Die Tafel feierte im Jahr 2018 ihr bereits 25-jähriges Bestehen. Nächstes Jahr wird die erste baden-württembergische Vesperkirche in Stuttgart genauso alt. Das gibt Anlass zu feiern, aber auch über diese sozialen Einrichtungen nachzudenken. Denn die Kritik an beiden Unterstützungsangeboten lautet: Sie stützen das unzureichende Sozialsystem und bekämpfen Armut damit nicht sondern verfestigen sie sogar. Sie schaffen keine wirkliche Teilhabe.
Armut wird in der vorliegenden Diskussion in einer multidimensionalen Perspektive verstanden. Die Armutserfahrung kann in sechs Dimensionen unterschieden werden: „materielle Armut, körperliche Schwäche, Isolation, psychische und physische Verletzlichkeit, Machtlosigkeit und spirituelle Armut“.
Am Beispiel der Vesperkirche im Schussental sollen in diesem Essay kontroverse Meinungen über die Notwendigkeit und das Bestehen dieser Unterstützungsangebote, insbesondere der Vesperkirchen, gegenübergestellt werden.
1. Problemstellung und Inhalt
Die Tafel feierte im Jahr 2018 ihr bereits 25-jähriges Bestehen. Nächstes Jahr wird die erste baden-württembergische Vesperkirche in Stuttgart genauso alt. Das gibt Anlass zu feiern, aber auch über diese sozialen Einrichtungen nachzudenken. Denn die Kritik an beiden Unterstützungsangeboten lautet: Sie stützen das unzureichende Sozialsystem und bekämpfen Armut damit nicht sondern verfestigen sie sogar. Sie schaffen keine wirkliche Teilhabe.
Armut wird in der vorliegenden Diskussion in einer multidimensionalen Perspektive verstanden. Die Armutserfahrung kann in sechs Dimensionen unterschieden werden: „materielle Armut, körperliche Schwäche, Isolation, psychische und physische Verletzlichkeit, Machtlosigkeit und spirituelle Armut“.1
Am Beispiel der Vesperkirche im Schussental sollen in diesem Essay kontroverse Meinungen über die Notwendigkeit und das Bestehen dieser Unterstützungsangebote, insbesondere der Vesperkirchen, gegenübergestellt werden.
2. Kritikpunkte an der Vesperkirche
„Statt Armut zu bekämpfen wird Armut gelindert – in einer Gesellschaft des Spektakels“, so der Soziologe Prof. Dr. Stefan Selke in einem Interview.2 Er sieht das Angebot der Vesperkirchen und der Tafeln als fehlgeschlagen an. Der Begriff der Mitleidsökonomie fällt häufig in diesem Zusammenhang. Sozial- und Armutsforscher verstehen darunter die Institutionalisierung und Ökonomisierung sozialer Projekte, die durch Empathie entstanden sind. Mitleidsökonomische Angebote sind keine punktuellen und zeitlich begrenzten Formen der Notfallhilfe mehr, sondern haben sich über die Jahre zu einem neuen System der Armutsbekämpfung etabliert.3
Vesperkirchen als Sozialevent würden den Städten eine große Menge an Spenden und ehrenamtlichen Ressourcen entziehen, aber keine nachhaltige Veränderung bewirken. Sie würden lediglich für kurze Zeit eine Lücke im Versorgungssystem schließen und dabei sogar noch Druck von der Sozialpolitik nehmen.4 So lautet der Vorwurf an die Stuttgarter Vesperkirche 2017. Außerdem würden sie keine wirkliche Inklusion von Armen schaffen. Lediglich eine fürsorgliche Hilfe für Arme sei möglich, jedoch keine Integration in die Kirchengemeinde oder Gesellschaft.5
3. Darstellung der Vesperkirche im Schussental
Die Vesperkirche im Schussental ist eine der größten Vesperkirchen in Baden-Württemberg und findet seit 2008 im Regelfall abwechselnd in den benachbarten Städten Ravensburg und Weingarten statt. Träger sind die Diakonische Bezirksstelle Ravensburg und die Johannes-Ziegler-Stiftung, die Stiftung des Sozialunternehmens Die Zieglerschen in Wilhelmsdorf. Das rein spendenfinanzierte Projekt bietet drei Wochen im Winter einen Ort für günstiges Mittagessen und Begegnung. Umrahmt wird die Vesperkirche von einem kostenlosen Kulturprogramm, Kinderbetreuung sowie von Friseuren und Ärzten, die ihre Dienste zu den Öffnungszeiten anbieten und der täglichen Andacht. Um auf das Thema Armut politisch und gesellschaftlich aufmerksam zu machen, setzt die Vesperkirche jedes Jahr einen besonderen Aspekt von Armut als Kampagnenmotto. So etwa Wohnungslosigkeit, Altersarmut oder Bildungsgerechtigkeit. Die aktuelle Vesperkirche hatte ihre Türen vom 29. Januar bis 17. Februar 2019 geöffnet. 470 ehrenamtliche Helfer waren dabei im Einsatz, über 13.500 Gäste kamen in die evangelische Stadtkirche Ravensburg und das zweckgebundene Spendenziel von 125.000€ wurde erreicht.
Die Vesperkirche im Schussental versucht, in den drei Wochen einen Gegenpol zur Einsamkeit und Ausgrenzung durch Armut darzustellen. Denn sie ist „offen für alle“6: Täglich ist zu beobachten, dass Wohnungslose am selben Tisch mit Studierenden und Arbeitnehmern aus den unterschiedlichsten Branchen sitzen und sich unterhalten. Zusätzlich gibt es die Dienste der Begrüßung und der Zuwendung, die von ehrenamtlichen Mitarbeitenden ausgeführt werden und so alle Gäste in Empfang nehmen und sich gegebenenfalls um sie kümmern. Gleichzeitig verfolgt die Vesperkirche im Schussental zwei Prinzipien: Gleichheit und Teilhabe. Über den einheitlichen, symbolischen Preis von 1,50€ für ein warmes Mittagessen mit Salat und Nachtisch, Getränken, Kaffee und Kuchen wird jedem Gast die Möglichkeit gegeben, selbstbestimmt sein Essen kaufen zu können. Bedürftige Personen, die sich dennoch keine Mahlzeit leisten können, erhalten von der jeweiligen Tagesleitung vor Ort dieselben Essensmarken kostenlos zur Verfügung gestellt. Alle weiteren Angebote im Rahmen der Vesperkirche sind umsonst. So kann jeder Gast, unabhängig seiner finanziellen Mittel, dieselben Angebote gleichermaßen nutzen. Die kostenlosen Kulturveranstaltungen ermöglichen den Besuch eines Konzertes, eines Kabarettabends oder einer Podiumsdiskussion. Damit kann auch das Prinzip der Teilhabe gewährleistet werden. In der Vesperkirche im Schussental sitzen Hilfsbedürftige neben Senioren, Familien, Studierenden, Arbeitnehmern und Menschen mit Behinderung. Aber auch unter den ehrenamtlichen Helfern finden sich diese Personenkreise wider, die trotz ethischer, spiritueller und kultureller Unterschiede die verschiedenen Aufgaben gemeinsam bewältigen. Es kommen Menschen unterschiedlicher Lebenssituationen zusammen, bei denen eine Begegnung sonst nicht zustande oder gar vermieden würde.
Durch die Verfolgung der beiden Prinzipien soll ein Klima der Geborgenheit und Wertschätzung geschaffen werden.
4. Ethische Diskussion
Die Kategorisierung von arm und reich wird in der Gesellschaft zur Unterscheidung von Menschen und Gruppen verwendet. Diese Kategorien fokussieren sich auf die Andersartigkeit und die als negativ bewerteten Unterschiede dieser Gruppen. Sie schaffen somit Ausgrenzung. Aus theologischer Sicht besteht der einzige Unterschied zwischen Gott und Mensch. Dadurch erhalten Menschen untereinander Würde, trotz ihrer individuellen Differenzen. „Die Anerkennung und Geltung von Unterschieden unter den Menschen werden in diesem theologischen Verständnis deswegen nicht zu trennenden Grenzen, sondern in der Perspektive gegenseitiger Ergänzung zu Gerechtigkeitsaufgaben.“7 Diese Gerechtigkeitsaufgaben sollen unter drei Perspektiven beleuchtet werden: Beteiligungs- und Teilhabegerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit und Befähigungsgerechtigkeit. Denen liegen normative Prinzipien wie Menschenwürde und Gleichheit zugrunde. Diese sind im Grundgesetz als Grundrechte jedes Bürgers festgeschrieben: „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“8 In den ausgewählten drei Gerechtigkeitsansätzen spiegelt sich die normative Wertehaltung der unantastbaren und zu schützenden Würde eines Menschen wider.
4.1 Beteiligungsgerechtigkeit
Als gleichwertige normative Wertebasis wie die Menschenwürde beschreibt die sogenannte Option für die Armen eine verpflichtende Sozialethik des Christentums. Diese Option meint eine vorrangige Liebe für die Armen, aus der Aktivitäten der christlichen Liebestätigkeit folgen. Jede Aktivität soll also aus Sicht der Armen vollzogen und beurteilt werden. Besonders im Fokus liegen soll dabei die Beteiligungs- und Teilhabegerechtigkeit als ein Mittel für soziale Gerechtigkeit. Ziel dieser sozialen Gerechtigkeit ist keinesfalls nur eine Versorgung der materiellen Not, sondern vor allem die Beteiligung aller am gesellschaftlichen Leben und die Überwindung von Ausgrenzung.9 Teilhabe in der Kirchengemeinde ist per se durch die Taufe garantiert. Doch in der Praxis sind Arme oftmals eben nicht Teil der Kirchengemeinde oder der Gesellschaft.
Da Vesperkirchen hauptsächlich die materielle Not im Blick haben, kommt deshalb die Kritik einer unzureichenden Beteiligungs- und Teilhabegerechtigkeit auf. Doch um ein menschenwürdiges Leben führen und an der Gesellschaft teilhaben zu können, müssen zunächst Grundbedürfnisse befriedigt werden.10 Zu diesen gehören zum einen ein warmes Mittagessen und ein geschützter Raum im Winter. Zum anderen gehören dazu aber auch die medizinische Versorgung und die Pflege des Äußeren durch den Friseurdienst. Unter dem Aspekt der Teilhabegerechtigkeit sind somit die Kulturveranstaltungen zu fassen, die kostenlos während der Vesperkirche angeboten werden. Auch das gemeinsame Essen am Tisch, unabhängig von Sprache, Herkunft und finanziellen Ressourcen, stellt Teilhabe her. Während der Vesperkirche ist Teilhabe in unterschiedlicher Form gewährleistet. Kritisch zu hinterfragen bleibt allerdings, ob und wie die angestrebte Beteiligungs- und Teilhabegerechtigkeit außerhalb des Zeitraums der Vesperkirche innerhalb der Gesellschaft nachwirkt. Die Vesperkirche kann dabei nur Anreize für eine Teilhabegerechtigkeit setzen. Die gelebte Teilhabe in der Vesperkirche, nicht aber das Unterstützungsangebot an sich, hat Vorbildcharakter für die Gesellschaft.
4.2 Verteilungsgerechtigkeit
Die Verteilungsgerechtigkeit hat das Ziel, jedem Mitglied in einer sozialen Ordnung den gleichen Zugang zu Institutionen und Gütern und die gleichen Freiheiten zu gewähren. „Vesperkirchen, in der Arme und Reiche zu Gästen an gemeinsamen Tischen werden, spiegeln die zahlreichen biblischen Erzählungen vom Reich Gottes als einem Gastmahl. Sie sind symbolische Aktualisierungen einer solidarisch-egalitären Vision des Zusammenlebens von Menschen in einer Gesellschaft, in der niemand ums tägliche Brot bangen muss und alle sich gegenseitig als gleichberechtigte und bedürftige Subjekte anerkennen.“11 So beschreibt Theologe Prof. Dr. Franz Segbers seine Wahrnehmung von Verteilungsgerechtigkeit in Vesperkirchen. Die Vesperkirchen im Schussental will mit ihrem Prinzip „offen für alle“ genau diese Art von solidarisch-egalitärem Zusammenleben wieder in den Mittelpunkt stellen. Ebenso will sie auf Ungerechtigkeiten in der Verteilung aufmerksam machen. Eine Verteilungsgerechtigkeit innerhalb ihres Rahmens schafft sie durch die unabhängigen Angebote, die jeder Gast frei nutzen kann. Einziger Ansatzpunkt einer möglichen Verteilungsungerechtigkeit ist der Preis des Mittagessens, den die meisten Vesperkirchen in Baden-Württemberg ansetzen. Bedürftige Gäste, die sich diesen Betrag nicht leisten können, sind entweder ausgeschlossen oder müssen sich bei den hauptamtlichen Organisatoren melden, um eine kostenlose Essensmarke zu erhalten. Die Vesperkirche im Schussental argumentiert gegen diese Kritik folgendermaßen: Der symbolische Preis von 1,50€ soll dem Angebot der Vesperkirche einen Wert verleihen. So soll er auch zu einer größeren Wertschätzung des Essensangebots führen als bei einer kompletten Spendenfinanzierung. Andererseits soll jedem Gast die Möglichkeit gegeben werden, über diesen günstigen Preis selbstbestimmt einen Teil seiner Lebensversorgung sicherstellen zu können. Dieser psychologische Wert hat zudem einen positiven Effekt auf das Selbstwertgefühl von Bedürftigen. Grundsätzlich wird aber niemand ausgeschlossen. Finanziell mittellose Gäste bekommen von der jeweiligen Tagesleitung ihre Marken für das Mittagessen, während physiologisch oder psychisch beeinträchtigte Menschen Assistenz beim Zugang der Angebote erhalten.
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1 EURICH/BARTH/BAUMANN/WEGNER 2011, S.13 f.
2 PIDUN 2018
3 Vgl. https://www.fk12.tu-dortmund.de/, 2019
4 Vgl. REINERS 2017
5 Vgl. EURICH/BARTH/BAUMANN/WEGNER 2011, S. 17
6 https://www.vesperkirche-ravensburg.de/, 2019
7 EURICH/BARTH/BAUMANN/WEGNER 2011, S. 15
8 Art 1 GG
9 Vgl. EURICH/BARTH/BAUMANN/WEGNER 2011, S. 146 ff.
10 Vgl. EURICH/BARTH/BAUMANN/WEGNER 2011, S.150 f.
11 EURICH/BARTH/BAUMANN/WEGNER 2011, S.489
- Arbeit zitieren
- Anonym,, 2019, Vesperkirche. Mitleidsökonomie oder eine Frage der Gerechtigkeit?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/465730
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