammenarbeit von gesetzlicher Krankenversicherung (GKV), gesetzlicher Rentenversicherung, gesetzlicher Unfallversicherung (GUV), soziale Pflegeversicherung und privater Krankenversicherung. Ziel ist, Gesundheits-förderung und Prävention in sämtlichen Lebensbereichen, in denen Menschen leben und arbeiten, zu unterstützen und zu stärken. Dies geschieht vor allem durch die Bereitstellung finanzieller Mittel (Bundesgesundheitsministerium, 2018), aber auch durch Beratung und Informationsweitergabe. Das Gesetz ist im §20 SGB V verankert und verpflichtet die Krankenkassen, Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention zu unterstützen. Im SGB VII sind diesbezüglich die Aufgaben und Verpflichtungen der Berufsgenossenschaften, Unfallkassen und Unfallversicherungsverbände geregelt. Beide Seiten sind im Zusammenhang „sinnvoll zu koordinieren“ (Faller, 2016, S. 68).
2.3 Betriebliche Gesundheitsförderung
Bezogen auf die Arbeitswelt stellt Gesundheitsförderung eine neue Dimension dar. Die Ottawa-Charta der WHO gilt auch hier als richtungsweisendes Dokument. Darin ist zu lesen: „Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft die Arbeit, die Arbeitsbedingungen und die Freizeit organisiert, sollte Quelle der Gesundheit und nicht der Krankheit sein.
Gesundheitsförderung schafft sichere, anregende, befriedigende und angenehme Arbeits- und Lebensbedingungen“ (WHO O.-C., 2018).
1997 wurde die Luxemburger Deklaration zur betrieblichen Gesundheitsförderung in der Europäischen Union verabschiedet (2005, 2007 und 2014 aktualisiert). Als Reaktion auf den Wandel in der Arbeitswelt – hier sind u. a. Globalisierung, Veränderung in Beschäftigungsverhältnissen, längere Lebensarbeitszeit aufgrund des demografischen Wandels, Zunahme der Bedeutung des Dienstleistungs-sektors sowie steigende Arbeitslosigkeit zu erwähnen - formulierte das Europäische Netzwerk für betriebliche Gesundheitsförderung folgende Zeilen: „Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) umfasst alle gemeinsamen Maßnahmen von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Gesellschaft zur Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz. Dies kann durch eine Verknüpfung folgender Ansätze erreicht werden: Verbesserung der Arbeits-organisation und der Arbeitsbedingungen, Förderung einer aktiven Mitarbeiterbeteiligung [und] Stärkung persönlicher Kompetenzen“ (BKK-Dachverband, 2018). Auch hier findet sich, wie in der Ottawa Charta, der Bezug zu einer ganzheitlichen Betrachtungsweise, die mit unternehmerischen Aspekten angereichert wird. Ziel von betrieblicher Gesundheitsförderung soll neben der Erweiterung des gesetzlich geregelten Arbeitsschutzes (nachzulesen z. B. bei Faller, 2016, S. 45 oder EU-Komission, 2018) eine Kombination aus gesundheitsgerechter Arbeitsplatzgestaltung, der Schaffung gesundheits-förderlicher Rahmenbedingungen (Bezug zur Verhältnisebene) und der Stärkung individueller Gesundheitskompetenzen sein (Bezug zur Verhaltensebene). Dabei sind auch Lebensbereiche außerhalb der Arbeit integriert. Eine bestmögliche Vereinbarkeit von Beruf und Familie spielt eine große Rolle. Ein wichtiger Bestandteil der betrieblichen Gesundheitsförderung ist die Aktivierung und Motivation aller Beteiligten zum gesundheitsförderlichen Handeln (Partizipation von Führungsebene und Mitarbeitern). Die Steigerung des Wohlbefindens am Arbeitsplatz steht neben der Vorbeugung physischer und psychischer Krankheiten, sowie der Stärkung von Gesundheitspotenzialen im Vordergrund. Betriebliche Gesundheitsförderung bezieht sich auf einen langfristigen Prozess, der sich entwickeln und kontinuierlich verbessern soll.
2.3.1 Begriffliche Abgrenzung
Im unternehmerischen Kontext ist betriebliche Gesundheitsförderung begrifflich und inhaltlich vom betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) zu unterscheiden. Das betriebliche Gesundheitsmanagement beschäftigt sich mit der „systematischen sowie nachhaltigen Schaffung und Gestaltung von gesundheits-förderlichen Strukturen und Prozessen einschließlich der Befähigung der Organisationsmitglieder zu einem eigenverantwortlichen, gesundheitsbewussten Verhalten“9 (Becker et al., 2014, S. 4) unter Zuhilfenahme bekannter Managementstrategien10. Hier geht es um „Steuerung und Integration von Prozessen zum Zwecke der Erhaltung und Förderung der Gesundheit sowie der Motivation und des Wohlfühlens der Mitarbeiter“ (Schneider, 2018, S. 20). Der Begriff Betriebliche Gesundheitsförderung bezieht sich auf „Maßnahmen des Betriebes unter Beteiligung der Organisationsmitglieder zur Stärkung ihrer Gesundheitskompetenzen sowie Maßnahmen zur Gestaltung gesundheits-förderlicher Bedingungen (Verhalten und Verhältnisse), zur Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden im Betrieb sowie zum Erhalt der Beschäftigungs-fähigkeit“ (Becker et al., 2014, S. 4). Bei den Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung kann es sich um „punktuelle, zeitlich befristete Einzelmaßnahmen handeln, ohne dass damit notwendigerweise ein BGM eingeführt wird“ (ebd.). Ein nachhaltiger Erfolg der Maßnahmen zur Gesundheitsförderung ist aber eher durch ein gut strukturiertes BGM gewährleistet (Schneider, 2018, S. 20).
Im BGM sind neben der BGF noch der Arbeits- und Gesundheitsschutz (AGS) und das betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) integriert, wobei BGF und AGS eng miteinander verbunden sind. Beide Teile des BGM beziehen sich größtenteils auf primärpräventive Maßnahmen. Das BEM ist überwiegend im Bereich der Tertiärprävention anzusiedeln. Folgende Unterschiede finden sich zwischen AGS und BGF: beim AGS geht es vorrangig um die Vermeidung bzw. Reduktion von Arbeitsunfällen (pathogen). Hauptziel ist die Prävention von Berufskrankheiten. AGS ist durch die Rechtsgrundlage verpflichtend. BGF bezieht sich auf den Salutogenese-Ansatz und unterliegt in der Durchführung der Freiwilligkeit. Die Grenzen verschwimmen in folgender Hinsicht: der AGS entwickelt sich zu einem ganzheitlichen Arbeitsschutz, da inzwischen auch psychische Belastungen integriert werden. Es werden Anliegen einer partizipativen, auf psychosoziale Belange ausgerichtete Sichtweise und somit Grundlagen für eine gesundheitsförderliche Arbeitswelt unterstützt (Faller, 2016, S. 34). AGS und BGF hängen miteinander zusammen. So können z. B. Maßnahmen der BGF auf Verhaltensebene die Reduktion und Vermeidung von Unfällen am Arbeitsplatz unterstützen (ebd.). Die im AGS verankerte Verpflichtung zur Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen11 bietet wiederum Grundlage für die Maßnahmen in der BGF.
2.3.2 Voraussetzung - Umsetzung - Erfolg von BGF
Um erfolgreich und nachhaltig Maßnahmen zur Gesundheitsförderung im Unternehmen durchzuführen, sollten folgende Voraussetzungen beachtet werden: Die vorhandene Unternehmenskultur12 und Gesundheitspolitik bilden eine entscheidende Basis für die Abstimmung der Maßnahmen (Treier & Uhle, 2015, S. 30; Badura et al., 2015, S. 8). Fragen zum Verständnis vom Gesundheitsbegriff, zu Traditionen, Führungsstil, Hierarchien, Kommunikationsverhalten, Partizipation der Mitarbeiter, finanzieller Situation des Unternehmens, Bedeutung des Menschen als Arbeitskraft, Impulsgeber für Veränderungen oder auch Zeitfaktor für Veränderungsprozesse müssen grundlegend geklärt werden, damit betriebliche Gesundheitsförderung auf fruchtbaren Boden fällt und sich entwickeln kann. Das komplette System des Unternehmens ist Grundlage für eine effektive Verknüpfung von Förderung auf Verhaltens- und Verhältnisebene (Becker et al., 2014, S. 43 f.). Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Verankerung der Thematik betriebliche Gesundheitsförderung auf Führungsebene. BGF darf kein Randthema sein, sondern ist Chefsache (ebd, S. 39 f. sowie Schneider, 2018, S. 9, 75). Wenn sich die Unternehmensleitung nicht mit dem Thema Gesundheitsförderung identifizieren kann, läuft BGF Gefahr, kurzfristig und ergebnislos zu bleiben (ebd., S.76).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Einordnung von BGF in eine umfassende betriebliche Gesundheitspolitik, eigene Darstellung
Eine große Rolle spielt vor der Durchführung von BGF-Maßnahmen die umfassende Analyse des Ist-Zustandes. Hier sollte der Fokus auf verschiedene Ebenen gerichtet werden:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: zu beachtende Punkte bei der Analyse des Ist-Zustandes als Grundlage für die Erstellung eines BGF-Maßnahmenplanes, eigene Darstellung nach (Schneider, 2018, S. 87 f.; Kuhn & Sommer, 2004, S. 154 f., 167 f.; Bamberg et. al, 1998, S. 26 sowie Faller, 2016, S. 498)
Nach genauer Analyse der Situation im Unternehmen können Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung ausgearbeitet werden. Diese sollen immer an den Bedürfnissen aller Beteiligten ausgerichtet sein sowie Verhaltens- und Verhältnisebene in den Zusammenhang bringen. Für gewöhnlich werden die Maßnahmen auf Verhaltensebene in den Bereichen gesunde Führung, Ernährung, Stressbewältigung (Entspannung, psychische Gesundheit), Suchtprävention und Bewegung angesiedelt. Auf Verhältnisebene beziehen sich die Maßnahmen auf eine bessere Gestaltung von Arbeitsplatz und Arbeitsumfeld sowie die Optimierung von Arbeitsabläufen. Es müssen alle Beteiligten für das Thema Gesundheit sensibilisiert und über die Maßnahmen informiert werden, um zielorientiert und nachhaltig Veränderungen zu bewirken. Im Anschluss an die Durchführung muss der Erfolg der Maßnahmen bewertet werden (z. B. durch Evaluationsbögen, Feedback durch Mitarbeiterbefragung), um erreichtes Ziel, Qualität, Sinnhaftigkeit und Nachhaltigkeit einschätzen zu können sowie gegebenenfalls Maßnahmen zu verändern und anzupassen (Treier & Uhle, 2015, S. 71 f.).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Vorteile von betrieblicher Gesundheitsförderung im Kontext des demografischen Wandels (späteres Renteneintrittsalter) (Treier & Uhle, 2015, S. 149)13
Im Bereich der Ist-Analyse und der Qualitätskontrolle im Nachgang vermischen sich die Aufgaben in der BGF mit dem Verantwortungsbereich des BGM, in dem sämtliche Prozessabläufe und -optimierung verankert sind. Sollte es sich um Einzelmaßnahmen ohne ein BGM handeln, müssen die Aufgaben von anderen (qualifizierten) Verantwortlichen des Unternehmens ausgeführt werden oder extern geregelt sein, damit bezüglich BGF ein langfristiger Prozess gewährleistet ist, der sich entwickeln und kontinuierlich verbessern kann14 (Giesert, 2011, S. 237 f). Ein weiterer Erfolgsfaktor ist eine offene, umfassende und aufmerksame Kommunikation, die eine Erreichbarkeit aller Beteiligten ermöglicht, somit Einfluss auf die Einstellung und Handlungsbereitschaft hat und alle am Prozess aktiv partizipieren lässt15 (Badura et al., 1993, S. 68). Erfolg kann auch durch geschickte Kooperationen mit externen Einrichtungen gewährleistet werden.
Es gibt einige Faktoren, die die Durchführung und somit den Erfolg von BGF hemmen können. Hier sei als erstes auf die dafür benötigten Finanzen verwiesen. BGF-Maßnahmen kosten Geld Unterstützung kann es durch externe Dienstleister bezogen auf aktuelle Themenkomplexe der Maßnahmen geben (Ernährungsberatung, Bewegungskurse etc.) oder, bezogen auf die Rechtsgrundlage (Präventionsgesetz), durch Krankenkassen sowie Unfallversicherungsträger. Dort lässt sich auch finanzielle Unterstützung für die Durchführung von BGF-Maßnahmen beantragen (z. B. für gesundheitsförderliche Möbel am Arbeitsplatz). Grundlegend sollte im Unternehmen die Basis für Veränderungsmöglichkeiten über einen längeren Zeitraum gegeben sein (Treier & Uhle, 2015, S. 29). Außerdem sind Impulsgeber aus den eigenen Reihen von großer Bedeutung (Priester, 1998, S. 120). Empfehlenswert ist es, mit kleineren Maßnahmen und Informationen, die gut in den bisher bestehenden Arbeitsalltag integrierbar sind, die Beschäftigten des Unternehmens zu Beginn eines angestrebten BGF-Prozesses zu sensibilisieren und später größere Maßnahmen einzuführen (Treier & Uhle, 2015, S. 71 f., 75). Grundsätzlich ist BGF für ein Unternehmen u. a. bezüglich Verringerung des Krankenstandes, steigender Arbeitszufriedenheit, besserem Betriebsklima, Verbesserung der Arbeitsleistung, Steigerung des Images und somit der Attraktivität nach außen ein Erfolgsfaktor. Allerdings gibt es Möglichkeiten, den Ausgaben Gewinne in unterschiedlichen Bereichen gegenüber zu stellen16 (Kuhn & Sommer, 2004, S. 240). Langfristig gesehen werden geringere Fehlzeiten der Mitarbeiter eine Kostenersparnis darstellen (Bamberg et al, 1998, S. 26). Hier ist auch eine Reduktion des Absentismus17 mit einzubeziehen (Kuhn & Sommer, 2004, S. 240). Auch bezüglich der Folgen des demografischen Wandels lassen sich durch eine gut implementierte BGF Kosten sparen, indem Mitarbeiter bis ins Renteneintrittsalter arbeitsfähiger bleiben als ohne BGF. Weniger erfolgreich ist die BGF, wenn Maßnahmen (z. B durch fehlende Sensibilität für das Thema oder mangelnde Erkenntnis zur Notwendigkeit) nicht gezielt eingesetzt werden, d. h. oberflächlichen Charakter besitzen und sich nicht an den individuellen Bedürfnissen orientieren (Badura et al., 1993, S. 68). Auch die vorherrschende Meinung von Führungskräften, dass Mitarbeiter grundsätzlich selbst die Verantwortung für ihre Gesundheit tragen, kann den Erfolg der BGF hemmen. Hier ist es umso wichtiger, dass alle Ebenen des Unternehmens in die Entwicklung von BGF-Maßnahmen mit einbezogen werden (Steffgen, 2004, S. 30; Schneider, 2018, S. 178). Unterstützend ist darauf zu achten, dass eine offene Kommunikation an wichtigen Schnittstellen (Hierarchie-Ebenen) im Unternehmen praktiziert wird, um auch hier Blockaden zu vermeiden (Giesert, 2011, S. 110 f., 237). Der Erfolg von BGF ist erheblich eingeschränkt, wenn nicht genügend Zeit für Veränderungsprozesse eingeplant wird (Treier & Uhle, 2015, S. 29, 72), keine Konstanz in der Umsetzung und Weiterentwicklung von Maßnahmen bestehen kann (Schneider, 2018, S. 178; Steffgen, 2004, S. 31), die Maßnahmen entweder nur den Schwerpunkt auf Verhaltens- bzw. nur auf Verhältnisebene beschränkt werden (ebd. sowie Schneider, 2018, S. 179), der Mut von Betroffenen innerhalb des Unternehmens für Impulse zur Veränderung und Weiterentwicklung fehlt (Kuhn & Sommer, 2004, S. 248)bzw. aus unterschiedlichen Gründen Evaluationen ausbleiben, um einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess aufrecht zu erhalten (Steffgen, 2004, S. 30).
Zum Schluss des langen Abschnittes zum Thema Gesundheit soll noch einmal ein richtungsweisendes Zitat aus der Luxemburger Deklaration stehen: „Der zukünftige Unternehmenserfolg hängt von qualifizierten, motivierten und gesundheitsbewussten Mitarbeitern ab. BGF spielt eine entscheidende Rolle dabei, die Arbeitgeber und die Beschäftigten auf [die] Herausforderungen [der anstehenden Veränderungen in der Arbeitswelt] vorzubereiten“ (BKK-Dachverband, 2018).
2.4 Kulturorchester
Die Definition des Begriffes ‚Kulturorchester‘ ist durch den §1 des Tarifvertrages für die Musiker in Kulturorchestern (TVK) festgelegt. Darin steht: „Kulturorchester sind Orchester, die regelmäßig Operndienst versehen oder Konzerte ernst zu wertender Musik spielen. “ Der TVK regelt die Vergütung und Arbeitsbedingungen von „ Musiker[n] in Kulturorchestern innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, deren Arbeitgeber ein Unternehmermitglied des Deutschen Bühnenvereins ist.“ (TVK, 2009). Der TVK wurde zwischen dem Deutschen Bühnenverein (DBV, Arbeitgeberseite) und der Deutschen Orchestervereinigung (DOV, Arbeitnehmer-seite) geschlossen. Es gibt derzeit 129 Kulturorchester in Deutschland mit 9746 Planstellen (DOV-Statistik, 2018). Die Orchester werden in vier verschiedene Bereiche eingeteilt (Brezinka, 2005, S. 36; Adrians, 2018, S. 12):
- 29 Konzertorchester: spielen vorrangig Konzerte
- 81 Theaterorchester: mit Theaterbetrieb verbunden, vorrangig Bühnen-produktionen (Oper, Ballett, Operette, Musical), aber auch Konzerte
- 11 Rundfunkorchester: ähnlich im Profil wie Konzertorchester, Produktion von Tonträgern, finanziell und organisatorisch in Rundfunkanstalten integriert
- 8 Kammerorchester: geringe Besetzung
Zusätzlich werden die Orchester je nach Größe und Vergütung in Kategorien von A-D eingruppiert, wobei die Planstellenzahl variieren kann.18 Zudem existieren vertraglich geregelte Fußnoten oder Haustarife, die in diversen Über- bzw. Unterkategorien dargestellt werden (z. B. als A/F, A/F1+Zuschlag oder B/ HTV).
2.4.1 Rechtsformen
Kulturorchester unterliegen verschiedenen Rechtsformen. Es gibt Orchester, die in Landes- oder Stadtverwaltungen integriert sind (als Regiebetrieb oder Eigen-betrieb). Gelegentlich sind Zweckverbände oder Stiftungen Träger von Orchestern oder das Orchester hat die Rechtsform Anstalt des öffentlichen Rechts (AöR). Am häufigsten ist die Form der GmbH bzw. gGmbH vertreten. Vereinzelt gibt es auch eingetragene Vereine. Durch die unterschiedlichen Rechtsformen unterscheiden sich die Orchester bezüglich Verwaltungsart und Finanzierungsmöglichkeiten. Orchester sind je nach Verwaltungsart wirtschaftlich mehr und weniger selbständig. Orchesterbetriebe, die als Regiebetrieb direkt in Gemeinde-, Stadt- oder Landesverwaltungen eingeordnet sind, können am unflexibelsten geführt werden. Sie sind als Abteilung öffentlichen Verwaltungsapparaten unterstellt und wirtschaftlich unselbständig (Brezinka, 2005, S. 41; Scherz-Schade, 2014, S. 10). Alle anderen Rechtsformen weisen mehr betriebswirtschaftliche Eigenständigkeit auf und haben finanziell mehr Spielraum. Zur Finanzierung ist zu erwähnen, dass sich kein Orchester bzw. Kulturbetrieb ökonomisch gesehen selbst tragen kann (Brezinka, 2005, S. 10, 46; Bendixen, 2006, S. 234, 240). Die Einnahmen werden nie die Ausgaben decken. Aus diesem Grund müssen Subventionsgelder19 und andere Fördermittel beantragt werden. Aufgrund vorherrschender Einsparungen im Kulturbereich ist hier viel Diplomatie und Überzeugungskunst verlangt (ebd., S. 244, 256 f.), um die Existenz der Institution auf längere Zeit abzusichern. Die Rechtsform kann eine Rolle bei der Akquirierung von Sponsoren spielen. So scheint eine Stiftung nach außen hin für Geldgeber attraktiver zu sein als ein Verein bzw. das kleine ‚g‘ der gGmbH als Zeichen der Gemeinnützigkeit des Kulturbetriebes ein wichtiges Signal für Spender sein (Scherz-Schade, 2014, S. 11). Die Einbettung eines Orchesterbetriebes in öffentliche Verwaltungsapparate kann daher den Vorteil haben, dass bezüglich Finanzen eine gewisse Sicherheit besteht (ebd., S. 12, Brezinka, 2005, S. 45).
2.4.2 Organigramm
20 Auf den ersten Blick scheint die Aufbauorganisation eines Orchesterbetriebes sich nicht sehr von anderen Unternehmen zu unterscheiden. Es gibt eine Geschäftsführungsebene, darunter gliedern sich verschiedene Abteilungen mit unterschiedlichen Aufgabenbereichen und Arbeitsplatzprofilen. So gibt es einen technischen Bereich, die Verwaltung mit Personalabteilung, Rechnungswesen, Verkauf, sowie Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und dazu einen Produktions-bereich (Brezinka, 2005, S. 61). Auf den zweiten Blick stellt sich jedoch die Organisation wesentlich komplexer dar (ebd., S. 58). Zum gängigen Verwaltungs- bzw. Organisationsapparat existiert parallel ein künstlerischer Aufbau. Auch hier gibt es eine Geschäftsführungsebene - den künstlerischen Leiter bzw. Chefdirigenten. Er ist eng mit der Geschäftsführung (Intendanz des gesamten Orchesterbetriebes) verbunden, kann aber je nach Orchesterbetrieb unterschiedliche Aufgabenbereiche zugeschrieben bekommen (rein künstlerisch bzw. auch programmatisch oder organisatorisch). Neben den administrativen Bereichen Orchesterbüro, Notenbibliothek, Technik/Orchesterwarte besteht auf künstlerischer Ebene der Orchesterapparat. Ein Konzertorchesterbetrieb ist anders strukturiert als ein Rundfunkorchester- oder Kammerorchesterbetrieb bzw. Orchester, die in einen Theaterbetrieb integriert sind. Beim Theaterbetrieb findet sich eine der komplexesten Form der Aufbauorganisation, da hier neben dem Orchesterbereich noch eine große Anzahl anderer künstlerischer Bereiche neben den wirtschaftlichen und administrativen zusammen treffen21. Je nach Größe und finanzieller Lage des Orchesterbetriebes variiert die Anzahl an Mitarbeitern im Verwaltungsbereich. Die Komplexität in der Aufbauorganisation von Orchester-betrieben bzw. deren Einbettung innerhalb eines anderen Betriebes ist Grundlage für Schwierigkeiten im Bereich Organisation und Kommunikation22. Oft ist nicht klar erkennbar, wo die Zuständigkeiten bei Fragen liegen bzw. ob Ansprechpartner im künstlerischen oder administrativen Bereich angefragt werden müssen. Teilweise überschneiden sich auch die Zuständigkeiten (Schindler, 2013, S. 29). Hinderlich können unterschiedliche Sprache oder Vokabular zwischen Musikern und Verwaltungsmitarbeitern sein (innerhalb eines Betriebes oder in Kontakt mit einem öffentlichen Verwaltungsapparat) (ebd., S. 25, 116 f.). Hier sind u. a. als Hintergrund unterschiedliche Zielvorstellungen relevant. Wirtschaftliche Aspekte des Betriebes (Auslastungszahlen, Einnahmen, Ausgaben etc.) entsprechen nicht immer den künstlerischen Zielvorstellungen. Speziell bei Orchestern innerhalb anderer Kulturbetriebe kann ein Kommunikationsmangel problematisch werden, da dort möglicherweise der direkte Bezug zur Öffentlichkeit blockiert ist und Musiker auf die verlässliche Weitergabe wichtiger Informationen durch Dritte angewiesen sind (ebd., S. 35). Zusätzlich schwierig wird Kommunikation, wenn sich die künstlerische und die administrative Ebene vermischt (so z. B. bei Orchestervorständen möglich) und dann ein Übermaß an Kommunikations-verpflichtung entsteht, die aber nicht gewährleistet werden kann (ebd., S. 182). Ein zu beachtender Aspekt innerhalb von Kommunikationsprozessen ist der Umstand, dass bei Musikern an Führungspositionen im Orchester die Weitergabe von Informationen, Fragen und Bedürfnissen eher auf das rein Musikalische beschränkt ist. Teamführung und die Kommunikation zwischen Gremien auf administrativer Ebene ist weniger entwickelt (Frei, 2015b, S. 32).
2.4.3 Herausforderungen am Arbeitsplatz des Berufsmusikers
Die Orchestermusiker der deutschen Kulturorchester arbeiten auf Konzertbühnen sowie in Orchestergräben, je nach Reisetätigkeit des Orchesters rund um die ganze Welt. Charakteristisch für den Arbeitsort sind räumliche Enge, ungünstige Luft- bzw. Temperaturverhältnisse, ungünstige Lichtverhältnisse, hoher Geräuschpegel, überwiegend nonverbale Verständigung und ein hohes Maß an zwischenmenschlicher Nähe. Unter diesen Umständen werden hohe Konzentration und Präzision bei der Arbeit gefordert (Pangert & Loock, 2004; Hesse, 2000).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Distanzen am Arbeitsplatz des Orchestermusikers (Spahn C. , 2016)
Zudem kennzeichnet das Spielen eines Musikinstrumentes im Orchester hohe Perfektion, Emotionalität, körperliche Anstrengung, hohe mentale Anspannung, wenig Privatsphäre, ein hohes Maß an Öffentlichkeitspräsenz und ausgeprägte Teamarbeit - das alles zu besonderen Arbeitszeiten23. Ein Orchestermusiker ist ein speziell ausgebildeter, hochsensibler Individualist, der sich im Berufsleben innerhalb strenger Hierarchien24 in die komplexen Arbeitsabläufe eines homogen agierenden Teams einfügen muss (Gansch, 2006, S. 17, 21 ff., 58 f.; Brezinka, 2005, S. 20 ff.). Dies stellt im Gesamten hohe Anforderungen an Physis und Psyche des Musikers dar. Solange ein ausgewogenes Grundwohlsein durch einen guten Gesundheitszustand, gutes Training, Motivation und Arbeitszufriedenheit besteht, wird der Orchestermusiker leidenschaftlich und inspiriert seinen Beruf ausführen können (Pangert & Loock, 2004, S. 5; Gansch, 2006, S. 74). Besteht jedoch ein Ungleichgewicht zwischen oben genannten Faktoren ist die Gefahr groß, dass das Arbeiten zu einer enormen Belastung bzw. Überforderung wird und somit berufsbedingte Erkrankungen entstehen können (Hesse, 2000).
2.5 Betriebliche Gesundheitsförderung im Kulturorchester
2.5.1 Zahlen und Fakten
Ende 2010 / Anfang 2011 gaben innerhalb der Studie „Älter werden im Orchester“ von Heiner Gembris und Andreas Heye 55% von 2536 befragten Musikern25 aus den deutschen Kulturorchestern an, unter „körperlichen Beschwerden zu leiden, die das Instrumentalspiel beeinflussen“ (Gembris & Heye, 2012, S. 280). Die häufigsten Beschwerden in Zusammenhang mit dem Musikerberuf betrafen den Bewegungsapparat. Damals gaben 83% an, davon betroffen zu sein (ebd.). Nach weiteren statistischen Auswertungen zum Thema Instrumentalspiel-assoziierte muskuloskelettale Schmerzsyndrome lag die Zahl der betroffenen Musiker 2016 sogar bei 89%, davon bei ca. 40% mit chronischem Verlauf (Steinmetz, 2016). An zweiter Stelle traten laut Studie von Gembris und Heye Probleme mit dem Gehör auf (34%), gefolgt von Beschwerden im Zusammenhang mit dem Nervensystem26 sowie Herz-Kreislauf-Probleme (Gembris & Heye, 2012, S. 280). Ein wichtiger Aspekt der Studie ist die Tatsache, dass bei den unter 30-Jährigen bereits ein Viertel der Befragten körperliche Probleme angegeben haben und die Tendenz stark mit dem Alter steigt. 41% der Musiker stellten altersbedingte Leistungseinbußen fest (ebd., S. 281 f.). Chronische Hauterkrankungen und psychische Beeinträchtigungen z. B. durch Auftrittsängste, Frustration, Motivationsprobleme, Depression, soziale Konflikte (z. B. Mobbing) sowie Burn-out gehören ebenfalls zu typischen Beschwerden im Musikerberuf (ebd., S.158; Pegelhoff, 2009; Altenmüller et al., 2012, S. 13, 87 sowie Pangert & Loock, 2004, S. 26 f.). Aufgeführte typische Erkrankungen bei Berufsmusikern im Orchester bieten Anknüpfungspunkte für Maßnahmen innerhalb betrieblicher Gesundheits-förderung.
[...]
1 Berufe der Risikogruppe 5 und 6 sind „Hochrisikoberufe“ und oft nur mit Zuschlägen versicherbar. Beispiele für Berufe der Berufsgruppe 5 und 6: Dachdecker, Musiker, Pilot etc.
2 Die Basis für ein ausgeglichenes Gesundheitsempfinden lässt sich u. a. auch anhand der Bedürfnispyramide nach A. Maslow bzw. dem SAR-Modell nach P. Becker erläutern, siehe dazu Abb. 1 und 2 im Anhang.
3 Pathogenese: aus dem Altgriechisch, páthos – Leiden, Sucht, génesis – Entstehung
4 Salutogenese: aus dem Latein, salus – Gesundheit, Wohlbefinden, genesis – Entstehung
5 Kohärenz: aus dem Latein, cohaerere - zusammenhängen
6 Resilienz: aus dem Latein, resilire – abprallen, zurückspringen
7 Hier spricht man auch von der Schaffung gesundheitsförderlicher Lebenswelten, sog. Settings (Faller, 2016, S. 40).
8 Prävention: aus dem Latein, praevenire – verhüten, zuvorkommen
9 Definitionen sind der DIN SPEC 91020 entnommen, seit Juli 2012 ein allgemein akzeptierter Standard zur strategischen und systematischen Umsetzung eines BGM
10 zu erwähnen sind hier der PDCA-Zyklus und der KVP
11 „Der § 5 Abs. 1 ArbSchG verpflichtet den Arbeitgeber zur Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung Die Gefährdungsbeurteilung ist die systematische Ermittlung und Bewertung relevanter Gefährdungen der Beschäftigten mit dem Ziel, die erforderlichen Maßnahmen für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit festzulegen“ (GDA, 2018).
12 Hierzu sind das Kulturebenen-Modell von E. Schein, das Eisberg-Modell nach S. Sackman bzw. das Zwiebelmodell nach G. Hofstede als weiterführende Schlagworte zum Nachlesen zu empfehlen.
13 Zur Arbeittsfähigkeit soll auf das Modell ‚das Haus der Arbeitsfähigkeit‘ und den Work Ability Index nach J. Illmarinen verwiesen werden (Giesert, 2011, S. 48 f., Treier & Uhle, 2015, S. 138 f.). Bezüglich Arbeitszufriedenheit und Motivation ist das Job-Characteristics-Modell von J. R. Hackman und G. R. Oldham als Diagnoseinstrument mit salutogenetischem Ansatz bezüglich Kohärenzgefühl in der Arbeitswelt von Bedeutung. Bedürfniserhebung durch Fragebögen, Mitarbeitergespräche und Begehung der Arbeitsplätze sind für den Erkenntnisgewinn zusätzlich von großer Wichtigkeit.
14 Hierzu findet sich in der Luxemburger Deklaration der Verweis auf nachweislichen Erfolg, wenn Partizipation (aller), Integration (in alle Bereiche), Projektmanagement (Analyse von Bedarf, Priorität, Planung, Ausführung, kontinuierliche Kontrolle und Bewertung) sowie Ganzheitlichkeit (Verhalten, Verhältnis) garantiert sind (BKK-Dachverband, 2018). Kontinuierliche Verbesserung der Maßnahmen ermöglicht auch die Voraussetzungen für eine ‚lernende Organisation‘. Hierzu sei auf C. Argyris verwiesen (nachzulesen z. B. bei Argyris & Schön, 1999).
15 Zum Thema Kommunikation sei auf das Buch ‚Unternhemen(s)gesundheit‘ von I. Jäkel und G. Stein hingewiesen, in denen u. a. Modelle zur Salutogenese und dem Kohärenzgefühl mit Hintergründen aus der Kommunikationspsychologie verknüpft werden (Jäkel & Stein, 2016, S. 158).
16 Laut Report aus dem Jahr 2016 von der Initiative Gesundheit & Arbeit liegt der RoI (Return on Investment) bei 1:3 (iga, 2018).
17 Als Absentismus bezeichnet man das Fernbleiben von Mitarbeitern vom Arbeitsplatz, meist aufgrund fehlender Motivation.
18 allg.: A=großes, sehr gut bezahltes Orchester bis hin zu D=kleines Orchester mit weniger Gehalt, nähere Informationen unter https://www.dov.org/klassikland-deutschland/dov-statistik-planstellen-und-einstufung-der-berufsorchester oder auch bei (Brezinka, 2005, S. 81)
19 Subvention: aus dem Latein, subvenire – unterstützen, Leistung aus öffentlichen Geldern an Unternehmen
20 Abbildung im Anhang
21 Ein ausführliches Schema der Betriebsorganisation findet sich bei (Lahme et al., 2000, S. 269).
22 Als weiterführende Literatur bezüglich Kommunikation in Kulturbetrieben ist das Buch ‚Unerhörte Kultur-Kulturbetriebe in der Kommunikationsflut‘ von S. Schindler zu empfehlen (Schindler, 2013). In diesem werden sehr umfassend und differenziert Kommunikationsphänomene in sämtlichen Arten von Kulturbetrieben betrachtet.
23 Konzerte und Theateraufführungen finden vorwiegend am Abend und an Wochenenden statt. Geprobt wird am Vormittag, Nachmittag und Abend, je nach Orchester und Probendisposition variabel. Grundsätzlich gilt laut §16 TVK für Orchestermusiker eine Sechs-Tage-Woche.
24 Siehe Anhang Abb. 3: an der Spitze steht der Dirigent, danach der Konzertmeister, in der Rangfolge schließen sich die Stimmführer, stellvertretenden Stimmführer, Vorspieler und Tuttisten an, in erster Linie wird das Orchester bzw. die einzelnen Gruppen optisch durch Bewegungen des Körpers bzw. Instrumentes der Führungskräfte angeleitet (Gansch, 2006, S. 23).
25 9922 Fragebögen (entspricht der Anzahl damaliger Planstellen in 133 deutschen Kulturorchestern) wurden verschickt, die Rücklaufquote lag bei 25,6% (Gembris & Heye, 2012, S. 21).
26 Hier ist vor allem neben dem Auftreten von Nervenkompressionssyndromen auf die Fokale Dystonie hinzuweisen (Altenmüller et al., 2012, S. 84 ff.).
- Quote paper
- Friederike Hübner (Author), 2018, Betriebliche Gesundheitsförderung von Berufsmusikern in den deutschen Kulturorchestern, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/471081
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