In diesem Essay wird die Migration verfassungsrechtlicher Konzepte analysiert. Die Migrationstheorie des Verfassungsrechts löste weltweit definite Diskussionen in gelehrten Kreisen. Die Frage nach der Anwendung ausländischen Rechts für die Gerichtsentscheidungen des Supreme Courts wurde zum Streitpunkt im Rahmen des rechtlichen Diskurses in den USA. Dabei handelt es sich um Konzepte des Verfassungstransfers bzw. der Migration des Verfassungsrechts mit ihren Risiken und Begleiterscheinungen für die jeweiligen Rechtssysteme.
Ein Positivbeispiel der Migration der verfassungsrechtlichen Konzepte stellt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dar, welcher sich in globaler Perspektive zu einer bedeutenden gemeinsamen Referenzgröße für zahlreiche sehr unterschiedliche Rechtssysteme entwickelt.
1. Einführung
Die Migrationstheorie des Verfassungsrechts löste weltweit definite Diskussionen in gelehrten Kreisen. Die Frage nach der Anwendung ausländischen Rechts für die Gerichtsentscheidungen des Supreme Courts wurde zum Streitpunkt im Rahmen des rechtlichen Diskurses in den USA.1 Dabei handelt es sich um Konzepte des Verfassungstransfers bzw. der Migration des Verfassungsrechts mit ihren Risiken und Begleiterscheinungen für die jeweiligen Rechtssysteme.2 Ein Positivbeispiel der Migration der verfassungsrechtlichen Konzepte stellt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dar, welcher sich in globaler Perspektive zu einer bedeutenden gemeinsamen Referenzgröße für zahlreiche sehr unterschiedliche Rechtssysteme entwickelt.3
2. Waldrons Ius-Gentium -Konzept
Ob es angemessen war, dass der U.S. Supreme Court in seinen Entscheidungen ausländisches Recht zitiert hat, beschäftigte Jeremy Waldron. Zu den Ausgangsfragen seiner Analyse gehört, ob man die Anwendung ausländischen Rechts auf demokratische Regime beschränken sollte oder ob auch Diktaturen miteinbezogen werden bzw. wie dieses Vorgehen mit dem Gerichtsstatus einer unabhängigen rechtlichen Institution vereinbar wäre. Die Gefahr der Anwendung von ausländischen Rechtsgrundlagen liegt darin, dass unzufriedene Kläger Gerichtsentscheidungen mit Hilfe ausländischen Rechts oder anderer Grundlagen anfechten können. Andererseits mehren sich die Fälle, welche ein globales Ausmaß annehmen, weil sich das nationale Recht für ihre Lösung als unzureichend erweist. Als Beispiel dafür führt Waldron die Entführung eines mexikanischen Physikers durch die us-amerikanische Drogenvollzugsbehörde (DEA) an. Dieser Präzedenzfall gehört in den Bereich des transnationalen Rechts. Aus diesem Grund legt der Autor den Akzent seiner Arbeit auf das Recht der Nationen (engl. „law of nations“). Diesen Begriff setzt Waldron als Synonym für internationales Recht ein. Den beiden aber zieht er den lateinischen Terminus ius gentium vor, welcher seiner Meinung nach für die Repräsentation verschiedener inländischer Rechtssysteme in Form gemeinsamer Antworten auf gemeinsame Probleme besonders geeignet ist. In der Justizgeschichte hat ius gentium das Zusammenkommen zwei antiker Ideen repräsentiert – einerseits das Naturrecht und andererseits die Rechtsinteressen der Fremden, die vom Bürgerrecht (lat. ius civile) des antiken Roms keinen Gebrauch machen konnten. Ius gentium ist damals zum gemeinsamen Recht der römischen und nicht-römischen Nationen des italienischen Nachbarraums geworden. Waldron nimmt eine klare Abgrenzung des änderbaren ius gentium zum unveränderlichen Naturrecht vor. Dagegen liegt der Unterschied zum ius civile darin, dass sich ius gentium auf die Menschheit im Ganzen und auf die Gleichheit der Nationen bezieht, ius civile dagegen auf einen einzelnen Staat. Dabei überlappen sich ius gentium und das internationale Recht (lat. ius inter gentes). Laut Waldron ist ius gentium sowohl als Inspiration für inländisches Recht als auch als leitende Idee des transnationalen Rechts zu sehen. In diesem Kontext bietet das Konzept des ius gentiums akkumuliertes Wissen in Bereichen des Rechts und der Justiz aus der ganzen Welt. In diesem Zusammenhang plädiert Waldron für die Anwendung ausländischen Rechts bei den Gerichtsentscheidungen des U.S. Supreme Courts, indem das internationale Recht die Entscheidungen anderer Staaten zur gleichen Problematik einbezieht. So werden richtungsweisende Elemente des ius gentium in transnationalen Kontexten behilflich. Die Notwendigkeit eines normativen Einblicks in das positivistische Recht anderer Länder mit grenzübergreifenden Lösungsstrategien erläutert er am Beispiel einer Epidemie. Nach ihm stellt das Konzept des ius gentium keine stückhafte Praktik dar und ist mehr als die Summe seiner Teile. Im Gegenteil geht es dabei um ein dichtes Netzwerk von Überprüfungen der Ergebnisse, um experimentelle Verdopplungen, Bewertungen und gegenseitige Ausarbeitungen. Der Etappenablauf der verfassungsrechtlichen Migration wird im Weiteren anhand der IKEA-Theorie Günter Frankenbergs erläutert. Schlussfolgernd erweist das ius gentium einen gegenseitig ausgewerteten Konsens und hat nach Waldron Relevanz für das inländische Recht.
3. Frankenbergs IKEA-Theorie
Frankenbergs Konzept rechtlichen Transfers wird anhand der Rekonstruktion von konstitutionellen Ideen, Normen und Institutionen erklärt, die aus den lokalen Kontexten ins Globale und von daher in die Nachbarschaft gelangen (IKEA-Theorie). Am Anfang erwähnt Frankenberg rechtswissenschaftliche Debatten zur Migrationsthese zwischen Watson und seinem Kritiker Legrand. Die Schwierigkeiten der Übertragung von verfassungsrechtlichen Objekten verdeutlicht Frankenberg, indem er auf die einzelnen Etappen der Rechtsmigration eingeht. Die erste Etappe der Migrationstheorie nach Edward Said stellt den Ursprung der Objekte mit dem sogenannten „set of initial circumtances“4 dar. Auf der zweiten Etappe werden diese rekontextualisiert, d. h. aus den Umständen ihrer Produktion isoliert und auf die Übertragung vorbereitet. Sie werden „eingefroren“ und „abgepackt“ für die zeitliche und räumliche Kontextüberschreitung bzw. Migration. Frankenberg nennt Verdinglichung, Formalisierung und Idealisierung als notwendige Bedingungen für einen Übergang der verfassungsrechtlichen Objekte zur globalen Sphäre und für ihre weitere Anwendung im weltoffenen Konstitutionalismus. Bei der dritten Etappe gelangen die transferierten Objekte wie Rechtskataloge, Regierungsstrukturen, Institutionen zum Schutz der Verfassung, Konzepte der Machtbündelung usw. zum globalen Reservoir. Die letzte Etappe meint Rekontextualisierung, d. h. „Entfrieren“, „Aufpacken“, „Modifikation“, „Interpretation“, „Neuentwerfen“ und „Basteln“ („Bricolage“). Die „abgepackten“ Konzepte werden im Rahmen des neuen rechtlichen und kulturellen Umfelds an die unbekannte Umgebung angepasst. Frankenberg geht auf die Seiteneffekte der Offenen-Ende-Phase der Rekontextualisierung ein, wie etwa das Risiko von Fehlverbindungen (engl. „missing links“) oder die Immunreaktion der Gastgeberkultur auf einen nicht-eingelebten verfassungsrechtlichen Import. Schlechte Anpassungsformen verursachen komplizierte und langwierige Adaptionen in der neuen Verfassungskultur und können sich negativ auf politische Machtkonstellationen oder das konstitutionelle System auswirken. Die einfache Montage aus den übertragenen rechtlichen Objekten führt meistens nicht zu den erwünschten Ergebnissen, deswegen werden Improvisation und „Bricolage“ benötigt. Bei der Migration verfassungsrechtlicher Konzepte handelt es sich nicht um eine Kopie des Originals, sondern es entsteht eine Mischform aus verschiedenen nachgeahmten Elementen. Schlussfolgernd behauptet Frankenberg, dass Verfassungen Produkte transnationalen Transfers sind und dass globaler Konstitutionalismus Lösungen vieler gemeinsamer rechtlicher Probleme auf nationaler und transnationaler Ebene bietet.
4. Der globale Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach Saurer
Als ein exemplarisches Beispiel der Migration der verfassungsrechtlichen Konzepte wird von Saurer der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gesehen. Ausgehend vom deutschen Verfassungsrecht fand er seinen Weg zunächst in die Rechtsordnungen der heutigen Europäischen Union, der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie zahlreicher Mitgliedsstaaten.5 Anhand von vier Verfassungsordnungen des außereuropäischen Auslands wie Kanada, Südafrika, Israel und den USA untersucht Saurer die globale Migration der Verhältnismäßigkeit. Dabei handelt es sich um Oakens-Rechtsprechung des Supreme Courts in Kanada als Initialzündung für die Verbreitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in zahlreichen englischsprachigen Ländern. Im Fall von Südafrika geht es um die Makwanyane-Entscheidung als Zweck-Mittel-Relationierung der Todesstrafe wegen Mords. Die nachfolgenden Fälle in Südafrika weisen auf die Entwicklung der Verhältnismäßigkeit zum integralen Ausgleichsmechanismus zwischen privaten und öffentlichen Interessen hin. Bei Israel handelt es sich um Fälle Miller und Lior Horev des Obersten Gerichtshofes des Landes, indem die israelische Rechtsprechung den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz konsistenter und rigoroser anwendet als irgendein Rechtsprechungsorgan auf der Welt. Der Fall der USA zeigt keine affirmative Adoption des Verhältnismäßigkeitsdenkens, sondern dessen mehrheitliche Ablehnung durch den U.S. Supreme Court. Somit zeigt sich das transferierte verfassungsrechtliche Konzept der Verhältnismäßigkeit auf der Etappe der Rekontextualisierung nach Frankenberg in den USA als nicht angepasst. An diesen Beispielen wird deutlich, wie das deutsche und das europäische Verhältnismäßigkeitsschema im globalen Maßstab vielfach variiert und demnach in anderen Verfassungskulturen angepasst oder abgelehnt werden. Auch im WTO-Recht ist der Verfassungsmäßigkeitsgrundsatz zu finden. Allgemein etabliert er sich als transnational-differenziertes Rechtsprinzip und beweist dabei eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit über die Grenzen der Kontinente und Rechtskreise hinweg.
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1 Waldron, Jeremy: Foreign Law and the Modern Ius Gentium, Harvard Law Review 119 (2005), 129-147.
2 Frankenberg, Günter: Constitutional Transfer: The IKEA Theory revisted, International Journal of Constitutional Law 8 (2010), S. 563-579.
3 Saurer, Johannes: Die Globalisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, Der Staat 51/1 (2012), S. 33.
4 Frankenberg, S. 570.
5 Saurer, S. 8.
- Arbeit zitieren
- Vita Zeyliger-Cherednychenko (Autor:in), 2015, Migration verfassungsrechtlicher Konzepte. Was sind Vor- und Nachteile?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/464262
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