Die letzten Jahre haben gezeigt, dass Weltfrieden ohne Religionsfrieden undenkbar geworden ist. Es kann aber keinen Religionsfrieden ohne den Dialog zwischen den Religionen geben und wiederum keinen Dialog ohne genaue Kenntnis voneinander. Und obwohl wir heutzutage in einer Welt leben, in der das Nebeneinander von verschiedenartigen, teilweise kontroversen Überzeugungen, Weltanschauungen, Religionen und politischen Positionen selbstverständlich geworden ist, sind wir weit davon entfernt, zu wissen, wie wir dies bewerten und damit umgehen sollen. Gerade in der Schule, als dem Ort der individuellen Bildung und Erziehung, wird gewollt oder ungewollt interreligiöses, multikulturelles Zusammenleben praktiziert. Deshalb sind Fähigkeiten und Verhaltensweisen zu entwickeln, die ein Wechsel von gewachsener Identität und anzustrebender Verständigungsfähigkeit fördern. Da diese Bildungsaufgaben maßgeblich ethische und religiöse Dimensionen in sich schließen, muss sich im Speziellen die Religionspädagogik der Entwicklung interreligiöser Lernkonzepte widmen. In dieser Hinsicht soll zunächst das Modell der „interreligiösen Hermeneutik“ von Theo Sundermeier präsentiert und im Hinblick auf seinen Ertrag für den religionspädagogischen Einsatz analysiert werden. Dabei muss genauer eruiert werden, welche Möglichkeiten es für interreligiöses Verstehen überhaupt gibt und welche entwicklungspsychologischen Voraussetzungen der Schüler für eine Entfaltung der „interreligiösen Hermeneutik“ im Sinne Sundermeiers unerlässlich sind. An den Religionspädagogen werden dabei nicht nur fachliche und didaktische, sondern ebenso hohe persönliche Anforderungen gestellt, wenn er die Schüler in ihrer Identitätsentwicklung befähigen möchte, Sachverhalte richtig zu verstehen, sie ethisch zu beurteilen und zu toleranten Konsensbildungen beizutragen. Dabei soll die christliche Perspektive an Jesu Christi Wirken als dem Leitmotiv für Offenheit und Respekt im Umgang mit anderen Religionen elaboriert werden. Die Kompetenz der Perspektivenübernahme, die einen elementaren Teil der „interreligiösen Hermeneutik“ konstituiert, soll hierfür als wichtiges Lernziel für den interreligiösen Austausch definiert und expliziert werden, bevor die Arbeit mit einem Rückblick auf die gewonnenen Einsichten und einem Ausblick auf weitere Aufgaben interreligiösen Lernens zu demselben Fazit wie einem Zitat aus der Feder Johann Wolfgang von Goethes gelangt: „Dulden heißt beleidigen“.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Darstellung von Theo Sundermeiers Entwurf der “interreligiösen Hermeneutik”
2.1 Voraussetzungen und Begriffsklärungen – „Differenz und Konvivenz“
2.2 Die vier Begegnungsmodelle
2.3 Vier Stufen der „interreligiösen Hermeneutik“
3. Analyse aus religionspädagogischer Perspektive
3.1 Gefahren und Chancen für den Religionsunterricht
3.2 Bezug zur Identitätsentwicklung im Jugendalter
3.3 Jesus Christus als Beispiel für Konvivenz
4. Perspektivenwechsel im Sinne der “interreligiösen Hermeneutik”
5. Konklusion
6. Bibliographie
1. Einleitung
„Bombenanschlag der islamisch-fundamentalistischen Terrorgruppe Al Qaida in London“ –diese Schreckensmeldung ging vor wenigen Tagen um die Welt und erschütterte mit einem weiteren schweren Schlag die Hoffnung all derer, die ein friedliches Zusammenleben aller Völker und Religionen auf Erden propagieren. Durch die Politisierung des Islams ist unsere Welt in Aufruhr geraten. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass Weltfrieden ohne Religionsfrieden undenkbar geworden ist. Es kann aber keinen Religionsfrieden ohne den Dialog zwischen den Religionen geben und wiederum keinen Dialog ohne genaue Kenntnis voneinander. Und obwohl wir heutzutage in einer Welt leben, in der das Nebeneinander von verschiedenartigen, teilweise kontroversen Überzeugungen, Weltanschauungen, Religionen und politischen Positionen selbstverständlich geworden ist, sind wir weit davon entfernt, zu wissen, wie wir dies bewerten und damit umgehen sollen. Die zunehmende Enge auf dem Globus und die Brisanz der jüngsten Anschläge erinnern uns daran, dass die Kunst des Umgangs mit dem Fremden von früher Jugend auf zu erlernen ist, um der Spirale von weiterem Hass und Missverstehen vorzubeugen. Gerade in der Schule, als dem Ort der individuellen Bildung und Erziehung, wird gewollt oder ungewollt interreligiöses, multikulturelles Zusammenleben praktiziert. Deshalb sind Fähigkeiten und Verhaltensweisen zu entwickeln, die ein Wechsel von gewachsener Identität und anzustrebender Verständigungsfähigkeit fördern. Da diese Bildungsaufgaben maßgeblich ethische und religiöse Dimensionen in sich schließen, muss sich im Speziellen die Religionspädagogik[1] der Entwicklung interreligiöser Lernkonzepte widmen. In dieser Hinsicht soll zunächst das Modell der „interreligiösen Hermeneutik“ von Theo Sundermeier präsentiert und im Hinblick auf seinen Ertrag für den religionspädagogischen Einsatz analysiert werden. Dabei muss genauer eruiert werden, welche Möglichkeiten es für interreligiöses Verstehen überhaupt gibt und welche entwicklungspsychologischen Voraussetzungen der Schüler für eine Entfaltung der „interreligiösen Hermeneutik“ im Sinne Sundermeiers unerlässlich sind. An den Religionspädagogen werden dabei nicht nur fachliche und didaktische, sondern ebenso hohe persönliche Anforderungen gestellt, wenn er die Schüler in ihrer Identitätsentwicklung befähigen möchte, Sachverhalte richtig zu verstehen, sie ethisch zu beurteilen und zu toleranten Konsensbildungen beizutragen. Dabei soll die christliche Perspektive an Jesu Christi Wirken als dem Leitmotiv für Offenheit und Respekt im Umgang mit anderen Religionen elaboriert werden. Die Kompetenz der Perspektivenübernahme, die einen elementaren Teil der „interreligiösen Hermeneutik“ konstituiert, soll hierfür als wichtiges Lernziel für den interreligiösen Austausch definiert und expliziert werden, bevor die Arbeit mit einem Rückblick auf die gewonnenen Einsichten und einem Ausblick auf weitere Aufgaben interreligiösen Lernens zu demselben Fazit wie einem Zitat aus der Feder Johann Wolfgang von Goethes gelangt: „Dulden heißt beleidigen“.
2. Darstellung von Theo Sundermeiers Entwurf der “interreligiösen Hermeneutik”
Im Folgenden soll der Entwurf der „interreligiösen Hermeneutik“ des Religions- und Missionswissenschaftlers Theo Sundermeier, der sich im Zuge der Theoriebildung im Besonderen um den Dialog mit afrikanischen Stammesreligionen bemüht hat, auf seine Voraussetzungen sowie seine Zielsetzungen eruiert und en gros referiert werden.
2.1 Voraussetzungen und Begriffsklärungen – „Differenz und Konvivenz“
Jeder Mensch ist durch seine kulturelle Herkunft, seine Schulbildung und Sozialisation in dem Maße geprägt, dass ihm sein bisheriges Wissen in der Begegnung mit dem ganz Anderen zunächst obsolet erscheint. Wenn der eigene Horizont als Schablone angelegt wird, führt die Kommunikation mit dem Fremden ins Leere, denn sie hat kein Verstehen zur Grundlage. Der Terminus „‘Fremder’ wird hier als geographisch und kulturell bestimmter Distinktionsbegriff gebraucht und bezeichnet denjenigen, der von außerhalb des eigenen Wohnraumes und Staates kommt und kulturell anders geprägt ist, also der Ausländer, der zum Gast wird [...].“[2] Die Kunst des Verstehens rekurriert traditionellerweise auf die Hermeneutik, wie sie im Gefolge von Schleiermacher und Gadamer ihre Sternstunden hatte. Doch bereits seit den 60er Jahren wurde sie als infertiles Jonglieren mit abstrakten, aus der „Luft“ gegriffenen Interpretamenten diskreditiert, die mit der Realität auf Erden wenig gemein hatte. Denn „die Welt sollte nicht mehr interpretiert, sondern verändert werden,“[3] was einer Absage an die klassische Hermeneutik gleichkam. Das Ziel von Gadamers hermeneutischem Zirkel in der Adaption nicht nur eines fremden Textes, sondern auch eines Subjekts, impliziert über die verstehende, schrittweise Annäherung der unterschiedlichen Perspektiven ein Identischwerden beider Positionen in der Verschmelzung ihrer Horizonte. Doch kommt eine Begegnung unter solchen Vorzeichen vielmehr einer überheblichen Vereinnahmung des Gegenübers gleich, die eine respektvolle Begegnung desavouiert. Daher brauchen „wir [...] eine „Differenzhermeneutik, die das Differente verstehen lehrt [...], die praktische Hilfe bietet, die Nähe des Zusammenlebens einzuüben und zugleich die richtige Distanz bewahrt, die die Identität des Fremden respektiert und die uns allen gemeinsame Menschwürde achtet.“[4] Denn es ist heutzutage auch nicht mehr ausreichend, an der Welt nur zu handeln, ohne ihre Veränderungen und deren sukzessive auftretenden Konsequenzen zu verstehen, die die Zusammenhänge der Welt erkennen lassen, in der Gott selbst zur Sprache kommen möchte. Dabei muss die seit Platon indoktrinierte Vorstellung, der Andere diene bloß der Selbsterkenntnis, überwunden werden.[5] Denn wenn der Fremde, wie bei Hegel, den Umweg zum eigenen Selbst darstellt oder, wie bei Husserl, bloßer Spiegel des eigenen Ichs ist, bedeutet dies den Anderen unter dem Blickwinkel des Gemeinsamen zu betrachten und im schlimmsten Fall Unterschiede zu negieren, was dem Prozess des Verstehens per se schadet. Der Philosoph Lévinas hingegen hat den Weg zum Ausbruch aus der Ich-Zentriertheit geebnet und die Freigabe des Gegenübers suggeriert, indem er dem Erkenntnisprozess des Anderen jede Analogisierung verwehrt. Er postuliert die Alterität als ein „Sich ausliefern“, das auf ein übergeordnetes Interpretationsmuster verzichtet und in der Folge durch die Infragestellung des Selbst dieses mit dem anderen solidarisiert. Diese heteronome Erfahrung verweist für ihn zugleich auf den ganz Anderen, Gott, der im Antlitz des Gegenübers aufscheint. Damit wird „Welterfahrung [...] nicht zur Selbsterfahrung, sondern führt zur Hingabe, die durch die Begegnung mit dem [...] anderen provoziert wird.“[6] Obwohl Lévinas keinen Beitrag zum Prozess der „interreligiösen Hermeneutik“ formuliert, revolutioniert er die Differenzerfahrung und den Primat der Ethik als wesentliche Aspekte im Umgang mit dem Fremden.[7] Dennoch darf die Selbstreflexivität als Grundlage der Deutung von Fremdheitserfahrungen nicht vollständig ausgeblendet werden, sie darf eben nur nicht der Identitätsfindung dienen, sondern setzt Identitäten voraus. Schließlich ist der Andere stets konstitutiv für das Menschsein, was ein afrikanisches Sprichwort so ausdrückt, dass „‘der Mensch Mensch wird durch den Menschen’.“[8]
Wenn ein Fremder in die unbekannte Gesellschaft eines afrikanischen Stammes kommt, wird ihm ein Fremdenführer an die Seite gestellt, der ihn empfängt, begleitet und vor Normverstößen schützt, sowie gleichzeitig die Gemeinschaft mit dem „Eindringling“ bekannt macht. In fast allen Religionen repräsentierte das konventionelle Gastrecht diese Schutzfunktion, die die gegenseitige Achtung in der Approximation ermöglichte und aufkommende Fremdenängste und Aversionen reduzierte. Da das traditionelle Gastrecht in unserer ausdifferenzierten Gesellschaft aber nicht mehr in dieser Weise existiert, muss nach einem neuen Raum gesucht werden, der die verstehende, friedliche Begegnung ermöglicht, in der die nötige Distanz und Nähe zum Fremden koinzidieren können.[9] „Der Begriff der Konvivenz umschreibt diesen Raum, benennt das Kommunikationsfeld, steckt die den fremden und mich umgreifenden Grenzen neu ab und erweitert sie.“[10] Der Terminus Konvivenz stammt aus südamerikanischen Basisgemeinden und wurde in den Texten der Befreiungstheologie überliefert (span. convivialidad, convivência). Er bezeichnet folgenden Grundsatz: „Wir, die wir zusammen leben, helfen einander und lernen voneinander.“[11] Sundermeier selbst begegnete diesem Prinzip der konnektiven, sozialen Reziprozität in den Kleingruppen der Stammesreligionen Afrikas und stellt drei wesentliche Charakteristika heraus. Zum einen bedeutet Konvivenz eine Hilfsgemeinschaft, die das gelingende Zusammenleben miteinander durch solidarischen Einsatz füreinander garantiert.[12] Zum anderen assoziiert der Begriff eine Lerngemeinschaft, die der Erfahrung der Älteren den Vorrang vor reinem Lernwissen gibt.[13] Und schließlich ereignet sich Konvivenz in der Festgemeinschaft, als dem Paradigma von sozialer Interaktion par excellence. Das meist religiös konnotierte Fest modifiziert dabei die Situation der zwischenmenschlichen Begegnung, indem die Routine des Alltags durchbrochen wird und ein zweckfreier Ort entsteht, der die Teilnehmer des Fests in eine extraordinäre Stimmung versetzt. Beim kollektiven Essen, Musizieren und Inszenieren der Festbräuche werden zudem alle Sinne angesprochen. Dadurch wird ein gemeinsames Erleben gestiftet, das die Identität des Einzelnen nicht erodiert, sondern in der zeitlich begrenzten Inversion des Alltäglichen zugunsten der Festszenerie relativiert. Zu keinem anderen Moment tritt eine Religionsgemeinschaft so öffentlich hervor und ist zu der Aufnahme Fremder fähig, wie in der von Normzwängen befreiten Festsituation, was eine ideale Voraussetzung der hermeneutischen Annäherung bildet.[14] Resümierend ist Konvivenz daher „der Freiheitsraum gegeben zum Lernen, Lehren, Feiern, kurz, zum geschwisterlichen Leben im Frieden.“[15] Das Streben nach gegenseitigem Verstehen resultiert in dieser Hinsicht aus der Bedingtheit des Zusammenlebens und ist die fundamentale Aufgabe, die allen Handelns in der Gemeinschaft vorgeordnet ist. Übertragen auf die interreligiöse Begegnung, die das eigene Glaubens- und Lebenszeugnis assoziiert, ist die Konvivenz der Rahmen der Begebenheit. Denn nur im Zusammenleben ist ein Dialog möglich. „Dabei sind die anderen – auch das ein wichtiger Aspekt der Konvivenz – nicht einfach die Empfangenden, niemals einfach Objekte oder gar „Missionsobjekte“, vielmehr impliziert die Konvivenz den Grundsatz der Gegenseitigkeit.“[16] Ein Zeuge der christlichen Botschaft zu sein, bedeutet im interreligiösen Gespräch also nicht nur die Weitergabe der guten Nachricht, sondern involviert ein liebevolles, konviviales Wechselspiel der Partner, das Annahme und Angenommensein, Teilhabe und Teilgabe, Zeugen und Empfangen uniert. Das Verhältnis der Aspekte interreligiöser Begegnung und Kommunikation sieht Sundermeier in der Form eines gleichschenkligen Dreiecks realisiert, wobei die Konvivenz die Grundlage respektive die Bedingung von Dialog und missionarischem Zeugnis bildet.[17] „Doch im Alltagsleben und in der Alltagserfahrung muß man [stets] beides im Auge behalten, das Verstehen und die Differenz, die Distanz und das Zusammenleben, Divergenz und Konvivenz.“[18] Hierzu ist nun eine gegenseitige, klimaktische Annäherung im hermeneutischen Verstehensprozesses Voraussetzung, die auf verschiedenen Modellen der Begegnung basiert, welche im folgenden Kapitel aufgeführt werden sollen.
2.2 Die vier Begegnungsmodelle
„Die Religionen sind keine geschlossenen Systeme, sondern prinzipiell offen.“[19] Offen in der Hinsicht, dass sie stets in Relation zu der Umwelt stehen, die dem Wandel unterworfen ist.[20] Während seit Platon der ‘barbarische’ Fremde der Reflexion nicht würdig schien, wird diese Problematik für die Entdecker des 16. Jahrhunderts, die als Christen in die Neue Welt kamen, relevant. Man kann an ihnen alle Spielarten der Fremdwahrnehmung konstatieren, die bis heute existieren. Columbus selbst sah sich als Vollbringer der bereits in der Bibel prophezeiten Entdeckung Indiens. Die Indianer repräsentierten für ihn potentielle Christen und Untertanen der spanischen Krone, was ihn aber nicht davon abhielt, sie als Sklaven zu missbrauchen. In ähnlicher Weise war Las Casas von der Gleichheit der Indianer überzeugt, betonte allerdings stärker deren Würde und die Achtung ihrer Eigenheiten. Dennoch schien es ihm unerlässlich, die Indianer den Europäern zu assimilieren und das Fremde zum Eigenen zu modifizieren. Die Gegenposition dazu evozierte die Ungleichheit der Völker, was entweder in dem pejorativen Missbrauch wie bei Cortés oder in utopischen Idealisierungen wie dem Bild des „edlen Wilden“ kulminierte. In beiden Variationen dominiert allerdings das Eigeninteresse. Der Fremde wird als positives oder negatives alter ego der Europäer greifbar und zugleich beherrschbar. Die Identifikation mit den Indianern erfolgte dabei nur zum Ziel der Stärkung der eigenen, überlegenen Identität, was in der Konsequenz entweder die Vernichtung oder die zwanghafte Assimilation der Fremdvölker bedeutete.[21] Doch waren die Europäer allezeit so indifferent, oder zeigt die Retrospektive nicht doch, was Goethe in seinen Wahlverwandtschaften unlängst erkannt hatte: „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiss.“[22] Pioniere auf dem Gebiet der Objektivität und verstehenden Nähe zu anderen Religionen waren eine Reihe Missionare, die in der Begegnung mit den Fremden nach echtem Verstehen strebten.[23] Im 19. Jahrhundert hat die so genannte „Barfußmethode“ Malinowskis Schule gemacht, die auf dem Prinzip der „teilnehmenden Beobachtung“ basiert. Dabei ist ein Perspektivenwechsel Voraussetzung für das Eintauchen in die fremde Kultur, um die Welt mit den Augen des betroffenen Volks wahrzunehmen und ihre sozialen Funktionen zu untersuchen.[24]
Aus den vorgestellten Grundhaltungen im Kulturkontakt können nun vier Begegnungsmodelle deduziert werden, die tief in der Ethik verankert sind.
Trotz des schier unerschöpflichen Anwachsens des Weltwissens über die Fülle der Unterschiede auf Erden, wird im so genannten Gleichheitsmodell die Fremdheit, wie von Columbus, negiert. Die Begründung der Gleichheit rekurriert auf den Gedanken des gemeinsamen Ursprungs in der Schöpfung und impliziert lediglich verschiedene Manifestationen desselben. Dies hat zur Folge, dass zum einen die Problematik der Verständigung auf einen Minimalfaktor, wie etwa den der verschiedenen Sprachen, reduziert wird, der zumal durch Akulturationsprozesse in der Partizipation des Anderen am Eigenen als überwindbar gilt. Zum anderen kann im Falle des Scheiterns der Andere auch degradiert oder vernichtet werden, wie dies Cortés effektuierte. „Das frühe Israel der Königszeit kann als [...] Paradigma genannt werden: Der Prozeß der Inkulturation und Übernahme ritueller Begehungen aus der vorgegebenen ackerbautreibenden Kultur und Religion geschieht langsam und wie von selbst. Sobald jedoch die eigene religiöse Identität, wie in der späteren Königszeit, bedroht ist, wird die das Zusammenleben ermöglichende Gleichheitsvorstellung der Religionen in Frage gestellt und unter prophetischem Einfluß die Alterität und Unvereinbarkeit herausgekehrt.“[25] Obwohl dieses Modell Raum für Pluralismus zur Verfügung stellt, wird das eigene religiöse System zum Maß aller Dinge erhoben, was eine toleranten Auseinandersetzung konterkariert.
Im Alteritätsmodell hingegen wird der Fremde in seiner Distinktion als der inkompatible Andere begriffen, der entweder Beunruhigung und Animositäten hervorruft oder fasziniert und anziehend wirkt. Die Abgrenzung zu dem inferioren Anderen stärkt die eigene Identität, sodass der Andere als Feind und Heide bekämpft werden muss. Diese Haltung ist ebenfalls im alten Israel zu finden, in dem Gottesbilder anderer Religionen zerstört oder ridikülisiert wurden (vgl. Ps 115,4–7; Jes 44,12–17). Anders verhält es sich, wenn der Andere zur Entfremdung oder zur Selbstaufgabe führt und – so könnte man Lévinas Philosophie deuten – in einen Helferkomplex ausartet, der kein Verstehen anvisiert, sondern eine asymmetrisch empfundene Verantwortung für den bedauernswerten Fremden impliziert, zu dem man sich in guter Absicht herablässt. Obwohl das Alteritätsmodell zwar die Unterschiede zwischen den Völkern und Religionen konstatiert, wird daraus jedoch keine Notwendigkeit für die objektive Betrachtung und respektvolle Haltung gegenüber dem Fremden deduziert.[26]
Das Komplementaritätsmodell war im Abendland lange Zeit vorherrschend und komplettiert das Gleichheitsmodell, insofern die andere Religion und Kultur nicht nur im Grunde wesensgleich erscheint, sondern auch das zur Verfügung stellt, was der eigenen fehlt. Sie wird zum Basar für die eigenen Defizite, die durch Inkorporation eklektisch ausgesuchter Elemente ergänzt werden können. „Damit wird die andere Religion zugleich neutralisiert, denn indem man sich das Beste der anderen Religion aneignet, immunisiert man sich gegenüber ihrem Ganzheitsanspruch.“[27] Ohne, dass man sich ernsthaft mit den Anderen auseinandersetzen muss, wird durch die Gewährung eines reglementierten Gastrechts ein scheinbar friedliches Zusammenleben unter dem Deckmantel der heimlichen Repression assoziiert.[28] In diese Sparte ist auch die phänomenologische Erfassung des Anderen durch Husserl einzuordnen, der den Fremden als Reflektor für das eigene Ich postuliert, in dessen Anblick die eigene Identität kongruent oder seitenverkehrt gespiegelt wird. Obwohl die Faszination am Fremden eine zunächst offene Begegnung ermöglicht, wird die andere Religion und Kultur aber zum reinen Selbstzweck degradiert, was der eigenen Bereicherung dient. Keines der bisher genannten Modelle führt daher zu einem echten Verständnis der anderen Religion, sondern markiert im Gegenteil die Verschlossenheit gegenüber dem Fremden. „Man schließt sich ab oder ist der anderen Religion gegenüber gleichgültig oder nähert sich ihr neugierig, da sie das Gleiche sagt, was man glaubt, und sie bestätigt das oder – so die dritte Option – man bedient sich ihrer wie im Supermarkt, um sich zu bereichern und zu vervollkommnen.“[29] Am Handeln kann man schließlich ablesen, ob Verstehen überhaupt intendiert war und gelungen ist. Deshalb entwirft Sundermeier ein viertes, das so genannte homöostatische Modell, das zu echtem Verstehen führen soll und sich triadisch zusammensetzt. Zunächst muss jede Identität für sich gewahrt bleiben und dennoch das Aufeinanderangewiesensein wahrnehmen, das schließlich zu beiderseitiger Anerkennung führt. Dieses scheinbare Paradoxon der Distanz, die Nähe und Gemeinsamkeit konstituiert, lässt sich in einem Bild veranschaulichen. Eine Zelle ist durch ihre Zellwand getrennt, durch die der Austausch von Boten- und Nährstoffen stattfindet. Diese Zellwand, „das, was mich konstituiert, trennt mich von dem anderen.“[30] Die Differenz und die Zusammengehörigkeit werden durch die reziproke Beziehung der Zellräume gleich ursprünglich fundiert, die aber nicht miteinander verschmelzen und trotz der gegenseitigen Abhängigkeit frei bleiben. Im Prinzip verbindet Sundermeier in dem letzten Modell Aspekte aus dem Gleichheits- und Alteritätsmodell, die den methodischen Prozess des hermeneutischen Verstehens im Wechsel von Annahme und Distanz vorbereiten.[31]
[...]
[1] Im Rahmen dieser Arbeit soll nicht näher darauf eingegangen werden, welche alternativen Formen zum konfessionellen Religionsunterricht (LER, Fächergruppe Ethik/Religion, kooperativer Religionsunterricht) im Hinblick auf die Lernziele der interreligiösen Verständigung von Vor- oder Nachteil sein können.
[2] Theo Sundermeier: Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, S. 12.
[3] Theo Sundermeier: „Erwägungen zu einer Hermeneutik interkulturellen Verstehens“, in: Die Begegnung mit dem Anderen. Plädoyers für eine interkulturelle Hermeneutik, S. 14.
[4] Theo Sundermeier: Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, S. 13.
[5] Im Symposion expliziert Platon den Beginn der Menschheit anhand eines Mythos von einem Geschöpf, das von Zeus in der Mitte seines Leibes gespalten wurde und deren beide Hälften, die Menschen, Zeit ihres Lebens angetrieben vom Eros auf der Suche nach ihrem identischen Gegenstück sind. Vgl. Manfred Fuhrmann: Platon. Die großen Dialoge, S. 464f.
[6] Theo Sundermeier: Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, S. 69.
[7] Vgl. ebd., S. 62–70. Damit wird jedoch noch nicht der Sprung vom Anderen zum Fremden vollzogen und auch nicht Handeln und Denken intentional miteinander verknüpft. Levinás’ jüdische Beheimatung lassen jedoch die Parallel zum Erkenntnisbegriff des AT erkennen, der ebenfalls mehr als rationales Verstehen evoziert, sondern auf das praktische Verhalten im Bezug auf Gott rekurriert.
[8] Theo Sundermeier: „Konvivenz und Differenz“, in: Bekenntnis zu dem einen Gott? Christen und Muslime zwischen Dialog und Mission, S. 7.
[9] Vgl. Theo Sundermeier: Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, S. 144f.
[10] Ebd., S. 189f.
[11] Theo Sundermeier: Konvivenz und Differenz. Studien zu einer verstehenden Missionswissenschaft; anlässlich seines 60. Geburtstages, S. 49.
[12] Die gegenseitige Hilfe muss sich dabei nicht nur auf den Mitmenschen beschränken, sondern bezieht die gesamte Mitwelt ein. Somit ist das Prinzip der Konvivenz auch auf den Bereich einer bewahrenden Ökologie applizierbar.
[13] Vgl., Sundermeier, Theo: Konvivenz und Differenz. Studien zu einer verstehenden Missionswissenschaft; anlässlich seines 60. Geburtstages, S.46–49.
[14] Theo Sundermeier: Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, S. 145–149.
[15] Theo Sundermeier: „Erwägungen zu einer Hermeneutik interkulturellen Verstehens“, in: Die Begegnung mit dem Anderen. Plädoyers für eine interkulturelle Hermeneutik, S. 20.
[16] Theo Sundermeier: „Konvivenz und Differenz“, in: Bekenntnis zu dem einen Gott? Christen und Muslime zwischen Dialog und Mission, S. 7.
[17] Vgl. ebd., S. 7f.
[18] Theo Sundermeier: Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, S. 70.
[19] Theo Sundermeier: Was ist Religion?: Religionswissenschaft im theologischen Kontext. Ein Studienbuch, S. 163.
[20] Das war bereits den Aposteln bekannt: In dem Zusammentreffen verschiedener Völker und Kulturen musste sich die Botschaft Christi je neu inkarnieren (vgl. 1.Kor 9,19–24) und sich so in jedem neuen Kontext individuell entfalten.
[21] Vgl. Theo Sundermeier: Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, S. 20–24.
[22] Vgl. ebd., S. 33.
[23] Vgl. Theo Sundermeier: Was ist Religion?: Religionswissenschaft im theologischen Kontext. Ein Studienbuch, S. 201f.
[24] Vgl. Theo Sundermeier: Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, S. 26f.
[25] Ebd., S. 197.
[26] Vgl. Theo Sundermeier: Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, S. 74.
[27] Theo Sundermeier: Was ist Religion?: Religionswissenschaft im theologischen Kontext. Ein Studienbuch, S.198.
[28] Beispielhaft für dieses Vorgehen ist der Islam, der den Buchreligionen Judentum und Christentum ein gesondertes Existenzrecht unter der Bedingung von Tributzahlungen zubilligt, aber zugleich einen äquivalenten Austausch exkluiert.
[29] Theo Sundermeier: Was ist Religion?: Religionswissenschaft im theologischen Kontext. Ein Studienbuch, S.199.
[30] Theo Sundermeier: Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, S. 133.
[31] Vgl. ebd., S. 132–136.
- Arbeit zitieren
- Anita Glunz (Autor:in), 2005, Zu: Theo Sundermeiers „Interreligiöse Hermeneutik“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46608
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