Diese Arbeit beschäftigt sich mit Armut und den verschiedenen Ursachen und Wirkungen von Armut auf Erwachsene und deren Kinder.
Die Arbeit bietet zunächst einen Überblick über die verschiedenen Definitionen von Armut, um daraufhin eine Grundlage für den weiteren Verlauf der Arbeit zu schaffen. Dies wird durch eine Festlegung auf eine Definition von Armut erfolgen. Darüber hinaus wird die Armutsentwicklung in den letzten Jahrzehnten in Deutschland veranschaulicht. Danach wird die theoretische Grundlage von Bourdieu geschaffen, indem seine Theorien zu den Kapitalformen und dem Habitus erläutert werden. Es folgt eine genaue Darstellung der Ursachen von prekären Lebenslagen. Dabei werden verschiedene Dimensionen dieser aufgezeigt und analysiert. Als nächstes rücken die Auswirkungen von prekären Lebenslagen in den Vordergrund, dabei wird zwischen Erwachsenen und Kindern unterschieden. Bei den Erwachsenen werden die Dimensionen Einkommensarmut, soziale Separation und die Situation zwischen Gesundheit und Krankheit beschrieben. Dies wird in Anlehnung an Bourdieu erfolgen. Bei der Analyse der verschiedenen Dimensionen bei den Kindern wird sich ebenfalls auf Bourdieu berufen. Die Ebenen bei den Kindern sind: Eltern als Vorbild, wohnliche Segregation, Entwicklung sowie der Bildungstrichter und Nachhilfe. Als Lösungsmöglichkeiten dient das nächste Kapitel, da hier nach den Kapitalformen die möglichen Lösungen, die bereits bestehen, ausgearbeitet werden, die an die vorigen Kapitel anknüpfen. Zum Schluss wird ein Fazit gezogen.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
2. Armut
2.1 Erläuterung von Armut
2.2 Armutsentwicklung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten
3. Erklärungsansatz von Pierre Bourdieu
3.1 Kapitalarten
3.2 Habitus
4. Prekäre Lebenslagen als Ursache für Armut
4.1 Atypische Beschäftigung
4.2 Familiäre Umstände
4.3 Persönliche Umstände
5. Auswirkungen von prekären Lebenslagen nach dem Ansatz von
Pierre Bourdieu
5.1 Erwachsene
5.1.1 Einkommenssituation
5.1.2 Soziale Separation
5.1.3 Zwischen Gesundheit und Krankheit
5.2 Kinder/ Jugendliche als Betroffene von prekären Lebenslagen
5.2.1 Eltern als Vorbild
5.2.2 Wohnliche Segregation
5.2.3 Entwicklung bei Kindern/ Jugendlichen
5.2.4 Bildungstrichter und Nachhilfe
6. Lösungsmöglichkeiten nach Bourdieu
6.1 Ökonomisches Kapital
6.2 Kulturelles Kapital
6.3 Soziales Kapital
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis
9. Anhangsverzeichnis
10Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Die Armutsrisikoquote in Deutschland seit der Wiedervereinigung nach SOEP
Abb. 2 Atypische Beschäftigung
Abb. 3 Armutsgefährdungsquote in Deutschland nach Haushaltstyp im Jahr 2016
Abb. 4 Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern
Abb. 5 Anteil und Zahl der Familien nach Zahl der minderjährigen Kinder, 2011, in Prozent
Abb. 6 Armutsrisikoquote nach Familientyp, 2010, in Prozent
Abb. 7 Die Lebenssituation in den Haushaltstypen
Abb. 8 Anteil der Haushalte mit Miete höher als 40 Prozent des Haushaltsnettoeinkommen
Abb. 9 Bedingungsfaktoren des Gesundheitsstatus der Bevölkerung
Abb. 10 Empirische Befunde zum Zusammenhang von sozioökonomischen Status, Gesundheits-verhalten und Krankheit
Abb. 11 Der kurvilineare Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und Gesundheitsstatus
Abb. 12 Entwicklungsstörungen bei Vorschulkindern nach sozialem Status
Abb. 13 Bildungstrichter 2009: Schematische Darstellung sozialer Selektion – Bildungsbeteiligung von Kindern nach Bildungsstatus im Elternhaus in %
Abb. 14 Bildungsstand
Tabellenverzeichnis
Tab. 1 Die Armutsrisikoquote in Deutschland seit der Wiedervereinigung nach SOEP
Tab. 2 Armutsrisiko nach Altersgruppen
Tab. 3 Atypische Beschäftigung
Tab. 4 Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern
Tab. 5 Gesamtmindestflächenbedarf nach den `Kölner Empfehlungen´ nach Personenzahl bei vorgegebener Zahl der Individualräume
Tab. 6 Durchschnittliche Wohnfläche pro Person nach Haushaltstyp in Deutschland 2014
Tab. 7 Ernährungsverhalten von Kindern/ Jugendlichen nach sozialer Gleichheit
Tab. 8 Bildungsstand
1. Einleitung
Das Thema dieser Arbeit lautet „Generationsübergreifende Armut – eine Analyse der Situation in Deutschland“. Gewählt habe ich es, weil in den Medien immer wieder von Armut gesprochen wird. Um einen Eindruck zu gewinnen, werden einzelne Überschriften verschiedenster Presseartikel aufgeführt: Stuttgarter Zeitung: Armut in Deutschland „Hartz IV raubt Lebenschancen“ (Krohn 2018, o. S.), Zeit online: Wie arm ist Deutschland wirklich? (Rudzio 2017, o. S.), BR: Die soziale Kluft wird immer tiefer. Armut in Deutschland - was will die GroKo dagegen tun? (Oppelt 2018, o. S.), Huffpost: Warum es in Deutschland so schwer ist, der Armut zu entkommen (Singh 2018, o. S.). Dies zeigt wie präsent das Thema in Deutschland ist, obwohl in Deutschland im Moment die niedrigste Arbeitslosenquote (5,3 Prozent) seit der Wiedervereinigung vorhanden ist (vgl. Statistisches Bundesamt 2018a, o. S.). Dazu kommt der Widerspruch, dass die deutsche Wirtschaft sich im Aufschwung befindet (vgl. Bundesregierung 2018, o. S.). Daher kommt die Frage auf, wie kann es in einer hoch entwickelten Industrienation wie Deutschland, zu Armut kommen? Von Armut sind nämlich nicht nur Erwachsene betroffen, sondern auch Kinder1, die nichts für und gegen ihre Situation direkt tun können. Deswegen ist dieses Thema sehr brisant, weil jeder von Armut betroffen sein kann. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung nur ein gewisses Halbwissen über Armut, aber viele Vorurteile gegenüber Menschen, die von Armut betroffen oder gefährdet sind.
Diese Arbeit beschäftigt sich mit Armut und den verschiedenen Ursachen und Wirkungen von Armut auf Erwachsene2 und deren Kinder. Als Erklärungsansatz wird auf Pierre Bourdieu zurückgegriffen und seine Habitustheorie sowie seine Kapitalformen aufgegriffen. Darüber hinaus werden unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt. Hier sollen die verschiedenen Ebenen der Armut, deren Ursachen und wie diese ineinander verbunden sind, dargestellt werden. Daraus ergibt sich folgende Frage: Wird die Armut der Eltern vererbt an ihre Kinder und damit eine weitere Generation gebildet, die in Armut aufwächst und lebt? Neben dieser Hauptfrage ergeben sich noch mehrere Nebenfragen: Welche Auswirkungen haben prekäre Lebenslagen für Erwachsene und deren Kinder? Wie hat sich Armut in Deutschland entwickelt? Wie trägt Pierre Bourdieus Erklärungsansatz des Habitus und der Kapitalsorten zur Erklärung von Armut bei?
Dadurch, dass Bourdieu verschiedene Formen der sozialen Ungleichheit identifiziert hat, wird in dieser Arbeit nur auf die Kapitalformen und den Habitus eingegangen. Die Habitustheorie und die unterschiedlichen Kapitalformen werden ebenfalls auf die Werke „Die feinen Unterschiede“, „Die verborgenen Mechanismen der Macht“ sowie „Wie die Kultur zum Bauern kommt“ von Bourdieu reduziert. Des Weiteren wird sich auf keine andere Theorie der sozialen Ungleichheit, wie beispielsweise die von Marx, Dahrendorf, Hradil etc. bezogen, da es der begrenzte Rahmen der Bachelorarbeit nicht zulässt. Bei Armut wird sich nur auf die Armutslage und -entwicklung in Deutschland bezogen und kein internationaler Vergleich gezogen. Dies liegt daran, dass Armut in jedem Land andere Ursachen, Auswirkungen und Lösungsmöglichkeiten hat. Darüber hinaus ist der Sozialstaat in Deutschland mit seinen Strukturen einzigartig. Des Weiteren wird in dieser Arbeit nicht auf die Unterschiede zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und ohne eingegangen. Bei Armut wird sich auf die relative Armut berufen. Verdeckte Armut oder auch SGB II-Armut wird in dieser Arbeit keine Rolle spielen, demensprechend wird auch nicht explizit die Arbeitslosigkeit erwähnt.
Obwohl viel über Armut geforscht wird, ist das Thema immer noch aktuell, da immer wieder neue Zusammenhänge zu Armut untersucht werden, wenn bestimmte Maßnahmen von der Politik ergriffen werden. Aber nicht nur Maßnahmen aus der Politik werden untersucht, sondern auch der Umgang der Zivilgesellschaft mit Armut. Da Armut nicht isoliert gesehen werden kann, sondern im Kontext von Wirtschaft, Arbeitsmarkt und auch der Globalisierung gesehen werden muss, können immer wieder neue Zusammenhänge aber auch Ursachen identifiziert werden. Dadurch kommen auch wieder neue Auswirkungen zu Stande, die analysiert werden, damit dementsprechende Präventions- und Lösungsmöglichkeiten entwickelt werden können.
Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine auf Literatur basierte Arbeit. Dabei ist die Methode dieser wissenschaftlichen Arbeit das hermeneutische, also Quellen untersuchende Vorgehen. Es wurde sich deshalb hauptsächlich auf Bourdieu und Sekundärliteratur über ihn bezogen. Allgemein wurde sich auf Quellen aus der Armutsforschung, Gesundheitssoziologie, Schulpädagogik und allgemeinen Pädagogik, aber auch zum Teil aus der Soziologie, bezogen. Es werden auch unterschiedliche Statistiken vom Statistischen Bundesamt sowie den verschiedenen Bundesministerien als Datengrundlage genutzt.
Die Arbeit bietet zunächst einen Überblick über die verschiedenen Definitionen von Armut, um daraufhin eine Grundlage für den weiteren Verlauf der Arbeit zu schaffen. Dies wird durch eine Festlegung auf eine Definition von Armut erfolgen. Darüber hinaus wird die Armutsentwicklung in den letzten Jahrzehnten in Deutschland veranschaulicht. Danach wird die theoretische Grundlage von Bourdieu geschaffen, indem seine Theorien zu den Kapitalformen und dem Habitus erläutert werden. Es folgt eine genaue Darstellung der Ursachen von prekären Lebenslagen. Dabei werden verschiedene Dimensionen dieser aufgezeigt und analysiert. Als nächstes rücken die Auswirkungen von prekären Lebenslagen in den Vordergrund, dabei wird zwischen Erwachsenen und Kindern unterschieden. Bei den Erwachsenen werden die Dimensionen Einkommensarmut, soziale Separation und die Situation zwischen Gesundheit und Krankheit beschrieben. Dies wird in Anlehnung an Bourdieu erfolgen. Bei der Analyse der verschiedenen Dimensionen bei den Kindern wird sich ebenfalls auf Bourdieu berufen. Die Ebenen bei den Kindern sind: Eltern als Vorbild, wohnliche Segregation, Entwicklung sowie der Bildungstrichter und Nachhilfe. Als Lösungsmöglichkeiten dient das nächste Kapitel, da hier nach den Kapitalformen die möglichen Lösungen, die bereits bestehen, ausgearbeitet werden, die an die vorigen Kapitel anknüpfen. Zum Schluss wird ein Fazit gezogen.
2. Armut
In diesem Kapitel wird sich zunächst mit dem Begriff der Armut auseinandergesetzt und dieser definiert. Dass sich dies bereits als nicht sehr einfach erweist, wird deutlich, wenn sich der Blick auf die nachfolgenden Ausführungen zum Armutsbegriff richtet. Dabei gilt es vorab einschränkend zu sagen, dass Armut als ein soziales Problem ein erhebliches Ausmaß in seiner Bandbreite der Erscheinungsweisen, Ursachen, Effekte u.a. besitzt und in der Folge Gegenstand einer Vielzahl von (sozialwissenschaftlichen, politischen) Diskursen ist3. Dies in seiner umfassenden Ausführlichkeit auszuführen, ist hier nicht möglich und auch nicht Ziel des Kapitels. Vielmehr soll das Ziel darin bestehen, die Problematik der Erfassung von Armut zu veranschaulichen und sich am Ende auf eine Definition von Armut für den weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit festzulegen. In diesem Zusammenhang wird aufgezeigt, welche Rolle Armut in Deutschland spielt. Nach der Erläuterung wird auf die Armutsentwicklung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten eingegangen. Hierbei wird auch die Kinder- und Jugendarmut in der Bundesrepublik aufgezeigt. Um den Personenkreis von Kindern genauer einzuschränken wird sich auf § 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) bezogen. „Die Volljährigkeit tritt mit der Vollendung des 18. Lebensjahres ein“ (§ 2 BGB).
2.1 Erläuterung von Armut
Deutschland gehört zu den hochentwickeltesten Industrienationen und in diesem Kontext von Armut zu sprechen, kann Verwunderung auslösen. Dies liegt daran, dass Deutschland ein ausgeprägtes System der sozialen Sicherung hat, welches das Risiko von Armut nahezu aus der Gesellschaft verbannt hat. Allerdings gibt es auch in der Bundesrepublik Menschen, die von Armut bedroht oder betroffen sind. Um das Phänomen Armut in Deutschland besser zu verstehen wird der Begriff im Nachfolgenden genauer erläutert (vgl. Schniering 2012, 9). Richtet sich der Blick auf die vorliegende wissenschaftliche Literatur, wird deutlich, dass eine universale, allgemeingültige Definition von Armut nicht existiert, worauf auch Mielenz/ Wüstendörfer (2017, 122) verweisen.
„Zur Identifikation von Armut werden in der Regel Konzepte verwandt, die drei verschiedene Armutsvarianten berücksichtigen, nämlich absolute, relative und subjektiv empfundene Armut“ (Weimann 2006, 10). Unter absoluter oder auch extrem arm bezeichnet man ein „[…] die physische Existenz bedrohendes Niveau des Lebensstandards […]“ (Butterwegge 2010, 19). Damit ist gemeint, dass die Ausstattung mit lebensnotwendigen Gütern und Ressourcen sowie der Zugang zu diesen, nicht gewährleistet ist. Diese Situation findet man bei jenen Milliarden Menschen vor, die in der sog. Dritten Welt leben. Diese Menschen leben unter der offiziell proklamierten Armutsschwelle von weniger als 1 bzw. 1,25 US-Dollar Einkommen pro Kopf am Tag (vgl. Butterwegge 2010, 19).
Diese Form der Messung von Armut am physischen Existenzminimum ist in Deutschland sowie in den anderen Industriestaaten weitestgehend überwunden (vgl. Schniering 2012, 9). Im Gegensatz dazu wird relative Armut als eine extreme Ausprägung sozialökonomischer Ungleichheit verstanden. Hierbei wird der Lebensstandard von Armen in Bezug zum durchschnittlichen Lebensstandard einer Gesellschaft gesetzt (vgl. Butterwegge 2010, 20). „Als relativ arm gelten Personen oder Haushalte, die über so geringe materielle, kulturelle und soziale Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in der Bundesrepublik als unterste Grenze des Akzeptablen annehmbar ist“ (ebd.). Durch diese Definition von Armut fand eine Erweiterung des Armutsverständnisses statt indem der soziokulturelle Mindeststandard der jeweiligen Gesellschaft berücksichtigt wird (vgl. Butterwegge 2010, 20). Relative Armut wird unter anderem durch den Indikator des Nettoeinkommens nachgewiesen. Hierbei liegt das Nettoeinkommen unter der Hälfte des durchschnittlichen Haushaltsäquivalenzeinkommens. Diese Definition von relativer Armut hat sich im engeren Sinne durchgesetzt (vgl. Butterwegge 2010, 20). „Inzwischen sind es im Wesentlichen der Bezug zum SGB II – („Hartz IV“) […] sowie ein Einkommen, das weniger als 60 Prozent des Medianäquivalenzeinkommens beträgt und damit auch Menschen in der sog. Verdeckten Armut erfasst“ (ebd.).
Ein weiteres Konzept zur Armutsmessung ist die Bedürftigkeit von Sozialhilfe bzw. Arbeitslosengeld II (Groenemeyer/ Ratzka, 2012, 393 f.). Nach Groenemeyer/ Ratzka (2012, 393) seien solche Messkonzepte, bei denen die Orientierung entlang von Vorgaben aus Politik als offizielle Armutsgrenzen oder an Sätzen von Sozial(hilfe)leistungen erfolgt, in noch direkterer Form auf Armut bezogen. Das bedeutet, hierunter fallen Empfänger/innen von Arbeitslosengeld II (Grundsicherung für Arbeitssuchende) bzw. Sozialgeld. Mittels dieser Leistungen soll abgewendet werden, dass das soziokulturelle Existenzminimum unterschritten wird (ebd.). Die Auffassung der Politik, so Groenemeyer/ Ratzka (2012, 393), ist dann allerdings, dass die Menschen aufgrund des Bezugs der Leistungen nicht mehr arm seien, denn hierdurch werde ja das Existenzminimum gewährleistet.
Als nächstes wird auf die subjektive Armut eingegangen. Wie bereits beim Ansatz der relativen Armut ist auch hier die entscheidende Größe das Nettoeinkommen. Zur Ermittlung der Armutsgrenze wird in der Bevölkerung nach dem erforderlichen Mindesteinkommen für einen solchen Haushaltstyp gefragt. Es findet eine Einschätzung mit der Berücksichtigung der individuellen Bewertung der Betroffenen statt. Der daraus resultierende Wert wird dann mit dem tatsächlichen Einkommen in Bezug gesetzt. Hierbei wird die Grenze von Armut nicht durch Experten ermittelt, sondern beruht auf dem subjektiven Eindruck der befragten Personen (vgl. Weimann 2006, 11 f.).
Nachdem die vier Armutsansätze erläutert wurden, wird nun genauer dargestellt, auf welche Form der Armut sich in Deutschland weitestgehend verständigt wurde. Armut in der Bundesrepublik ist relative Armut, da es keine Frage des physischen Überlebens ist, sondern eine Frage des angemessenen Lebens. Dieses Konstrukt der relativen Armut wird erweitert, damit ein umfassenderes Bild von Armut aufgezeigt werden kann. Dementsprechend wird Armut als interkulturelle und historisch relative Erscheinung begriffen (vgl. Geissler 2014, 31). Dies wird an folgender Definition genauer verdeutlicht. So definierte der Rat der europäischen Gemeinschaft 1984 verarmte Personen als „Einzelpersonen, Familien und Personengruppen, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“ (ebd.). Was als annehmbares Minimum angesehen wird, ist in jeder Gesellschaft anders und es verändert sich im Laufe der Zeit mit dem Wandel der Lebensverhältnisse in der Gesamtgesellschaft (vgl. ebd.).
Zum Schluss muss beachtet werden, dass Armut mehrdimensional ist. Denn Armut ist nicht nur ein ökonomisch-materielles Phänomen, sondern auch ein soziales, kulturelles und psychisches. Es geht einher mit dem Ausschluss von der Teilhabe am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben (vgl. ebd.). Gerade die Mehrdimensionalität von Armut kennzeichnet die Kinder- und Jugendarmut (vgl. Schniering 2012, 15). Dies liegt daran, dass gerade bei Kinder- und Jugendarmut mehrere Dimensionen betroffen sind, wie Bildung, Wohnen oder soziale Beziehungen (vgl. Weimann 2006, 13 ff.).
2.2 Armutsentwicklung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten
Nachdem sich auf eine Definition von Armut für den weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit festgelegt worden ist, wird jetzt dargestellt, wie sich die Armut in Deutschland seit der Wiedervereinigung entwickelt hat. Dazu wird sich die Armutsrisikoquote angeschaut. „Die Armutsrisikoquote ist […] ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut und ist definiert als Anteil der Personen mit einem Äquivalenzeinkommen von weniger als 60 Prozent des Bundesmedians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung in Privathaushalten“ (Statista 2018a, o. S.). um die Entwicklung des Armutsrisikos darzustellen, wird auf das Sozio-Ökonomische Panel (SOEP) zurückgegriffen. Wie die Datenerhebung des SOEP stattfindet, wird nicht thematisiert, sondern kann bei Jürgen Schupp (2015, 388) nachgelesen werden.
Abb. 1 Die Armutsrisikoquote in Deutschland seit der Wiedervereinigung nach SOEP
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Eigene graphische Darstellung nach Cremer (2016, 31) und BMAS (2018, o. S.)4
In Abb. 1 wird die Armutsrisikoquote in Deutschland seit der Wiedervereinigung aufgezeigt. Ganz allgemein kann gesagt werden, dass folgender Trend erkennbar ist, nach dem das Armutsrisiko stark zugenommen hat. (vgl. Cremer 2016, 30). Diese Aussage wird aber noch spezifiziert, indem sich einzelne Zeitabschnitte angeschaut werden. Die Armutsrisikoquote war bis 1998, abgesehen von einigen Schwankungen, leicht rückläufig. So lag 1998 die Armutsrisikoquote bei 10,3 Prozent. Eine Erklärung dafür dürfte der Konvergenzprozess nach der Wiedervereinigung gewesen sein, wobei die Einkommensunterschiede zwischen West und Ost abgebaut wurden (vgl. ebd.).
Es folgte ein starker Anstieg der Armutsrisikoquote zwischen 1998 und 2005, die Werte veränderten sich von 10,3 Prozent auf 13,9 Prozent. Diese Zunahme verweist auf eine deutliche Zunahme der Ungleichheit (vgl. ebd., 31). „Wichtigster Grund hierfür war eine wachsende Spreizung der Einkommen aus unselbständiger Arbeit. Die Wiedervereinigung war Teil einer historischen Zäsur5 “ (ebd.). Ein weiterer Grund für den Anstieg des Armutsrisikos, war auch der Anstieg der Arbeitslosigkeit auf fast 5 Millionen registrierte Arbeitslosen. Des Weiteren trug die Steuerentlastung für mittlere und obere Einkommen zum Anstieg der Ungleichheit bei, welche die rot-grüne Koalition in die Wege leitete. Die Einkommensungleichheit hatte zur Konsequenz, dass sich der Anteil derjenigen erhöhte, deren Einkommen unterhalb der 60 Prozent Schwelle lag (vgl. ebd., 32).
In Deutschland wird üblicherweise die Arbeitsmarktreform der Agenda 20106, vulgo Hartz IV als Grund für die zunehmende Ungleichheit gesehen. Allerdings hat der massive Anstieg des Armutsrisikos bereits vor 2005 stattgefunden, aus diesem Grund kann Hartz IV diese Entwicklung allein vom zeitlichen Ablauf nicht erklären. Die Zeit nach Hartz IV ist eher gekennzeichnet von Konstanz oder einem moderaten Anstieg der Armutsrisikoquote (vgl. Cremer 2016, 32 f.). Nach 2005 waren die SOEP-Werte mit Schwankungen stabil, am äußersten Rand zeigt sich erneut ein Anstieg (Cremer 2018, 13). „Allerdings muss berücksichtigt werden, dass eine deutlich bessere Erfassung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund im SOEP7 die ausgewiesenen Werte stark beeinflusst“ (ebd.).
Kinder- und Jugendarmut
Im nachfolgenden wird sich mit der Entwicklung von Kinder- und Jugendarmut beschäftigt. Bevor auf die Datenlage eingegangen wird, sollen kurz die Besonderheiten der Messung von Kinderarmut aufgezeigt werden. „Zunächst können Kinder nur als Angehörige armer Haushalte erfasst werden, so dass implizit eine proportional gewichtete Verteilung des Haushaltseinkommens auf die Mitglieder vorausgesetzt wird […]“ (Chassé 2010, o. S.). Ein weiteres Merkmal der Messung von Armut ist, dass sie als Querschnitt durchgeführt wird. Diese beiden Einschränkungen deuten darauf hin, dass die konkrete Lebenslage und -situation der Kinder bei gleichen unzulänglichen Einkommen der Familie überaus unterschiedlich sein kann (vgl. ebd.). Auf diese unterschiedlichen Auswirkungen von Armut bei Kindern und Jugendlichen wird in Kapitel 5.2 genauer eingegangen.
Tab. 2: Armutsrisiko nach Altersgruppen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Eigene tabellarische Darstellung nach Grabka/ Goebel (2017, 80)
In der Tab. 2 wird das Armutsrisiko nach Altersgruppen bis zum Alter von 18 Jahren dargestellt. Ganz allgemein kann festgestellt werden, dass auch hier ein steigender Trend des Armutsrisikos bei Kindern wie bei Erwachsenen8, erkennbar ist. So lag 1994 das Armutsrisiko bei unter 10-jährigen bei 17,2 Prozent und ist zum Jahr 2014 auf 21,9 Prozent gestiegen. Hier lässt sich der Anstieg fast vollständig auf die zweite Hälfte des Zeitraumes, also von 2004 bis 2014, zurückführen (vgl. Grabka/ Goebel 2017, 79). Bei den 10 bis 18-jährigen ist das Armutsrisiko ebenfalls im Zeitraum von 1994 bis 2014 von 15,3 Prozent auf 20,1 Prozent gestiegen. Die dabei vorliegenden Ursachen für Kinder- und Jugendarmut sind vielfältig und werden in Kapitel 4 genauer aufgezeigt.
3. Erklärungsansatz von Pierre Bourdieu
Im nachfolgenden Kapitel wird auf Pierre Bourdieu (1930 – 2002) und sein Buch „Die feinen Unterschiede“ (1982) eingegangen. In diesem Zusammenhang spielen vor allem seine Theorien über die verschiedenen Kapitalformen und den Habitus eine herausragende Rolle. Auf konzeptioneller Ebene wird aufgezeigt, wie Bourdieu den Beitrag der Familie zur Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse fasst (vgl. Brake/ Büchner 2012, 57). Auf Grundlage der unterschiedlichen Kapitalformen, des Habitus sowie anderen Faktoren konnte Bourdieu in seinem Modell des sozialen Raumes9 analysieren und aufzeigen, in welchem Zusammenhang die Mitglieder einer Gesellschaft zueinander stehen (vgl. Essen 2013, 18).
3.1 Kapitalarten
Zunächst werden die verschiedenen Kapitalformen nach Pierre Bourdieu erläutert. Seine Kapitaltheorie besteht aus dem ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital. Zu Beginn wird dargestellt, was das ökonomische Kapital ist. Diese Form des Kapitals kann direkt und unmittelbar in Geld konvertiert werden, da es selbst aus wirtschaftlichem Kapital entstanden ist. Das ökonomische Kapital eignet sich zudem besonders gut zur Institutionalisierung, beispielsweise zum Kauf eines Hauses oder dergleichen, also zu allem, was man in Form von Geld erwerben kann (vgl. Bourdieu 1983, 185). Ein weiteres Merkmal von ökonomischem Kapital ist, dass durch dieses die anderen Kapitalarten erworben werden können, was durch einen mehr oder weniger großen Aufwand an Transformationsarbeit geschehen kann (vgl. ebd., 195).
Im Nachfolgenden wird beschrieben, was man unter kulturellem Kapital versteht. Kulturelles Kapital kann in drei Formen existieren: In einem inkorporierten, objektivierten und institutionalisierten Zustand. Beim inkorporierten Zustand handelt es sich um dauerhafte Dispositionen des Organismus, also um Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse. Damit ist die Akkumulation von Kultur in korporiertem Zustand gemeint, also in Bildung. Somit setzt inkorporiertes Kapital einen Verinnerlichungsprozess voraus. Hierbei geht es um die Aneignung von Bildungskapital, welches man sich nur selbst aneignen kann und nicht durch einen Fremden übernommen werden kann (vgl. Bourdieu 2001, 113 f.). Beim zweiten Zustand vom kulturellen Kapital handelt es sich um die Objektivierung (vgl. ebd., 113). Dieses ist „(…) in Form von kulturellen Gütern, Bildern, Büchern, Lexika, Instrumenten oder Maschinen, in denen bestimmte Theorien und deren Kritik, Problematiken usw. Spuren hinterlassen oder sich verwirklicht haben“ (Bourdieu 2001, 113), vorhanden. Eine Besonderheit dieses Zustandes ist, dass objektiviertes Kapital materiell an andere übertragbar ist (vgl. Bourdieu 2001, 114). Hinzu kommen eine Reihe von Eigenschaften, „welche[s; H. N.] sich nur durch seine Beziehung zum inkorporierten, verinnerlichten Kulturkapital bestimmen lassen“ (ebd., 117). Somit kann es durch ökonomisches Kapital erworben werden (vgl. ebd., 117 f.). Abschließend wird auf den institutionalisierten Zustand von Kulturkapital eingegangen. Diese lässt sich in Form von schulischen Titeln, Zertifikaten und Zeugnissen erwerben und ist somit wie das inkorporierte Kapital personengebunden (vgl. ebd., 118 ff.). Dadurch, dass diese Form des kulturellen Kapitals personengebunden ist, ist es möglich, die Besitzer derartiger Titel zu vergleichen und auszutauschen (vgl. Bourdieu 1983, 118).
Als Drittes wird das soziale Kapital erläutert, wobei es sich kurz gesagt um das soziale Netzwerk handelt. Es geht hierbei um alle aktuellen und potenziellen Ressourcen eines dauerhaften Netzes von institutionalisierten Beziehungen und ist somit verbunden mit dem gegenseitigen Kennen und/ oder Anerkennen (vgl. ebd., 190). „Das Gesamtkapital, das die einzelnen Gruppenmitglieder besitzen, dient ihnen allen gemeinsam als Sicherheit (…)“ (ebd., 191). Dadurch, dass man einer Gruppe zugehörig ist, erfordert dies auch unaufhörlich Beziehungsarbeit, indem man sich austauscht, Zeit investiert sowie gegenseitige Anerkennung und diese Gruppenzugehörigkeit immer wieder bestätigt wird (vgl. ebd., 193).
Die verschiedenen Formen des Kapitals lassen sich ineinander umwandeln. Die Gemeinsamkeit der verschiedenen Kapitalformen ist hierbei, dass sie alle Zeit voraussetzen und relativ knapp (vorhanden) sind. Das ökonomische Kapital liegt den anderen Kapitalformen zugrunde, da es in die anderen transformiert werden kann. Allerdings können die anderen Formen nicht auf ökonomisches Kapital reduziert werden (Bourdieu 1992, 70 f.). Die unterschiedlichen Kapitalformen stellen die Grundlage für die Kapitel 5 und 6 dar.
3.2 Habitus
Im Rahmen dieser Arbeit wird auf die wichtigsten Merkmale des Habitus, verstanden als Haltung des Individuums in der sozialen Welt und als Produkt seiner Einbindung in die objektiven Strukturen seiner Klasse, eingegangen. Der Habitus stellt eine allgemeine Grundhaltung bzw. Disposition gegenüber der Welt dar. Er gilt als generatives Prinzip, das Motive und Bedürfnisse, Geschmack und Lebensstil erzeugt (vgl. Bourdieu 2014, 279). Bourdieu sieht den Habitus als inkorporiertes Klassensystem (vgl. ebd., 740). Klassifiziert wird das Individuum durch die Lebensverhältnisse. Der Habitus ist dabei die typische Art zu denken, die stets von der sozialen Lage bestimmt wird. Die Strukturebene für die soziale Positionierung findet innerhalb dreier Klassenlagen10 statt. Sie bilden den jeweiligen Rahmen kollektiver Identität. Zur Unterscheidung der Klassen dienen Bourdieu die zur Verfügung stehenden Kapitalsorten: Ökonomisches, kulturelles sowie soziales Kapital. Diese strukturellen Bedingungen wie auch Einkommen, Geschlecht, Alter und Berufsstand stehen in einer Wechselbeziehung zu praktischen Handlungsweisen und Einstellungen (vgl. Abels 2010, 211).
Der Habitus gilt als Erzeugerprinzip der individuellen wie kollektiven Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata und vermittelt zwischen den in Wechselwirkung stehenden Ebenen (zwischen der Struktur- und Praxisebene). Dem Habitus kann man sich niemals entziehen. Er wird einverleibt. Das bedeutet, dass er auch körperlich in einen Menschen übergeht. Bourdieu verweist bewusst auf die körperlichen Dimensionen wie Körperhaltung, Mimik, Gestik und das Aussehen des Körpers als Teil des Habitus (vgl. Fröhlich/ Rehbein 2014, 111 f.).
Erworben wird der Habitus, die Prägung der Dispositionen, während der (primären) Sozialisation innerhalb der Herkunftsfamilie. Hier wird die Wahrnehmung der Umgebung vorstrukturiert (Fuchs-Heinritz/König 2011, 121). Sozialisation wird verstanden als Erwerb von Normen, Regeln und angepasstem Verhalten. In den ersten Lebensjahren werden das Sprechen, Vertrauen und Zurechtfinden in der Umgebung geprägt. Die primären Erfahrungen werden in der Familie erworben (vgl. Griese 2010, 269 ff.).
Die Familie ist wiederum eingebettet in klassifizierte Strukturen. Das Elternhaus mit seiner jeweiligen Ausstattung an Kapital prägt, so Bourdieu, das Denken und Handeln des Einzelnen entscheidend mit. Zwar ändern sich die materiellen und kulturellen Ressourcen innerhalb eines Lebenslaufes und verändern auch den Habitus, jedoch nicht grundlegend. Die Anbindung an eine bestimmte Klassenlage beeinflusst die gesamten Denk- und Bewertungsmuster. Sie „färbt“ darauf ab, wie die Welt strukturiert, bewertet und interpretiert wird. Von Kindheit an ermöglicht der Habitus ein [nicht bewusstes] fragloses Bewegen innerhalb der bekannten sozialen Welt und somit auch, ein darin erfolgreiches handeln. Der Habitus geht in Fleisch und Blut über, wird als natürlich erfahren (vgl. Bourdieu 2014, 686 f.).
Demnach determiniert das Elternhaus zwar nicht zur Gänze die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster der Kinder, aber sorgt für einen der Klasse entsprechenden Rahmen und lässt alternative Handlungsweisen schwerer zu (vgl. Dörpinghaus/ Uphoff 2012, 122 ff.).
4. Prekäre Lebenslagen als Ursache für Armut
In diesem Kapitel wird sich mit prekären Lebenslagen auseinandergesetzt, die eine Ursache von Armut sein können. Zunächst wird erklärt, was diese Arbeit unter prekär versteht. „Prekär ist die soziale Lage von Menschen, die Gefahr laufen, in die Armut und die damit verbundene soziale Ausgrenzung abzugleiten“ (Geissler 2014, 39). Die Arbeitswelt ist der Ausgangspunkt der Diskussion über Prekarität11, da mit dieser die Entstandardisierung der Beschäftigungsverhältnisse einhergeht (vgl. ebd.). Deswegen wird sich zunächst mit atypischer Beschäftigung auseinandergesetzt, gefolgt von familiären Umständen. Hier werden die verschiedenen Haushaltstypen aufgezeigt sowie deren Zusammenhang zur Armutsrisikoquote. Zuletzt werden die persönlichen Umstände analysiert, wobei vor allem die Alltagskompetenzen eine wichtige Rolle spielen.
4.1 Atypische Beschäftigung
Ein Phänomen, das in Deutschland erst in den letzten 10 bis 20 Jahren in den Mittelpunkt des öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses gerückt ist, liegt an der Armut von Erwerbstätigen, Erwerbsarmut oder Armut trotz Erwerbstätigkeit. Die Formulierung Armut trotz Erwerbstätigkeit verweist darauf, dass Erwerbsarbeit und Armut lange als sich wechselseitig ausschließend galten. Dies liegt an der Vorstellung von Arbeit im Sinne des Idealtyps des Normalarbeitsverhältnisses. Dabei liegt die existenzsichernde Annahme zu Grunde, dass sie tarifvertraglich, rechtlich und sozialstaatlicher Absicherung entspricht. Die Armutsfrage im Kontext von Armut rückt wieder stärker in den Vordergrund aufgrund des Rückgangs des Beschäftigungsverhältnisses, welches die Vorstellung des Normalarbeitsverhältnisses erfüllt (vgl. Lohmann 2018, 198).
Das Normalarbeitsverhältnis prägt also die Vorstellung von Erwerbsarbeit. Dies erkennt man ferner daran, dass alle anderen Beschäftigungsformen, die davon abweichen als atypische12 bezeichnet werden. Dieser Begriff bedeutet somit nichts anderes als eine Vertragsform, die nicht dem Normalarbeitsverhältnis entspricht (vgl. Flecker 2017, 81).
„Insgesamt werden jene Beschäftigungsformen als atypisch bezeichnet, die in einer Dimension vom Normalarbeitsverhältnis abweichen:
- nicht stabil bzw. unbefristet (befristete Beschäftigung)
- nicht Vollzeit (Teilzeitbeschäftigung)
- keine volle soziale Absicherung (Minijobs in Deutschland)
- kein direktes Beschäftigungsverhältnis (Zeit- oder Leiharbeit)
- kein unselbstständiges Beschäftigungsverhältnis (abhängige Selbständigkeit oder Scheinselbständigkeit)" (Flecker 2017, 83).
Abb. 2 Atypische Beschäftigung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Eigene graphische Darstellung nach Statistisches Bundesamt (2018b, o. S.)13
Der Beschäftigungsaufbau durchlief seit der Wiedervereinigung einen erheblichen strukturellen Wandel der Arbeitswelt (vgl. bpb 2013, o. S.). Dies kann man an Abb. 2 erkennen. So lag die Zahl der atypischen Beschäftigungen nach den Ergebnissen des Mikrozensus – befristete Beschäftigte, Teilzeitbeschäftigte mit bis zu 20 Wochenarbeitsstunden, geringfügig Beschäftigte und Zeitarbeitnehmer – 1991 bei 4,4 Millionen und stieg bis 2017 auf 7,7 Millionen an. Wenn man sich vor allem die Teilzeitbeschäftigten und geringfügig Beschäftigten im Zeitraum von 1991 bis 2017 anschaut, kann man feststellen, dass die Anzahl der Beschäftigten gestiegen ist. 1991 lag die Zahl der Teilzeitbeschäftigten bei 2,5 Millionen und stieg auf 4,7 Millionen an. Ein Anstieg der geringfügig Beschäftigten im gleichen Zeitraum ist von 654.000 auf 2,1 Millionen zu verzeichnen.
Diese Veränderungen des Beschäftigungsverhältnisses lassen sich unter anderem zurückführen auf die rot-grüne Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, da diese in die bestehende Arbeitsmarkt- und Sozialgesetzgebung eingriff, mit dem Ziel, den Niedriglohnsektor umfassend auszubauen. Diese Reformen schlugen sich auf die Struktur der Beschäftigung nieder (vgl. Hirschel 2013, 190).
„Auch wenn die Zunahme atypischer und niedrig entlohnter Beschäftigungsverhältnisse einen zentralen Ansatzpunkt für eine vertiefte Beschäftigung mit Armut von Erwerbstätigen geboten hat, wäre es falsch, die Diskussion hierauf zu verengen“ (Lohmann 2018, 199). Denn der Haushaltskontext in dem Erwerbstätige leben, hat einen entscheidenden Einfluss auf das Risiko, arm zu sein. Überproportional häufig arm sind zwar Niedriglohnbeschäftigte, aber ein großer Teil lebt dennoch in Haushalten, die wegen des Einkommens weiterer Erwerbstätigkeiten nicht arm sind. Im Bereich der Vollzeiterwerbstätigkeit oberhalb des Niedriglohns ist ein relevanter Anteil armer Erwerbstätiger zu finden, insbesondere Erwerbstätige in Einverdienerhaushalten mit Kindern. Deswegen ist es notwendig bei der Erklärung von Erwerbsarmut, nicht nur die Arbeitsmarktprozesse zu betrachten, sondern auch die Muster des Zusammenlebens und der wohlfahrtsstaatlichen Unterstützungen von Haushalten zu berücksichtigen (vgl. Lohmann 2018, 199).
4.2 Familiäre Umstände
In diesem Abschnitt wird sich mit Risikogruppen beschäftigt. „Als Risikogruppen werden Bevölkerungsgruppen mit einem besonders hohen Anteil von Armen bezeichnet; die Zugehörigkeit zu ihnen ist also mit einem sehr großen Risiko verknüpft, an oder unter der relativen Armutsgrenze leben zu müssen“ (Geissler 2014, 34). Nach den Statistiken gibt es mehrere Familienkonstellationen, die überproportional von Armut betroffen sind und somit zur Risikogruppe gehören. In dieser Arbeit wird sich auf folgende Familienformen fokussiert: Alleinerziehende und Paare mit drei oder mehr Kindern (vgl. Bird/ Hübner 2013, 23).
Abb. 3 Armutsgefährdungsquote in Deutschland nach Haushaltstyp im Jahr 2016
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Statistisches Bundesamt (2017, 15)
Diese Gruppen lassen sich auch in Abb. 3 identifizieren. Hier sieht man wie die Armutsgefährdungsquote in Deutschland nach Haushaltstyp im Jahr 2016 lag. Demnach sind ein Erwachsener mit Kind(ern) mit 43,6 Prozent von Armut gefährdet und die Gruppe von zwei Erwachsenen mit drei oder mehr Kindern mit 27,4 Prozent bedroht (vgl. Abb. 3).
Solche Kategorien sind in der sozialen Wirklichkeit nicht trennscharf. Allerdings weisen sie auf die unterschiedlichen Bedürfnisse, Ressourcen und Bewältigungsstrategien der Familien hin (vgl. Bird/ Hübner 2013, 23).
In diesem Zusammenhang wird sich zuerst die Gruppe der Alleinerziehenden angeschaut. 2015 wuchsen mehr als zwei Millionen Kinder in Haushalten von einem alleinerziehenden Elternteil auf (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2016, 3). In Deutschland sind vor allem Frauen alleinerziehend und überproportional häufig von Armut betroffen (vgl. Schniering 2012, 17). Zu dieser Familienform können besondere Lebensereignisse wie Trennung, Scheidung oder Tod eines Elternteils führen und somit Verarmungsprozesse auslösen oder begünstigen (vgl. Weimann 2006, 31).
Abb. 4 Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Eigene graphische Darstellung nach Statistisches Bundesamt (2018c, o. S.)14
In Abb. 4 kann man sehen, wie die Lebensform der Alleinerziehenden von April 1996 bis 2017 von 1,3 Millionen auf 1,5 Millionen angestiegen ist. Ursachen für das Wachstum von Ein-Eltern-Familien sind eine hohe Scheidungsrate und die gesellschaftliche Pluralisierung von Familienformen (vgl. Asmus/ Pabst 2016, 27). „Bemerkenswert ist hier, dass die Armutsquote der Alleinerziehenden steigt obwohl ihre Erwerbstätigenquote seit Jahren zunimmt“ (ebd.). Somit spielt der Faktor der atypischen Beschäftigung, die in Kapitel 4.1 bereits ausgeführt wurde, eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Dies ist aber nicht der einzige Grund für die überproportionale Häufigkeit von Alleinerziehenden, die in Armut leben (vgl. ebd., 28). Weitere Faktoren sind „[…] die steigenden Kosten nach einer Trennung oder Scheidung, fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten sowie die unzureichende Ausgestaltung monetärer familienpolitischer Leistungen für Alleinerziehende auf die Einkommensverhältnisse […]“ (ebd.). Zu Armut kommt es in der Regel durch ein Zusammenspiel von den verschiedenen Faktoren. Als Ursache müssen sowohl rechtliche Rahmenbedingungen15 für Alleinerziehende wie auch die gelebten Realitäten sowie Rollenverteilungen innerhalb der Familien und die Ausgestaltung von Infrastrukturangeboten in den Blick genommen werden (vgl. Asmus/ Pabst 2016, 27).
Nachdem sich mit den Ursachen von Armut bei Alleinerziehenden befasst wurde, folgt nun eine Analyse von kinderreichen Familien und deren Armutsrisiko.
Abb. 5 Anteil und Zahl der Familien nach Zahl der minderjährigen Kinder 2011, in Prozent
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: BFSFJ (2013, 13)
In Abb. 5 kann man den Anteil und die Zahl der Familien nach den minderjährigen Kindern von 2011 ablesen. Demnach leben in Deutschland rund 861.000 Familien mit drei oder mehr minderjährigen Kindern (vgl. BFSFJ 2013, 13). Ein Teil dieser Familien hat überwiegend drei minderjährige Kinder (689.000 Familien). In zwei Prozent aller Familien leben vier minderjährige Kinder (127.000 Familien) und in ein Prozent sogar fünf oder mehr (45.000 Familien).
Eggen und Rubb haben in ihren Ausführungen über Kinderreichtum drei typische Konstellationen kinderreicher Familien herausgearbeitet. Die ersten beiden sind durch die Verteilung von Einkommen und Bildung geprägt. Der erste Typus ist durch den niedrigen Bildungsstand der Eltern und ungünstige wirtschaftliche Verhältnisse charakterisiert. Aufgrund des Fehlens alternativer Optionen werden Einkommen und soziale Anerkennung über die Elternrolle erzielt. Demgegenüber steht mit dem zweiten Typus eine gut ausgebildete, in wirtschaftlich günstigen Verhältnissen lebende Gruppe, die den Wert von Kindern sehr hoch einschätzt. Den dritten Typus bilden kinderreiche Familien mit Migrationshintergrund (Eggen/ Rubb 2006).
[...]
1 In dieser Arbeit wird zugunsten der Lesbarkeit nur von Kindern gesprochen. Die jeweiligen Bezugsgruppe der Jugendlichen ist stets ebenso gemeint.
2 In dieser Arbeit wird zugunsten der Lesbarkeit auf eine zweigeschlechtliche Schreibweise verzichtet und die männliche grammatikalische Form des Substantivs verwendet. Die weibliche Person der jeweiligen Bezugsgruppe ist stets ebenso gemeint.
3 Siehe ausführlicher Groenemeyer/ Ratzka (2012, 367 ff.).
4 Die einzelnen Zahlen der Graphik sind im Anhang unter Tab. 1 zu finden.
5 Siehe ausführlicher Cremer (2018, 11 ff.) und Jesse (2015, o. S.).
6 Siehe ausführlicher Hassel/ Schiller (2010, 26-42) und Hegelich u.a. (2011).
7 Siehe ausführlicher Niehues/ Schröder (2012) und Niehues (2017).
8 Siehe ausführlicher den Vergleich von Kinder- und Erwachsenenarmut Statista (2018b, o. S.).
9 Siehe ausführlicher Bourdieu (2014, 171 – 404), Essen (2013, 19 – 43) und Burzan (2007, 127 – 139).
10 Siehe ausführlicher Hradil (2005, 90 f.).
11 Siehe ausführlicher Dörre (2014, 57 f.).
12 Siehe ausführlicher Keller/ Seifert (2013, 11 – 21).
13 Die einzelnen Zahlen der Graphik sind im Anhang unter Tab. 3 zu finden.
14 Die einzelnen Zahlen der Graphik sind im Anhang unter Tab. 4 zu finden.
15 Siehe ausführlicher Lenze/ Funcke (2016, 20 – 35).
- Citar trabajo
- Nadine Huber (Autor), 2018, Generationsübergreifende Armut. Eine Analyse der Situation in Deutschland, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/461780
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