Diese Arbeit befasst sich aus komparatistischer Perspektive mit der Reflexion von Kollektivschuld, des Selbstwertproblems und allgemein der Tatsache, welche Rolle Vorurteile in diesem Prozess spielen.
Um diese Erkenntnisse zu erlangen und zu untersuchen, bedient sich diese Arbeit der komparatistischen Methode. Da die Komparatistik mit vielen unterschiedlichen Disziplinen vernetzt arbeitet, befasst sie sich ebenfalls auch mit sozialen, kulturellen, ethnischen und religiösen Fragen. Die ausgesuchten Werke konnten somit aus vielfältigen Perspektiven betrachtet und leichter zur Hand genommen werden. Diese Eigenschaft machte sie im Rahmen der Thematik zum richtungsweisenden Kompass.
Das Fundament der Recherche liegt im Vergleich der zwei Werke "Andorra"(1961) von Max Frisch und "Ganz unten" (1985) von Günter Wallraff. In die Fragestellung wurden des Weiteren literatursoziologische- sowie sozialpsychologische Theorien berücksichtigt.
Mit dieser vorliegenden Masterarbeit möchten der Autor Lehrkräften im Bereich der Literatur und Soziologie sowie für Geschichte- und Kultur interessierte Studenten eine alternative Perspektive darbieten.
INHALTSVERZEICHNIS
ÖZET
ZUSAMMENFASSUNG
VORWORT
LISTE DER GRAFIKEN
TEIL I
EINLEITUNG
TEIL II
KOMPARATISTIK
2.1. Die Begegnung des Abendlandes mit dem Morgenland
2.2. Goethescher „Weltliteratur“ Begriff
2.3. Herders Volksdefinition und de Staëls französisches Deutschlandbild
2.4. Aufgaben und Ziele der Komparatistik
2.5. Der genetische- und typologische Vergleich
2.6. Eine autarke komparatistische Disziplin
2.7. Die französische- und die amerikanische Komparatistenschule
2.8. Die Literatur und ihre sozialen Bezüge
2.9. Die Imagologie
TEIL III
AUSLEGUNG DER TERMINI „VORURTEIL“, „STEREOTYP“ UND „KLISCHEE“
3.1. Das Vorurteil
3.2. Das Stereotyp
3.3. Das Klischee
TEIL IV
DIE SCHULDFRAGE
4.1. Die Auslegung des Begriffs „Schuld“
4.2. Jaspers Klassifizierung der Schuld
4.2.1. Die kriminelle Schuld
4.2.2. Die politische Schuld
4.2.3. Die moralische Schuld
4.2.4. Die metaphysische Schuld
4.3. Die Schuld des Kollektivs
4.4. Die Schuld aus der Sicht der menschlichen Emotion
4.5. Das Schamgefühl in Beziehung auf das Schuldgefühl
4.6. Das Selbstwertgefühl aus dem Blickwinkel der Werke „Andorra“ und „Ganz unten“
4.6.1. Andorra
4.6.2. Ganz unten
TEIL V
DAS JUDENTUM
5.1. Die Genese des Judentums
5.2. Das Reich der Juden und ihre Regenten
5.3. Die Babylonier und das Exil der Juden
5.4. Das Römische Reich und das Verwaltungsgebiet „Jerusalem“
5.5. Die neue Glaubensrichtung „Das Christentum“
5.6. Die Historie der Judenverfolgung
TEIL VI
DIE DEUTSCH-TÜRKISCHE GESCHICHTE
6.1. Die Wurzeln der Türken
6.2. Der Kontakt des Turkvolks mit dem Islam
6.3. Die Kreuzzüge des Abendlandes
6.4. Die Intention des Kreuzzugs
6.5. Capistranus und Luther
6.6. Die Türkenkriege
6.7. Die Kooperation der Osmanen mit den Deutschen
6.8. Die Türkei und ihre Rolle im 2. Weltkrieg
6.9. Die Grundlage und der Inhalt des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei
6.10. Die Besonderheit des Abkommens mit der Türkei
TEIL VII
ANDORRA
7.1. Die Figurenkonstellation von „Andorra“
7.1.1. Andri
7.1.2. Barblin
7.1.3. Can
7.1.4. Pater Benedikt
7.1.5. Soldat Peider
7.1.6. Tischler Prader
7.1.7. Die Schwarzen
7.2. Das Bild des Juden wiedergegeben im Werk „Andorra“
TEIL VIII
GANZ UNTEN
8.1. Die Figurenkonstellation von „Ganz unten“
8.1.1. Günter Wallraff
8.1.2. Adler
8.1.3. Pfarrer
8.1.4. Priester
8.2. Vorurteile gegenüber Ausländer in alltäglichen Situationen
8.3. Verweise der Vorurteile in der deutschen Arbeitswelt anhand des Protagonisten Ali (Günter Wallraff)
8.4. Die Ankopplung der Juden mit den Türken
8.5. Vorurteile gegenüber Juden
TEIL IX
ANTRIEB UND VORGANG DES GEWALTAKTS AUS KOLLEKTIVER PERSPEKTIVE
9.1. Le Bons Definition der Massenpsychologie
9.2. Gründe der Widerstandslosigkeit
9.3. Wiederkehrende Vorurteile
9.4. Die grafische Darstellung der Kollektivschuldgenese
TEIL X
SCHLUSSFOLGERUNG
QUELLENVERZEICHNIS
ÖZET
MUTABILIS MEMORIA - AEQUALIS MOTIVUM
MAX FRISCHʼİN „ANDORRA“ VE GÜNTER WALLRAFFʼIN „GANZ UNTEN“ ADLI ESERLERİNDE ORTAK SUÇ ÇERÇEVESİ ALTINDA ORTAK ÖNYARGI, ÖZ DEĞERLENDİRME SORUNSALLIĞI VE SUÇLULUK DUYGUSUNUN (UTANÇ DUYGUSUNUN) KARŞILAŞTIRMALI YANSIMASI
Bekir ÖZGÜN
Yüksek Lisans Tezi, Alman Dili Eğitimi Anabilim Dalı
Danışman: Yrd. Doç. Dr. Cavidan ÇÖLTÜ İMREN
Aralık 2017, 114 Sayfa
Bu çalışmada, Nazi dönemi Almanya’sında etnik soykırıma ve negatif ayrımcılığa maruz kalmış olan Yahudiler ile İşçi Anlaşmasıyla 1960’lı yıllardan itibaren Almanya’ya göç etmiş olan Türklerin acılarını karşılaştırılması; tarihsel bağlamda her iki ırka karşı gösterilen düşmancıl davranışların, imgelerin, önyargıların ve kolektif (ortak) suç ile ilgili bilgilerin irdelenmesi amaçlanmıştır. Bu bulguları elde edip irdeleme evresinde karşılaştırmalı yazın yönteminden faydalandık. Karşılaştırmalı yazınbilim; sosyal, kültürel, etnik, felsefi, dini vs. konuları da kapsadığı ve birçok disiplinlerarası olgularla iç içe çalışmayı gerektirdiği için ele almış olduğumuz eserleri farklı bakış açılarından irdeledik. Dolayısıyla çalışmamızda karşılaştırmalı yazın yol göstericimiz olmuş, adeta pusula görevini üstlenmiştir. Araştırmamız Max Frischʼin ,,Andorra“ (1961) ve Günter Wallraffʼın ,,Ganz unten“ (1985) adlı eserlerine dayanmaktadır. Bu eserlerin suça ortak olma bağlamında öz değerlendirim sorunsalının vurgulanması ve suçlu olma duygusunun karşılaştırması hedeflenmektedir. Araştırmada ayrıca yazın sosyolojisi yöntemi, sosyal psikoloji kuramları dikkate alınmıştır. Söz konusu yüksek lisans tezi ile edebiyat ve sosyoloji alanında çalışan öğretmenlerin yanı sıra tarih ve kültür konularına ilgi duyan öğrencilere farklı bir bakış açısı kazandırmak istemekteyiz.
Anahtar Kelimeler: Ortak suç, önyargı, karşılaştırmalı yazın
ZUSAMMENFASSUNG
MUTABILIS MEMORIA - AEQUALIS MOTIVUM
DIE VERGLEICHENDE REFLEXION DES KOLLEKTIVVORURTEILS, DES SELBSTWERTPROBLEMS UND SCHULDGEFÜHLS IM RAHMEN DER KOLLEKTIVSCHULD ANHAND DER WERKE „ANDORRA“ VON MAX FRISCH UND „GANZ UNTEN“ VON GÜNTER WALLRAFF
Bekir ÖZGÜN
Magisterarbeit, Abteilung für Deutschdidaktik
Betreuerin: Ass. Prof. Dr. Cavidan ÇÖLTÜ IMREN
Dezember 2017, 114 Seiten
Die ethnische Verfolgung und Diskriminierung der Juden im dritten Reich mit den Leiden der seit den 60er Jahren durch das Anwerbeabkommen nach Deutschland emigrierten Türken zu vergleichen, haben uns im Hinblick auf die Geschichte, evidente Erkenntnisse zum feindlichen Verhalten gegenüber diesen zwei Ethnien, zu Feindbildern, Vorurteilen und der kollektiven Schuld geliefert. Um diese Erkenntnisse zu erlangen und zu untersuchen, haben wir uns der komparatistischen Methode bedient. Da die Komparatistik mit vielen unterschiedlichen Disziplinen vernetzt arbeitet, befasst sie sich ebenfalls auch mit sozialen, kulturellen, ethnischen und religiösen Fragen. Die ausgesuchten Werke konnten somit aus vielfältigen Perspektiven betrachtet und leichter zur Hand genommen werden. Diese Eigenschaft machte sie im Rahmen unserer Thematik zum richtungsweisenden Kompass. Das Fundament unserer Recherche liegt im Vergleich der zwei Werke „Andorra“ (1961) von Max Frisch und „Ganz unten“ (1985) von Günter Wallraff. In unsere Fragestellung wurden des Weiteren literatursoziologische- sowie sozialpsychologische Theorien berücksichtigt. Mit dieser vorliegenden Masterarbeit möchten wir Lehrkräften im Bereich der Literatur und Soziologie sowie für Geschichte- und Kultur interessierte Studenten eine alternative Perspektive darbieten.
Schlüsselwörter : Kollektivschuld, Vorurteil, Komparatistik
VORWORT
Meinungen, empirische Untersuchungen und öffentliche Diskurse, folglich in vielen Bereichen unserer Existenz wurden die Themen „Kollektivschuld“ und „Vorurteil“ behandelt. Doch diese gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Fragestellungen konnten leider fast nie gelöst werden oder zumindest nicht auf eine akzeptable Zone dezimiert werden. Wir haben mit dieser Arbeit einen Versuch gewagt, die Beständigkeit des Vorurteils zu brechen und Optionen hinsichtlich seiner Überwindung aufzuzeigen. Außerdem haben wir das Bestehen der Kollektivschuld recherchiert und ihre Auswirkung auf das einzelne Individuum reflektiert. Wir haben uns für diese Thematik auf der Basis der Werke „Andorra“ (1961) und „Ganz unten“ (1985) entschieden, weil wir glauben, dass sie in verschiedenen Perspektiven öfters hinweggesehen und vernachlässigt wurde. Vor allem wollen wir, was die gegenwärtige Situation der Welt betrifft, die angespannte Atmosphäre in erster Linie zwischen dem Okzident und dem Orient, eine hinreichende Aufmerksamkeit schenken.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei meiner Betreuerin Frau Ass. Prof. Dr. Cavidan ÇÖLTÜ IMREN bedanken, die mich während des Anfertigens dieser Arbeit begleitet und unterstützt hat. Sie hat mir geholfen meine Schreibkompetenz, die aus rebellischen Ausschreitungen und starken Emotionen verbunden waren und der angriffslustige Stil in meinen Gedankengängen erkennbar wurde, zu zügeln. Das Resultat war dann dieser Beitrag, der zu einer globalen, wissenschaftlich verständlichen Masterarbeit wurde. Ein besonderer Dank geht an Frau Doz. Dr. Munise AKSÖZ, die bei der Korrektur der Masterarbeit mitwirkte und ihre fundierte Kritik sich auf die Endform der Arbeit konstruktiv auswirkte. Weiterhin möchte ich mich bei Dr. Ilker ÇÖLTÜ für einige professionelle Tipps und Quellen bedanken, die mir weitergeholfen haben. Zum Schluss möchte ich meiner Schwester Aynur ÖZGÜN danken. Ihr moralischer Beistand und ihre Opferbereitschaft erleichterten mir mein Handwerk, sowie die vielen zubereiteten Mahlzeiten, die mir die fundamentale physische Stärke gab, diese Arbeit zu vollenden.
Ich bevorzugte eigentlich eine komprimierte, professorale Sprache, wurde aber in gewisser Weise genötigt mit einfachen Ausdrücken meine Überzeugungen zu manifestieren, da diese Arbeit nicht nur für fachspezifische Interessenten konzipiert wurde, sondern auch für das breite Publikum.
LISTE DER GRAFIK EN
Grafik 1. Andorra
Grafik 2. Ganz unten
Grafik 3. Kollektivschuld
TEIL I
EINLEITUNG
Das Leben ist eine Herausforderung, die gleichzeitig eine ständige Veränderung in der gegenwärtigen Existenz des Menschen und unzähligen weiteren Lebewesen auf der Erde bewirkt. Da der Mensch aus sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen heraus als soziales Wesen aufgefasst wird, besteht zwischen ihm und seiner Umgebung, das kann eine Gruppe von Menschen oder eine Gesellschaft sein, eine gegenseitige Beziehung, die eine gewisse Abhängigkeit erzeugen oder einen Einfluss auf ihn ausüben kann (Liedtke, 1996, S.35). Diesen Kontakt bzw. diese Verbindung aus einer internationalen Perspektive zu betrachten, demzufolge mit ausländischen Menschen zu pflegen, führt uns zu unserer eigentlichen Angelegenheit. Denn wir leben in einer globalisierten Welt, in der sich die Menschen nicht nur wirtschaftlich sondern auch kommunikativ und kulturell miteinander vernetzen und dabei die unterschiedlichsten Ethnien, Lebensformen sowie Sprachen aufeinandertreffen, dass sich durch diesen Zusammenstoß eine konzentrierte Energie freigesetzt wird. Eine solche endlose Dynamik kann sich innerhalb einer Gesellschaft zwischen Gruppen und einzelnen Individuen entwickeln. In einer multikulturellen Gesellschaft können Verschiedenheiten der einen oder anderen Person bei manchen Gruppen derselben Gesellschaft Vorurteile, Feindseligkeiten und Hass erwecken, die leicht ins Leben gerufen werden können, aber schwer zu bezwingen sind. Diese Problematik aus einer wissenschaftlichen Aura zu untersuchen und zu entschleiern liegt vielmehr im Bereich der Literatur bzw. der Komparatistik. Diese Disziplin, die sich die Literatur aus einer national übergreifenden Perspektive vornimmt und sich mit verschiedenartigen Kulturen und Ethnien beschäftigt, führt Vergleiche durch, die nicht nur innerhalb einer Wissenschaft verlaufen, sondern auch interdisziplinär ausgeführt werden. Die Komparatistik konnte etwa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch erste komparatistische Zeitschriften und Vorlesungen in Lehranstalten zu einem eigenständigen Arbeitsgebiet ausgebaut werden (Dyserinck, 1991, S.21-24). Aber es wurden auch schon vor der Entstehung des autonomen komparatistischen Faches andersartige Nationalliteraturen verglichen.1 D.h. das Interesse und die Idee an einem Vergleich verschiedenartiger, fremder Literatur existiert schon seit längerer Zeit. Da unser Gegenstand verschiedene Völker, Ethnien und Gruppen zum Thema hat und eine interkulturelle und soziologische Fragestellung hervortritt, ist in unserer Arbeit die Komparatistik unser Wegweiser und somit werden wir unsere Recherchen im Rahmen dieser Disziplin durchführen.
Wie oben angeführt, können bei interkulturellen Begegnungen innerhalb einer Gesellschaft Vorurteile und negative Einstellungen gegen das Fremde und das Andersartige hervortreten, die das Leben dieser Gruppen nachteilig beeinflussen. Derartige soziale Probleme entstehen nicht nur bei einer Konfrontation der andersartigen Lebensweisen, sondern können auch historische und religiös bedingte Dimensionen aufweisen. Im Drama ,,Andorra“ (1961), das vom Schweizer Schriftsteller Max Frisch (1911-1991) verfasst wurde, wird der religiöse Aspekt und der Identitätswirrwarr in den Vordergrund gelegt, bei dem ein Mensch aus der Gesellschaft ausgegrenzt und als Fremd abgestempelt wird, weil er als ein ,,Jude“ angenommen wird. Max Frisch schildert präzise, wie eine antisemitisch geprägte Gesellschaft, die von sich selbst behauptet ,,friedlich“ und ,,ehrlich“ zu sein, für den Tod eines jungen Mannes verantwortlich ist und wie es Kollektivschuld begeht.
Es gibt einen Staat Namens Andorra, der einen realen Standort auf der Weltkarte belegt und zwischen der spanisch-französischen Grenze liegt. Angesichts dieser Tatsache und des kontroversen Themas sind viele Vermutungen und Hypothesen über den Titel des Dramas vorhanden. Max Frisch betont in einem Interview mit dem Dramaturgen Hermann Wündrich, dass er mit dem Namen „Andorra“ nicht das Volk in den Pyrenäen gemeint hat, sondern das Stück mehr als ein Entwurf, als ein Muster fungiere. Er selbst kenne das Völklein nicht (Wündrich, 2005, Berliner Zeitung). Frisch selbst schreibt auch in seinem Werk, dass der Name Andorra als Bezeichnung für ein Modell diene (Schilling, 2001, S.25). Wir denken, dass der Name „Andorra“ mit der Thematik des Theaterstücks eine Parallele aufweist. Das Fürstentum Andorra wird seit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1278 von zwei Regierungshäuptern jeweils einer aus Spanien und einer aus Frankreich geleitet. Ein Land, das unter einer doppelten ausländischen Herrschaft regiert wird (Gruner & Woyke, 2007, S.256). Dieser Zustand ruft unserer Meinung nach bei der andorranischen Gesellschaft ein Identitätsproblem auf, das sich mit dem Thema deckt, mit dem sich Max Frisch in vielen seiner Werke beschäftigte. Zum anderen wäre da die umstrittene Frage nach der Schuld eines Individuums in einer kollektiv begangenen Straftat, die zwar existiert, aber die einzelne Person nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann bzw. die Straftat schwer nachweislich ist. Das Phänomen der Kollektivschuld existiert, genau wie das Völklein Andorra exisitiert, das aber fast keiner kennt. Gerade weil der autonome Zwergenstaat mitten in Europa für viele Menschen unbekannt ist und er aber trotzdem besteht, macht die Paradoxie zur Faszination. Ein Widerspruch, den man auch in Max Frischs Aussage erkennt, als er sagte, dass er das Völklein in den Pyrenäen nicht kenne, aber für sein fiktives Theaterstück, das als Modell dienen soll, einen existierenden Landesnamen verwendet, was er ebenfalls hätte frei erfinden können.
Was das gedankliche Konstrukt betrifft, so interpretiert Lisa Hornung Frischs Werk wie folgt: „Sein Andorra als Modell kann und soll für alle Länder, Städte, Dörfer und Gemeinden stehen. [...] Jedes Land kann zu einem Andorra werden“ (Hornung, 2009, S.3). Andorra ist als ein universaler Ort zu betrachten, der eine vereinfachte Repräsentation eines x-beliebigen Standortes in der Wirklichkeit darstellt. Wir können die Kollektivschuld und die Vorurteile nicht auf eine Gruppe oder einen Staat begrenzen. Überall können ethnische Ausgrenzungen, Verfolgungen und Vorurteile stattfinden und fanden auch in vielen Jahrzehnten statt. Doch Max Frisch wollte unserer Meinung nach den Fokus vor allem auf die europäischen Staaten (oder auf das dt. Sprachgebiet), darunter die Schweiz aufmerksam machen. Da das Stück ein Modell ist, das seine widerspiegelnde Darstellung in der Wirklichkeit hat, repräsentieren die Figuren im Werk bestimmte Gruppen oder Institutionen in der realen Gesellschaft. Z.B. ist einer der Charaktere ein Vertreter des Militärs und ein anderer stellvertretend für die Kirche. Max Frisch umhüllt die Kollektivschuld mit einem Schleier und weist sie mit Hilfe seiner Protagonisten, die er mit bestimmten Eigenschaften ausstattet, einem bestimmten Land oder einer Gesellschaft zu. Frisch wollte auf sein Heimatland, auf die Rolle der Schweiz aufmerksam machen, die inmitten von Europa lag. Ihre Rolle im nationalsozialistisch geprägten dritten Reich, wo sie eine passive Funktion einnahm, sich nicht als ein souveränes Land gegen die Verfolgung und Vernichtung einer Ethnie im Nachbarland durchsetzte und sich in gewisser Weise an den Leiden der Juden mitschuldig machte. Der Autor selbst bestärkt diese Annahme, als er bei einem Interview über die Schuldigen der kollektiv begangenen Tat folgendes äußert: „Sie sollen erschreckenʻ, ... ,sie sollen, wenn sie das Stück gesehen haben, nachts wach liegen“ (Riess, 1961, S.5). Da das Theaterstück in den Anfängen auf Deutsch gespielt wurde, sollte es primär an das deutschsprachige Publikum adressiert sein und sich dann an die ganze Welt richten. Frisch hält dem deutschen Volk und anderen Völkern der Welt den Spiegel vors Gesicht und konfrontiert sie mit ihrer Vergangenheit.
Neben religiösen und historisch bedingten Faktoren, können auch wirtschaftliche Faktoren und kulturelle Verschiedenheiten dazu führen, dass bei Menschen negative Haltungen auftreten. Nach dem zweiten Weltkrieg und der Zerstörung des dritten Reiches war die wirtschaftliche Lage von Deutschland im chaotischen Zustand. Erst in den 50er Jahren entstand in Deutschland ein ökonomischer Aufschwung, das auch als ,,Wirtschaftsboom“2 bezeichnet wurde. Aber es fehlte an männlichen Arbeitskräften, da die vielen deutschen Männer im Krieg umgekommen und auch zum Teil nicht mehr arbeitsfähig waren. Deshalb wurden aus dem Ausland Gastarbeiter angeworben um die immer weiter steigende deutsche Wirtschaft mit Arbeitskräften zu sättigen. Es wurden mit Italien (1955), Spanien (1960) und Griechenland (1960) und einigen weiteren Ländern Anwerbeabkommen unterzeichnet, darunter auch mit der Türkei (1961). Es wird angenommen, dass das Abkommen mit der Türkei, was die Abkommen mit den anderen Staaten anbelangte, einen anderen Stellenwert hatte. Denn bei der Unterzeichnung des Vertrages wurde nicht der Arbeitskräftemangel unterstrichen, sondern die NATO-Bündnispartnerschaft mit der Türkei hervorgehoben. Die Türkei war nämlich schon seit 1952 ein Mitglied der NATO3 (Rühl, 2006, S.4). Wir vertreten die Ansicht, dass es eventuell mit der andersartigen Kultur und Religion der türkischen Republik zu tun haben könnte, dass das Anwerbeabkommen mit ihr eine andere Bedeutung bekam. Durch die vielen eingereisten Ausländer, aber schwerwiegend durch die türkischen Gastarbeiter ging in Deutschland ein gegenseitiger „Kulturschock“ hervor. Es prallten also zwei verschiedene Kulturen und Religionen aufeinander, die das Leben der Menschen auf beiden Seiten beeinflusste. Diese Situation und die dadurch entstandene Problematik (Verständigungsproblem, Integrationsproblem, Ghettoisierung, Vorurteil) gibt uns der Enthüllungsjournalist4 Günter Wallraff wieder, der mit seinem Buch „Ganz unten“ (1985) in Deutschland für ein großes Aufsehen gesorgt hatte. Er verkleidete sich als ein Türke und arbeitete in vielen Branchen, vor allem in Baustellen und Stahlwerken. Günter Wallraff wollte mit seiner ausländischen Rolle die schlechten Bedingungen der Gastarbeiter entschleiern und die ständigen Erniedrigungen, denen sie ausgesetzt waren entlarven. Im Gegensatz zu „Andorra“ ist im Werk „Ganz unten“ eine direkte Schuldzuweisung vorhanden. Günter Wallraff wirft den Deutschen vor, eine eiskalte Gesellschaft zu sein, die Ausländer demütigt, verachtet und ihre Arbeitskraft ausbeutet.
In dieser Arbeit haben wir versucht die Thematik mit der Kombination von fiktiver Handlung und sachlichem Erlebnisbericht auszulegen. Demnach ist die Zusammenstellung dieser zwei Elemente:
1. „Andorra“ ein Werk, das in der deutschen Literatur einen respektablen Platz eingenommen hat und die kollektive Schuld einer Gesellschaft darstellt, dass einen Jugendlichen das Leben kostet. Das Stück basiert zwar auf einer fiktiven Geschichte, reflektiert aber das Reale. Der familiäre und gesellschaftliche Verrat ist im Vordergrund. Der Protagonist wird durch die Voreingenommenheit der Andorraner in die Rolle eines Juden gedrängt, obwohl er kein Jude ist, sondern einer von ihnen.
2. Ein deutscher Journalist, der sich dazu entschließt, sich als Türke zu verkleiden, schwarze Augenlinsen und eine schwarze Perücke zu tragen und etwa 2 Jahre lang gebrochenes Deutsch zu sprechen, um im eigenen Land von eigenen Mitbürgern erniedrigt und als Arbeitssklave gehalten zu werden. Dabei war Wallraff kein türkischer Gastarbeiter, sondern einer von ihnen.
Man erkennt in den obigen zwei Abschnitten ein Identitätsproblem, das auf der einen Seite aus der kollektiven Gesellschaft angereizt wird und auf der anderen Seite von einer Einzelperson vorgespielt wird, was im Endeffekt auf das dasselbe hinausläuft, nämlich wie man mit Leichtigkeit ein Opfer des Vorurteils werden kann.
Bei der Kontrastierung der zwei Werke („Andorra“ u. „Ganz unten“) und die daraus resultierenden analogen Schwierigkeiten und Erkenntnisse haben wir uns auf die literatursoziologischen und sozialpsychologischen Methoden gestützt. Kulturelle, gesellschaftliche sowie psychologische Fragestellungen, die unser Thema (die Kollektivschuld und das Vorurteil) betreffen, werden weitläufig durch diese Literaturtheorien dargestellt.
Es gibt einige Publikationen, die was die Aufgabenstellung unserer Arbeit anbelangt annähernde Parallelen aufweisen. Wir möchten kurz einige nennen:
In der Online-Zeitschrift „Interculture Journal“5 wurde im Jahre 2006 der Artikel „Die Bedeutung von Vorurteil und Stereotyp im interkulturellen Handeln“6 veröffentlicht, der von Alexander Thomas7, einem emeritierten Professor und Sozialpsychologen verfasst wurde. Im Artikel werden die Begriffe „Vorurteil“ und „Stereotyp“ detailliert erläutert, aus der sozialwissenschaftlichen Perspektive erklärt und für ihren Abbau eine theoretische Konzeption dargestellt. Ein weiteres Beispiel kann aus dem Bereich der Komparatistik angegeben werden.
Innerhalb der komparatistischen Disziplin wurde öfters auf die Problematik des Vorurteils eingegangen. Hier können wir als Beispiel den belgischen Literaturwissenschaftler Hugo Dyserinck8 erwähnen, der die Teildisziplin Imagologie, in der die Fremdbilder, Stereotypen und Klischees untersucht werden, in die theoretische Debatte der vergleichenden Literaturwissenschaft integrierte.
Da die Komparatistik sich nicht nur innerhalb einer Nationalliteratur bewegt, sondern sich auch außerhalb der physischen Grenzen mit weiteren Einzelliteraturen beschäftigt und dabei auf verschiedenartige Kulturen und unterschiedliche Ethnien stoßt, führt sie durch diese Besonderheit bedeutsame Vergleiche mit dem Eigenen-Bekannten und dem Fremden-Unbekannten durch. Diese Eigenschaft der Disziplin führt uns zur Idee vom deutschen Dichter Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) von einer „Weltliteratur“. Mit diesem Begriff wollte Goethe keineswegs auf die kanonisierten Werke oder auf die von bestimmten Organisationen zur Elite festgelegten literarischen Texte hindeuten, sondern auf die internationale Reputationsfähigkeit der Weltliteraturen, ihre Beziehung zueinander und auf den gegenseitigen Verweis, der in den europäischen Literaturen erkennbar ist und auf ein weltumfassendes Konzept übertragen werden soll (Koch, 2005, S.51).
Der Vergleich, der im komparatistischen Fach als Methode angewandt wird, hat uns dabei unterstützt die Vorurteile und den Hass, die gegen die Juden gerichtet waren, mit denen der in Deutschland als Gastarbeiter aufhaltenden Türken gegenüberzustellen und dabei Ähnlichkeiten und Unterschiede was das Motiv und die Quelle der Ressentiments anbelangt auszulegen. Doch warum wollten wir die Vorurteile und die Kollektivschuld, denen viele Menschen und Volksgruppen ausgesetzt waren und weiterhin sind unterstreichen? Weshalb wird das gesellschaftliche, kollektiv begangene Vergehen problematischer und unverzeihlicher als das individuell begangene angesehen?
Wenn wir in die Geschichte zurückblicken und uns eine der ersten soziologisch-individuellen Sünden betrachten, erkennen wir in diesem Ereignis eine starke emotionale Grundlage, die zum ersten Blutvergießen führte. In theologischen Schriften wird dieser Vorfall als Brudermord wiedergegeben, dass eines der Kinder Adams verbrochen hatte. Kain hat Abel erschlagen aus Eifersucht und Neid9. Wenn man sich diesen Fall aus einer tieferen gedanklichen Ebene betrachtet, dann erkennt man die Überlegenheit des Bösen über den Guten. Die philisterhafte Tat dominiert über das friedfertige Handeln. Somit sehen wir das Fremde im Eigenen. Fremd bedeutet nicht nur das Unbewusste.
Die Missgunst visualisiert sich nicht nur unter Brüdern sondern auch bei Menschen, die das Fremde nicht anerkennen und das Unbekannte abweisen. Die eigentliche Erkenntnis soll scheinbar die gedanklichen Bilder sein, die man sich von der fremden Person gemacht hat. Wenn wir auf die heutigen Vorurteile und Problematiken in der Gesellschaft zurückblicken, erkennen wir Parallelen, die sich aus der Historie wie oben angegeben in bestimmten Bildern immer wieder aufzeigen. Nach diesem Standpunkt erscheint öfters die Frage bei denen, die das Fremde nicht rezipieren oder akzeptieren können oder wollen, weshalb die Juden reich sind und angesehene Berufe und Ämter bekleiden und bei den Einheimischen dagegen, die im eigenen Land geboren und aufgewachsen dies nicht zutrifft. Vom selben Kreis wird auch oft behauptet, dass die Türken die Arbeitsplätze anderer stehlen und sich durch sie bereichern würden.
Das sind zwei von vielen Beispielen die zeigen, wie der Neid und die Intoleranz gegenüber dem Fremden, der das eigene Ego bedroht und ihm anscheinend alles aus der Hand nehmen möchte, sich in der Öffentlichkeit manifestieren kann. Bei ähnlichen Aussagen und Handlungen kann ein historischer Vergeltungsdrang, der Trieb nach Rache beobachtet werden, der durch Taten, die sich in der Vergangenheit abspielten, hervorgerufen wird.
Es heißt, dass man Vorurteile in der Gesellschaft abbauen kann, wenn man mit sich selbst anfängt, den Spiegel vor das Gesicht hält, seine Fehler identifiziert und mit sich selbst abrechnet. Denn jedes Individuum hat seine voreiligen Schlüsse und Urteile über den "Anderen". Nach dieser Perspektive ist der "Andere" vielmehr für die Mehrzahl der Menschen immer an allem Übel auf dieser Welt schuld und auf ihn sollte man mit dem Finger zeigen. Er ist außerdem Fremd, hat im Allgemein ein markantes Aussehen, verhält sich anders als die restlichen Menschen und passt sich nicht deren Kultur und Norm an.
Das eigene Umfeld und das eigene "Ich" als dominant und lückenlos zu sehen, ist ein Akt, der das Fremde und Unerklärliche ausstößt. Das eigene "Ich" fühlt sich bedroht und von der exotischen und eigenartigen Präsenz des Fremden in die Enge getrieben. Die unrealistischen und mit der Zeit zusammengefügten Bilder, die starke Emotionen wie Hass und Wut beinhalten können, werden in der Umgebung und in der Gesellschaft popularisiert. Dazu leisten auch viele visuelle Medien, vermeintliche Witze oder direkte Beleidigungen ihren Beitrag.
Meist werden diejenigen zum Opfer des Vorurteils, die in einer Gesellschaft als Minderheit leben und äußerlich religiöse, kulturelle und ethnisch auffallende Merkmale aufweisen. Unser Untersuchungsgegenstand beruht sich nicht nur auf die Feststellung und Deutung von Vorurteilen und ihren einzelnen Benutzern und Verbreitern, sondern auch auf die kollektiv begangenen Taten, die systematisch eine Minderheit in einer Gesellschaft stigmatisieren und sie als Schuldige an die Wand stellen. Die Kollektivschuld wird denen zur Last gelegt, die als eine Gruppe handelt, wie eine Art organisierte Struktur, die sich aktiv an einer Ungerechtigkeit beteiligt oder als eine passive Rolle mitwirkt indem sie das Übel verschweigt und nichts dagegen unternimmt.
„Sachen gibt’s, die gibt es eigentlich gar nicht“ (Burger, 2009, S.41). Diesen Satz könnten wir mit dem umstrittenen Begriff „Kollektivschuld“ gleichsetzen. Ein Phänomen, das vorwiegend in der Nachkriegszeit zur Debatte stand und die Frage nach der Schuld eines gesamten Volkes gestellt wurde. Kann die Ausführung des Staatsapparates auf einzelne Individuen lasten? Dass durch die Aktionen einer Gemeinschaft viel Unheil angerichtet werden kann und Menschen ums Leben kommen können, ist natürlich die traurige Seite des interkulturellen Lebens.
Das Ziel dieser Arbeit ist es, die Auswirkungen der Vorurteile mittels mit dem Rückblick auf die Geschichte und die Kollektivschuld in der Gesellschaft (sei es in der Vergangenheit und zugleich auch in jetziger Zeit) darzustellen, ihr negativer Einfluss auf die Person und Minderheit. Das Bild des Fremden aus der prävalenten Perspektive zu lösen und eine neue Basis der Interaktion zu schaffen, dass ein gleichberechtigtes, faires Miteinander ermöglicht und die wechselseitige Toleranz stärkt. Diese aufgezählten Zielsetzungen können unserer Meinung nach nur verwirklicht werden, wenn man mehr über die fremde Kultur und den Lebensstil der gegenüberstehenden Person weiß und sich mit Fakten ein Bild über sie macht. Die Vorurteile und die Feindschaft bis in ihre Wurzeln zu recherchieren, würde helfen, eine beständige Gegenmaßnahme einzuleiten, dass solche gesellschaftlichen Probleme künftig verhindert werden können.
Den Groll, den man von Generation zu Generation bis in unsere Gegenwart gehegt hat ist unserer Meinung nach nur schwerwiegend zu bewältigen. Die verborgene oder auch offene Feindseligkeit hat ihren dogmatischen Zug in das kollektive Gedächtnis eingegraben und braucht eine Phase der Aufklärung, die Zeit beansprucht. Mit dieser Arbeit möchten wir den Menschen den Spiegel vor die Augen halten, in dem sie zuvor durch die Verneblung, die auch gleichzeitig die Unstimmigkeit im Kopf des Betrachtenden projizierte, ihre Identität nicht wahrnehmen konnten. Der Mensch, der sich selbst erfasst, kann in der Gesellschaft an einer verantwortungsbewussten Pflege der sozialen Beziehungen mitwirken und unüberlegte, impulsive Handlungen vermeiden. Dieses Verhalten kann die Basis der gegenseitigen Toleranz stärken und die Resistenz des Vorurteils brechen.
TEIL II
KOMPARATISTIK
2.1. Die Begegnung des Abendlandes mit dem Morgenland
Wir existieren in einem technologischen Zeitalter, in dem Menschen aus tausenden von Kilometern und am anderen Ende der Welt miteinander rund um die Uhr in Verbindung stehen können. Der Mensch kommuniziert mit seiner Umwelt ohne physische Grenzen und Einreiseerlaubnis zu kennen. Doch nicht erst mit dem technologischen Fortschritt bildete sich eine Neugier gegenüber dem Fremden, dem Exotischen aus. Erste Berührungen liegen in der Geschichte weit zurück. Man kann dieses Interesse bis in die Zeit der ersten Kreuzzüge zurückverfolgen. Auch wenn sich die Intention im Jahre 1100 weniger auf die kommunikative, stattdessen mehr auf die Eroberung, politisch religiös motivierte Zielsetzungen angestrebt wurden, können wir diesen Zeitabschnitt trotzdem als Beispiel eines radikalen Zusammenstoßes zwei grundverschiedener Kulturen angeben. Die christliche, abendländische Kultur kam mit der muslimischen und jüdischen Kultur in Kontakt. Anders ausgedrückt: Eine Zusammenkunft des Okzidents mit dem Orient. Der Autor Gerhard Armanski, der sich mit der Gewalt in Europa beschäftigt, interpretiert die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzritter als einen Höhepunkt, was die materiellen und spirituellen Erwartungen der christlichen Krieger betraf und zugleich als Tiefpunkt, da die aufgestauten aggressiven Energien der Involvierten, sich in einem Blutrausch gegen Muslime und Juden entluden. „Die Weichen für einen gewaltförmigen Kulturkontakt waren gestellt, wenngleich seine Vorzeichen wechselten“ (Armanski, 2001, S.18). Die Einnahme Jerusalems und der während der Besetzung entstandene Gewaltakt bestimmte wie Armanski betont, die Richtung einer konfliktreichen Beziehung des Westens mit dem Osten. Das Ereignis führte in der orientalischen Welt zu einem kollektiven Schock, einem Trauma. Das Aufeinandertreffen dieser religiös angetriebenen Elemente sollte das Leben der Menschen auf beiden Seiten prägen und diese Erfahrung auf die spätere Generation übertragen, was man bis heute bei vielen Individuen und Gruppen in ihren Verhalten und Handeln beobachten kann.
Die ersten kolonialen Bestrebungen in den Jahren 1500 und die Machtausweitung, die primär zur Entdeckung neuer und unerforschter Landschaften, Besetzung fremder Territorien und die Ausbeutung wichtiger Rohstoffe diente, führte auch dazu, dass das Treffen fremder Kulturen und Lebensweisen aufeinandertrafen. Die Begegnungen mit dem Fremden hatte also meist einen kolonialistisch geprägten Hintergrund, der sich später aber besonders im 18. und 19. Jahrhundert, was die fremde Kultur und Ethnie betrifft, die ihr Geist und Gemüt, ihr Individualismus in die Kunst und schriftliche Darlegungen übertrug, veränderte. Es war eine geistige Strömung, eine universelle Idee, die das Interesse an fremden Völkern und das Bedürfnis, fremdes literarisches Schaffen mit anderen Nationalliteraturen vor allem mit den eurozentrischen Literaturen auf einer gleichgestellten Basis zu vereinen, um eine gegenseitige Wechselbeziehung und eine reziproke Zitierfähigkeit zu erwirken.
2.2. Goethescher „Weltliteratur“ Begriff
Einer der Pioniere dieser Richtung war Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832). Der imponierende deutsche Dichter und Verfechter der „Sturm und Drang“10 und der klassischen Epoche, hatte das Konzept einer „Weltliteratur“ angestrebt, das im Kern eine globale Verständigung fremder Kulturen und die Aufhebung gegenseitiger Missverständnisse bestrebte. „Das Wort »Weltliteratur« wurde von Goethe erfunden. Es enthält die Vorstellung eines historischen Schemas von der Entwicklung der Nationalliteraturen, in dem sie sich zusammenschließen und letztlich zu einer großen Synthese miteinander verschmelzen“ (Wellek, 1978, S.225).
Der Diskurs über die internationale Völkerverständigung wurde durch die Gedanken Goethes immer mehr angefacht und könnte als die Orchidee des Weltfriedens angesehen werden. Doch es gab Kontroversen in Bezug auf das Verständnis und die Auslegung des Goetheschen „Weltliteratur“. Einige Philologen waren der Ansicht, dass Goethe mit seinem Konzept den hohen Stellenwert der deutschen Literatur im internationalen Diskurs der Nationalliteraturen in den Fokus stellen und auf ihre ausschlaggebende Rezeption aufmerksam machen wollte. Auf der anderen Seite, und diese Meinung vertreten auch wir, wollte Goethe eher auf das engstirnige nationalistisch geprägte Literaturverständnis, das sich in vielen Einzelliteraturen anbahnte aufmerksam machen und vielmehr auf den universellen Gedankenaustausch einzelner Kulturen und Völker, sowie den Umgang und Anwendbarkeit fremder Literaturen im Rahmen einer kosmopolitischen Perspektive verweisen, die zur Lösung vieler unnötigen Konflikte auf der Welt beitragen könnte. Die Blickrichtung des Weltbürgers und der Wunsch, sich aus der nationalgebundenen Literatur zu entfernen, sollten den Entwurf einer neuen anbahnenden Disziplin sein, die sich mit den exotischen, andersartigen Kulturen, fremden Ethnien und Völkern der Erde beschäftigt und für die Verständigung und Harmonie der Nationen beiträgt.
2.3. Herders Volksdefinition und de Staëls französisches Deutschlandbild
Als einer der bedeutendsten Pioniere, der einen Einfluss auf die im weiteren Verlauf der Geschichte sich etablierten Literaturwissenschaft hatte, war der deutsche Dichter und Kulturphilosoph Johann Gottfried Herder (1744-1803). Herder hat die Einzigartigkeit und die Individualität der Kulturen und Völker im europäischen Sprachraum hervorgehoben, sie mit seinem „Volksbegriff“ vereinigt und auf einer einheitlichen Stufe behandelt (Dyserinck, 1991, S.19). Für Herder war der Mensch ein stark an seiner Kultur gebundenes Individuum, das mit anderen Individuen kollektive Werte wie Kultur, Lieder, Mythen und Dichtung teilte. Diese Ansichten Herders sollten für das Bestreben einer einheitlichen europäischen Seele dienen (Löchte, 2005, S.80). Eine weitere Persönlichkeit die wir an dieser Stelle erwähnen möchten ist die französische Schriftstellerin Anne Louise Germaine de Staël-Holstein (1766-1817), die mit ihrem Werk „ De lʼAllemagne “ (1810) eine Verbindung zwischen der deutschen- und französischen Kultur herstellte und sich infolgedessen zu dieser Zeit gewisse Vorstellungen über die Lebensweise des Nachbarn in den Gedanken der Franzosen entwickelt hatte. Sie teilte Deutschland in zwei gedankliche Zonen ein, die eine Divergenz aufzeigten. Auf der einen Seite waren die Norddeutschen voller Poesie und Wissensdrang, wogegen die Süddeutschen ein naturverbundenes Leben führten und sich für politische Geschehnisse nicht interessierten (Erler, 2004, S.70).
2.4. Aufgaben und Ziele der Komparatistik
Die vergleichende Literaturwissenschaft oder besser bekannt mit dem Namen „Komparatistik“ ist eine Disziplin, die sich aus einem Bedürfnis und Anliegen angebahnt hat, Nationalliteraturen aus einer grenzüberschreitenden Perspektive zu betrachten und mit ihrer besonderen Verfahrensweise, wichtige Erkenntnisse aus der Literatur und anderen Wissenschaften zu erarbeiten und sie der Allgemeinheit zu präsentieren. „Komparatistik beschäftigt sich mit Texten im interdisziplinären, interkulturellen und intermedialen Vergleich“ (Kolesch, 2005, S.29). Der Vergleich ist in der Komparatistik die wesentliche Methode die angewandt wird, um die Motive in literarischen Werken und ihre Rezeption, Beziehungen zwischen Autoren gleicher oder verschiedener Zeiträume und ihren Einfluss zueinander, Vergleiche von grundsätzlichen Leitgedanken in literarischen Epochen und Strömungen aufzuzeigen und außerliterarische Befunde, die eine Kooperation mit anderen Wissenschaften wie die Soziologie, Anthropologie, Ethnologie und einigen weiteren Disziplinen erfordert, auszulegen. „Der Vergleich sollte also als ein Instrument, eine Arbeitsweise oder als ein möglicher methodologischer Zugang … zum Text verstanden werden“ (Voltrová, 2015, S.24).
2.5. Der genetische- und typologische Vergleich
Man unterscheidet bei einer komparatistischen Untersuchung im Allgemeinen zwischen zwei Arten von Vergleichen. Es handelt sich hierbei um einen genetischen- und einen typologischen Vergleich. Beim genetischen Vergleich wird der direkte Kontakt zwischen den Autoren und der Einfluss, der dabei entsteht ermittelt, wogegen beim typologischen Vergleich keine unmittelbare Verbindung zwischen den Autoren ausfindig gemacht wird, sondern vielmehr nach einem sich ähnelnden sozialen Umfeld erforscht wird, unabhängig in welchem Zeitabschnitt der jeweilige Autor gelebt hat. Daneben werden beim typologischen Vergleich ähnliche Motive und Muster gegenübergestellt, die von den jeweiligen Autoren gebraucht wurden (Zima, 2000, S.21).
Wie oben von uns angedeutet, wurden Gedanken und Bestrebungen für eine universelle Sichtweise der Literatur unternommen und physische Grenzen als eine Einrahmung des Gedankenaustauschs innerhalb der literarischen Untersuchungen aufgefasst, was die Rolle der Nationalliteraturen sichtbar werden ließ, auf denen viele Philologen beharrten, sie sollten unabhängig und frei von jeglichen andersartigen, fremden Literaturen sein.
Die Einzelliteraturen sollten von einem supranationalen Standort aus vergleichend betrachtet werden, wobei ihre Eigenständigkeit vorauszusetzen war. Zielsetzung war nicht das Verwischen oder Weginterpretieren von Unterschieden, sondern ein einfühlendes Erkennen und Analysieren von Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten von einem Standort aus, der sich mit keinem der einzelnen Gebiete in höherem Maße finden sollte als mit den anderen (Dyserinck, 1991, S.23-24).
Dieses Prinzip setzt eine sachliche Herangehensweise literarischer Untersuchungen, was besonders zwei Nationen betreffende Recherchen anbelangt, voraus. Der Stolz auf die eigene Nation und eigene Geschichte ist legitim, doch sollten diese Gefühle bei interkultureller, internationaler Vergleiche nicht die Objektivität der Methodik blockieren.
2.6. Eine autarke komparatistische Disziplin
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnten mit Hilfe von Vorlesungen über fremde Literaturen und Kulturen in Lehranstalten und ersten komparatistischen Fachzeitschriften11, in denen der Zweck und Absicht einer vergleichenden Untersuchung literarischer Werke betont und das Verhältnis der Literatur zu anderen Wissenschaften wie die Soziologie und Kunst erforscht wurde, eine selbstständige komparatistische Disziplin konstituiert und neben den einzelnen Nationalphilologien, ihre Forschungsziele konkretisiert werden. In Europa und in anderen Teilen der Welt konnte sich die Komparatistik nach und nach im akademischen Bereich entfalten. Als Beispiel kann der Lehrstuhl „Vergleichende Literaturgeschichte“ angegeben werden, den der italienische Literaturkritiker Francesco de Sanctis (1817-1883) im Jahre 1871 an der Universität Neapel bekleidete und Vorlesungen über die italienische Literatur hielt (Hösle, 1995, S.157). In Amerika wurde der erste komparatistische Lehrstuhl im Jahre 1890 an der Harvard Universität errichtet (Konstantinović, 1988, S.27). Im Jahre 1892 leitete der französische Professor Joseph Texte (1865-1900) den ersten komparatistischen Lehrstuhl in Frankreich, wo er mit einigen weiteren französischen Komparatisten wichtige vergleichende Untersuchungen durchgeführt hatte, die für die heutige moderne vergleichende Literaturwissenschaft als Fundament empirischer, übernationaler und methodologischer Vergleiche fungieren sollte (Dyserinck, 2015, S.11-12).
Der Literaturwissenschaftler und Kosmopolit Louis Paul Betz unterrichtete ab 1896 an der Universität Zürich in der Schweiz und war vom Einfluss und Effekt der komparatistischen Aura überzeugt, sie könnte den langersehnten Weltfrieden bringen (Dyserinck, 1991, S.29). In Deutschland wurde erst nach dem 2. Weltkrieg ein Fach für komparatistische Wissenschaft in der Besatzungszone Frankreichs an der Universität Mainz errichtet (Weber, 2007, S.266).
2.7. Die französische- und die amerikanische Komparatistenschule
Mit der akademischen Etablierung des komparatistischen Faches in Europa und in Amerika wurden fortan vielmehr die Methoden und die Ziele einer vergleichenden Untersuchung in den Vordergrund gelegt, die zum Stoff einer internationalen Diskussion zwischen bestimmten Avantgardisten literaturtheoretischer Richtungen wurde. Dabei unterteilte man diese Richtungen in die französische- und in die amerikanische Komparatistenschule. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde auf die französische Komparatistenschule, was ihre Methodologie anbelangte, die sie für eine vergleichende Untersuchung literarischer Werke verwendete, Einspruch erhoben und ihre Intention von der Thematik abschweifend empfunden. Der tschechisch-amerikanische Komparatist René Wellek (1903-1995), der im Jahre 1946 die Professur an der Yale Universität bekleidete und die literaturtheoretische Richtung des „New Criticism“12 vertrat, kritisierte die Vorgehensweise der französischen Komparatistenschule und warf ihrer Anhänger vor, die Ziele eines komparatistischen Vergleiches zu verfehlen (Dyserinck, 1991, S.49). Wellek war der Ansicht, dass die komparatistische Einstellung der französischen Schule zu sehr an der positivistischen Theorie des 19. Jahrhunderts gebunden war, in der nicht nur literarische Fragestellungen ausgearbeitet wurden, sondern auch auf außerliterarische Aspekte wie z. B. den Einfluss bestimmter Autoren aufeinander und die Rezeption ihrer Werke, weiterhin auf die soziologische und völkerpsychologische Hintergründe der Literatur eingegangen, die das Wesen der Literatur nicht mehr an sich erfasste, vielmehr nebensächliche Erkenntnisse mit sich brachte. Er wollte die Literatur eher als eine ganze Form betrachten, als ein weltumfassendes Kunstwerk, das frei von inhaltlichen, historischen und politischen Zusammenhängen erörtert werden sollte, und dabei mehr die Substanz, den Stil und die Struktur des literarischen Schaffens in den Vordergrund komparatistischer Untersuchungen legen (Dyserinck, 1991, S.53-54).
Für die neu anbahnende komparatistische Disziplin musste die Kontroverse zwischen den zwei komparatistischen Schulen beiseitegelegt werden, denn beide Richtungen hatten ihre Vor- und Nachteile in ihrem Konzept. Die französische Komparatistik konnte sich nicht vollkommen von der eigenen französischen Nationalliteratur lösen, um eine unabhängige grenzüberschreitende Untersuchung durchzuführen, während die amerikanische Komparatistik nur das Literarische bei der vergleichenden Forschung für relevant hielt und auf soziologische sowie geschichtliche Fragestellungen nicht eingehen wollte. Eine Zusammenführung beider Linien auf einer neutralen Basis, bei der eine vernünftige Diskussion geführt werden sollte und sich beide Parteien eine annähernde einheitliche Konzeption für die Methode der Komparatistik einigen könnten, würde die Komparatistik für ihre Modernisierung profitieren (Dyserinck, 1991, S.60).
2.8. Die Literatur und ihre sozialen Bezüge
Die Komparatistik sollte im Grundprinzip unabhängig agieren und keine nationalliterarischen Interessen verfolgen oder als Nebenfach bzw. Hilfsfach einer Einzelphilologie dienen. Ebenso dürfen und sollten literarische Werke nicht vollkommen von sozialen Aspekten und Einflüssen isoliert behandelt werden. Denn wir können nicht ausschließen, dass ein Autor während des Schreibens von einer Gesellschaft beeinflusst und ein gegenwärtiges Bild oder eine Vorstellung in seinem Gedächtnis entstanden ist und sich diese Einwirkung in das literarische Werk projiziert hat. In diesem Kontext möchten wir das Beispiel der Gedichtanalyse oder des Gedichtvergleichs heranziehen, das den Gedankengang des sozialen Bezugs der literarischen Werke deutlich hervorhebt. Um zwei Gedichte miteinander zu vergleichen, sollte man sich mindestens eine Komponente (Vergleichskriterium) der Werke aussuchen, das wären z.B. das Motiv, den Stil, die Literaturepoche, die Biografien der Autoren oder die gesellschaftliche Struktur in der die Autoren gelebt haben, um aus der verwendeten künstlichen Sprache, das inhaltliche Element, die Gefühle der Dichter, ihre Situation und Umgebung interpretieren zu können und zudem wichtige Erkenntnisse für die Bereiche der Literaturästhetik, der Literatursoziologie und Literaturgeschichte zu schlussfolgern (Felsner, Helbig & Manz, 2009, S.259-260). Neben den Motiven gibt es auch die Bilder von fremden Kulturen und Ländern, die in literarischen Werken auftauchen und für diverse literarische Untersuchungen eine bedeutsame Rolle spielen.
2.9. Die Imagologie
Das Fach, das sich mit solchen Bildern und Klischees, sowie Stereotype und Vorurteile in literarischen Werken behandelt ist die Imagologie, die sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die französischen Komparatisten, die sich vor allem mit außerliterarischen Faktoren der Kunstwerke beschäftigten, etablieren konnte und als Forschungszweig der Komparatistik, wichtige Erkenntnisse und Einsichten zur Genese und Bedeutung von fremden und eigenen Bildern lieferte und sie im Rahmen eines komparatistischen Bestrebens versuchte aufzuklären (Fischer, 1981, S.25-26).
Die Imagologie ist … für die interkulturelle Literaturdidaktik wichtig, weil sie die stereotypenbildende Kraft von Literatur in unser Blickfeld rückt, wobei allerdings das Bild von anderen Völkern nicht nur als Ergebnis eines Werdegangs unsere Aufmerksamkeit beanspruchen darf, sondern vor allem im Kontext eines literarischen Werkes als Ausgangspunkt einer möglichen Wirkung gesehen werden muss (Nayhauss, 2004, S.77).
Wenn wir die Funktion dieser Teildisziplin genauer unter die Lupe nehmen, die von einigen Komparatisten unserer Meinung nach zu Recht ihre Bestimmung im Metier des wechselseitigen Völkerverständnisses auslegen, dann können die images 13 (Bilder) und die mirages 14 (Wahnbilder) bei der Interpretation des jeweiligen Werkes, ferner die Einstellung des Autors gegenüber der jeweiligen Nation durchleuchten und hintergründige Ebenen (soziologische und geschichtliche Zusammenhänge) im literarischen Werk aufklären.
Mit dem Begriff „ mirage “, der wie oben angegeben ein verzerrtes Bild über Länder und Ethnien in literarischen Werken reflektiert, können wir eine Verknüpfung mit dem Wort „Vorurteil“ herstellen, das auch im Kern entstellte Meinungen und Urteile über Individuen, Gruppen oder Völker aufweist. Die Imagologie, die im Rahmen der Komparatistik auf soziologische Fragestellungen eingeht, wird automatisch auch auf die gesellschaftlichen Aspekte und Einflüsse literarischer Werke und Autoren, auf historische, wechselseitige Beziehungen der Nationen (friedlich-feindlich) zurückgreifen müssen, was uns dazu bewegt, die Problematiken und Terminologien zwischenmenschlicher Kontakte aufzugreifen. Vorurteile, Stereotypen und Klischees sind z.B. einige dieser Begriffe, die aufgezählt werden können. Wir möchten an dieser Stelle diese drei Begriffe mit ihren Definitionen anführen. Die Deutung dieser Termini im Anschluss an die Ausführung der Komparatistik ist angemessen, da wie auch an den Begriffserklärungen deutlich sein wird, dass Vorurteile, Stereotype und Klischees meist beim Kontakt des Fremden und des Eigenen beobachtet werden kann und aufgrund dessen voreilige, verfestigte Vorstellungen und Bilder hervorgerufen werden.
TEIL III
AUSLEGUNG DER TERMINI „VORURTEIL“, „STEREOTYP“ UND „KLISCHEE“
3.1. Das Vorurteil
Ein voreiliges Urteil von Personen, das nicht auf eine persönliche Feststellung beruht, sondern eher von anderen Individuen, Gruppen oder Gesellschaft aufgenommen wird und meist mit negativen Affekten verbunden ist, ist ein Vorurteil. „Vorurteile sind falsche, einseitige, negative Urteile, an denen oft gegen bessere Einsicht aus Bequemlichkeit festgehalten wird“ (Thomas, 2006, S.3). Hier definiert der deutsche Hochschullehrer Alexander Thomas das Vorurteil mit dem Wort „Bequemlichkeit“. D.h. die Person macht sich nicht die Mühe, eine eigene Meinung über eine Gruppe oder Ethnie zu machen, stattdessen übernimmt sie eine festsitzende und in der Gesellschaft verbreitete Ansicht, die größtenteils nicht der Wahrheit entspricht. Mit Bequemlichkeit ist zugleich ein Prozess gemeint, dass dem Gehirn im Unterbewusstsein dazu verhilft, Unmengen von Informationen in kurzer Zeit zu klassifizieren und einzustufen, um sich in der präsenten Umgebung einzustellen. „Vorurteile ermöglichen eine schnelle und präzise Orientierung in einer komplexen sozialen Umwelt. Personen und Objekte lassen sich leicht kategorisieren und bewerten und man weiß schnell, woran man ist“ (Thomas, 2006, S.4).
D.h. man versucht mit Hilfe des Vorurteils eine künstliche Solidarität zwischen gleichgesinnten Menschen zu erzeugen und andere fremde Personen und Gruppen überwiegend auszugrenzen. Dieses Handeln könnte aus mangelnder Selbstidentität, Frust, persönliche Motive und andere soziale Hintergründe hervorgerufen werden. Daraus ergibt sich, dass Vorurteile, die im großen Spektrum als negativ empfunden werden, bei manchen Individuen und Gruppen, aus der die Vorurteile ausgeübt werden, eine zusammenhaltende, einheitliche Atmosphäre entsteht, die eine Barriere gegen die fremdbewerteten Personen darstellt.
Vorurteile, die man mit anderen Personen teilt, fördern das Gefühl der Zusammengehörigkeit und gegenseitigen Sympathie. Sie erlauben eine klare Abgrenzung gegenüber negativ bewerteten Außengruppen und ermöglichen einen hohen Grad an Distinktion, also von abgrenzenden und sich selbst heraushebenden Eigenschaften (Thomas, 2006, S.5).
Die eigene Identität und die Eigenschaften der zugehörigen Gruppe werden mit positiven Kriterien verziert, wogegen der ausgegrenzten, als negativ empfundenen Person und Gemeinschaft abwertende Merkmale beigemessen werden.
Die Psychologen Elliot Aronson, Robin M. Akert und Timothy D. Wilson deuten auf die Evolutionspsychologie hin, in der die Tiere eine wie oben angeführte Klassifikation und Verhaltensmuster aufweisen. Die Tiere nehmen ähnliche Artgenossen vertrauter, freundlicher wahr als andersartige, bei denen sie Angst und Abneigung empfinden (Akert, Aronson & Wilson, 2004, S.490). Die Verhaltensmerkmale der Tiere werden mit den biologischen Überlebensmechanismen des Menschen in Verbindung gebracht. Das Individuum fühlt sich bei der eigenen Familie, Ethnie wohler als bei fremdartigen Menschen, die als feindselig eingestuft werden. Die Einstufung von Personen und Gruppen erfolgt vor allem durch äußerliche Strukturen. „Vielmehr ist es die Kultur (Eltern, die Gemeinschaft, die Medien), die uns, absichtlich oder unabsichtlich, instruiert, Menschen, die sich von uns unterscheiden, negative Qualitäten und Eigenschaften zuzuschreiben“ (Akert, Aronson & Wilson, 2004, S.490).
Vorurteile sind demgemäß erlernbar und messen der Entwicklung und Erziehung des Kindes eine bedeutende Rolle zu. Das Kind ist meist die Projektion der Eltern. Es übernimmt gewöhnlich die Weltansicht, die Kultur und die Religion des Vaters und der Mutter bzw. der Familie. Deshalb sollte dem elterlichen Haushalt in diesem Rahmen ein großer Wert gelegt werden, dass zur Reduzierung des Vorurteils beitragen könnte.
Vorurteile können abgebaut werden, wenn die unsachlichen, voreingenommenen Urteile und Annahmen, mit den rationalen und aufgeklärten Ansichten ausgetauscht werden und den Menschen innerhalb der Gesellschaft, oberflächliche Klassifizierungsoptionen aus der Hand genommen werden, mit denen ja letztendlich wie oben beschrieben eine Spaltung und Separation erfolgt (Thomas, 2006, S.11-12). Da das Lager, aus der die Vorurteile hervortreten und verbreitet werden, sich generell von der fremdartig erscheinenden Anwesenheit isoliert und sie meidet, ist die gegenseitige Kontaktaufnahme schwer zu errichten. Ein positiver Ablauf dieses Zustands könnte nach sozialwissenschaftlicher Empirie, erste Interaktionen zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“ betätigen und eventuell die Resistenz des Vorurteils brechen.
Ähnlich verhält es sich mit dem Wort „Stereotyp“, dass wir als zweiten Begriff in diesem Zusammenhang erläutern möchten.
3.2. Das Stereotyp
Der Terminus „Stereotyp“, der im Jahre 1922 vom amerikanischen Schriftsteller Walter Lippmann aus dem Prozess der Druckerei entnommen und für die Beschreibung zwischenmenschlicher Verhalten und Denken gebraucht wurde, wird in der Sozialpsychologie als ein enorm vereinfachtes Identitätsmerkmal von Menschen, Gruppen oder Ethnien charakterisiert, das sich im Kopf des jeweiligen Individuums entwickelt und für eine leichte Verarbeitung von Information sowie Orientierung im Alltag dient. Lippmann war der Ansicht, dass Individuen als Teil einer Gruppe agieren und imaginäre Bilder im Kopf haben „pictures in our heads“. Diese Bilder, die als fertig gestellte, generalisierte Ansichten strukturiert sind, würden den Menschen helfen, sich in einer komplexen Umwelt zu orientieren und sie problemlos zu beschreiben (Ganter, 1997, S.2).
„Stereotype sind kognitive Konzepte, die Generalisierungen über andere Personen und Gruppen von Menschen darstellen“ (Saße, 2004, S.6). Das bedeutet: Eine Begebenheit oder ein Charakteristikum wird auf eine ganze Gruppe bzw. Gesellschaft verallgemeinert. „Stereotypen sind stark vereinfachte, klischeehafte Vorstellungen, da sie zwar an die Realität anknüpfen, jedoch bis auf einen wahren Kern meist nur einen geringen Wahrheitsgehalt haben“ (Busch, 2005, S.23).
Meist wird bei der Definition von Vorurteilen und Stereotypen keinen Unterschied gemacht und beide Begriffe eher als Synonym benutzt. Doch empirisch betrachtet differenzieren sich diese zwei Termini. Stereotype sind verallgemeinerte Ansichten über bestimmte Gruppen, Ethnien oder Nationen, die sowohl positiv als auch negativ sein könnten. Dabei werden diesen Individuen bestimmte Attribute zugeordnet, die deren Handlungsweise beschreiben und generalisieren. Vorurteile hingegen sind meist negative Sichtweisen, die mit starken, affektiven Merkmalen verbunden sind und größtenteils keine realitätsbedingten Kontexte aufweisen können. Sibylle Groth beschreibt die Abweichung zwischen diesen zwei Begriffen wie folgt: „Hierbei ist das Stereotyp eine Vorstellung von Merkmalen einer sozialen Gruppe oder ihrer Mitglieder, während das Vorurteil meist als eine negative Haltung gegenüber einer Gruppe erachtet wird“ (Groth, 2003, S.22).
Wir möchten den Kontrast zwischen diesen zwei Begriffen mit Beispielen näher erläutern. Wie oben angegeben gibt es gute sowie schlechte Stereotypen, die Gruppen und Ethnien zugesprochen werden. Wir sind der Ansicht, dass beidseitige Generalisierungen nicht die wahre Widerspiegelung eines Kollektivs oder Ethnie sein kann, da jedes Mitglied dieser Gruppe, jedes Individuum an sich individuell, eigenständig ist. Die Bemerkung: „Türken sind fleißig“ ist ein positives Stereotyp, das ein ganzes Volk als leistungsfähig, alle Angehörigen dieser Nation als arbeitsfreudig präsentiert, das den Wahrheitsgehalt dieser Äußerung aber stark senkt. Als negatives Stereotyp kann man die Aussage „Türken sind kriminell“ angeben. Hier gilt die gleiche Einstellung wie beim positiven Stereotyp. Nicht alle Menschen einer Volksgruppe können und dürfen als Kriminelle eingestuft werden. Die Abweichung zwischen Stereotypen und Vorurteile ist die folgende Auslegung: Der Satz: „Türken nehmen uns die Arbeitsplätze weg“ ist ein Vorurteil, der eine negative Haltung gegenüber einer bestimmten Ethnie demonstriert und mit starken Emotionen gebunden ist. Dabei ragt primär die Handlung hervor. Bei den stereotypischen Beispielen hingegen wird der Zielgruppe ein Attribut beigemessen, um ein allgemeines Schema, ein Muster zu schaffen, dass das Fremde und seine Umgebung einfacher interpretieren lässt. Dieser Unterschied sollte bei Deutungen sozialwissenschaftlicher Fragestellungen in Betracht gezogen werden, denn es handelt sich hierbei nicht um einen identischen Ausdruck. Eine semantische Abweichung im Verhältnis zu den oben gegenübergestellten zwei Ausdrücken gibt es auch in unserem dritten Begriff „Klischee“, der im Rahmen unserer Thematik von Bedeutung trägt.
3.3. Das Klischee
Der Begriff „Klischee“, der sich aus der französischen Bezeichnung „cliché“ ableitet, geht ursprünglich aus der Buchdruckerei aus und wird dort für den Namen des Druckstocks verwendet, mit dem man Schablonen und Muster auf Druckmaterial abbilden kann (Thiele, 2015, S.34). Eine erweiterte Definition dieses Begriffs, die mit unserem Gegenstand zusammenpasst, wären die schablonisierten und musterhaften Aussagen, die man bestimmten Gruppen und Ethnien zuspricht. Katerina Kroucheva definiert „Klischee“ folgendermaßen: „Unter Klischee versteht man allgemein eine sinnentleerte, vorgeprägte Äußerung ohne nennenswerten Realitätsgehalt“ (Kroucheva, 2009, S.130-131). Durch die häufige Verwendung des Klischees verliert das verbal Ausgesagte im Kern seine Gewichtigkeit und kann in seinem Wahrheitswert schwer überprüft werden. Im Alltag kann man häufig auf die Geschlechter bezogene Klischees antreffen wie z.B. „Frauen gehören in die Küche“ oder „Männer denken nur an Sex“.
In Übereinstimmung mit der vorherrschenden Definition in literatur-, sprach- und sozialwissenschaftlichen Studien werden Klischees als Rede- und Ausdrucksweisen bzw. Denkschemata angesehen, die durch häufigen Gebrauch in ihrer inhaltlichen Bedeutsamkeit stark vermindert sind, automatisch übernommen werden und den Rezipienten keine weitere Reflexion abverlangen (Erler, 2004, S.22).
Bei allen drei Begriffen sind parallele Strukturen erkennbar, die sich auf die Vorstellungen, Meinungen und Urteile im Gedächtnis des Menschen beziehen, wonach sich soziale Interaktionen beeinflussen lassen und verzerrte Fehlinformationen den wechselseitigen Kontakt prägen. Ihre Auslegung und Wirkung sind ebenfalls schwer zu unterscheiden. Aber eines ist bei allen drei Fällen bemerkbar: Vorurteile, Stereotypen und Klischees sind widerstandsfähig und ein schwer lösliches Problem. Aber es gibt einige Ansätze, die für ihren Abbau beitragen könnten. Diese gesellschaftlichen Phänomene empirisch zu untersuchen, liegt im Rahmen der Komparatistik, die im Endeffekt viele Fragen was die sozialen Aspekte, interkulturellen und interpersonalen Beziehungen anbelangt, aufdecken kann.
TEIL IV
DIE SCHULDFRAGE
Verantwortung ist eine Pflicht, die was die Gewichtigkeit der Aufgabe betrifft, eine bestimmte Rolle vielleicht sogar die wichtigste Rolle im Leben eines Menschen spielt und auf diesem einen gewissen Einfluss ausüben kann. Nicht jedes Individuum ist einer Verantwortung gewachsen oder kann eine Verantwortung übernehmen. Es gibt an einigen Abschnitten unserer Existenz Beispiele die aufgezeigt werden können und in denen sichtbar wird, wie die Verantwortung einer begangenen Tat, vor allem aus einer kollektiven Aktion heraus, viele Menschen vor allem aus späteren Generationen für eine bestimmte Tätigkeit verantwortlich macht und die Schuld des Vergehens auf ihnen lastet obwohl sie nichts verbrochen haben. Bei dieser Überlegung tritt zwischen Schuld und Unschuld ein schmaler Grat hervor, der manchmal schwer zu erkennen ist. Für diesen nicht eindeutigen Zustand trägt unserer Ansicht nach das Spektrum der Schulddeutung bei, dass mit vielen wissenschaftlichen Zweigen vernetzt ist und demgemäß aus verschiedenen Perspektiven interpretiert wird. Die vielen Meinungen und Definitionen von Theologen, Rechtswissenschaftlern, Zeitzeugen, Historikern und Sozialpsychologen könnten daher Differenzen aufweisen, die Pro- und Kontra Diskurse entfachen und infolgedessen konkrete Schlussfolgerungen schwer zu ziehen sind. Unsere Intention an dieser Stelle ist die terminologische Aufklärung des Begriffs „Schuld“ und ihre kollektive Dimension zu ergründen. Unser Ziel ist nicht die detaillierte Gegenüberstellung hyponymischer Schuldbegriffe, die auf der einen Seite ein Individuum für schuldig erklärt und auf der Anderen nicht. Doch was heißt Schuld und wie macht man sich schuldig? Wer erklärt jemanden aus welchem Grund für schuldig? Das sind einige Fragen, die geklärt werden müssen. Aber zuallererst sollten wir das Wort „Schuld“ auslegen.
4.1. Die Auslegung des Begriffs „Schuld“
Die deutsche Autorin Susanne Marie Kilian schildert das Wort „Schuld“ wie folgt:
Schuld ist ein abstrakter Begriff mit wechselnder Definition: Schuld ist ein stigmatisierender Begriff für einen Regelverstoß, dem eine psychologisch negative Wirkung zugeordnet wird. […] Schuld kann demnach nur dort neben der gesetzlichen Dimension existieren, wo zusammengelebt wird und auf andere Rücksicht genommen werden muss. Schuld hat aber auch viel mit dem Grad von Verantwortung für das Handeln zu tun (Kilian, 2012, S.17).
D.h. die Schuld tritt nach einer begangenen Tat ein, die von einer existierenden Norm abweicht und als Verstoß angesehen wird. Dieses als fehlerhaft angesehene Handeln kann negative Emotionen auslösen, die das Gewissen des Betroffenen belasten könnte. Ein wesentlicher Faktor spielt dabei das Gesetz mit dem gerichtet wird und der Urteilende, der über das Verhalten der jeweiligen Person richtet. Kilians Interpretation kann als eine allgemeine Definition von „Schuld“ aufgefasst werden.
4.2. Jaspers Klassifizierung der Schuld
Der deutsche Philosoph Karl Theodor Jaspers (1883-1969), der sich mit der Schuld und Verantwortung der Deutschen im nationalsozialistischen Regime beschäftigte, hat in seinem Werk „die Schuldfrage“ (1946) den Begriff „Schuld“ in vier Typen klassifiziert. Jaspers hat zwischen Krimineller Schuld, Politischer Schuld, Moralischer Schuld und Metaphysischer Schuld unterschieden.
4.2.1. Die kriminelle Schuld
Bei der kriminellen Schuld wird gegen ein bestehendes Gesetz verstoßen, dass den Ablauf eines offiziellen Prozesses gegen den jeweiligen Angeklagten festlegt und der Gerichtshof, die urteilende Autorität ist (Jaspers, 1946, S.31).
4.2.2. Die politische Schuld
Mit der politischen Schuld sind die Taten und Aktionen der Regierungschefs, der Politiker gemeint, die die hohen staatlichen Ämter eines Landes in einem bestimmten Zeitraum bekleidet haben. Durch die Handlungen der Staatsmänner werden auch die Bürger dieses Staates zur Verantwortung gezogen und müssen für die angewandte Politik die Konsequenzen tragen. Der Urteilende über diese Schuld ist der Gewinner der Auseinandersetzung (Jaspers, 1946, S.31). Demnach richteten die Alliierten15 über die Achsenmächte16.
4.2.3. Die moralische Schuld
Die moralische Schuld betrifft das Individuum selbst. Es muss seine Handlungen durch den Filter des Gewissens laufen lassen um den Schritt zur inneren Ruhe und seelischen Frieden zu finden. Nur schuldbewusste Personen können moralisch schuldig sein. Die Richterrolle übernimmt das Gewissen (Jaspers, 1946, S.31).
4.2.4. Die metaphysische Schuld
Metaphysische Schuld bezieht sich auf den wechselseitigen Zusammenhalt der Menschen. Wenn in einem Land ein Verbrechen, eine Gewalttat begangen wird, so darf der Mitmensch, der Landsmann, der Nachbar oder die zurechnungsfähige Person nicht als Zuschauer oder Beobachter ungerührt dastehen, sondern eingreifen und versuchen das Unrecht zu verhindern. Denn wenn sie es nicht tut, dann macht sie sich mitschuldig. Der Richter über diese Schuld ist (bei monotheistischen Religionen) Gott (Jaspers, 1946, S.31-32).
Wenn man sich die Schuld aus dieser Einteilung betrachtet, dann kann eine Person bei einem oder zwei Schuldbegriffen belastet werden, aber bei anderen wiederum nicht haftbar gemacht werden. Bei der metaphysischen und moralischen Schuld z.B. kann ein Verbrecher der Schuld und Verantwortung in der irdischen Welt entrinnen, denn er könnte eventuell keine Buße tun und religiös muss er auch nicht sein. Wogegen bei der politischen Schuld die ganze Gesellschaft sich für die Handlungen des Staatschefs verantworten muss, weil er oder sie die Position der Repräsentative bekleidet und das ganze Volk unter der Obhut des Staates steht und sie genießt. Aus der Verpflichtung der politischen Schuld kann sich niemand rausreden wie Jaspers es deutlich klarstellt:
Es dürfe doch Menschen geben, die völlig apolitisch seien, ein Dasein außerhalb führten, wie Mönche, Einsiedler, Gelehrte und Forscher, Künstler. Wenn sie wirklich apolitisch seien, so trügen sie auch nicht mit an der Schuld. Aber die politische Haftung trifft sie mit, weil sie auch ihr Leben durch die Ordnung des Staates haben. Es gibt kein außerhalb in modernen Staaten (Jaspers, 1946, S.57).
4.3. Die Schuld des Kollektivs
Was die Kollektivschuld betrifft, so denkt Jaspers, dass es falsch ist über eine ganze Bevölkerung ein Urteil zu fällen, ob schuldig oder unschuldig. Denn jedes Individuum denkt und handelt als Einzelperson, dass seine eigene willkürliche Initiative hat. Und ein Volk kann nicht als eine einzelne Persönlichkeit erfasst werden. Den Bürgern kann man zwar bestimmte, gemeinsame Merkmale zusprechen wie z.B. im selben Land zu leben oder die gleiche Staatsangehörigkeit zu besitzen, aber dadurch haften die verbrecherischen Taten nicht auf der ganzen Gesellschaft.
Ein Volk kann nicht zu einem Individuum gemacht werden. Ein Volk kann nicht heroisch untergehen, nicht Verbrecher sein, nicht sittlich oder unsittlich handeln, sondern immer nur die einzelnen aus ihm. Ein Volk als Ganzes kann nicht schuldig und unschuldig sein, weder im kriminellen, noch im politischen […], noch im moralischen Sinn (Jaspers, 1946, S.39).
Eine ganze Bevölkerung zu kategorisieren und für schuldig zu erklären wäre zu leicht für ein Urteil. Wenn man ein wenig über die deutsche Geschichte nachdenkt, primär im Zeitraum des Nationalsozialismus, dann kann man nicht völlig ausschließen, dass es keine Deutschen gab, die sich mit den Juden solidarisch gefühlt haben und schlichtweg die Praktiken des Nazi-Regimes verabscheuten. Diese Menschen für schuldig zu erklären und sie mit antisemitisch befangenen Personen in dieselbe Kategorie einzustufen, wäre eine übersteigerte Form der Entehrung und Demütigung dieser Persönlichkeiten. „Die kategoriale Beurteilung als Volk ist immer eine Ungerechtigkeit; sie setzt voraus eine falsche Substantialisierung, - sie hat eine Entwürdigung des Menschen als einzelnen zur Folge“ (Jaspers, 1946, S.39). Wir teilen die Meinung Jaspers und denken ebenfalls, dass man ein Volk, eine Gesellschaft als Ganzes nicht verurteilen darf und kann. Die Verantwortlichen für bestimmte inakzeptable Handlungen sollten sorgfältig von Unschuldigen und Unbeteiligten im Rahmen Jaspers Kriterien und internationalen Gerichtsinstanzen differenziert werden.
[...]
1 Viele Literaturwissenschaftler sind der Ansicht, dass Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Madame de Staël (1766-1817) eine sehr große Rolle bei der Entfaltung der Komparatistik gespielt haben. Vor allem wird die Volksdefinition des deutschen Dichters Herder, die die unterschiedlichen Merkmale eines Volkes und ihre Gleichstellung neben anderen Völkern reflektiert, als ein großer Schritt für eine interkulturelle Vergleichsperspektive angesehen. Das Werk von der französischen Schriftstellerin Madame de Staël „ De lʼAllemagne“ (1810) wird auch als einer der ersten Konzepte für einen Vergleich fremder Kulturen aufgefasst (Dyserinck, 1991, S.19-20).
2 Wenn die Ökonomie eines Staates sehr schnell wächst, die Industrieproduktion steigt und die Arbeitslosenrate sinkt, wird von einem „Boom“ gesprochen (Horn, Gabler Wirtschaftslexikon).
3 Die NATO (North Atlantic Treaty Organization), die am 4. April 1949 in Washington D.C. gegründet wurde, ist ein militärisches Bündnis der USA und hauptsächlich europäischer Staaten, die sich gegen die Machtausbreitung der Sowjetunion zusammenschlossen, um ihre kommunistischen Bestrebungen einzudämmen. Die Konflikte beider Gegenpole werden auch als der Kalte Krieg bezeichnet (Hauser, 2008, S.7).
4 Ein Journalist, der sich mit dem Aufdecken von skandalösen Aktivitäten und weiteren in der Gesellschaft als abwertend und inakzeptabel empfundenen Handlungen beschäftigt und sie in die Öffentlichkeit freilegt.
5 Die Online-Zeitschrift für interkulturelle Studien, die seit 2002 alle 3 Monate im Jahr veröffentlicht wird, befasst sich grundsätzlich mit der Verständigung und Handlungsweisen interkultureller Kollektiven und Ethnien. Die Herausgeber der Zeitschrift sind Jürgen Bolten und Stefanie Rathje.
6 Thomas, A. (2006). Die Bedeutung von Vorurteil und Stereotyp im interkulturellen Handeln. In interculture journal: Online Zeitschrift für interkulturelle Studien 5. URL: http://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/45408 (abgerufen am 13.02.2017).
7 Alexander Thomas ist ein Hochschullehrer, der die Professur für Sozial- und Organisationspsychologie in der Universität Regensburg bekleidete und im Jahre 2008 emeritierte (Alexander Thomas, 2017, Wikipedia).
8 Hugo Dyserinck, der an der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen Universität als Professor tätig war, wurde vor allem mit der Teildisziplin der Komparatistik, also der Imagologie bekannt. Daneben ist er der Herausgeber der ,,Aachener Beiträge zur Komparatistik“ (Hugo Dyserinck, 2016, Wikipedia). Wichtige Werke Dyserincks, in denen einige parallele Perspektiven, was unsere Fragestellung betrifft, behandelt werden: 1. Dyserinck, H. (1966). Zum Problem der « images » und « mirages ». Arcadia 1, Fachzeitschrift für Komparatistik. Berlin: Verlag „De Gruyter“. 2. Dyserinck, H. (1977). Komparatistik. Eine Einführung. (Aachener Beiträge zur Komparatistik). Bonn: Bouvier Verlag.
9 Kain und Abel sind die ersten Söhne von Adam und Eva. Nach theologischen Überlieferungen begeht Kain den ersten Mord auf der Welt und erschlägt seinen Bruder Abel aus Neid. In den Lebzeiten der Brüder wurden Gott Opfergaben gemacht aus Dankbarkeit. Kains Opfer wurde vom Herrn zurückgewiesen wogegen Abels Opfergabe akzeptiert wurde. Diese Gegebenheit machte Kain zornig und eifersüchtig. Mit diesen Emotionen beladen tötete er seinen Bruder. Dieser Vorfall wird auch als der erste Brudermord definiert (Grasser, 2015, S.19).
10 Eine Strömung, die etwa in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann und von jungen deutschen Dichtern verfechtet wurde und im Gegensatz zur Aufklärung, in der die Vernunft und der Verstand eine schwerwiegende Rolle spielte, wurde hier mehr das literarische Drama, die Gefühle, emotionalen Schwünge und die Genialität des Menschen in den Vordergrund gelegt (Rudolph, 2014, frustfrei-lernen.de).
11 Der Herausgeber der ersten Fachzeitschrift für die vergleichende Literaturwissenschaft „ Acta Comparationis Litterarum Universarum“ (1877) war der ungarische Professor und Komparatist Hugo Meltzl von Lomnitz (1846-1908), der für das Interesse und die Verbreitung der komparatistischen Untersuchungen in Ungarn sorgte und als einer der Wegbereiter der modernen Komparatistik angesehen wird (Tóth-Nagy, 2005, S. 49). Eine weitere Zeitschrift, die sich zu dieser Zeit mit der vergleichenden Literatur beschäftigte war „Zeischrift für vergleichende Literaturgeschichte“ (1886), die vom Germanisten Max Koch (1855-1931) publiziert wurde. Dabei bestrebte Koch den Zusammenhang von Literatur und anderen wissenschaftlichen Disziplinen zu beleuchten (Konstantinović, 1988, S.26-27).
12 „ New Criticism “ ist eine literaturtheoretische Richtung, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem gegen den existierenden Positivismus etablieren wollte und die Literatur aus rein struktureller und formeller Sicht erfassen wollte. Dieses Konzept forderte in erster Linie das Trennen der gesellschaftlichen Aspekte aus dem literarischen Text (Auberlen, 2004, S. 89).
13,, Image “ wird auf das lateinische Wort „imago“ zurückgeführt, das aus heutiger Sichtweise keine visuelle Darstellung verkörpert, sondern eine individuelle Vorstellung, Erkenntnis und Bewertung gegenüber Personen, Gruppen oder Nationen gedeutet wird, die keinen wahrheitsbedingten und stichhaltigen Beweggrund haben kann (Behrens, 2003, S.32).
14,, mirages“ sind Bilder und Vorstellungen über bestimmte Nationen und Kulturen, die in literarischen Werken auftreten können aber realitätsferne Einbildungen sind. Da sie keine adäquate Entsprechung mit der Wirklichkeit haben, werden sie von manchen Wissenschaftlern, die sich mit der Imagologie beschäftigen als „Trugbilder“ oder „Wahnvorstellungen“ interpretiert (Ahmann, 2012, S.74).
15 Ein Bund zwischen den USA, Frankreich, der Sowjetunion und Großbritannien, der im 2. Weltkrieg gegen die Achsenmächte geschlossen wurde.
16 Mit diesem Ausdruck ist die Allianz zwischen Deutschland, Italien und Japan gemeint, die im 2. Weltkrieg gegründet wurde.
- Citation du texte
- Bekir Özgün (Auteur), 2017, Mutabilis Memoria - Aequalis Motivum. Vergleichende Reflexion des Schuldgefühls und Selbstwertproblems anhand der Werke "Andorra" und "Ganz unten", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/470147
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