Jurek Beckererlebte seine frühestete Kindheit im Getto von Lodz in Polen und sechs Jahre (1939-1945) in den KZs Ravensbrück und Sachsenhausen. Vor der Deportation hatte ihn sein Vater, vergeblich, "älter gemacht", um ihn vor dem Transport zu bewahren. Über die Jahre wurde sein wirklicher Geburtstag vergessen, so dass man in einer willkürlichen Übereinkunft sein Geburtsdatum auf den 30.09.1937 festgelegte. Erst 1945, als er mit seinem Vater nach Prenzlau/Berlin zieht, erlernt Jakob die deutsche Sprache: Um als deutsche Juden anerkannt zu werden, änderte er seinen Namen in Max und den seines Sohnes in Georg, sprach nur noch Deutsch mit ihm und zwang ihn so, sich an die neue Heimat anzupassen. Der kleine Jurek vergisst das Polnische bereits, ehe er des Deutschen mächtig ist.
Auf dieses Gefühl der Sprachlosigkeit führt Becker später sein Unvermögen zurück, sich an die Zeit in den Lagern zu erinnern. Diesen Zustand des Ausgegrenztseins und doch Teilhaben-Wollens fand er im Laufe seines Lebens immer unerträglicher, so klagte er: “Ohne Erinnerungen an die Kindheit zu sein, das ist, als wärst du verurteilt, ständig eine Kiste mit dir herumzuschleppen, deren Inhalt du nicht kennst. Und je älter du wirst, um so schwerer kommt sie dir vor, um so ungeduldiger wirst du, das Ding endlich zu öffnen.”1Diese Ungewissheit der Vergangenheit beschäftigte Becker Zeit seines Lebens. So bezeichnet er in einem Gespräch mit Heinz-Ludwig Arnold und auch in einigen Schriften das Getto von Lodz als die für ihn "unsichtbare Stadt". Ohne eigene Erinnerung also, erforschte er die Geschichte seiner Vergangenheit und bemühte sich, eigene Gedächtnislücken durch authentische Berichte und Dokumente zu füllen.
Den Anstoß zum Entstehen von Jakobs Geschichte gab Beckers Vater: Er erzählte Jurek von einem Mann, der damals wirklich ein Radio im Getto versteckt hielt, jedoch nicht sehr heldenhaft, durch den Schuss eines SS-Beamten, endete. Zuerst als Drehbuch geschrieben, doch in der sozialistischen DDR nicht als "volkstauglich" erachtet, blieb die Erzählung vom Juden Jakob Jahre ungenutzt. Belletristik wurde nicht als gefährlich erachtet, als Film konnte die Geschichte jedoch nicht an die breiten Massen weitergegeben werden. Aus Verärgerung über die Ablehnung aus obersten Reihen schrieb Becker sie in einen Roman um, der mit dem Titel "Jakob der Lügner" weltberühmt wurde.
Gliederung
1) Einleitung: Die “unsichtbare Stadt”
2) Figuren im Roman
2.1. Das Radio spaltet die Juden
2.1.1. Radiofreunde
2.1.2. Radiogegner
2.2. Die dunkle Bedrohung durch die Deutschen
3) Komposition der Räume im Roman
3.1. Der ambivalente Großraum "Ghetto"
3.2. Die Wandlung der Räume im Roman (an ausgewählten Beispielen)
3.2.1. Realer Raum: Mischas Zimmer
3.2.2. Illusionärer Raum: Linas Rezeption des Märchens von der Wolke
3.2.3. Ideeller Raum: Jakobs Lügen im Spiegel der Wirklichkeit
3.3. Die binäre Struktur des Raumes in den beiden Endversionen
4) Die Stilistik der Sprache im Roman
4.1. Unfreiwilliges Erzählen im Stile der jüdischen Erzähltradition?
4.2. "Tauben Ohren predigen"- von der Not des Erzählers
5) Schluss: Widerstehen statt Widerstand
6) Quellenverzeichnis
6.1. Primärliteratur
6.2. Sekundärliteratur
1) Einleitung: Die “unsichtbare Stadt”
Jurek Becker erlebte seine frühestete Kindheit im Getto von Lodz in Polen und sechs Jahre (1939-1945) in den KZs Ravensbrück und Sachsenhausen. Vor der Deportation hatte ihn sein Vater, vergeblich, "älter gemacht", um ihn vor dem Transport zu bewahren. Über die Jahre wurde sein wirklicher Geburtstag vergessen, so dass man in einer willkürlichen Übereinkunft sein Geburtsdatum auf den 30.09.1937 festgelegte. Erst 1945, als er mit seinem Vater nach Prenzlau/Berlin zieht, erlernt Jakob die deutsche Sprache: Um als deutsche Juden anerkannt zu werden, änderte er seinen Namen in Max und den seines Sohnes in Georg, sprach nur noch Deutsch mit ihm und zwang ihn so, sich an die neue Heimat anzupassen. Der kleine Jurek vergisst das Polnische bereits, ehe er des Deutschen mächtig ist.
Auf dieses Gefühl der Sprachlosigkeit führt Becker später sein Unvermögen zurück, sich an die Zeit in den Lagern zu erinnern. Diesen Zustand des Ausgegrenztseins und doch Teilhaben-Wollens fand er im Laufe seines Lebens immer unerträglicher, so klagte er: “Ohne Erinnerungen an die Kindheit zu sein, das ist, als wärst du verurteilt, ständig eine Kiste mit dir herumzuschleppen, deren Inhalt du nicht kennst. Und je älter du wirst, um so schwerer kommt sie dir vor, um so ungeduldiger wirst du, das Ding endlich zu öffnen.”[1] Diese Ungewissheit der Vergangenheit beschäftigte Becker Zeit seines Lebens. So bezeichnet er in einem Gespräch mit Heinz-Ludwig Arnold und auch in einigen Schriften das Getto von Lodz als die für ihn "unsichtbare Stadt"[2]. Ohne eigene Erinnerung also, erforschte er die Geschichte seiner Vergangenheit und bemühte sich, eigene Gedächtnislücken durch authentische Berichte und Dokumente zu füllen.
Den Anstoß zum Entstehen von Jakobs Geschichte gab Beckers Vater: Er erzählte Jurek von einem Mann, der damals wirklich ein Radio im Getto versteckt hielt, jedoch nicht sehr heldenhaft, durch den Schuss eines SS-Beamten, endete. Zuerst als Drehbuch geschrieben, doch in der sozialistischen DDR nicht als "volkstauglich" erachtet, blieb die Erzählung vom Juden Jakob Jahre ungenutzt. Belletristik wurde nicht als gefährlich erachtet, als Film konnte die Geschichte jedoch nicht an die breiten Massen weitergegeben werden. Aus Verärgerung über die Ablehnung aus obersten Reihen schrieb Becker sie in einen Roman um, der mit dem Titel "Jakob der Lügner" weltberühmt wurde.
Becker wurde dafür 1971 mit dem Heinrich-Mann-Preis und dem Schweizer Charles-Veillon-Preis ausgezeichnet. Er erhielt 1974 den Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen und 1975 den Nationalpreis der DDR. Im folgenden Jahr, in dem auch der Roman Der Boxer erscheint, wurde er, wegen des Protestes gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, aus der SED ausgeschlossen. Im Frühjahr 1977 trat er aus Protest gegen die parteiliche Haltung aus dem Schriftstellerveband der DDR aus. Um ihn nicht ganz zu verlieren, ließen die Behörden der DDR Becker in Westdeutschland, vornehmlich West-Berlin, leben; 1978 hielt sich Becker sogar längere Zeit in den USA auf. Als Schriftsteller und Drehbuchautor erhielt Becker im Laufe seiner Schaffenszeit noch viele weitere Preise für Erzählungen, Romane, Filmdrehbücher, Kabaretttexte, Fernsehspiele und -serien: 1987 den Adolf-Grimme-Preis in Gold (für seine Drehbücher zu der, ebenfalls sehr bekannten, Fernsehserie Liebling Kreuzberg) und 1988 denselben in Silber. 1990 erhielt er zudem den Bayrischen Fernsehpreis und den Hans-Fallada-Preis, 1991 empfing er den Bundesfilmpreis- Filmband in Gold. Er war Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Damstadt und der Akademie der Künste in Berlin. Verehrt und bewundert stab er schließlich 1997 in Deutschland.
Der Roman “Jakob der Lügner” wird häufig als Teil einer Trilogie, bestehend aus den drei Romanen Jakob der Lügner, Der Boxer und Bronsteins Kinder (1986), verstanden, die sich mit der Rezeption der Erlebnisse während der Shoah auseinandersetzt. Becker erinnerte jedoch an seinen Mangel an eigenen Erinnerungen und sagte 1990 dazu, er “habe über Gettos geschrieben, als wäre ich ein Fachmann. Vielleicht habe ich gedacht, wenn ich nur lange genug schreibe, werden die Erinnerungen schon kommen. vielleicht habe ich auch irgendwann angefangen, manche meiner Erfindungen für Erinnerungen zu halten.”[3] Der Kontrast von Erfinden und Erinnern wird besonders im Roman vom Juden Jakob deutlich, wo Erfindung die Erinnerung bestimmt und doch keinen Einfluss auf die Realität hat.
2) Figuren im Roman
Auch die einzelnen Charaktere, die im Roman mithilfe des Ich-Erzählers dargestellt werden, lassen sich in einzelne Gruppen einteilen. Räumlich vorstellbar wäre dies mit zwei Kammern, die durch eine Metallwand- das Radio, das das Getto spaltet- getrennt sind, und von einem dunklen Hof umringt werden. So ergeben sich zwei große Bereiche unter den Figuren, die mithilfe einzelner Charaktere veranschaulicht werden. Auf diese Weise bewerkstelligt es Becker, ein detailreiches, unterhaltsames und doch authentisch scheinendes Bild eines Gettos zu zeichnen, in dem niemand an Widerstand oder Heldentum glaubt. In Jakobs Getto herrscht der Glaube an schlichtes Überleben und Durchhalten vor. Es geht nicht darum, Widerstand gegen den Terror durch die Deutschen zu leisten, sondern darum, dem Drang, sich aufzugeben, und der Verzweiflung zu widerstehen.
2.1. Das Radio spaltet die Juden
2.1.1. Radiofreunde
Die Freunde des Radios zeichnen sich vor allem durch Neugierde aus. Sie leben von den Nachrichten, die ihnen Jakob bringt und machen sich auch für die Erhaltung ihrer Hoffnungsquelle stark, was sich gut an den Tagen des Stromausfalls erkennen lässt. Jakob Heym entwickelt sich also zum “Monopolisten der Hoffnung”. Er ist jedoch kein Held, der aufsteht und seine Leidensgenossen befreit; er ist ein alltäglicher Held: früher Eisverkäufer und Kartoffelpufferbäcker, zeitweilig sehr verliebt in Josefa und vermutlich nicht nur ältester, sondern auch bester Freund des Friseurs Kowalski. Seine einzige, im herkömmlichen Sinne, heldenhafte Handlung war die Rettung Linas vor der Deportation. Doch sowohl diese “greifbar heldenhafte” Tat, als auch seine Lügen können auf lange Sicht nichts bewirken und gipfeln in der endgültigen Deportation der Gettobewohner. Jakobs Handlungsspielräume bleiben durchweg stark begrenzt, daher bleibt ihm keine andere Möglichkeit, als den Menschen durch Hoffnung zu helfen. Zur Verteidigung seiner Lügen, und wohl auch ein wenig zur Rechtfertigung vor sich selbst,bringt er immer wieder die auf Null gesunkene Zahl der Selbstmorde an[4]. Dennoch hat auch er keinen Einfluss auf den Lauf der Dinge und kann somit nur “durch die Zeit retten”, nicht befreien.
Dieses “Hoffnung-geben” und “durch-die-Zeit-retten” lässt sich am Besten an dem Friseur Kowalski verdeutlichen, der fleischgewordenen Neugier. Kowalski erweist sich mehrfach als enger Freund Jakobs, nicht nur auf Grund ihrer vierzigjährigen Freundschaft, sondern auch in Rat und Tat. Dies wird deutlich, als Jakob im Klohäuschen der Deutschen gefangen ist und Kowalski sich zusammenschlagen lässt, um ihn zu retten. So stark und standhaft er Jakob auch scheinen mag, lebt Kowalski dennoch von der Hoffnung, die der Radiobesitzer Jakob ihm gewährt. Erschreckend und überwältigend deutlich wird dies Jakob, als er Kowalskis Leiche gegenübersteht. Dieser hatte Jakobs Geständnis, kein Radio zu besitzen, nie eins besessen zu haben, nicht verkraftet und sich das Leben genommen. In Jakobs Überlegungen zeigt sich, dass Kowalski ein Sympathieträger, “misstrauisch, verschroben, ungeschickt, geschwätzig, obergescheit, wenn man alles zusammenrechnet, im nachhinein, plötzlich liebenswert”[5], ist, der die Hoffnung in der Gegenwart unbedingt braucht, um nicht das Vertrauen in die Zukunft zu verlieren.
Ein weiteres Beispiel für eine solche Abhängigkeit ist Lina, die nicht nur physisch auf Jakob angewiesen ist, sondern auch psychisch, da sie kaum etwas von der realen Welt kennt. Jedoch besitzt die Figur Lina eine Eigenschaft, die Kowalski fehlt: Sie glaubt an Jakobs Sache, sie versteht, was ihn dazu treibt und was er bewirken kann und muss. Dies zeigt sich deutlich, als Lina Jakob vor Rosa verteidigte, obgleich sie bereits wusste, dass Jakob kein Radio besaß. In der Episode, in der sie den beiden Jungen das Märchen von der kranken Prinzessin erzählt, zeigt sich an ihrer Verwirrung der Geschichte, wie aus Wunschbildern Trugbilder werden. Am Ende des Romans, während des Abtransports im Zug, wird Linas Missverständnis aufgeklärt. Im Kontrast zum Märchen, und zur Vorstellungswelt Linas, vermag ein starker Glauben in der Wirklichkeit nichts gegen Terror und Tod auszurichten.
Als weiteres Beispiel für diesen irreführenden Glauben kann man Mischa und Rosa anbringen, die mit ihrer Liebe im Getto ein unübersehbares Mahnmal an die Freiheit und die Menschlichkeit darstellen. Dennoch vermag auch dieser Glaube an die Liebe nicht, den Schein der Normalität im Angesicht der Grausamkeit des Gettolebens und -sterbens zu bewahren; der Hauch ihres Glückes verfliegt, als Rosas Eltern deportiert werden. In dieser Szene zeigt sich deutlich eine immer stärker hervortretende negative Konsequenz der Radiomeldungen: Der Grat zwischen einem optimistischen Lebensgefühl und einer weltfremden Selbsttäuschung ist so schmal, dass immer die Gefahr besteht, die Realität aus dem Auge zu verlieren. Das Gefühl der Sicherheit kann über Gefahr hinweg- täuschen, sie aber nicht abwenden. So geben ihnen die Meldungen Jakobs ein sicheres Gefühl und damit die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft; sie täuschen sie jedoch auch, oder gerade deshalb, über die unbedingte Bedrohung der Gegenwart hinweg.
[...]
[1] Das Ghetto in Lódz...: Jurek Becker:Die unsichtbare Stadt, S.10
[2] Ebd.
[3] Das Getto in Lódz...: Jurek Becker:Die unsichtbare Stadt, S.11
[4] Suhrkamp, S.195
[5] Suhrkamp, S.256
- Citar trabajo
- Anja Nickel (Autor), 2005, Mit dem Erzählen festhalten, was Erinnerung nicht bewahrt hat. Die Dimensionen des Raumes im Roman Jakob der Lügner von Jurek Becker, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46197
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