Die vorliegende Arbeit basiert auf Cassirers letztem Werk "Der Mythus des Staates", das sich mit den kulturhistorischen Voraussetzungen und der Entstehung des Nationalsozialismus auseinander setzt. Das Werk will klären, welche Rolle der Mythos innerhalb der Philosophiegeschichte, speziell in der Geschichte der Staatstheorie, spielt und ob er kontinuierlich dem rationalen Denken, dem Logos, weichen musste. Aus diesem langen Zeitraum habe ich mir die griechische Antike herausgenommen, um an ihr zu erforschen, wie sich das Verhältnis zwischen Mythos und Logos im Laufe von rund 400 Jahren gestaltete.
Für Cassirer bildet der Mythos eine besondere Art des Anschauens und Denkens. So wie der Mensch seine Welt in wissenschaftlichen, sprachlichen und künstlerischen Termini begrifflich erfasst, so fasst er sie auch in mythischen Bildern. Damit sind Mythen nicht nur Interpretationen von Riten, sondern sie sind auch "Ausdruck eines Fühlens", Mythos "ist Gefühl in Bild gewandelt" (Cassirer 2002, 59). Nach Cassirers Verständnis fallen die Mythen damit unter den Begriff der symbolischen Ausdrücke, ebenso wie das Faustballen oder das Stirnrunzeln symbolhafte Ausdrücke eines menschlichen Gefühls von Ärger oder Unverständnis sein können. Der symbolische Ausdruck ist allen kulturellen Aktivitäten gemeinsam, die dem animal symbolicum der "Objektivierung" seiner Sinnenswahrnehmungen im Sinne einer Klassifizierung und der Bildung von Begriffen dienen. Mythos ist die Kunst "seine am tiefsten verwurzelten Instinkte, seine Hoffnungen und seine Furcht" (Cassirer 2002, 65) auszudrücken und zu organisieren. Da die größte menschliche Angst diejenige vor dem Tod ist, drückt auch sie sich vornehmlich im Mythos aus. Und während der antike Stoizismus noch versuchte, den lebenden menschlichen Geist von der Furcht vor dem Tod zu befreien, löst am Ende erst die christliche Offenbarung den Konflikt, indem sie ein Leben nach dem Tod verspricht.
INHALTSANGABE
I. EINLEITUNG
II. WAS IST MYTHOS?
1. Das mythische Denken
2. Mythos und Ritual
3. Der Mythos in seiner Funktion als symbolischer Ausdruck
III. MYTHOS UND LOGOS IN DER FRÜHEN GRIECHISCHEN PHILOSOPHIE BIS ZU SOKRATES
1. Physiologie und Kosmologie
2. Theologie
3. Anthropologie
a. Die Sophisten
b. Sokrates
IV. PLATONS NEUE ANTHROPOLOGIE UND MYTHOLOGIE
1. Die Πολιτεία
2. Psychologie
3. Mythologie
a. Die angemessene Vorstellung von den Göttern
b. Platons Mythen
V. ZUSAMMENFASSUNG
VI. LITERATUR
VII. QUELLENEDITIONEN
I. EINLEITUNG
Cassirer, geboren 1874 in Breslau, gestorben 1945 in New York, studierte erst Rechtswissenschaften und deutsche Literatur in Berlin, später dann Philosophie in Berlin und Marburg. Hier wurde er auch Mitglied der „Marburger Schule“, die sich dem Neukantianismus verschrieben hatte. 1919 wird er Professor in der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg und 1929 wird er dort auch zum Rektor gewählt. Im Jahr 1933 emigriert er nach England, übernimmt aber schon 1935 einen Lehrstuhl an der Universität von Gøteborg, Schweden. 1941 siedelt er in die USA über und lehrt zuerst an der Yale, später an der Columbia University in New York.
Die vorliegende Arbeit basiert auf Cassirers letztem Werk Der Mythus des Staates, das sich mit den kulturhistorischen Voraussetzungen und der Entstehung des Nationalsozialismus auseinander setzt. Das Werk will klären, welche Rolle der Mythos innerhalb der Philosophiegeschichte, speziell in der Geschichte der Staatstheorie, spielt und ob er kontinuierlich dem rationalen Denken, dem Logos weichen musste. Aus diesem langen Zeitraum habe ich mir die griechische Antike herausgenommen, um an ihr zu erforschen, wie sich das Verhältnis zwischen Mythos und Logos im Laufe von ca. 400 Jahren gestaltet.
Die vorsokratischen Quellen werden griechisch nach der Edition von Kirk, Raven und Schofield (KRS), andere Quellen nach den im Literaturverzeichnis angegebenen Ausgaben zitiert, jedoch teilweise grammatisch an den deutschen Rahmensatz angepaßt. In den Fußnoten wird eine Übersetzung gegeben. Soweit nicht anders, in Klammern hinter der Übersetzung, angemerkt, stammen die Übersetzungen von mir. Die Abkürzungen der Quellenstellen entsprechen den Maßgaben des Neuen Pauly Band 1, wobei die vorsokratischen Quellen der Vollständigkeit wegen, in Klammern, auch nach Hermann Diels und Walter Kranz (DK) zitiert werden.
Auf eine umfangreiche Quellenkritik muss bei der Interpretation vorsokratischer Texte großteils verzichtet werden, weil hierzu auch eine umfassende (philologische) Rezension nötig wäre. Meine Interpretation basiert jeweils auf der angegebenen Literatur oder aber auf eigenen Kenntnissen und Erkenntnissen, die ich in Seminaren oder in autodidaktischer Beschäftigung gewonnen habe und die hier nicht ausführlich dargelegt werden können.
Die Literaturliste stellt keine erschöpfende Bibliographie dar, sondern führt nur die im Text mit Abkürzungen zitierten und angesprochenen Werke an.
Silvia Bielert
II. WAS IST MYTHOS?
Cassirers Werk The Myth of the State erscheint erstmals im Jahr 1946 und gliedert sich in drei Hauptkapitel.[1] Zuerst gibt Cassirer eine Kurzfassung seiner Definition von Mythos auf der Grundlage seiner Vorarbeit in Die Philosophie der symbolischen Formen, speziell in Band 2 von 1925, der sich mit dem mythische Denken auseinandersetzt. Das zweite Kapitel behandelt Rolle und Funktion des Mythos in der Geschichte der politischen Theorie von der Antike bis zur Aufklärung. Hier zeigt Cassirer an ausgewählten Beispielen auf, wie der Mythos in der politischen Ideengeschichte bekämpft wird, während gleichzeitig stetig neue mythische Elemente auftauchen, die nie ganz überwunden, sondern nur gebändigt werden können. Zum Schluss wird das eigentliche Ziel seiner Abhandlung ersichtlich: Ab dem 19. aber vor allem im 20. Jahrhundert sieht Cassirer „einen radikalen Wechsel in den Formen politischen Denkens“[2]. Das mythische Denken untersteht nicht länger der Vernunft, sondern steigt zu einer neuen Macht auf, die das rationale Denken, das parallel „im praktischen und sozialen Leben des Menschen“[3] eine Niederlage erfährt, bezwingt. Am Ende gipfelt der politische Mythos in der untragbaren (Rassen)Ideologie und im Völkermord des Nationalsozialismus und dient im Rahmen der Propaganda gleichsam als Stifter der nationalen Identität.
Doch bevor Cassirer beantworten kann, was der Mythos eigentlich ist, welche Funktion er in der Kultur ausübt und welche Rolle er in der politischen Theorie einnimmt, muss er erst feststellen was mythisches Denken eigentlich ist.
1. Das mythische Denken
Gibt es einen Unterschied zwischen wissenschaftlichem und mythischen Denken?
Mit keiner der vielfältigen wissenschaftlichen Antworten seiner Zeit gibt sich Cassirer zufrieden. Keinen Unterschied zwischen beiden Denkarten sehen die Vertreter der These vom homogenen, assoziativen Denken[4]. Der Wissenschaftler wie der Mystiker unterscheiden sich nicht im Denkprozess selbst, sondern lediglich in ihrem Verständnis der Natur des Gesetzes, welches das Ergebnis ihrer Handlungen hervorruft.[5] So erkennt der Wissenschaftler, der rational denkende Mensch, naturwissenschaftlich-mathematische Gesetze, der Mystiker das Wirken übernatürlicher Kräfte.
Auch E. B. Tylor[6] sieht keinen Unterschied zwischen beider Denkprozesse, nur das Material, auf welches sich das Denken bezieht, ist beim Wissenschaftler und beim „Wilden“ oder „Primitiven“, wie Tylor ihn nennt, unterschiedlicher Natur. Um auch den „primitiven“ Menschen verstehen zu können, müsse man lediglich eine Definition von Religion geben, die so allgemein gehalten ist, dass sie gleichzeitig für das Christentum, wie für eine mystische oder Naturreligion gelten kann.[7]
Keinen Zusammenhang zwischen dem primitiven, mythischen oder prälogischen und dem modernen logischen Denken sieht dagegen Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939).[8]
Cassirer gibt selbst seine philosophische Theorie des mythischen Denkens. Er glaubt, dass keine rationale Einsicht in das mythische Denken möglich wäre, wenn es keine Verbindung zwischen beiden Denkarten gäbe.[9] Daher kann der Mythos nicht etwa völlig abstrakt und stupide sein, sondern muss ein rationales Element enthalten, welches ihn dem vernünftigen Menschen verstehbar werden lässt.
Lévy-Bruhl betont auch die Verwandtschaft zwischen Mythos und Sprache und da Sprache nach Cassirer immer logisch, d.h. rational, aufgebaut ist, muss es also der Mythos und damit das mythische Denken auch sein.[10] So haben der unzivilisierte wie der moderne Mensch einen „beständigen Drang nach Klassifikation“ und streben danach „allgemeine Formen und Kategorien des Denkens (zu) entwickeln und an(zu)wenden“[11]. Beide haben „die gleiche Fähigkeit zu Analyse und Synthese [...] Unterscheidung und Identifikation“ die „die Kunst der Dialektik ausmachen“[12].
2. Mythos und Ritual
Nachdem verständlich wurde, was mythisches Denken ist, will Cassirer zuerst noch verstehen, welche Rolle der Ritus spielt, bevor er sich dem Mythos und seiner Funktion zuwenden kann.
Das Leben ist in erster Linie „von Affekten, nicht von Gedanken“[13], wie sie im Mythos in „epischer“[14] Weise ausgedrückt werden, geprägt. Während rituelle Handlungen den „wahren Weg zu Gott“[15] darstellen, sind die mythischen Geschichten nur ihre Interpretation[16]. „Was im dionysischen Kult gesehen wird, wird im Mythus erklärt.“[17]
3. Der Mythos in seiner Funktion als symbolischer Ausdruck
Für Cassirer bildet der Mythos eine besondere Art des Anschauens und Denkens. So wie der Mensch seine Welt in wissenschaftlichen, sprachlichen und künstlerischen Termini begrifflich erfasst, so fasst er sie auch in mythischen Bildern. Damit sind Mythen nicht nur Interpretationen von Riten, sondern sie sind auch „Ausdruck eines Fühlens“, Mythos „ist Gefühl in Bild gewandelt“[18]. Nach Cassirers Verständnis fallen die Mythen damit unter den Begriff der symbolischen Ausdrücke, ebenso wie das Faustballen oder das Stirnrunzeln symbolhafte Ausdrücke eines menschlichen Gefühls von Ärger oder Unverständnis sein können.[19] Der symbolische Ausdruck ist allen kulturellen Aktivitäten gemeinsam.[20] Und alle diese Aktivitäten dienen dem animal symbolicum, wie Cassirer den Menschen bezeichnet, der „Objektivierung“ der Sinnenswahrnehmungen im Sinne einer Klassifizierung und der Bildung von Begriffen.[21] Speziell der „mythische Symbolismus führt zur Objektivation von Gefühlen“[22] und von „sozialer Erfahrung“[23] schreibt er.[24] Und am Ende werden „unsere Gefühle [...] in Werke umgewandelt“[25]. Mythos ist die Kunst „seine am tiefsten verwurzelten Instinkte, seine Hoffnungen und seine Furcht“[26] auszudrücken und zu organisieren. Da die größte menschliche Angst die vor dem Tod ist, drückt auch sie sich vornehmlich im Mythos aus. Und während der antike Stoizismus noch versuchte den lebenden menschlichen Geist von der Furcht vor dem Tod zu befreien[27], löst am Ende erst die christliche Offenbarung den Konflikt, indem sie ein Leben nach dem Tod verspricht.[28]
III. MYTHOS UND LOGOS IN DER FRÜHEN GRIECHISCHEN PHILOSOPHIE BIS ZU SOKRATES
Cassirer sieht in Thukydides (ca. 460-395 v. Chr.) den ersten Kritiker der mythischen Geschichtsauffassung.[29] Auch die Altertumswissenschaft bezeichnet ihn als den Begründer der kritischen Historiographie. Jedoch basiert Thukydides´ geschichtliche Einsicht nicht nur auf neuen Tatsachen, sondern „auf einer viel tieferen und umfassenderen psychologischen Einsicht“[30], denn bevor die Griechen die Geschichte studieren, hatten sie schon die Natur studiert. „Ohne diesen vorbereitenden Schritt“, so Cassirer, „wäre es für sie nicht möglich gewesen, die Macht des mythischen Denkens zum Kampf herauszufordern“.[31]
Mit dieser Aussage trifft er den Kern dessen, was Nestle als Entwicklung „Vom Mythos zum Logos“[32] bezeichnet. Hätte die griechische - zuerst die ionische - Naturphilosophie nicht damit begonnen, die physischen Phänomene ihrer Umwelt auf rationale Weise zu studieren, hätten es die Griechen am Ende auch zu keiner neuen Theologie und damit Anthropologie bringen können. Das delphisch-sokratische Prinzip „Erkenne dich selbst!“ hätte keine Chance gehabt in einer Welt voller Ehrfurcht vor unsichtbaren Göttern und Heroen zu wirken.
Thukydides´ neue wissenschaftliche Methodik basiert zweifellos auf der Neuauffassung von Natur, Gott und Mensch. Jedoch ist hier der Sachverhalt nach neueren Forschungen der Altertumswissenschaften viel komplexer, als Cassirer scheinbar erkannt hatte, denn die frühe griechische (Natur)Philosophie bildet nur eine der Grundlagen des neuen wissenschaftlich-kritischen Denkens.
Schon vor Thukydides´ Werk Πόλεμος τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων[33], das freilich den (vorläufigen) Höhepunkt der griechischen Geschichtsschreibung bildet, wurde versucht Geschichte – auch unabhängig von der Welt der Mythen – zu begreifen. Während sich das historische Bewusstsein der Sumerer, Ägypter, Hethiter, Babylonier oder der Autoren des Alten Testamentes in punktuellen Darstellungen einzelner Geschehnisse - in Form von Tatenberichten, Königslisten und aufzählenden Annalen wie Chroniken - erschöpft, unterscheidet sich die frühe griechische Geschichtsschreibung vor Thukydides davon in einigen Belangen. Von Anfang an stellen griechische Autoren die Frage nach den Ursachen (αἰτίαι) der Ereignisse (auch wenn sie im mythischen Bereich liegen), so dass sich ein großer Zusammenhang ergibt, der dann in ein literarisch-ästhetisches Gesamtwerk verpackt wird. Damit erheben sie schon früh Anspruch auf die kritische Erforschung ihrer Vergangenheit.[34] Die frühesten historischen Elemente, die freilich vom Mythos (μῦθος) verzerrt, aber nicht gänzlich verdeckt sind, finden wir in den Epen Homers (8. oder 7. Jh. v. Chr.) und in den Werken Hesiods (7. Jh. v. Chr.). Bei Homer entdecken wir schon „das Bewusstsein historischer Kontinuität als ein Grundprinzip historischen Denkens“ in Form seiner „genealogischen Kombinationen“ innerhalb eines „zeitlichen Kontinuums“[35]. Darüber hinaus unterscheidet er zwischen der Vor-Zeit (Vergangenheit) seines Stoffes und der Jetzt-Zeit (Gegenwart) seiner Existenz - auch das verleiht seinen Erzählungen eine geschichtliche „Seriosität“. Homer verbindet auch schon ethnografische, geografische und historische Darstellungen miteinander, ähnlich wie später Herodot (ca. 485-25 v. Chr.) in den Exkursen seiner Ἀπόδεξις Ἱστορίης[36]. Daneben bieten die Ausgrabungen Heinrich Schliemanns (1822-1890), Wilhelm Dörpfelds (1853-1940) und Carl Blegens (1887-1971) wie die neueren Grabungen in Troja und in den mykenisch-minoischen Hochburgen ein aufschlussreiches Bild, wie historisch die frühen Dichtungen tatsächlich sind.
Auch Hesiod versucht chronologische und genealogische Ordnung in die überlieferten Mythen[37] und geografische und genealogische Ordnung in die Verteilung der Völker und Stämme[38] zu bringen. Sein episches Lehrgedicht Ἔργα καὶ Ἡμέραι beschäftigt sich sogar gänzlich mit dem realen menschlichen Dasein, wobei das historische Element hier seinen Niederschlag v.a. in der These von den fünf Weltaltern findet.[39]
Freilich gab es schon in der Antike Kritik an der „Mythenfixierung“ Homers und Hesiods. Allgemein gelten sie als die Erfinder der Götter und Heroen. So schreibt Xenophanes (ca. 570-470 v. Chr.): Πάντα θεοῖς ἀνέθηκαν Ὅμηρός θ᾿ Ἡσίοδός τε ὅσσα παρ᾿ ἀνθρώποισιν ὀνείδεα καὶ ψόγος ἐστίν, κλέπτειν μοιχεύειν τε καὶ ἀλλήλους ἀπατεύειν.[40] Und Herodot geht sogar so weit zu sagen, dass Ἡσίοδος γὰρ καὶ Ὅμηρος [...] δὲ εἰσὶ οἱ ποιήσαντες θεογονίην Ἕλλησι καὶ τοῖσι θεοῖσι τὰς ἐπωνυμίας δόντες καὶ τιμάς τε καὶ τέχνας διελόντες καὶ εἴδεα αὐτῶν σημήναντες.[41] Denn die über das 8. Jahrhundert v. Chr. hinausgehende mündliche Tradition, in der beide Autoren stehen, mochte noch kein Grieche fassen.
Auch Herodot[42] hat, entgegen der vielen Kritik, die an ihm und seiner Methode auch heute noch geübt wird[43], den Weg für Thukydides Geschichtsverständnis geebnet. Denn Herodots Methodik liegt, trotz der Mischung aus Mythos und Realität seiner Geschichten, zweifelsfrei unter dem Motto: Ἐγὼ δὲ ὀφείλω λέγειν τὰ λεγόμενα, πείθεσθαί γε μὲν οὐ παντάπασιν ὀφείλω.[44] Da Herodot verschiedenen Zeugenaussagen (Ἱστορίαι[45]) und Erzählungen bezüglich des gleichen Ereignisses - meist ohne Wertung - gegenüberstellt, lässt er den Leser entscheiden, welche der angegebenen Varianten (oft sind es mythenhafte und mythenfreie) ihm glaubhafter erscheint.[46] Eine Tendenz seines eigenen Denkens weg vom Mythos hin zur Realität ist damit sicher nicht auszuschließen.[47] Und so nennt ihn Cicero (106-43 v. Chr.) auch zu Recht den pater historiae[48].
Doch nicht nur die historiographischen, epischen und genealogischen Abhandlungen der frühen Zeit spielen eine Rolle bei der Entstehung der neuen Geschichtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Auch die Ausweitung der geografischen Kenntnisse während der großen Kolonisationsbewegungen der Hellenen zwischen 750 und 550 v. Chr. und der Entdeckerfahrten zwischen 650 und 450 v. Chr. dient der Erweiterung des geistigen und geschichtlichen Horizonts.[49] Im Zusammenhang mit den Entdeckerfahrten, welche die Griechen sogar durch die Straße von Gibraltar aus dem Mittelmeerraum hinaus führen, entsteht ein weiteres literarisches Genre, das als Vorbild der mythenfreien Geschichtsbücher gelten kann - die sogenannten Periplus, also Logbücher, die sowohl den genauen Küstenverlauf wie die passierten Städte, Völker und Häfen mit ihren Abständen aufzeichnen.
„Die griechische Geschichtsschreibung [...] ist [...] das Ergebnis eines langwierigen historischen Prozesses.“[50] Denn während für seine Vorgänger „der Mythos zwar fern, aber doch reale Geschichte“[51] ist, zählt für Thukydides selbst nur die Gegenwart. Grundlage seiner geschichtlichen Einsicht bildet der Logos (λόγος), der das Geschehen rational durchdringen und systematisch ordnen kann.[52] „Eines seiner ersten und hauptsächlichen Anliegen“ sei das Ausschalten des „Fabulösen“[53] (μυθώδης), schreibt Cassirer. Thukydides berichtet nicht das Erstbeste, sondern unterzieht was er erlebt oder von anderen berichtet bekommt einer genauen Analyse, um auf diese Weise die eigentliche Wahrheit dahinter zu finden[54] – eine Methodik[55], die von seinen Nachfolgern und auch heute noch in der Geschichtswissenschaft angewendet wurde und wird.
[...]
[1] Die englischsprachige Ausgabe ist postum erschienen. Die deutsche Erstausgabe erfolgte 1949 unter dem Titel Vom Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens.
[2] Cassirer 2002, 7.
[3] Ebd. 8.
[4] Cassirer führt hier den schottischen Ethnologen Sir James George Frazer (1851-1941) und sein Werk The Golden Bough, New York, 31935 an. (Deutsche Erstausgabe 1928.)
[5] Vgl. Cassirer 2002, 12-15.
[6] Sir Edward Burnett Tylor (1832-1917) ist der Begründer der Kulturanthropologie. Cassirer bezieht sich hier maßgeblich auf sein Buch Primitive Culture, New York, 1874.
[7] Vgl. Cassirer 2002, 15-18.
[8] Vgl. Lévy-Bruhl 1959, 5-13.
[9] Vgl. Cassirer 2002, 20.
[10] Vgl. ebd. 21-24. Siehe auch die Schrift Die Philosophie der symbolischen Formen. Was Cassirer im Band 1 bezüglich der Sprache feststellte, überträgt er im 2. Band auf den Mythos.
[11] Cassirer 2002, 23.
[12] Ebd.
[13] Cassirer 2002, 36.
[14] Ebd. 41.
[15] Ebd. 58.
[16] Vgl. Cassirer 2002, 41.
[17] Cassirer 2002, 59.
[18] Ebd. 60.
[19] Vgl. Cassirer 2002, 62.
[20] Vgl. ebd. 49. 63. Zu den kulturellen Aktivitäten zählt er Mythos, Poesie, Sprache, Kunst, Religion und Wissenschaft.
[21] Vgl. ebd. 63.
[22] Cassirer 2002, 63 f.
[23] Ebd. 66.
[24] Mythen dienen damit, wie Arnold Gehlen es beschreibt, als notwendige, entlastende Institution der menschlichen Seele, indem sie die Urängste aufarbeiten. Aufgrund ihrer Aufgabe enthalten sie auch eine allegorische Form von Wissen, wie schon Francis Bacon 1609 in seiner Schrift De sapientia veterum liber herausgearbeitet hat. Auch Freuds Psychoanalyse ist ja bekanntlich auf der These aufgebaut, dass Mythen tiefenpsychologische deutbar sind, weil sie Wahrheiten enthalten. So spiegelt die anthropomorphe Götterwelt gleichsam Erfahrungen, Ereignisse, Handlungen und Gefühle der Menschen wider.
[25] Cassirer 2002, 65.
[26] Ebd. 66.
[27] Als wichtigste Vertreter der älteren Stoa seien hier Zenon von Kition (336-264 v. Chr.), Kleanthes (ca. 331-232 v. Chr.) und Chrysippos von Soloi (ca. 280-206 v. Chr.) genannt, als Vertreter der späten Cicero (106-43 v. Chr.), Seneca (ca. 4 v.-65 n. Chr.), Epiktet (ca. 50-130) und Marcus Aurelius (121-180).
[28] Vgl. Cassirer 2002, 67. Ein Leben nach dem Tod bieten auch diverse antike Mystizismen, ein gutes jenseitiges „Leben“ ist hier aber an noch schärfere Prämissen gebunden, als in der christlichen Heilslehre. Siehe hier das Kapitel IV 3b.
[29] Vgl. ebd. 70.
[30] Cassirer 2002, 70.
[31] Ebd. 70 f.
[32] Siehe den gleichnamigen Titel seines Werkes. Zusammenfassend wird auf die Problematik, die mit diesem Terminus zusammenhängt, noch einmal im Schlusskapitel eingegangen werden.
[33] Ursprünglich hatte das thukydideische Werk keinen Titel, der hier genannte ist modern ergänzt.
[34] Vgl. Meister 1990, 13-15.
[35] Meister 1990, 14.
[36] Der Titel ergibt sich aus dem ersten Satz des herodoteischen Werks. (Hdt. I Proömion)
[37] In seinem Werk Theogonia.
[38] In seinem Werk Catalogus feminarum (ἠοίαι).
[39] Vgl. Hes. erg. 106-201.
[40] Xenophan. nach Sextus Empiricus, adv. math. IX 193 (DK 21 [11] B Frgm. 11): Homer und Hesiod haben den Göttern alles zugeschrieben, was bei den Menschen schändlich ist und getadelt wird: zu stehlen, die Ehe zu brechen und sich gegenseitig zu betrügen. (Übersetzung: KRS 2001, 183 f., Q 166)) Ähnlich auch Xenophan. nach Clem. Al. strom. V 109 (DK 21 [11] B Frgm. 14). V 110 (DK 21 [11] B Frgm. 15). VII 22 (DK 21 [11] B Frgm. 16).
[41] Hdt. II 53, 2: Hesiod und auch Homer aber die waren, die den Griechen die Theogonie [d.h. Genealogie der Götter] geschaffen haben, den Göttern die Namen gaben, (ihnen) Würden und Künste zuteilten und ihre Figuren zeichneten.
[42] Auf die zeitlich zwischen Homer/Hesiod und Herodot liegenden Autoren werde ich trotz ihres Beitrags zur Entwicklung der Geschichtsschreibung nicht eingehen. Herodots Methodik scheint mir ein sinnvoller Zwischenstand zwischen den Autoren des 8. bis 6. Jahrhunderts und Thukydides zu sein. Keine Vergleichsmöglichkeiten zwischen Thukydides und seinen Vorgängern sieht Vretska in seinem Nachwort. (Thukydides 2000, 791)
[43] M.E. ist diese Kritik der antiken wie modernen Historiker keineswegs angebracht, da Herodot ein ausgezeichneter Geschichtsschreiber war, dessen Schrift dem Historiker wie dem Archäologen - gleich welcher Fachrichtung - ein umfangreiches Material an die Hand gibt. Darüber hinaus hat er viel zur weiteren Rationalisierung der Geschichtsauffassung beigetragen, wie im folgenden noch argumentiert werden wird.
[44] Hdt. VII 152, 3: Ich muss berichten, was berichtet wird, alles glauben freilich muss ich nicht. Ähnlich auch Hdt. VI 137, 1: Τοῦτο γὰρ οὐκ ἔχω φράσαι, πλὴν τὰ λεγόμενα [...]. – Denn ich habe nichts zu verkünden, außer das Gesagte.
[45] Siehe der herodoteische Historienbegriff bei Meier 1980, 361.
[46] Meier 1980, 390 bescheinigt Herodot sowohl „wissenschaftliche Strenge“ bezüglich seiner Überlieferungstreue wie „ gewisse Sinnvermutungen“.
[47] In der Forschung wird Herodots Methodik häufig als „vorsichtiger Skeptizismus“ [Vgl. Thukydides 2000, 790 (Nachwort Vretska)] bezeichnet. Meier 1980, 375 sieht Mythos und Natur gänzlich ausgeschlossen aus seinen Darstellungen.
[48] Vgl. Cic. leg. I 5.
[49] Vgl. Meister 1990, 15-17.
[50] Meister 1990, 13.
[51] Thukydides 2000, 788 (Nachwort Vretska).
[52] Ausführlich dazu Thukydides 2000, 788 (Nachwort Vretska).
[53] Cassirer 2002, 70.
[54] Thuk. I 22 2 f.
[55] Thuk. I 20-22 gibt die Art seiner kritischen Methode und die Mängel der früheren Geschichtsschreibung aus. Am Werk selbst wird deutlich, dass Thukydides mit Hilfe des λόγος die Ereignisse so durchdringt, dass er sogar zwischen Anlass (Streitigkeiten zwischen Korkyra und Korinth um Epidamnos) und Ursache (Entwicklung der Siegermächte Athen und Sparta nach den Perserkriegen während der Pentekontätie) des Peloponnesischen Krieges unterscheiden kann.
- Arbeit zitieren
- Magistra Artium Silvia Bielert (Autor:in), 2005, Ernst Cassirer - Mythos und mythisches Denken in der antiken Philosophie bis zu Platons Staatstheorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47039
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