Immer mehr Eltern können ihre Kinder nicht selbst betreuen. Die Zahl der fremdbetreuten Kinder unter drei Jahren nimmt in Deutschland deshalb stetig zu. Doch die Trennung von ihren primären Bezugspersonen löst bei Kindern erheblichen Stress aus. Das kann zu langfristigen organischen und psychischen Schäden führen.
Können Erzieherinnen und Erzieher das verhindern? Hilft einfühlsames Verhalten dabei, den Stress zu minimieren? Wie machen pädagogische Fachkräfte die Eingewöhnung so schonend wie möglich? Mareike Kuhn zeigt in ihrer Arbeit, dass Berührungen ein wirksames Mittel zur Stressreduzierung sind.
Vor allem für den Aufbau von Bindungsbeziehungen ist Körperkontakt wichtig. In ihrer Publikation erklärt Kuhn deshalb, was im kindlichen Gehirn vorgeht. Außerdem erarbeitet sie konkrete Vorschläge, wie Erzieherinnen und Erzieher Körperkontakt in den Alltag einer Kindertagesstätte integrieren.
Aus dem Inhalt:
- frühkindliche Bindung;
- Frühpädagogik;
- Feinfühligkeit;
- Cortisol;
- Oxytocin
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Kontext und Relevanz
1.2 Theoretische Grundlagen und Erkenntnisinteresse
1.3 Inhaltlicher Aufbau
1.4 Anmerkungen zu Begriffen und Schreibweise
2 Körperkontakt, Bindung und Feinfühligkeit
2.1 Definition von Körperkontakt
2.2 Körperkontakt als soziale Fähigkeit
2.3 Bindung und Bindungsverhalten
2.4 Das Konzept der Feinfühligkeit
3 Frühkindliche Entwicklung und Fremdbetreuung
3.1 Frühkindliche Entwicklung
3.2 Geschichte und Status der frühkindlichen Fremdbetreuung
3.3 Stress durch frühkindliche Fremdbetreuung
3.4 Langfristige Auswirkungen von frühkindlichem Stress
4 Cortisol – das Stresshormon
4.1 Wirkmechanismus von Cortisol bei Stress
4.2 Die Wirkung von Cortisol beim Kleinkind
5 Oxytocin – das Bindungshormon
5.1 Wirkmechanismen von Oxytocin
5.2 Die Wirkung von Oxytocin beim Kleinkind
5.3 Die Wirkung von Oxytocin bei Bindungs- und Betreuungspersonen
6 Stellenwert von Körperkontakt in der frühpädagogischen Praxis
6.1 Frühe Tierexperimente zur Bedeutung von Körperkontakt
6.2 Körperkontakt in der Krippenpädagogik
6.3 Stellenwert von Körperkontakt in der Kita-Praxis
7 Vorschläge zur Integration von Körperkontakt in die frühkindliche Fremdbetreuung
7.1 Bindungsaufbau von Kleinkindern zu ErzieherInnen
7.2 Fokus auf die Bedürfnisse und Symptome der Kinder
7.3 Massage als pädagogische Maßnahme und zur Stressreduktion
7.4 Integration von Körperkontakt in der Eingewöhnungsphase
7.5 Ablauf der Eingewöhnung mit neuen Körperkontakt-Elementen
7.6 Fortsetzung der Körperkontakt-Praxis nach der Eingewöhnung
7.7 Stressabbau bei ErzieherInnen durch Körperkontakt zum Kind
7.8 Störungen und Grenzen bei Körperkontakt mit Kleinkindern
7.9 Einbeziehung der Eltern als primäre Bindungspersonen
8 Schulung pädagogischer Fachkräfte zum Thema Körperkontakt
8.1 Körperkontakt als Thema in der Ausbildung pädagogischen Fachkräfte
8.2 Möglichkeiten der Nachschulung pädagogischer Fachkräfte
8.3 Überprüfung der Eignung von pädagogischen Fachkräften
8.4 Integration der Körperkontakt-Thematik in Teambesprechungen
9 Einbindung externer ExpertInnen und Organisationen
9.1 Massage
9.2 Psychologische Beratung und Supervision
9.3 Qualitätssicherung und Zertifizierung
10 Ausblick und Vorschläge für zukünftige Forschungsarbeiten
11 Zusammenfassung
Literatur
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Stress-Toleranz-Fenster und Gefühle
Abb. 2: Muster im Cortisolspiegel an Tagen mit häuslicher Betreuung (l) im Vergleich zu Tagen mit Fremdbetreuung (p) für 42 Kinder
Abb. 3: Veranschaulichung der Abläufe bei der Integration von Massagen in die Kita-Praxis während und nach der Eingewöhnung
Abb. 4: Einschlafritual mit Körperkontakt
1 Einleitung
In dieser Arbeit geht es um Körperkontakt als Mittel zur Förderung des Bindungsaufbaus zwischen Kleinkind und Krippen-Fachkraft und zur Reduzierung von Stress in der frühkindlichen Fremdbetreuung. Neue Erkenntnisse aus der Hormonforschung werden beschrieben und genutzt für die Formulierung von Vorschlägen zur Integration von (mehr) Körperkontakt in die Praxis der frühen Fremdbetreuung in Kindertagesstätten.
1.1 Kontext und Relevanz
In Deutschland nimmt die Zahl fremdbetreuter Kinder unter 3 Jahren stetig zu. Dabei wird in Kauf genommen, dass diese Kinder durch die Trennung von der primären Bezugsperson erheblichem Stress ausgesetzt sind, den sie aufgrund ihrer Gehirnentwicklung noch nicht selbst regulieren können. Jüngere Langzeituntersuchungen an früh fremdbetreuten Kindern deuten darauf hin, dass dies im Gehirn der Kinder Spuren hinterlässt, die zu langfristigen organischen und psychischen Schäden führen können. Während einige Fachleute dafür plädieren, Kinder erst ab 12 oder sogar 24 Monaten in eine Fremdbetreuung zu geben, empfehlen andere, die jüngeren Kinder behutsam im Rahmen von Eingewöhnungsprogrammen an die Trennung zu gewöhnen, um den Stress durch einfühlsames Verhalten der pädagogischen Fachkräfte zu minimieren. Körperkontakt könnte als Mittel zur Stressreduzierung genutzt und systematisch in die Praxis integriert werden.
1.2 Theoretische Grundlagen und Erkenntnisinteresse
Diese Arbeit basiert auf Wissen über Körperkontakt und die frühkindliche Gehirnentwicklung. Die Bindungstheorie wird zu diesem Wissen in Beziehung gesetzt. Zusätzlich werden Ergebnisse aus der neurobiologischen Hormonforschung herangezogen, um zu erklären, was im kindlichen Gehirn vorgeht, wenn durch die Aktivierung des Bindungssystems Stress entsteht, und wie dieser Stress durch Bezugspersonen reguliert werden kann.
Aufbauend auf diesem Wissen und diesen Erkenntnissen wird untersucht, wie der Stress in der frühen Fremdbetreuung durch Körperkontakt reduziert werden kann, welche Maßnahmen dafür in die Praxis der Kindertageseinrichtungen integriert werden können und wie diese auch bei Eltern und pädagogischen Fachkräften Stress reduzieren helfen.
1.3 Inhaltlicher Aufbau
Nach dieser Einleitung wird in Kapitel 2 zunächst Körperkontakt im Sinne dieser Arbeit definiert, und es wird dargestellt, welchen Stellenwert er als soziale Fähigkeit und beim Aufbau von Bindungsbeziehungen hat. Nach einer Einführung in die Bindungstheorie werden die Kategorien von Bindungsverhalten vorgestellt. Dann wird erläutert, wie das Verhalten der Bezugspersonen im kindlichen Gehirn als inneres Arbeitsmodell gespeichert wird und wie dies sich auf das Bindungsverhalten im Erwachsenenalter auswirkt. Danach wird das Konzept der Feinfühligkeit vorgestellt als Grundlage für eine elterliche und pädagogische Fürsorge, die Stress minimiert und die Entwicklung optimal fördert.
In Kapitel 3 werden zunächst Grundlagen der frühkindliche Gehirn- und Bindungsentwicklung vorgestellt. Nach einem Exkurs in die Geschichte der frühkindlichen Fremdbetreuung wird erläutert, wie dabei Stress entsteht, was im kindlichen Gehirn vorgeht und welche langfristigen negativen Folgen dieser Stress für die Gesundheit der Kinder haben kann.
In den Kapiteln 4 und 5 werden Erkenntnisse aus der neurobiologischen Hormonforschung vorgestellt. Es wird erklärt, welche Auswirkungen das Stresshormon Cortisol beim Kleinkind hat und wie Oxytocin, das „Hormon der Nähe“, dem Kleinkind nach seiner Freisetzung durch Körperkontakt mit der Bezugsperson hilft, den Stress zu regulieren, den es selbst aufgrund der Unreife seines Gehirns noch nicht regulieren kann. Auch die positiven Auswirkungen von Oxytocin auf die erwachsenen Bezugspersonen werden beschrieben.
Nach einer Darstellung früher Tierexperimente zur Bedeutung frühkindlichen Körperkontakts wird in Kapitel 6 die Rolle von Körperkontakt in der Krippenpädagogik untersucht, und es wird der heutige Stellenwert von Körperkontakt in Kitas ermittelt.
In Kapitel 7 werden schließlich Vorschläge dazu ausgearbeitet, wie Körperkontakt den Aufbau der Bindung zur pädagogischen Fachkraft fördern und systematisch in die Praxis einer Kindertagesstätte integriert werden kann. Es wird auf Störungen und Grenzen des Körperkontakts eingegangen und darauf, wie Eltern einbezogen werden können, um sie selbst von den positiven Wirkungen intensivierten Körperkontakts profitieren zu lassen.
In den Kapiteln 8 und 9 wird eine (Nach-) Schulung pädagogischer Fachkräfte zum Thema Körperkontakt vorgeschlagen, und es wird dargelegt, welche Rolle externe Experten spielen können bei Massage, psychologischer Beratung und dem Qualitätsmanagement.
Kapitel 10 bietet einen Ausblick und Vorschläge für zukünftige Forschungsarbeiten.
1.4 Anmerkungen zu Begriffen und Schreibweise
Der Begriff „frühkindliche Fremdbetreuung“ bezieht sich auf die Tagesbetreuung von Kindern unter drei Jahren („U3-Kindern“) in Kindertageseinrichtungen (Kitas bzw. Krippen).
Für die primäre (Haupt-) Bindungsperson wird vereinfachend der Begriff „Mutter“ verwendet. Wenn nicht anders angemerkt, gelten Aussagen außerhalb der zitierten Studien auch für alleinerziehende Väter oder Homosexuelle, die für ein Kind zur primären Bindungsperson geworden sind. Auch pädagogische Fachkräfte werden als „Bezugsperson“ oder (sekundäre) „Bindungsperson“ bezeichnet, wenn sie für das Kind diese Funktion haben.
Der Begriff „Pädagogische Fachkraft“ wird in dieser Arbeit genderneutral synonym mit „(Bezugs-) ErzieherIn“, „KollegIn“, oder „sekundäre Bindungsperson“ verwendet.
Die Begriffe „Bindungsmuster“, „Bindungsstil“, „Bindungsverhalten“ und „Bindungsstrategie“ werden synonym verwendet, entsprechend der Begrifflichkeit der jeweils zitierten Autoren. Wenn nicht anders vermerkt, wird „Bindung“ stets im Sinne von „Attachement“ verwendet, also der Bindung des Kindes an seine Eltern, im Gegensatz zu „Bonding“ als Bindung der Eltern an das Kind (vgl. Brisch 2010, S. 21).
2 Körperkontakt, Bindung und Feinfühligkeit
Körperkontakt, berühren und berührt werden, ist essentiell im Leben. „Wir benötigen Berührung für eine normale und gesunde Entwicklung. Vom Anfang des Lebens bis zum Ende, als Baby ebenso wie als alter Mensch.“ (Mierau 2014, o.S.). Ein Mangel an Körperkontakt im Babyalter kann Spuren in den Genen hinterlassen (Kladko 2017, o.S.).
2.1 Definition von Körperkontakt
Körperkontakt bezeichnet im Allgemeinen die aktive oder passive Berührung des eigenen oder fremden Körpers. Die Eigenschaften der Berührung können in einem Zuordnungsraster differenziert werden (vgl. Riedel: 2012, S.86), anhand dessen die Definition von Körperkontakt für diese Arbeit eingeschränkt wird auf:
- „Fremdberührung“ zwischen Elternteil oder pädagogischer Fachkraft und einem Krippenkind (Akteure), wobei die Initiative von beiden Seiten ausgehen kann
- Berührungen auf der Haut oder auf der Kleidung – vor allem in der Kita (Ort)
- Berührungen unmittelbar oder mit Hilfsmitteln wie Bürsten (Werkzeug)
- Absichtliche, bewusste, einseitige oder wechselseitige Berührungen von unterschiedlicher Dauer und Intensität im Rahmen elterlicher Fürsorge oder professionellen pädagogischen Handelns, die von der Intention her angenehm sein sollen (Modus)
Positiv empfundener Körperkontakt führt zum Abbau des Stresshormons Cortisol (siehe Kap. 4) und zur Ausschüttung von Botenstoffen, die das Wohlbefinden stärken, wie Dopamin und Oxytocin (siehe Kap. 5). Jüngere Forschungsergebnisse legen sogar nahe, dass alle Menschen ausreichend wohlmeinenden Körperkontakt benötigen, um zentrale Körperfunktionen zu regulieren, wie beispielsweise den Wärmehaushalt, das Immunsystem und das Herz-Kreislaufsystem. (vgl. Bauer 2007, S. 71 ff).
2.2 Körperkontakt als soziale Fähigkeit
In der 2001 von der Weltgesundheitsorganisation WHO veröffentlichten „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) wird Körperkontakt als elementare zwischenmenschliche Aktivität eingeordnet und steht damit auf der gleichen Stufe wie andere elementare soziale Fähigkeiten (vgl. WHO 2005, IDF und ICF-CY, Ziffern d7105, d71040, d71041, d7104). Körperkontakt wird damit als elementar für zwei der wichtigsten Gesundheitsziele gesehen: einerseits Autonomie und Selbstständigkeit und andererseits die Teilhabe an der Gesellschaft (vgl. Jansen u Streit 2015, S. 2).
Körperkontakt als soziale Fähigkeit spielt in vielen Berufen eine große Rolle, vor allem in Pflegeberufen. Die meisten Erwachsenen sind dazu fähig und setzen Körperkontakt in jedem Augenblick passend um. Weil dies in der Regel unbewusst geschieht, wird die Bedeutung des Körperkontaktes in vielen Alltagssituationen meist unterschätzt. Auf der anderen Seite können Störungen des Körperkontaktes auf menschliche Beziehungen einen negativen Einfluss haben, der sich im Einzelfall noch dadurch verstärkt, dass er bewusst oder unbewusst vorbeugend vermieden wird (vgl. Jansen u. Streit 2015, S. 28-30).
Positiver Körperkontakt entspannt und wirkt sich messbar auf gesundheitlich bedeutsame Größen aus wie z. B. Herzrate, Blutdruck und Hormonspiegel (mehr dazu in den Kapiteln 4 und 5). Er wirkt jedoch nicht nur in dem Augenblick entspannend, in dem er stattfindet, sondern er wirkt auch „in die Zukunft hinein“ (vgl. Jansen u. Streit 2015, S.13).
2.3 Bindung und Bindungsverhalten
Durch Körperkontakt wird die Zwiesprache zwischen Kind und Betreuungsperson ausgedrückt, die als feinfühlige Interaktion zwischen beiden zum Aufbau der Bindung führt (vgl. Mierau 2014, o.S.). Ohne eine solche Bindung kann das Kind den Körperkontakt nicht als positiv empfinden. Deshalb sind sowohl der Stress in der Fremdbetreuung als auch die stressreduzierende Wirkung von Körperkontakt abhängig vom Bindungsaufbau, sowohl zur Mutter als auch zur Kita-Fachkraft als primäre und sekundäre Bezugspersonen.
2.3.1 Bindung als angeborenes Verhaltensprogramm – das Bindungssystem
Die Bindungstheorie (Bowlby 1975) besagt, dass der Säugling das angeborene Bedürfnis hat, die Nähe, Zuwendung und den Schutz einer vertrauten Person zu suchen. Er baut im ersten Lebensjahr mit seinem genetisch vorprogrammierten Verhalten ein interaktives Bindungssystem zu seiner Bezugsperson auf. Dieses Verhalten zeigt sich besonders im Suchen der Bindungsperson, Weinen, Nachlaufen, Festklammern an ihr und durch Protest, Ärger, Verzweiflung und Trauer sowie emotionalen Rückzug und Resignation beim Verlassenwerden. Es wird durch Trennung von der Bindungsperson und durch äußere oder innere Bedrohung, Schmerz und Gefahr aktiviert. Die Hauptfunktion der Bindungsperson ist es, den Säugling bzw. das Kind in als bedrohlich empfundenen Situationen zu schützen und ihm emotionale und reale Sicherheit zu geben (vgl. Stegmaier o.J., o.S.).
Die ersten 10 Monate des Lebens verbringt ein Menschenkind in einer Art „Schwangerschaft außerhalb des Mutterleibes“ (siehe Abschnitt 3.2). In dieser Zeit braucht es idealerweise ständigen Körperkontakt, Wärme und unmittelbare Bedürfnisbefriedigung, die durch die Bindung – meist an die Mutter - sichergestellt wird. Deren Stimme und Herzschlag hat es schon als Embryo wahrgenommen, und sie riecht, wie damals das Fruchtwasser geschmeckt hat. Und wenn sie das Baby trägt, entsprechen ihr Gang und ihre typischen Bewegungen dem Schaukeln in der Gebärmutter (vgl. Herbst 2009a, o.S.).
Ein Kleinkind kann ohne Zuwendung, Ernährung, Pflege und Betreuung durch erfahrene Erwachsene nicht überleben. Es braucht die Erfüllung körperlicher Grundbedürfnisse, Erkundungsfreude, Anregung der Sinne, Abwehr von unangenehmen und schmerzhaften Reizen und die Erfahrung, selbst handeln zu können, um das eigene Leben zu beeinflussen. Die Bindung ist die emotionale Basis, aus der heraus es die Welt erkunden (Exploration) und allmählich – in seinem eigenen Tempo - eine Eigenständigkeit erwerben kann. Dies wird als Bindungs-Explorations-Balance bezeichnet (vgl. Herbst 2009b, o.S.).
2.3.2 Kategorien bzw. Muster von Bindungsverhalten
Diese Balance wurde zuerst in den 1970er Jahren anhand des „Tests der fremden Situation“ untersucht, mit 8 Episoden von je 3 Minuten (vgl. Stegmaier o.J., o.S.):
1. Mutter und Kind betreten das Spielzimmer.
2. Sie akklimatisieren sich, und das Kind kann den ungewohnten Raum erkunden.
3. Eine fremde Person tritt ein und nimmt mit der Mutter und dem Kind Kontakt auf.
4. Die Mutter geht, und die fremde Person bleibt mit dem Kind zurück.
5. Die Mutter kehrt zurück, und die fremde Person geht.
6. Die Mutter verlässt wieder den Raum, aber das Kind bleibt allein zurück.
7. Die fremde Person kommt wieder hinzu.
8. Die Mutter erscheint, und die fremde Person geht.
Es wurde beobachtet, dass die Kinder in Anwesenheit der Mutter deutlich mehr explorierten. Im Detail verhielten sie sich aber unterschiedlich: Einige zeigten ein klassisches Bindungsverhalten, andere reagierten kaum auf die Mutter oder verhielten sich nach ihrer Rückkehr ablehnend. Daraus wurden drei Bindungskategorien abgeleitet: sicher, unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent. Sicher gebundene Kinder können ihre Impulse, Bedürfnisse und Gefühle besser an die jeweilige Situation anpassen als unsicher gebundene Kinder. Bei Belastung zeigen sie großes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen (vgl. Niet 2016, o.S., Stegmaier o.J., o.S.). Für unsicher-ambivalent gebundene Kinder ist die Bindungsperson nicht berechenbar. Sie sind stark auf diese fixiert, und durch chronische (Über-) Aktivierung des Bindungssystems sind sie gestresst und in ihrer Exploration eingeschränkt. Negative Gefühle können sie nicht integrieren (vgl. Stegmaier o.J., o.S.).
In jüngerer Zeit wurde für Kinder, die keine einheitliche Bindungsstrategie haben, das „desorganisierte Verhalten“ als zusätzliches Bindungsmuster definiert (vgl. Strüber 2017, S. 121). Diese Kinder zeigen ein emotional widersprüchliches und inkonsistentes Bindungsverhalten, das als Zusammenbrechen von organisierten Strategien in bindungsrelevanten Situationen bezeichnet werden kann (vgl. Stegmaier o.S., o.J.).
Sicher gebundene Kinder können ihre Umgebung zwar sorglos erkunden, aber sie entfernen sich selbst von der Mutter nur bis zu einer gewissen „Unsicherheitsentfernung“. Diese beträgt im Mittel im zweiten Lebensjahr 7 Meter, im dritten 15 und im vierten 21 Meter. Dabei bleiben sie im Blickkontakt. Zeigt die Mutter ein besorgtes Gesicht und warnt, hält das Kind inne, und bei Bedrohung ruft es nach ihr. Unsicher gebundene Kinder reagieren weniger gut auf Warnungen und können Gefahrensituationen weniger gut einschätzen. Auf Neues reagieren sie eher mit Angst und Ablehnung (vgl. Herbst, 2009b, o.S.).
Durch verschiedene Längsschnittstudien in unterschiedlichen Ländern wurde gezeigt, dass mit 75% Übereinstimmung sicher gebundene Mütter auch sicher gebundene einjährige Kinder haben. Entsprechend haben Mütter mit einer unsicheren Bindungshaltung auch häufiger Kinder, die unsicher gebunden sind. Dieser Zusammenhang fand sich mit 65% Übereinstimmung auch für die Bindungshaltung der Väter (vgl. Brisch 2004, S.33).
2.3.3 Innere Arbeitsmodelle von Bindung
Durch wiederholte typische Interaktionsmuster mit ihrer Bindungsperson bilden Kinder Erwartungen hinsichtlich des Charakters dieser Interaktionen aus, die zunehmend verinnerlicht und als „Bindungsrepräsentation“ (vgl. Strüber 2017, S. 123) oder „inneres Arbeitsmodell“ (vgl. Stegmaier o.S., o.J.) gespeichert werden. Diese "inneren Arbeitsmodelle (...) regulieren das Verhalten des Kindes zur Bezugsperson und strukturieren später das Verhalten und Erleben in allen emotional relevanten Beziehungen, einschließlich der zu sich selbst. Sie wirken im Laufe der Entwicklung auch in Abwesenheit der Bindungspersonen und determinieren, inwieweit jemand in Beziehungen Nähe und Sicherheit erwartet und inwieweit er sich selbst der Zuwendung, der Liebe und Aufmerksamkeit wert fühlt, also Nähe zulassen kann" (Daudert 2001, S. 6). Dadurch, dass die Arbeitsmodelle verinnerlicht sind und unbewusst das Verhalten bestimmen, sind sie im Erwachsenenalter nur schwer zu verändern (vgl. Stegmaier o.S., o.J.).
2.3.4 Bindungsstile bei Erwachsenen
Bei Erwachsenen kann das Bindungsverhalten anhand von halbstrukturierten Interviews ermittelt werden. Dabei ergeben sich ähnliche Bindungsstile bzw. -Haltungen wie bei Kindern. Dem sicher gebundenen Kind entspricht im Erwachsenenalter der sicher-autonome Bindungsstil. Diese Erwachsenen können frei und flüssig über ihre Erfahrungen von Bindung, Verlust und Trauer sprechen. Unsicher-ambivalent gebundene Kinder zeigen als Erwachsene den unsicher-verstrickten Bindungsstil. Sie sind dann in früheren Beziehungen emotional gefangen. Für Erwachsene mit einer unsicher-distanzierten Bindungshaltung sind zwischenmenschliche Beziehungen und emotionale Bindungen nicht wichtig. Unsicher-desorganisiert gebundene Kinder zeigen als Erwachsene oft eine Irrationalität bei Themen wie Tod und Trennung. (vgl. Stegmaier o.S., o.J. und Brisch 2004, S. 32).
Für das optimale Gelingen einer Bindung des Kindes an die Bezugs-Fachkraft in der Kita spielt es eine große Rolle, von welchem Typ deren eigene Bindungshaltung ist. Aus der in Abschnitt 2.3.2 erwähnten, häufigen Weitergabe der Bindungshaltung von Eltern an ihre Kinder kann abgeleitet werden, dass sich auch die Bindungshaltung von pädagogischen Fachkräften auf ihre Interaktion mit Kindern und damit auf deren Arbeitsmodell und Bindungssystem insgesamt auswirkt. Deshalb sollte das Bindungsverhalten der Fachkräfte überprüft und ggf. durch Therapiemaßnahmen positiv verändert werden (siehe Kapitel 8).
Nach Bowlby entwickelt sich das innere Arbeitsmodell von Beziehungen in engem Zusammenhang mit dem „Arbeitsmodell vom Selbst“ des Kindes, und die frühen Bindungsbeziehungen prägen über die emotionale Entwicklung hinaus auch andere Lebensbereiche. Eine feinfühlige Reaktion der Mutter auf die Signale ihres Kindes vermittelt diesem sehr früh, dass es seine Umwelt beeinflussen kann (Konzept der „Selbstwirksamkeit“), und dadurch kann es Selbstvertrauen entwickeln (vgl. Wohlgethan 2012, S. 52-53).
2.4 Das Konzept der Feinfühligkeit
Das Konzept der Feinfühligkeit der Bindungsperson gegenüber dem Kleinkind beinhaltet, dass sie die kindlichen Verhaltensweisen wahrnimmt, seine Signale richtig interpretiert und angemessen, prompt und altersgerecht auf seine Bedürfnisse reagiert. Dadurch entwickelt das Kind ein Gefühl der Tüchtigkeit und Selbstbestimmung, weil seine Bindungswünsche und seine Neugier-Impulse verstanden und akzeptiert werden. Eine feinfühlige Bindungsperson kann also die oft sehr unspezifischen kindlichen Signale richtig wahrnehmen und unabhängig von der eigenen Bedürfnislage erschließen (vgl. Stegmaier o.J., S.2). Das Konzept der Feinfühligkeit ist heute offizieller Bestandteil von behördlichen Bildungsempfehlungen für Einrichtungen, z. B. in Hamburg (vgl. Hautumn et.al. 2012, S. 17).
Feinfühligkeit ist besonders wichtig in Bezug auf Berührungen. Es geht darum, zu erkennen, ob das Kind die Berührung mag oder ob sie ihm gerade zu viel ist. Positive Berührungen verbessern die Bindungsbeziehung (vgl. Mierau 2004, o.S.).
Ausblick auf Kapitel 3: Nach den Ausführungen über Körperkontakt als soziale Fähigkeit und als Interaktionsmittel beim Bindungsaufbau wird im folgeden Kapitel 3 die Situation der frühkindlichen Fremdbetreuung betrachtet. Nach einer Beschreibung der frühkindlichen Gehirnentwicklung werden der Trennungsstress und seine langfristigen Folgen beschrieben, die sich in organischen und psychischen Schäden niederschlagen können.
3 Frühkindliche Entwicklung und Fremdbetreuung
Weltweit gibt es vielfältige Betreuungsformen für Kinder, von einer ausschließlich mütterlichen Betreuung über Betreuungsformen im Verwandten- und Bekanntennetzwerk bis zur Betreuung in öffentlichen Einrichtungen. Aus Sicht medizinischer Fachleute sollte die Aufnahme in eine Kita frühestens erfolgen, wenn das Kind am Ende des ersten bzw. Anfang des zweiten Lebensjahres eine emotional stabile, sichere Bindung zur Hauptperson entwickelt hat (vgl. Brisch 2013, S.88). Selbst dann besteht ein erhebliches Risiko, dass durch chronischen Stress später gesundheitliche Problemen auftreten (vgl. Böhm 2011, S. 318). Dies kann anhand der frühkindlichen Entwicklung verständlich werden.
3.1 Frühkindliche Entwicklung
Menschenaffenbabys sind zum Zeitpunkt der Geburt schon so reif, dass sie sich fortbewegen und dauerhaft an der Mutter festhalten können. Um einen vergleichbaren Reifegrad zu erreichen, müsste die Schwangerschaft (Tragzeit) beim Menschen von 9 auf ca. 20 Monate steigen (vgl. Zöller 1999, S.232). In der „Nachreifungszeit“ von etwa einem Jahr sollte ein Menschenbaby daher alles bekommen, was es sonst im Mutterleib bekäme: Dauernden Körperkontakt und Nähe, Wärme und sofortige Bedürfnisbefriedigung.
Der Grund für die frühe Geburt bei Menschen ist, dass die Gehirnmasse des Menschen drei- bis viermal größer ist als bei Menschenaffen. Durch den aufrechten Gang muss das menschliche Becken anders stabilisiert werden und ein im Mutterbauch ausgereiftes Kind würde nicht mehr durch den Geburtskanal passen. So muss ein bestimmter Teil der Gehirnentwicklung, der erst etwa nach dem ersten Lebensjahr vollendet ist, außerhalb des Mutterleibs stattfinden. Diese Gehirnentwicklung hängt unmittelbar von der Betreuungssituation in dieser Zeit ab und wird davon sehr stark beeinflusst (vgl. Zöller 1999, S.233).
3.1.1 Frühkindliche Gehirnentwicklung
Das reife menschliche Gehirn ist ein riesiges Netzwerk aus ca. 100 Milliarden vernetzten Nervenzellen (Neuronen), die untereinander durch chemische Botenstoffe Informationen austauschen. Die Vernetzung erfolgt zu 80% erst nach der Geburt - in den ersten 3 Lebensjahren (vgl. Klatte 2007, S. 124), und das kindliche Gehirn kann Aufgaben erst ab einem ausreichenden Vernetzungsgrad bewältigen. Das Stammhirn ist bei der Geburt voll ausgebildet und steuert die grundlegenden, lebenserhaltenden Funktionen wie Atmen, Husten, Schlucken, Schlafen, Essen, Trinken, die Körperhaltung und die Temperaturregulierung. Es wird umschlossen vom sog. „limbischen System“, auch als das „emotionale Gehirn“ bezeichnet (ein Bild der Gehirn-Anatomie befindet sich im Anhang). Dieses enthält unter anderem den sog. „Hippocampus“, der für die Speicherung von Erfahrungen im Gedächtnis wichtig ist, und den „Mandelkern“, der für Gefühle zuständig ist und andere Hirnregionen sofort informiert, wenn etwas emotional Bedeutsames geschieht, damit ein Flucht- oder Abwehr-Reflex initiiert wird. Das limbische System insgesamt nimmt eine emotionale Bewertung der von den Sinnen wahrgenommenen Objekte, Personen und Handlungen vor und steuert Angst, Wut und Aggression, sorgt aber auch für die Motivation beim Lernen und Handeln. Im zentral gelegenen „Thalamus“, der „Schnittstelle“ zwischen Stammhirn und dem bis fast zur Schädeldecke reichenden Großhirn, werden alle eingehenden Informationen vor der Weiterleitung ins Großhirn daraufhin geprüft, ob sie im Moment wichtig genug sind, um ins Bewusstsein zu gelangen. Das Großhirn ist u.a. für das Denken und Schlussfolgern, das zielgerichtete Planen und die Sprache zuständig. Vorn am Thalamus befindet sich der „Hypothalamus“, der grundlegende Körperfunktionen steuert und an dessen vorderem Ende die „Hypophyse“ (Hirnanhangdrüse) liegt. Aufgrund von Signalen des Hypothalamus schüttet diese Drüse stimulierende Hormone ins Blut aus, die über den Blutkreislauf in andere Drüsen gelangen, in denen daraufhin die eigentlichen "Ziel"-Hormone ausgeschüttet werden (siehe Kap. 4 und 5). Der „Nucleus accumbens“ ist eine funktionelle Schnittstelle zwischen dem limbischen und dem motorischen System. Als Teil des Belohnungssystems sorgt er für die Umsetzung von Motivation in Handlung und ist an emotionalen Lernprozessen, Empathie und Freundschaft, Sympathie und Präferenz beteiligt (vgl. Gehirnlernen o.Ja., o.S., und Gehirnlernen o.J.b, o.S.).
Im Säugling bzw. Kleinkind reifen diese Strukturen nicht gleichzeitig. Das Großhirn entwickelt sich am langsamsten und unregelmäßigsten. Die individuelle Entwicklung hängt von vererbten Faktoren und Lernerfahrungen ab (vgl. Werner 1972, S.111).
Die neuronale Verschaltung im Gehirn hängt unmittelbar mit der erfahrenen Sozialisation in den ersten drei Lebensjahren zusammen. Sie bestimmt später entscheidend, wie Beziehungen gesucht und gestaltet werden. Frühkindlicher Stress, der durch negative Bindungserfahrungen hervorgerufen wird, kann im Gehirn dauerhaft ähnliche Schaltkreise aktivieren wie Panikzustände und körperlicher Schmerz (vgl. Wettig 2006, S. A-2298).
3.1.2 Phasen der kindlichen Bindungsentwicklung
Entsprechend der Gehirnentwicklung entwickelt sich auch die kindliche Bindung, wobei je nach sozialen Erfahrungen vier Phasen unterschieden werden. In der „ Vorbindungsphase “, den ersten 2 Lebensmonaten, muss das Kind die Anpassung an das Leben außerhalb der Gebärmutter bewältigen. In der „ beginnenden Bindungsphase “, bis zum Alter von 6-8 Monaten, baut der Säugling die primäre Bindung zu einer Person auf, der er vertraut und auf die er anders reagiert als auf Fremde, die er als solche erkennt. Er merkt, dass er auf seine Umgebung einwirken kann und erweitert dadurch sein Ich-Bewusstsein. In der dritten Phase, der „ Phase der eindeutigen Bindung “, die bis zum 18. bis 24. Monat dauert, ist eine deutliche Bindung zur Mutter erkennbar. Erst am Ende dieser Phase erlebt das Kleinkind sich als körperlich eigenständiges Wesen, erkennt sich im Spiegel und beginnt, „ich, mir, meins“ zu sagen. Es kann sich nun allein von der Mutter wegbewegen, um die Welt zu erkunden, und kommt aufgrund der Trennungsangst zu ihr zurück, wenn es wieder „auftanken und Batterie laden“ muss. Es möchte an allen Aktivitäten der Mutter teilhaben, sie ist der Mittelpunkt seiner Welt. Durch seine Gesten und Laute löst es seinerseits in der Mutter das “Brutpflegeverhalten” aus (vgl. Herbst, 2012, o.S.).
Ab dem Alter von 2-3 Jahren, wenn das Kind ausreichend sprechen und verhandeln kann, beginnt die vierte Phase, die “Phase wechselseitiger Beziehungen”. Erst in dieser Phase ist das Gehirn so weit entwickelt, dass das Kind verstehen kann, was die Mutter und andere Bezugspersonen beabsichtigen. Es beginnt nun von sich aus, sich für andere Personen in seiner “Bezugshierarchie” zu interessieren, baut zu ihnen Beziehungen auf und lernt, sich in die andere Person hineinzuversetzen. Am Ende dieser Phase hat das Kind ein “Selbstkonzept” entwickelt, d.h. es kann seine Eigenschaften, Fähigkeiten und Vorlieben (Wertvorstellungen) benennen (vgl. Herbst, 2012, o.S.).
3.1.3 Entwicklung von Emotion und Kognition
Generell gilt bei der Entwicklung bzw. Reifung des Gehirns das Prinzip „Emotion vor Kognition“: erst das Fühlen, dann das Denken. Hirnregionen, die für einfache, automatische und überlebenswichtige emotionale Reaktionen verantwortlich sind, reifen vor denjenigen, die kognitive Inhalte und Flexibilität vermitteln (vgl. Strüber 2017, S.47).
Ein Säugling kann von Anfang an zwischen Lust und Unlust sowie Ruhe und Erregung unterscheiden, der Ausdruck von Emotionen muss aber erst erlernt werden. Ab dem dritten bis vierten Lebensmonat kann das Kind Freude durch Lachen und Angst durch Weinen ausdrücken. Ab dem 7. Monat kann es durch ein Lächeln Kontakt zu vertrauten Personen herstellen und Angst durch „Fremdeln“ zeigen. Im ersten Lebensjahr kann es noch nicht zwischen eigenen und fremden Gefühlen unterscheiden und es wird von Gefühlen anderer "angesteckt". Im zweiten Lebensjahr wird sich das Kind seiner eigenen Gefühle bewusst und entwickelt die Fähigkeit zur Emotionsregulation, es braucht dazu aber meist noch eine Bezugsperson, die Trost spendet. Es lernt nun auch soziale Regeln zur Form des Emotionsausdrucks kennen. Im dritten Jahr entwickelt sich emotionale Kompetenz – das Kind kann sich in die Perspektive anderer hineinversetzen (vgl. Frech o.J., o.S.).
Die kognitiven Fähigkeiten verbessern sich nach einem starken Wachstum von Hippocampus und limbischen Strukturen, das nach drei Monaten einsetzt. Erst im zweiten Jahr, wenn das Gehirn zunehmend komplexere Aufgaben ausführen kann, wird das Kind sich der eigenen Absichten stärker bewusst (vgl. Textor o.J.a, o.S.). Erst im dritten Jahr erlaubt die fortgeschrittene neuronale Vernetzung im Großhirn dem Kleinkind, gegenwärtige Ereignisse anhand von Eindrücken aus der Vergangenheit zu interpretieren und es kann dadurch nun Ursache und Wirkung verstehen (vgl. The Urban Child Institute 2013, o.S.).
Im Zuge der Reifung wächst bis etwa zum Ende des dritten Lebensjahres die rechte Gehirnhälfte (zuständig für Intuition und Emotion) schneller, erst danach erfolgt ein Wachstumsschub der linken Hälfte, der das Kind zu Sprache, dem Verstehen von Regeln und dem Erkennen von Ursache-Wirkung-Zusammenhängen befähigt (vgl. Karr-Morse 2013, S. 235-236). Im Alter von 26 Monaten sind Kinder daher noch nicht fähig, Erfahrungen eigenständig verbal auszudrücken, da diese Funktion in der linken Gehirnhälfte angesiedelt ist (vgl. Doidge 2010, S.42).
Das Prinzip „Emotion vor Kognition“ hat zwei wichtige Konsequenzen: Zum einen bedeutet es, dass frühe Erfahrungen vor allem die grundlegenden emotionalen Funktionen beeinflussen und darüber langfristige Auswirkungen auf Fühlen und Handeln haben. Zum anderen können komplizierte kognitive Funktionen, wie z.B. Einsicht oder vorausschauendes und flexibles Verhalten, erst dann erwartet werden, wenn die entsprechenden Hirnstrukturen hinreichend ausgereift sind. Die frühkindlichen Bindungserfahrungen werden (als „innere Arbeitsmodelle“, vgl. Abschnitt 2.3.3) gespeichert. Nachträgliche Änderungen am eigenen, in der Regel unbewussten Modell von Bindung und Sicherheit sind nur schwer möglich und können nur in geduldigen zwischenmenschlichen Beziehungen wirksam werden, z.B. in Form von Psychotherapie (vgl. Strüber 2017, S. 49-53).
3.2 Geschichte und Status der frühkindlichen Fremdbetreuung
Frühkindliche Fremdbetreuung gibt es seit mindestens 4 Jahrtausenden, das Ammenwesen noch länger (vgl. Harsch 2008, S. 109 ff.). Schon im Mittelalter wurden unwillkommene Kleinkinder in Findelhäusern abgegeben - Anfang des 19. Jahrhunderts betraf dies in den europäischen Hauptstädten 20 - 30% der geborenen Kinder. Davon starben jedoch in den meisten Häusern etwa 60 - 90% im ersten Lebensjahr (vgl. Rieländer 1982, S. 2).
3.2.1 Richtungweisende Studien zur frühkindlichen Fremdbetreuung
Um 1940 erforschte der Psychoanalytiker René Spitz in den USA die Entwicklung von Kleinkindern in einem Säuglingsheim und einem Findelhaus fast von Geburt an - teilweise bis ins Alter von 4 Jahren. Bei den Kindern, die in im ersten Lebensjahr 3 oder mehr Monate die Zuwendung ihrer Mutter entbehren mussten, stellte Spitz Rückstände im Entwicklungsverlauf fest. Durch die Beobachtungen erkannte er zwei unterschiedliche Formen von "Mutter-Entbehrung": Eine zeitweise und eine totale Entbehrung mütterlich-gefühlsmäßiger Zuwendung. Er stellte zwei entsprechende krankhafte Zustandsbilder bei den Kindern fest: (1) die sog. „anaklitische Depression“ als Krankheitsbild bei Kindern nach einer zeitweisen Mutter-Entbehrung und (2) das Zustandsbild des sog. „Hospitalismus“ bei Kindern nach einer totalen Mutter-Entbehrung (vgl. Rieländer 1982, S. 8).
Die an anaklitischer Depression erkrankten Kinder waren zwischen ihrem 6. und 8. Lebensmonat der Mutter für 3 Monate ununterbrochen entzogen worden. Zuvor hatten sie eine gute, gefestigte Bindung an ihre Mütter entwickelt. Nach der Trennung zeigten sie in den ersten zwei Monaten eine Weinerlichkeit, die in starkem Gegensatz zu ihrem früheren fröhlichen Benehmen stand. Dann wurde diese von einer Kontaktverweigerung abgelöst - die Kinder weigerten sich, an dem Leben ihrer Mitwelt Anteil zu nehmen. Auf Annäherung von Erwachsenen reagierten sie anfänglich mit Ablehnung, wenn diese aber überwunden werden konnte, zeigten einige eine verzweifelte Anklammerung. Dazu kamen in dieser zweiten Phase Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme, verstärkte Schlaflosigkeit und erhöhte Anfälligkeit für Erkältungen. In einer dritten Phase, nach etwa drei Monaten, zeigte sich eine „gefrorene Starre des Gesichtsausdrucks“, nachdem ab dem zweiten Monat ein relativer Stillstand in ihrer Entwicklung eingetreten war. Nach der Rückkehr der Mutter nach dem Zeitraum von 3 - 5 Monaten konnten die meisten Kinder allerdings genesen.
Zögerte sich die Wiedervereinigung von Mutter und Kind länger als 5 Monate hinaus, war keine Verbesserung der kindlichen Entwicklung mehr festzustellen, vielmehr ging die anaklitische Depression in den "Hospitalismus“ über, mit Symptomen „eines zunehmend schweren Verfalls", die auch bei Kindern festgestellt wurden, die ab ihrem 4. Lebensmonat ohne jede individuelle Betreuung in seitlich blickdicht zugehängten Betten lagen und über befestigte Flaschen mechanisch gefüttert wurden (vgl. Rieländer 1982, S. 8). Im Verlauf des Hospitalismus-Syndroms zeigten sich zunächst rasch aufeinander folgend dieselben Stadien wie bei der anaklitischen Depression. Nach 3 Monaten schritt der Verlauf weiter fort: "Die Verlangsamung der Motorik kam voll zum Ausdruck; die Kinder wurden völlig passiv;... Der Gesichtsausdruck wurde leer und schwachsinnig, die Koordination der Augen ließen nach. “ (Spitz 1976, S.290). Der Verfall „ manifestiert sich zuerst in einer Stockung der psychischen Entwicklung des Kindes; dann setzen psychische Funktionsstörungen ein, mit denen somatische Veränderungen einhergehen. Im nächsten Stadium führt dies zu gesteigerter Infektionsanfälligkeit und schließlich, wenn der Mangel an affektiver Zufuhr bis ins zweite Lebensjahr hinein andauert, zu einer auffallenden Erhöhung der Sterblichkeitsquote. “ (Spitz 1976, S.292). Diejenigen Kinder, die überlebten, zeigten eine verlangsamte Motorik, eine passive Grundstimmung bis hin zur Apathie, Regressionen in frühere Entwicklungsstadien, eine erhöhte Anfälligkeit für Krankheiten und Störungen in der Wahrnehmung und beim Lernen. „Erhellend“ war für Spitz, dass sich einige Kinder, die während der Studie eine psychisch behinderte Frau als Bezugsperson gefunden hatten, in fast allen Bereichen deutlich besser entwickelten als diejenigen ohne eine solche Bezugsperson (Stangl 2018, o.S.).
3.2.2 Frühkindliche Fremdbetreuung in Deutschland
Während die erste Deutsche Kinderkrippe, die Detmolder "Aufbewahrungs-Anstalt für kleine Kinder", 1802 noch aus humanitären Motiven gegründet worden war, wird die Entwicklung der frühkindlichen Fremdbetreuung in jüngerer Zeit zunehmend durch ideologisch-politische Ziele und durch die Bedürfnisse der Erwachsenen bestimmt.
Besonders totalitäre Systeme nutzten die Beeinflussbarkeit kleiner Kinder für politische Zwecke. Die ehemalige Deutsche Demokratische Republik (DDR) baute die Krippenbetreuung flächendeckend als Teil des staatlichen Erziehungssystems auf. Zusätzlich zu den normalen Tageskrippen mit Öffnungszeiten von 6:00 bis 19:00 Uhr wurden – vor allem für Eltern mit unregelmäßigen Arbeitszeiten - sogar Wochenkrippen geschaffen, in denen Kinder im Alter von sechs Wochen bis zu drei Jahren am Montag abgegeben und am Freitag wieder abgeholt wurden. Das politische Ziel war, die Frauen in berufliche Tätigkeiten zum „Aufbau des Sozialismus“ zu führen und die Erziehung weitestgehend dem Staat zu übergeben. Ende der 1980er Jahre wurden in den Ballungsräumen der DDR schließlich über 90% der Kleinkinder in Krippen betreut (vgl. Götze 2011, S. 99 ff.).
Im Gegensatz zur DDR wurde in der Bundesrepublik Deutschland lange am traditionellen Frauen- und Muttermodell festgehalten - jede Fremdbetreuung wurde als eine das Kindeswohl gefährdende Notlösung gewertet (vgl. Nentwig-Gesemann 2009, S. 28). Anfang des 21. Jahrhunderts traf dann die Politik angesichts des anhaltenden Geburtenrückganges und des zunehmenden Fachkräftemangels gesetzliche Maßnahmen für eine Förderung der Krippenbetreuung. Seit 2013 besteht ein Rechtsanspruch auf Bereitstellung eines Platzes in einer KiTa oder bei einer Tagesmutter für Krippenkinder ab 12 Monaten. Auch für Kinder, die das erste Lebensjahr noch nicht vollendet haben, sieht das „Kinderförderungsgesetz“ (in §24) die Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege vor, beispielsweise für Kinder erwerbstätiger Eltern (vgl. KiföG 2008, S. 2403).
Am 1.3.2017 lag die Fremdbetreuungsquote von U3-Kindern im früheren Bundesgebiet bei 28,8%, in den neuen Ländern (einschl. Berlin) dagegen bei 51,3% (vgl. Statistisches Bundesamt 2017a, o.S.). Die gemittelte Quote stieg in 2016 um 3,7% und in 2017 sogar um 5,7%, mit einem stärkeren Anstieg in neuen Bundesländern, der auf eine Angleichung hindeutet (vgl. Statistisches Bundesamt 2017b, S.1). Für U2-Kinder lag die Quote in der Statistik für 20131 für das frühere Bundesgebiet bei 23,1%, für die neuen Länder (einschl. Berlin) bei 61,5%. Säuglinge (U1-Kinder) wurden aber noch zum Großteil innerhalb der Familie betreut: in Ostdeutschland wurden davon lediglich 4,3% und in Westdeutschland nur 2,3% fremdbetreut (vgl. Statistisches Bundesamt 2013, o.S.).
Wichtig für die Stressbelastung von Kleinkindern ist auch die Dauer der regelmäßigen Fremdbetreuung. Im März 2012 verbrachten im Bundesdurchschnitt von den fremdbetreuten U3-Kindern 22% weniger als 25 Stunden pro Woche in KiTa oder Tagespflege, 27% verbrachten dort zwischen 25 und 36 Stunden, und für 51% waren es 36 Stunden und mehr (vgl. Statistisches Bundesamt 2012, S. 13). Leider wird die Zahl der Betreuungsstunden pro Woche nicht in Abhängigkeit vom Alter der Kinder aufgeschlüsselt!
Auch die Betreuungs struktur kann zusätzlichen Stress für U3-Kinder mit sich bringen, beispielsweise, wenn sie statt einer Krippengruppe eine Gruppenform besuchen, in der auch ältere Kinder betreut werden. Im Osten besuchte 2013 fast jedes fünfte U3-Kind eine Gruppe für Kinder unter vier Jahren - mit einem durchschnittlichen Personalschlüssel von 1:7,5. Weitere 8,8 Prozent besuchten eine altersübergreifende Gruppe mit einer Betreuungsrelation von 1:9,5. In den westdeutschen Bundesländern wurden gut 15% der U3-Kinder in altersübergreifenden Kita-Gruppen betreut, mit einem Personalschlüssel von 1: 5,8, und 18 % der Kinder wurden sogar in Kindergartengruppen betreut, mit einem noch ungünstigeren Personalschlüssel von 1:7,9. (vgl. Bock-Famulla, 2013, o.S.).
3.3 Stress durch frühkindliche Fremdbetreuung
Frühkindliche Fremdbetreuung in einer Kita bedeutet für das Kleinkind Trennung von der primären Bindungsperson und ist stets mit Stress verbunden. Aufgrund der Unreife des Gehirns ist dieser Stress besonders groß für Kinder unter einem Jahr und er kann einen großen Einfluss auf die sich entwickelnde Bindung an ihre Eltern haben. In einer amerikanischen Untersuchung des Bindungsverhaltens von 12 bis 13 Monate alten Kindern zeigte sich, dass das Risiko, eine unsichere Bindung zu entwickeln, deutlich mit der Anzahl der Stunden in Fremdbetreuung zunahm (vgl. Belsky u. Rovine, 1988. S. 157). Gleichaltrige Kinder mit über 60 Wochenstunden in Fremdbetreuung hatten sogar ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer desorganisierten Bindung (vgl. Hazen et.al. 2015, S. 649).
3.3.1 Das Stress-Toleranzfenster
Wenn der (Trennungs-) Stress das sog. „Stress-Toleranzfenster“ überschreitet, wird beim Kind das Bindungssystem aktiviert, und wenn es nicht durch eine Bindungsperson beruhigt werden kann, geht das System in die „Übererregung“: Das Schreien wird lauter, die Muskeln spannen sich weiter an, der Blutdruck steigt, der kleine Körper ist in höchster Kampf- oder Fluchtbereitschaft. Da die Möglichkeiten dazu aber für das Kleinkind nicht gegeben sind, leidet es Panik und Todesangst, wobei dieselben Hirnareale aktiviert werden wie bei körperlichem Schmerz (vgl. Panksepp 2003, S.237-239). Dann greift der Parasympathikus-Nerv (als Teil des vegetativen Nervensystems) ein, um das Kind vor dem Kollaps zu schützen. Es folgt die körperliche Untererregung: Die Herzfrequenz sinkt, die Haut wird bleich, die Muskeln erschlaffen und der Blick verliert seine Aufmerksamkeit.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Stress-Toleranz-Fenster und Gefühle
(Brisch 2012, S.12, modifiziert nach Besser 2008): Verlauf der Erregungskurve nach Aktivierung des Bindungssystems ohne (weiß) und mit Beruhigung durch eine Bindungsperson (grün-blau)
Der kleine Mensch wirkt wie abgeschaltet, oft folgt der Schlaf der Erschöpfung. Dieser Zustand stellt aber keine angemessene Form der Beruhigung dar, so dass das Kind bei längerer Vernachlässigung oder Überforderung wieder in die Übererregung geht bis zur wiederum folgenden Erschöpfung. Es verliert das Vertrauen in die eigene Kompetenz und die Fürsorge der Bindungsperson(en) und sein Stress-Toleranzfenster wird enger. Am Ende bewegt es sich in seinem Erlebnis- und Emotionsverhalten zwischen zwei Extremen hin und her (rechts in Abb. 1), weil es nicht lernen konnte, mit Gefühlen anders umzugehen und auftretende Affekte anders zu regulieren (vgl. Korrittko u. Pleyer 2016, S. 134).
3.3.2 „Artgerechte“ Betreuung bei Menschenaffen
Im Umgang mit Tieren gebietet der Tierschutz, Schmerzen (auch Trennungsschmerzen) möglichst durch eine artgerechte Haltung zu vermeiden. Im Hinblick auf die Gehirnentwicklung, die Mutter-Kind-Bindung und das Betreuungsverhalten gegenüber dem Nachwuchs können Vergleiche mit Menschenaffen hilfreich sein, weil deren Genom mit unserem zu 98,4% übereinstimmt (vgl. Cook 1997, o.S.). Affen-Säuglinge werden ständig getragen. Dies stimuliert den Gleichgewichtssinn und fördert die Gehirnentwicklung. Wirbelsäule und Hüfte werden angeregt und günstiger gehalten, und Bindungen an Betreuungspersonen der Sippe sind leichter herzustellen. Stammesgeschichtlich entstand das Tragen als eine Verbindung von Betreuung und Fortbewegung (vgl. Zöller 1999, S. 232).
Nach Studien an menschlichen Gemeinschaften in fünf Kontinenten erleben die meisten Kinder in den ersten beiden Lebensjahren folgendes mit Affen gemeinsam: Sie wachsen in erweiterten Familien mit mehreren Bezugspersonen auf, werden (Tag und Nacht) nach Bedarf gestillt, sind ständig in Körperkontakt mit einer erwachsenen Betreuungsperson (wegen des Stillens meist mit der Mutter) und nehmen an allen Aktivitäten der Erwachsenen teil (vgl. Werner 1972, S. 132). Diese Betreuungsformen haben uns als Gattung erfolgreich gemacht, und jede abweichende Form muss sich daran messen lassen.
3.3.3 Vorgänge im Gehirn bei Stress durch Trennungserfahrungen.
Schmerzliche Erfahrungen werden im Mandelkern als dem dafür zuständigen Langzeitgedächtnis gespeichert, damit die auslösenden Reize und so die schmerzhaften Erfahrungen in Zukunft vermieden werden können. Zusammen mit den emotional gefärbten Erinnerungen speichert der Mandelkern Assoziationen zwischen Angst bzw. Schmerz und den Objekten, Personen oder Situationen, in deren Kontext diese emotionalen Zustände auftreten. So können schmerzliche Erlebnisse in der frühen Kindheit, zu denen auch das Fehlen annehmender, einfühlender und konstanter Zuwendung in den ersten Lebensjahren gehört, ein Leben lang – auch unbewusst – nachwirken. Nachhaltig beeinträchtigt werden können vor allem diejenigen Strukturen im Gehirn, die den Stress regulieren, indem sie die Aktivität des Mandelkerns hemmen und dadurch unkontrollierte emotionale Ausbrüche verhindern. Störungen dieser Regulationsprozesse äußern sich im Erwachsenenalter durch eine herabgesetzte Stressschwelle, eingeschränkte Affektkontrolle und unzureichende Bewältigungsstrategien (vgl. Klatte 2007, S. 134-135).
3.4 Langfristige Auswirkungen von frühkindlichem Stress
Bei den langfristigen Auswirkungen der Vorgänge bei frühkindlichem Stress kann man unterscheiden zwischen organischen und psychosomatischen Auswirkungen.
3.4.1 Organische Auswirkungen im Gehirn betroffener Kinder
Eindeutig nachweisbare Veränderungen wurden an Tieren gefunden. Junge Strauchratten wurden in regelmäßigen Abständen von ihren Elterntieren getrennt und dem Stress des Alleinseins ausgesetzt. Im Erwachsenenalter zeigten die Tiere Störungen im Sozialverhalten, gesteigertes Angstverhalten, Nervosität im Verhalten sowie Orientierungslosigkeit in der Auskundschaftung ihrer Umwelt. Das machte sie gesunden Artgenossen gegenüber schwächer und anfälliger für Angriffe durch Fressfeinde (vgl. Braun u. Bock 2003, S. 51). Im Gehirn dieser Tiere fanden die Forscher Vernetzungsstörungen in der Hirnrinde und Volumenverkleinerungen in Mandelkern (Angst- und Stressverarbeitung) und Hippocampus (Erinnerung und Gedächtnis, siehe Abschnitt 3.2.1) (vgl. Posth 2012, S. 8-9).
Solche Veränderungen beeinflussen auch die Genaktivität und können so über sog. epigenetische Mechanismen an die Nachkommen weitergegeben werden (vgl. Meaney 2005, S. 110). In einer Studie an Mäusen wurde das von chronischer, unvorhersehbarer Trennung von der Mutter verursachte depressive Verhalten von den erwachsen gewordenen Mäusen auf die folgende Generation übertragen (vgl. Franklin et.al. 2010, S. 408).
Auch bei Kleinkindern beeinflusst übermäßiger Stress die Architektur des sich entwickelnden Gehirns. Bei der Speicherung von Stresserfahrungen kann der Mandelkern die Entwicklung anderer Strukturen im Gehirn beeinträchtigen, die normalerweise seine Aktivität hemmen helfen. Bei erwachsenen Opfern von Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit zeigten sich im Vergleich mit Kontrollprobanden tatsächlich strukturelle Veränderungen mit Volumenverminderungen u.a. in Mandelkern und Hippocampus (vgl. Teicher 2000, S. 50). Bei missbrauchten Kindern war die Verkleinerung des Hippocampus durch traumatischen Stress in der MRT-Bildgebung vergleichbar mit der von US-amerikanischen Vietnam-Veteranen, die an einer post-traumatischen Belastungsstörung erkrankt waren. Diese zeigten auch Defizite im verbalen Gedächtnis (vgl. Bremner 1999, S. 797). Möglicherweise erkrankten diese Veteranen deshalb im Krieg, weil ihre Fähigkeit zur Stressbewältigung aufgrund von Kindheitserfahrungen bereits geschwächt war.
[...]
1 Jüngere Zahlen mit einer Aufschlüsselung der Altersgruppen innerhalb der U3-Kategorie konnten nicht gefunden werden. Deshalb werden auch im Folgenden Zahlen aus 2012 oder 2013 zitiert.
- Citation du texte
- Mareike Kuhn (Auteur), 2019, Körperkontakt für Bindungsaufbau und Stressreduzierung in der Kita. Wie Berührungen die Eingewöhnung erleichtern und Stress verringern können, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/465497
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