In dem Aufsatz Interpretation, Analyse, Lektüre: Methodologische Erwägungen zum Umgang mit lyrischen Texten stellt Rainer Warning aus historischer, methodologischer und kritischer Perspektive drei verschiedene Möglichkeiten der Aneignung von poetischen Texten dar. Vorraussetzung für jede nachvollziehbare und diskutierbare Auslegung von Literatur ist die Offenlegung der systematisch und methodisch kontrollierten Reflexion, die zu der begründeten Argumentation der Textauslegung geführt hat. Im folgenden sollen die drei dargestellten Verfahrensweisen bei der Textaneignung „Interpretation“, „Analyse“ und „Lektüre“ nachgezeichnet und auf ihre Bedeutung in einigen Aspekten weiter eingegangen werden. Daran soll deren Übertragung auf die Lyrikanalyse, sowie eine Beispielsinterpretation von Charles Baudelaire A une passante anschließen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Methodologie der Textauslegung
2.1 Interpretation
2.2 Analyse
2.3 Lektüre
3. Übertragung auf die Lyrikanalyse
4. Gedichtsinterpretation von Charles Baudelaire, A une passante (aus: Les fleurs du mal)
5. Bibliographie
1. Einleitung
In dem Aufsatz Interpretation, Analyse, Lektüre: Methodologische Erwägungen zum Umgang mit lyrischen Texten stellt Rainer Warning aus historischer, methodologischer und kritischer Perspektive drei verschiedene Möglichkeiten der Aneignung von poetischen Texten dar. Vorraussetzung für jede nachvollziehbare und diskutierbare Auslegung von Literatur ist die Offenlegung der systematisch und methodisch kontrollierten Reflexion, die zu der begründeten Argumentation der Textauslegung geführt hat. Im folgenden sollen die drei dargestellten Verfahrensweisen bei der Textaneignung „Interpretation“, „Analyse“ und „Lektüre“ nachgezeichnet und auf ihre Bedeutung in einigen Aspekten weiter eingegangen werden. Daran soll deren Übertragung auf die Lyrikanalyse, sowie eine Beispielsinterpretation von Charles Baudelaire A une passante anschließen.
2. Methodologie der Textauslegung
2.1 Interpretation
Im 19. Jahrhundert wird die Kunst der Interpretation oder Hermeneutik (lat. interpretari gr. ˜rmhnšue‹n ‘erklären’, ‘auslegen’) von W. Dilthey als methodologische Grundlegung der Geisteswissenschaften verstanden und ausgebaut. Die hermeneutische („verstehende“) Methode will , im Gegensatz zur erklärenden Naturwissenschaft, Bedeutung und Sinn von Äußerungen und Werken des menschlichen Geistes aus sich und in ihrem Zusammenhang verstehen. Dabei bedient sie sich der Methode des hermeneutischen Zirkels, bei dem das Vorverständnis des Interpreten mit den Merkmalen des Textes zusammengeschlossen wird, bis sich der zirkelhafte, reziproke Prozess des Verstehens zu einem Textverständnis schließt. Dieses zielgerichtete Vorgehen erwächst wesentlich aus der Germanistik des 19. Jahrhunderts komplementär zu dem Bildungsbegriff der Weimarer Klassik.[1] Auch die Weiterbildung der Theorie durch M. Heidegger und H.-G. Gadamer ist eine spezifisch deutsche Bildung.[2]
Dass „Verstehen“ nicht allein eine objektive Methode einer Wissenschaft, sondern der Geisteswissenschaft vorgeordnet ist, entwickelt Gadamer in der philosophischen Hermeneutik (1960) . Verstehen wird als Weise des menschlichen Existierens selbst begriffen. Der Verstehende trägt sein Vorverständnis, das er zwangsläufig hat, bewusst in die Interpretation hinein und appliziert den Text in einem Akt der „Horizontverschmelzung“. Diese Art der Hermeneutik, der keine objektive Methode zu Grunde liegt und die somit eine unendliche Menge neuer Applikationen erlaubt, bedarf der Kontrolle des Vorwissens um mögliche Missverständnisse auszublenden. Nach Gadamers Vorstellung erfüllt das Klassische diese Funktion, aufgrund seiner „‘unmittelbaren Sagkraft’“[3]. So versteht Gadamer den Prozess des hermeneutischen Verstehens als Austausch des Lebenshorizonts des Textes mit dem des Rezipienten durch das Eindringen in das Überlieferungsgeschehen, zu deren Erfahrung man keine Methode benötigt.
2.2 Analyse
Der französische Strukturalismus und der russische Formalismus setzen mit der „strukturalen Analyse“[4] ein Pendant zu der methodenlosen Hermeneutik. Im Mittelpunkt der Analyse steht der Text an sich, als semiotisches Produkt sprachlicher Zeichen. Die Untersuchungsmethoden stammen aus der Textlinguistik und strukturieren den Text nach objektiv-nachvollziehbaren, metasprachlichen Kriterien. Dadurch kann der Text zum Gegenstand einer argumentativen Diskussion werden, bei der die Methodenschritte auf den verschiedenen Ebenen des Textes[5] offen gelegt sind. Diese Freiheit wird aber dadurch eingeschränkt, dass die Analyse die Geschlossenheit des sprachlichen Systems anstrebt. Gerade auf der Ebene der Semantik, wo der Strukturalismus das Feld der Hermeneutik berührt, ist dies nur mit Gewalt zu erreichen. Diese Widersprüchlichkeit sieht Warning bei Roland Barthes, der einerseits die Grenze der Analyse auf der Ebene der Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem zieht und andererseits den Akt des Schreibens als Sinnerschütterung der Welt bezeichnet, bei der die sich ständig verändernde Welt der Rezipienten in ein Frage-Antwortspiel mit dem Autor des Textes tritt.[6]
2.3 Lektüre
Das dritte Paradigma im Umgang mit Texten hat geglaubt, sowohl die Hermeneutik als auch die Analyse ihrer Bedeutung entheben zu können. Die Lektüre manifestiert einen Text durch Dekonstruktion. Auf der Stufe der Oppositionen des strukturalistischen Systems geschieht dies durch die Neutralisierung der distinktiven Merkmale. Dadurch wird das System freigesetzt[7] und um den Text herum gegliedert in einem unendlichen, freien Spiel. Der Objektivitätsanspruch der Analyse wird dabei aufgehoben. Der Charakter des sprachlichen Zeichens trägt in den Text semantische „Ambivalenzen, Widersprüche(n) und Gegenstrebigkeiten“[8] hinein. Daraus ergibt sich, dass die Rezeption niemals abgeschlossen ist, sondern auf einem ständigen Sinnaufschub beruht, der die Ästhetik des Textes kennzeichnet. Warning grenzt die ästhetische Dimension der Lektüre aber ein, indem er der freien Zuordnung der Signifikanten einen Rahmen der Synthese des Ganzen setzt, das im Wechsel zwischen Offenheit und Zusammenspiel mit der Welt steht. Auch wenn die Differenz zwischen Signifikat und Signifikant im Gegensatz zu der von Gadamer in der Sprache vereinenden Mitte von Welt und Mensch gesehen werden muss, so bedeutet dies für Warning nicht, dass die Lektüre antihermeneutisch ist. Sie übt vielmehr Kritik an der deutschen Tradition der ontologischen Richtung der Hermeneutik und ändert die Erwartung der Sinnerfahrung durch die Erfahrung der „différance“. Diese Subversion[9] von Sinn ist dennoch auch selbst gebunden an die hermeneutische Frage nach ihrem inneren Zusammenhang.
[...]
[1] Die neu entdeckte Autonomie der Kunst ist ohne die Autonomie des Menschen nicht zu denken. Ästhetik, Anthropologie und Lebenskunst greifen bei dem humanistisch allumfassenden Bildungsbegriff ineinander. Die erzieherische Rolle des Ästhetischen soll über die Literatur das rein Menschliche freisetzen und zur Humanität aller führen.
[2] Vgl. Rainer Warning: Interpretation, Analyse, Lektüre, Freiburg i. Br. 1997, S. 9–10.
[3] Ebd. , S. 11. Gadamer knüpft an Hegels Definition des Klassischen an, der dem Klassischen das besondere Merkmal der Unmittelbarkeit zuschreibt. Er postuliert das Klassische zu einem Prinzip, das die Geschichte in seiner Diachronie verbindet und zu jeder Zeit allgemeine Gültigkeit hat, weil es zeitlos ist.
[4] Rainer Warning: Interpretation, Analyse, Lektüre, Freiburg i. Br. 1997, S. 11–12.
[5] Zu den Konstitutionsebenen des Textes zählen in erster Linie Syntax, Semantik und Pragmatik.
[6] Vgl. Rainer Warning: Interpretation, Analyse, Lektüre, Freiburg i. Br. 1997, S. 12–13.
[7] Die Geschlossenheit des Systems wird aufgebrochen, indem die Merkmale selbst hinterfragt werden und als unmarkiert, d.h. willkürlich, frei und offen auslegbar charakterisiert werden. Durch diesen Vorgang wird das Fundament der strukturalen Analyse, die sich über Opposition definiert, aufgehoben.
[8] Rainer Warning: Interpretation, Analyse, Lektüre, Freiburg i. Br. 1997, S. 15.
[9] Subversion meint die Erkenntnis, dass der Verstehensprozess im Licht seiner Geschichte selbst zur Grundlage neuen Verstehens wird und somit als Fiktion seiner selbst steht.
- Citar trabajo
- Anita Glunz (Autor), 2003, Resümee der zentralen Thesen von Rainer Warnings Aufsatz: 'Interpretation, Analyse, Lektüre – Methodologische Erwägung zum Umgang mit lyrischen Texten', Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46741
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