1927 erschien Virginia Woolfs fünfter Roman To the Lighthouse, der dritte, in dem sie keine konventionelle Erzählweise anwendet, sondern durch die Methode des stream of consciousness den Leser nahezu unmittelbar an den Gedanken und Gefühlen der Figuren teilhaben läßt. Die Handlung tritt dabei in den Hintergrund, ebensowenig existiert ein konventioneller Spannungsbogen. So umfassen der erste und der dritte Teil des Buches jeweils nur einige Stunden im Leben einer Feriengesellschaft auf der Insel Skye, während im zweiten Teil zehn Jahre auf wenigen Seiten zusammengerafft werden. Die eingehende Beschreibung dessen, was im Bewußtsein der Personen vor sich geht, führt dazu, daß das Leben an sich betrachtet wird, daß zentrale Fragen des Lebens aufgeworfen werden. Zu denen gehört sicherlich auch die Frage nach der Identität einer Person. Als gesellschaftliches Lebewesen ist der Mensch verschiedenen Erwartungen hinsichtlich seiner sozialen Rolle ausgesetzt, die sich auf seine Identität und auch auf seine Beziehungen zu anderen Menschen auswirken. Die Gesellschaft im Roman ist stark von den Wertvorstellungen des viktorianischen Zeitalters bestimmt.
Gegenstand dieser Arbeit ist die Beziehung zwischen zwei unterschiedlichen Frauen in dieser Gesellschaft: Mrs. Ramsay verkörpert dabei die Rolle der viktorianischen Ehefrau und Mutter, die sich für ihre Familie aufopfert, während es sich bei Lily Briscoe um eine jüngere, alleinstehende Frau handelt, die ihren Platz im Leben sucht. Zunächst wird Mrs. Ramsay in ihrer Rolle als Angel in the House dargestellt, wobei auch auf das Frauenbild der damaligen Gesellschaft eingegangen wird. Von Bedeutung ist hier auch die Beziehung zu ihrem Ehemann, welche durch spezifische Rollenmuster bestimmt ist. Weiterhin werden die mythischen Ursprünge der Rolle der Frau analysiert, die es den Frauen überaus schwer machen, die patriarchalischen Strukturen zu durchbrechen. Lily Briscoe gelingt dies auch nur nach einem schwierigen Prozeß der Ablösung von Mrs. Ramsay. Denn obwohl die zwei nicht miteinander verwandt sind, herrscht ein Mutter-Tochter- Konflikt zwischen ihnen. Dessen Lösung soll hier aufgezeigt werden. So schafft es Lily, die Wahrheit über das Leben, die sie erst in Mrs. Ramsay sucht, schließlich in sich selbst zu finden. Den Wunsch, sich mit Mrs. Ramsay zu identifizieren, verliert sie mit Hilfe ihrer Malerei im Laufe des Trauerprozesses, auf den besonderes Augenmerk gerichtet werden soll.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Mrs. Ramsay
2.1 Das Frauenbild der viktorianischen Gesellschaft
2.2 Mythische Ursprünge der Frauenrolle
2.2.1 Der Mythos um die Mutter Gottes
2.2.2 Der Mythos um Eva
2.2.3 Gesellschaftlicher Druck
3. Lily Briscoe und Mrs. Ramsay
3.1 Mutter-Tochter-Beziehung
3.2 Lilys Beziehungen zu Männern
3.3 Lilys Suche nach Wahrheit und Einheit mit der Mutter
3.3.1 Suche nach einer malerischen Einheit
3.4 Lilys Ablösung von Mrs. Ramsay
3.4.1 Anfang der Ablösung
3.4.2 Ablösung durch den Trauerprozeß
3.4.2.1 Lily als Spenderin von Lebenskraft
3.4.2.2 Der Raum der Wahrheit
3.4.2.3 Lilys Visionen
4. Schluß
5. Literaturverzeichnis
5.1 Primärliteratur
5.2 Sekundärliteratur
1. Einleitung
1927 erschien Virginia Woolfs fünfter Roman To the Lighthouse, der dritte, in dem sie keine konventionelle Erzählweise anwendet, sondern durch die Methode des stream of consciousness den Leser nahezu unmittelbar an den Gedanken und Gefühlen der Figuren teilhaben läßt. Die Handlung tritt dabei in den Hintergrund, ebensowenig existiert ein konventioneller Spannungsbogen. So umfassen der erste und der dritte Teil des Buches jeweils nur einige Stunden im Leben einer Feriengesellschaft auf der Insel Skye, während im zweiten Teil zehn Jahre auf wenigen Seiten zusammengerafft werden. Die eingehende Beschreibung dessen, was im Bewußtsein der Personen vor sich geht, führt dazu, daß das Leben an sich betrachtet wird, daß zentrale Fragen des Lebens aufgeworfen werden. Zu denen gehört sicherlich auch die Frage nach der Identität einer Person.
Als gesellschaftliches Lebewesen ist der Mensch verschiedenen Erwartungen hinsichtlich seiner sozialen Rolle ausgesetzt, die sich auf seine Identität und auch auf seine Beziehungen zu anderen Menschen auswirken. To the Lighthouse spielt in Großbritannien zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Gesellschaft ist also stark von den Wertvorstellungen des viktorianischen Zeitalters bestimmt.
Gegenstand dieser Arbeit ist die Beziehung zwischen zwei unterschiedlichen Frauen in dieser Gesellschaft: Mrs. Ramsay verkörpert dabei die Rolle der viktorianischen Ehefrau und Mutter, die sich für ihre Familie aufopfert, während es sich bei Lily Briscoe um eine jüngere, alleinstehende Frau handelt, die ihren Platz im Leben sucht.
Zunächst wird Mrs. Ramsay in ihrer Rolle als Angel in the House dargestellt, wobei auch auf das Frauenbild der damaligen Gesellschaft eingegangen wird. Von Bedeutung ist hier auch die Beziehung zu ihrem Ehemann, welche durch spezifische Rollenmuster bestimmt ist. Weiterhin werden die mythischen Ursprünge der Rolle der Frau analysiert, die es den Frauen überaus schwer machen, die patriarchalischen Strukturen zu durchbrechen.
Lily Briscoe gelingt dies auch nur nach einem schwierigen Prozeß der Ablösung von Mrs. Ramsay. Denn obwohl die zwei nicht miteinander verwandt sind, herrscht ein Mutter-Tochter-Konflikt zwischen ihnen. Dessen Lösung soll hier aufgezeigt werden. So schafft es Lily, die Wahrheit über das Leben, die sie erst in Mrs. Ramsay sucht, schließlich in sich selbst zu finden. Den Wunsch, sich mit Mrs. Ramsay zu identifizieren, verliert sie mit Hilfe ihrer Malerei im Laufe des Trauerprozesses, auf den besonderes Augenmerk gerichtet werden soll.
2. Mrs. Ramsay
Am Anfang von To the Lighthouse stehen Mrs. Ramsays Worte „Yes, of course, if it's fine tomorrow...But you'll have to be up with the lark“[1], mit denen sie ihrem sechsjährigen Sohn James eine ungeheure Freude bereitet. Denn sie bestätigt ihm damit, am nächsten Tag bei gutem Wetter zum Leuchtturm fahren zu können, ein Ausflug, auf den James sich schon seit langem gefreut hat.
Bereits hier lernt der Leser einen wichtigen und typischen Teil von Mrs. Ramsays Rolle kennen. Als Ehefrau und Mutter von acht Kindern opfert sie sich für ihre Familie auf und versucht, es allen angenehm zu machen. Sie möchte niemanden enttäuschen, und mit ihrem großen Einfühlungsvermögen kann sie allen Wünschen, die an sie herangetragen werden gerecht werden. Sie selbst empfindet es dabei als nur natürlich, daß alle mit ihren Bedürfnissen zu ihr kommen (L I, vi, 51), da es nach den gesellschaftlichen Anforderungen zu ihrer Rolle als Frau gehört.
2.1 Das Frauenbild der viktorianischen Gesellschaft
Der erste Teil des Romans spielt im Jahre 1909 und da die älteste Tochter Prue zu dem Zeitpunkt achtzehn Jahre alt ist, kann man davon ausgehen, daß die Ramsays mindestens neunzehn Jahre verheiratet sind. Sie sind also beide vom viktorianischen Zeitalter (1832-1901) geprägt.[2]
Zu dieser Zeit gibt es zwar bereits Frauen, die für mehr Rechte kämpfen, aber in der Gesellschaft wird ein patriarchalisches Frauenbild hochgehalten: Die Frau gilt als dem Manne untergeordnet. So erhalten Mädchen auch nur eine mangelhafte Bildung. Viel mehr Wert wird statt dessen auf das äußere Erscheinungsbild gelegt.[3] Die Rolle der Ehefrau ist durch den Begriff Angel in the House gekennzeichnet. Dazu gehört vor allem die totale Selbstverleugnung und Ergebenheit dem Ehemann gegenüber.[4] Die Frau muß sicherstellen, daß seine Wünsche erfüllt werden und, wenn nötig, auch lügen, um sein Selbstvertrauen zu stärken. Im Gegenzug zu dieser Aufopferung wird die Frau verehrt, werden ihre Schönheit und ihr Charme hochgehalten.[5]
All dies finden wir in der Figur der Mrs. Ramsay wieder. Sie ordnet sich ihrem Mann unter und vertraut auf „this admirable fabric of the masculine intelligence“ (L I, xvii, 159), da sie selbst ungebildet ist. Die intellektuelle Unterlegenheit macht sie von ihrem Mann abhängig, was wiederum dessen Selbstbewußtsein stärkt. So ist es nur verständlich, daß Mr. Ramsay, als er seine Frau beobachtet, wie sie ein Sonett liest, verwundert ist. Er übertreibt und stellt sich seine Frau lieber als „not clever, not book-learned at all“ (L I, xix, 182) vor und bewundert im gleichen Moment ihre Schönheit. Je weniger klug eine Frau erscheint, desto begehrenswerter wird sie also für den Mann.[6]
Obwohl Mr. Ramsay hier selbst übertreibt, rügt er dies oft bei seiner Frau (L I, xii, 102). Dies ist ein Zeichen seiner Überlegenheit als Mann, allerdings ist das Übertreiben und sogar Lügen ein wichtiges Mittel für Mrs. Ramsay, das Ego ihres Mannes zu stärken. Immer wenn Mr. Ramsay Selbstzweifel plagen, möchte er bei seiner Frau Bestätigung und Sicherheit finden, und dies würde mit der Wahrheit nicht funktionieren.[7] Schließlich ist es Mrs. Ramsays Hauptaufgabe als Ehefrau, das Leben ihres Mannes so angenehm wie möglich zu machen. Dazu gehört das Verheimlichen unerfreulicher Tatsachen wie z.B. die Höhe der Rechnung für die Reparatur des Treibhauses (L I, xii, 101) oder was die Leute tatsächlich über Mr. Ramsays letztes Buch denken (L I, vii, 62).
Eines noch größeren Kraftaufwandes bedarf es, Mr. Ramsays Persönlichkeit und Werk großartiger erscheinen zu lassen, als sie es wirklich sind. Einen solchen Vorgang beschreibt Virginia Woolf in der folgenden Szene. Mrs. Ramsay liest James eine Geschichte vor, als sich Mr. Ramsay nähert „demanding sympathy“ (L I, vii, 58). Obwohl äußerlich nicht viel mehr passiert, als daß sich Mrs. Ramsay nur etwas aufrechter hinsetzt, geht doch eine ungeheure Kraft von ihr aus. Die Autorin verbindet hier Weiblichkeit durch Ausdrücke wie „a rain of energy“, „animated and alive“, „burning and illuminating“, „delicious fecundity“ und „fountain and spray of life“ (L I, vii, 58) mit der Fähigkeit, Leben zu erzeugen. Der männliche Part wird dagegen mit den Worten „fatal sterility“ und „barren and bare“ (L I, vii, 58) charakterisiert. So braucht Mrs. Ramsay nicht viele Sätze zu sprechen, um ihrem Mann das zu geben, was er benötigt; es ist ihr Lachen, ihre Erscheinung, welche Lebensenergie ausstrahlen und Mr. Ramsay in den „circle of life“ (L I, vii, 59) aufnehmen.
2.2 Mythische Ursprünge der Frauenrolle
2.2.1 Der Mythos um die Mutter Gottes
Nachdem sie ihren Mann schließlich seines Genies versichert hat, zieht dieser sich zurück „like a child who drops off satisfied“ (L I, vii, 60). Mrs. Ramsay erscheint hier also nicht nur in der Rolle der fürsorglichen Ehefrau, sondern als archetypische Mutterfigur. Denn sie ist mit den universellen weiblichen Fähigkeiten, zu ernähren und Leben zu geben, ausgestattet.[8]
Gleichzeitig deutet dieses Bild der ernährenden Mutter auf den mythischen Ursprung der Rolle des Angel in the House und auf den damit verbundenen Druck, diese Rolle zu übernehmen, hin. Der Ursprung liegt nämlich im Mythos um die Mutter Gottes, welche für ihre Aufopferung und Selbstverleugnung von der patriarchalischen Gesellschaft verehrt wird. Trotz ihrer Jungfräulichkeit gilt Maria auch als ideale Mutter, wie die Darstellungen von ihr mit dem Jesuskind auf Ikonen zeigen. „Mother and child“ werden als „objects of universal veneration“ (L I, ix, 81) angesehen. Zu der Verleugnung von Sexualität kommt noch das Freisein von Sünde, Alter und Tod, weshalb Maria als eine Art höheres Wesen verehrt wird.[9] Dies alles findet sich auch beim Angel in the House.
Es ist daher verständlich, daß Mrs. Ramsay, die diese Rolle so gut ausfüllt, nicht nur von ihrem Mann hochgeschätzt wird, sondern dazu von fast allen Personen in ihrem Umfeld. Die Verehrung erreicht dabei fast Dimensionen wie bei der Mutter Gottes, denn Mrs. Ramsay wird als nahezu überirdisches Wesen betrachtet. Für Charles Tansley ist sie, die fünfzigjährige Mutter von acht Kindern, „the most beautiful person he had ever seen“ (L I, i, 25). Und Mr. Bankes ist von ihrer Stimme am Telefon so bewegt, daß er bekennen muß: „Nature has but little clay...like that of which she molded you“ (L I, v, 46f.).
2.2.2 Der Mythos um Eva
Doch es ist nicht nur die Aussicht auf Verehrung, welche Frauen dazu bringt, sich selbst zu verleugnen und die Rolle des Angel in the House anzunehmen. Der Mythos um Eva ist der zweite wichtige Faktor, der dahingehend Druck ausübt.[10]
Woolf verdeutlicht dies an Hand der Geschichte, die Mrs. Ramsay James vorliest. Es handelt sich dabei nämlich um das Märchen „Vom Fischer und seiner Frau“, „a variation of the Adam and Eve story“[11]. In dem Märchen der Gebrüder Grimm fängt ein armer Fischer eine Flunder, die eigentlich ein verwunschener Prinz ist. Der Mann läßt den Fisch wieder schwimmen, doch seine Frau rügt ihn, daß er sich nichts gewünscht hat und schickt ihn mit dem Wunsch nach einer besseren Hütte zurück ans Meer. Der Fisch erfüllt den Wunsch, doch die Frau verlangt immer mehr. Nachdem die Flunder sie zum König, zum Kaiser und schließlich zum Papst gemacht hat und die See bei jedem Wunsch immer wilder wurde, möchte die Frau wie Gott sein. Diesen Wunsch gewährt die Flunder allerdings nicht. Statt dessen bestraft sie die Gier der Frau, indem sie die bereits erfüllten Wünsche rückgängig macht, so daß sich am Ende der Fischer und seine Frau in ihrer schäbigen Hütte wiederfinden.[12]
In diesem Märchen wird eine Frau, die zu Macht kommt, als unnatürlich dargestellt, weshalb sie bestraft werden muß. Zugleich wird die Kontrolle der Gesellschaft über den unersättlichen Machthunger der Frau gerechtfertigt.[13]
[...]
[1] Virginia Woolf: To the Lighthouse, London 1927, 1996, S. 9. Im weiteren zitiert als Sigel (L plus Teil des Romans, Kapitel, Seitenzahl).
[2] Vgl. Jane Lilienfeld: Where the Spear Plants Grew: The Ramsays’ Marriage in To the Lighthouse, in: Jane Marcus (Hrsg.): New Feminist Essays on Virginia Woolf, London and Basingstoke 1981, S. 150.
[3] Ebd., S. 151f.
[4] Ebd., S. 154.
[5] Vgl. Beth Rigel Daugherty: “There she sat”: The Power of the Feminist Imagination in To the Lighthouse, in: Twentieth Century Literature 37, 1991, S. 291.
[6] Vgl. Lilienfeld, S. 152.
[7] Vgl. Daugherty, S. 291.
[8] Jane Lilienfeld: “The Deceptiveness of Beauty”: Mother Love and Mother Hate in To the Lighthouse, in: Twentieth Century Literature 23, 1977, S. 349.
[9] Vgl. Daugherty, S. 292.
[10] Ebd.
[11] Ebd.
[12] Ebd., S. 292f.
[13] Ebd., S. 293.
- Quote paper
- Eleni Stefanidou (Author), 1999, Lily Briscoes Ablösung von Mrs. Ramsay in Virginia Woolfs Roman "To the Lighthouse", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46986
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