Wenn man eine ästhetische Theorie konzipieren möchte, dann ist zunächst die Frage entscheidend, welcher Ansatzpunkt geeignet und welcher weniger geeignet ist. So lassen sich verschiedene Fragen formulieren, die einem einen bestimmten Blickwinkel auf das Feld der Ästhetik erschliessen: Wie kann man Kunstwerke beurteilen? Gibt es Kunstgattungen, die einen Vorrang vor anderen Kunstgattungen haben? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kunst und dem Begriff des Schönen? Es ließen sich sicherlich noch einige ähnliche Fragen formulieren, bei denen das Werturteil über das Ästhetische jeweils von Interesse wäre.
Als ein herausragender Vetreter der analytischen Ästhetik des 20. Jahrhunderts weicht nun Nelson Goodman radikal von diesen Fragestellungen ab. Andere Probleme der Kunstphilosophie sind für Goodman geeignet, um einen Ansatzpunkt zur Grundlegung einer neuen Theorie zu gewinnen. So spielt bei Goodman die Frage nach der Identität des Kunstwerks eine ent-scheidende Rolle. Ausgangspunkt für diese Problematik ist bei Goodman die banal anmutende Frage, in welchen Kunstgattungen Fälschungen möglich sind und in welchen nicht. Diese Frage ermöglicht es Goodman, die kategoriale Unterscheidung zwischen autographischen und allographischen Künsten einzuführen. Im engen Zusammenhang mit dieser Unterscheidung steht bei Goodman die Idee, ein logisches Bestimmungsmerkmal für die einzelnen Künste zu entwickeln. Den Rahmen hierzu schafft er mithilfe seiner allgemeinen Notationstheorie.
Meine Aufgabe wird es vor allem sein, die einschlägigen Begriffe in Goodmans Theorie zu erläutern. Zunächst muß eine Erklärung der Begriffe autographisch und allographisch vorgenommen werden. Desweiteren müssen die theoretischen Bedingungen einer idealen Notation untersucht werden, wobei auch hier die Begriffserklärungen der zum Teil sehr eigenwilligen Termini im Vordergrund stehen. Mithilfe dieses technischen Wissens läßt sich schließlich entscheiden, in welchen Künste prinzipiell Notationen entwickelt werden können und in welchen nicht.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Möglichkeit der Fälschung in den Künsten: autographisch vs. allographisch
3. Die ideale Notation
3.1 Syntaktische Erfordernisse
3.2 Semantische Erfordernisse
4. Die einzelnen Künste
4.1 Musik
4.2 Literatur
4.3 Malerei
4.4 Tanz
4.5 Architektur
5. Notationen in anderen Bereichen
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Wenn man eine ästhetische Theorie konzipieren möchte, dann ist zunächst die Frage entscheidend, welcher Ansatzpunkt geeignet und welcher weniger geeignet ist. So lassen sich verschiedene Fragen formulieren, die einem einen bestimmten Blickwinkel auf das Feld der Ästhetik erschliessen: Wie kann man Kunstwerke beurteilen? Gibt es Kunstgattungen, die einen Vorrang vor anderen Kunstgattungen haben? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kunst und dem Begriff des Schönen? Es ließen sich sicherlich noch einige ähnliche Fragen formulieren, bei denen das Werturteil über das Ästhetische jeweils von Interesse wäre. Hegel ist meiner Ansicht nach derjenige Philosoph, der diesen Fragen den größten Spielraum in seiner ästhetischen Theorie einräumt.[1] So bereitet es Hegel auch kaum Probleme, eine Hierarchisierung der einzelnen Kunstgattungen aufzustellen und die einzelnen Kunstwerke anhand ihres Verhältnisses zur Idee des Schönen zu beurteilen.
Als ein herausragender Vetreter der analytischen Ästhetik des 20. Jahrhunderts weicht nun Nelson Goodman radikal von diesen Fragestellungen ab. Andere Probleme der Kunstphilosophie sind für Goodman geeignet, um einen Ansatzpunkt zur Grundlegung einer neuen Theorie zu gewinnen. So spielt bei Goodman die Frage nach der Identität des Kunstwerks eine entscheidende Rolle. Ausgangspunkt für diese Problematik ist bei Goodman die banal anmutende Frage, in welchen Kunstgattungen Fälschungen möglich sind und in welchen nicht.[2] Diese Frage ermöglicht es Goodman, die kategoriale Unterscheidung zwischen autographischen und allographischen Künsten einzuführen. Im engen Zusammenhang mit dieser Unterscheidung steht bei Goodman die Idee, ein logisches Bestimmungsmerkmal für die einzelnen Künste zu entwickeln. Den Rahmen hierzu schafft er mithilfe seiner allgemeinen Notationstheorie. Goodman entwirft in Kap. IV von Sprachen der Kunst eine ideale Notation, die bestimmte syntaktische und semantische Erfordernisse erfüllen muß. Er analysiert daraufhin die einzelnen Künste, inwiefern sie diesen Erfordernissen genügen, und schafft so ein generelles Unterscheidungskriterium, Kunstgattungen zu individuieren.
Meine Aufgabe wird es vor allem sein, die einschlägigen Begriffe in Goodmans Theorie zu erläutern. Zunächst muß eine Erklärung der Begriffe autographisch und allographisch vorgenommen werden. Desweiteren müssen die theoretischen Bedingungen einer idealen Notation untersucht werden, wobei auch hier die Begriffserklärungen der zum Teil sehr eigenwilligen Termini im Vordergrund stehen. Mithilfe dieses technischen Wissens läßt sich schließlich entscheiden, in welchen Künste prinzipiell Notationen entwickelt werden können und in welchen nicht. Im Mittelpunkt der Analyse werden Musik und – in besonderem Umfang – Literatur stehen.
2. Die Möglichkeit der Fälschung in den Künsten: autographisch vs. allographisch
In einer Abhandlung über Goodmans Symboltheorie erwähnt Jules Vuillemin zwei verschiedene Arten von Fälschung in den einzelnen Künsten, zum einen die buchstäbliche oder materiale Fälschung, zum anderen die stilistische Fälschung.[3] Es handelt sich um eine buchstäbliche bzw. materiale Fälschung, wenn die Kopie eines schon vorhandenen Kunstwerks als Original deklariert wird. Eine stilistische Fälschung liegt dann vor, wenn ein Werk, ohne die Kopie eines schon vorhandenen Kunstwerks zu sein, fälschlicherweise einem bestimmten Künstler zugesprochen wird, da das betroffene Kunstwerk stilistisch der Klasse der Kunstwerke dieses Künstlers angehöre.
Stilistische Fälschungen sind in allen Kunstgattungen generell möglich. So gibt es etwa eine weitreichende Diskussion darüber, welche platonischen Dialoge tatsächlich Platon zugeschrieben werden können. Sowohl inhaltliche, besonders aber linguistische Untersuchungen werden angewendet, um die Frage der Zugehörigkeit zu entscheiden: Morphematische und syntaktische Vergleiche lassen einige Dialoge als zu sehr von der durchschnittlichen Wortwahl und Syntax abweichend erscheinen. Diese Dialoge werden folgerichtig nicht Platon, sondern anonymen Autoren, die in der platonischen Tradition geschrieben haben, zugewiesen.[4]
Goodman diskutiert bezüglich der stilistischen Fälschung den Van Meegeren/Vermeer-Fall aus der Malerei: der Fälscher Van Meegeren hatte verschiedene Bilder gemalt, die stilistisch einige Ähnlichkeit mit Bildern von Vermeer besaßen, und sie fälschlicherweise als echte Vermeers ausgegeben. Die Bilder waren anscheinend so „authentisch“, daß sich auch Kunstexperten zunächst täuschen ließen. Selbst nach Bekanntwerden des Täuschungsskandals gab es Kunsthistoriker, die zur Rettung ihres eigenen Berufsstandes die gefälschten Bilder als echt akzeptieren wollten.[5]
Von wesentlich größerem Interesse sind für Goodman aber diejenigen Fälle, bei denen es sich um buchstäbliche oder materiale Fälschungen handelt. Diese Art der Fälschung ist nach Goodmans Argumentationsweise nicht in allen Kunstgattungen möglich, er expliziert dies vor allem anhand von Musik und Malerei: Kompositionen lassen sich im Gegensatz zu Bildern nicht fälschen.[6] Was aber veranlaßt Goodman dazu, eine derart merkwürdige These aufzustellen? Er argumentiert folgendermaßen: Von jeder musikalischen Aufführung läßt sich eindeutig eine Partitur ableiten, genauso wie sich von jeder Partitur die Klasse der möglichen Aufführungen ableiten läßt. Ein entsprechendes logisches und wechselseitiges Bestimmungsverhältnis liegt bei Bildern nicht vor: Von Bildern gibt es keine Partituren und somit auch keine eindeutigen Definitionsklassen. Goodman vergleicht die beliebige Kopie einer bestimmten Partitur bzw. Aufführung einer Haydn-Komposition mit der Kopie eines Rembrandt-Gemäldes:
Haydns Manuskript ist keineswegs ein echterer Einzelfall der Partitur als ein gedrucktes Exemplar, das heute morgen aus der Presse kam, und die Aufführung von gestern abend ist nicht weniger echt als die Premiere. (...) Im Gegensatz dazu sind selbst die exaktesten Kopien des Rembrandt-Gemäldes schlicht Imitationen oder Fälschungen, aber keine neuen Einzelfälle des Werks.[7]
Um dieses Phänomen begrifflich besser zu erfassen, führt Goodman die Begriffe autographisch und allographisch ein. Es handelt sich um ein autographisches Kunstwerk, „dann und nur dann, wenn der Unterschied zwischen dem Original und einer Fälschung von ihm bedeutsam ist“.[8] Allographische Kunstwerke sind solche, bei denen dieser Unterschied bedeutungslos ist, da es von ihnen keine (buchstäblichen) Fälschungen geben kann.
Goodman ist desweiteren bemüht, weitere Unterscheidungsmerkmale für autographische und allographische Künste[9] ausfindig zu machen. Sein Versuch, autographische Künste als einphasig[10] und allographische Künste als zweiphasig[11] zu klassifizieren, scheitert allerdings. So ist etwa die Literatur, die Goodman als allographisch klassifiziert[12], dennoch eine einphasige Kunst, denn das literarische Werk ist durch seine Niederschrift vollendet, so wie das Bild durch den Malakt fertiggestellt wird. Auch das Herstellen von Drucken, von Goodman als autographisch klassifiziert, widersetzt sich dieser Einteilung, da Drucke zweiphasig hergestellt werden: zunächst muß eine Druckplatte geschaffen werden, von der dann die verschiedenen Abzüge auf Papier gemacht werden können.
Den entscheidenden Unterschied zwischen autographischen und allographischen Künsten kann man am besten erklären, indem man sich vergegenwärtigt, welche Konsequenzen die beiden Prädikate für die Identität des Kunstwerks implizieren. Jens Kulenkampff hat dies besonders stichhaltig formuliert:
Worauf es ankommt, ist offenbar, daß im Fall der allographischen Künste eine endliche Reihe ganz bestimmter Merkmale für die bestimmte Individualität des Werkes wesentlich sind und andere nicht, so daß es sich immer dann, wenn dieselbe Kombination wesentlicher Merkmale vorliegt, um Fälle desselben Werkes handelt. Aus dem Umstand, daß eine solche Unterscheidung zwischen für die Identität des Werkes wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften im Falle der autographischen Künste nicht getroffen ist, folgt, daß alle Eigenschaften für die Bestimmtheit eines autographischen Werkes wesentlich sind und daß jede auch noch so kleine Differenz zwischen zwei Objekten eine wesentliche Differenz ist, die sie zu verschiedenen Werken macht.[13]
Die Unterscheidung von wesentlichen und unwesentlichen Merkmalen in den allographischen Künsten ist dabei der Hauptgedanke. Es steht wohl ausser Frage, daß sich verschiedene Aufführungen derselben Partitur mannigfaltig unterscheiden können, ohne daß bei den Aufführungen falsche Noten gespielt werden. Dennoch bleibt die Identität des Werks gewahrt, da sich die verschiedenen Aufführungen nur in unwesentlichen Merkmalen[14] unterscheiden. Alle Verstöße gegen wesentliche Eigenschaften eines Werks müssen demzufolge den Bruch der Identität bewirken. So gilt eine Aufführung, die in nur einer Note von einer gegebenen Partitur abweicht, nicht als Aufführung dieser Partitur.[15] Da es in der Malerei keine Partitur und kein Alphabet, d.h. kein Unterscheidungskriterium für wesentliche oder unwesentliche bzw. konstitutive oder kontingente Merkmale gibt, sind alle pikturalen Merkmale eines Bildes gleichwertig für das Werk konstitutiv.
Sollte sich das ästhetische Selbstverständnis der Malerei im Laufe der Zeit allerdings verändern, dann könnte auch sie m.E. theoretisch zu einer allographischen Kunst werden. Man braucht nur die derzeitige Entwicklung im Internet verfolgen; Bilder werden mithilfe eines binären Codes digitalisiert, und erscheinen in virtuellen Ausstellungsräumen dem Betrachter via Bildschirm. Um aber solche digitalen Versionen eines Bildes auch als Einzelfälle eines Kunstwerks zu akzeptieren, müßte sich die ästhetische Betrachtungsweise grundlegend verändern. Schließlich spielt bei Bildern immer noch die Entstehungsgeschichte (d.h. von einer bestimmten Person zu einer bestimmten Zeit angefertigt worden zu sein) die entscheidende Rolle, wenn man ihre Identität bestimmen möchte. Goodman würde eine Erweiterung des Werkbegriffs in der Malerei im Sinne der Digitalisierung von Bildern sicherlich nicht zulassen. Er behauptet zwar, daß alle Künste ursprünglich autographisch sein könnten[16] (was übrigens auch vortrefflich am Beispiel der Musik gezeigt werden kann, denn es wurden natürlich schon Lieder aufgeführt bevor es musikalische Standardnotationen gab). Nach seiner Auffassung werden im Laufe der Geschichte aber nur diejenigen Künste allographisch, die zum einen ephemer sind, und zum anderen zur Herstellung ihrer Kunstwerke viele Personen benötigen:
Zu Beginn sind vielleicht alle Künste autographisch. Wo die Werke transitorisch sind, wie beim Singen oder Rezitieren, oder wo viele Menschen zu ihrer Herstellung gebraucht werden, wie bei Architektur und symphonischer Musik, erfindet man vielleicht eine Notation, um die Beschränkung durch die Zeit und das Individuum zu überwinden.[17]
Da Bilder tatsächlich nicht so flüchtig und kurzlebig sind, wie Aufführungen von Musikstücken und außerdem nicht mehr als eine Person zu ihrer Herstellung benötigt wird, eignet sich die Malerei nach Goodmans Ansicht auch nicht für eine Notation. In denjenigen Künste, in denen sich eine Notation etabliert hat, emanzipieren sich die einzelnen Kunstwerke von ihren Entstehungsgeschichten, da diese zur Feststellung ihrer jeweiligen Identität nicht mehr nötig sind.[18] Kurz gesagt: In der Malerei schafft wesentlich die Entstehungsgeschichte eines Bildes seine Identität, in der Musik hingegen sind es die konstitutiven Merkmale einer Partitur, die dem Musikstück seine Identität verleihen.
Die Ausgangsfrage richtete sich nach dem wesentlichen Unterschied zwischen autographischen und allographischen Künsten. Scheinbar unauffällig führt Goodman hier als konstitutive Eigenschaft der allographischen Künste den Begriff der Notation ein. Es gilt nun, zu zeigen, welche Ansprüche eine ideale Notation erfüllen muß, bevor man die einzelnen Systeme in den Künsten genauer betrachtet.
3. Die ideale Notation
Im vierten Kapitel (Die Theorie der Notation) von Sprachen der Kunst unternimmt Goodman eine deskriptive Analyse der theoretischen Rolle einer Notation. Er möchte sich mit der Art und Weise, wie er die Frage nach der wesentlichen Bestimmung einer Notation stellt, von Ansätzen distanzieren, in denen lediglich die praktischen Funktionen einer Notation hervorgehoben werden. Er sieht in der Notation vorrangig also kein „praktisches Hilfsmittel für die Produktion“[19], sondern die Definition bzw. Identifikation eines Werks. Übertragen auf die musikalische Standardnotation bedeutet dies: „Eine primäre Funktion der Partitur, gleichgültig ob sie je als Anweisung verwendet wird oder nicht, besteht in der definitiven Identifikation eines Werks von Aufführung zu Aufführung.“[20] Hiermit ist die logisch vorrangige Funktion einer Notation im allgemeinen gewonnen; es muß nun gezeigt werden, was eine Notation desweiteren für Eigenschaften besitzen muß, damit diese primäre Funktion überhaupt erfüllt werden kann.
3.1 Syntaktische Erfordernisse
Eine Notation als Symbolsystem läßt zwei verschiedene Perspektiven der Charakterisierung zu: einerseits muß die Ordnung der Symbole untereinander, also die syntaktische Ebene, andererseits die Ordnung der Entitäten, die die Symbole erfüllen, also die semantische Ebene, beschrieben werden.[21] Auf der syntaktischen Ebene sind für ein Notationssystem Zeichen bzw. Charaktere konstitutiv. Diese charakterisiert Goodman als „bestimmte Klasse von Äußerungen oder Inskriptionen oder Marken“.[22]
Als erste notwendige Bedingung für eine Notation bestimmt Goodman die sogenannte Charakter-Indifferenz unter den Einzelfällen eines jeden Charakters. Damit ist gemeint, daß alle Inskriptionen oder Marken eines bestimmten Charakters syntaktisch äquivalent sein müssen. Sind zwei Marken charakter-indifferent, dann darf jede Marke nur zu demjenigen Charakter bzw. Zeichen gehören, zu dem die andere Marke auch gehört. Das hat dann zur Folge, daß die Elemente eines Charakters von den Elementen eines anderen Charakters getrennt sein müssen, d.h. die Charaktere müssen disjunkt sein. Aus dem Prinzip der Charakter-Indifferenz läßt sich dementsprechend das Prinzip der Disjunktivität ableiten. Goodman veranschaulicht dieses Prinzip mithilfe eines Beispiels: Angenommen, eine bestimmte Marke gehöre sowohl zum ersten wie auch zum vierten Buchstaben des Alphabets. Dadurch fielen die beiden syntaktisch äquivalenten Buchstaben „a“ und „d“ in einen Charakter zusammen, wodurch sie dem für Notationen notwendigen Erforderniss der syntaktischen Disjunktivität nicht genügen würden. Bei den Buchstaben würde es sich also nicht um Charaktere in einer Notation handeln.[23] Diese Problematik ist m.E. keineswegs aus der Luft gegriffen, denn beispielsweise beim alltäglichen Lesen von Handschriften gibt es immer wieder ähnliche Fälle, in denen nicht entschieden werden kann, zu welchem Buchstaben eine bestimmte Marke gehört. Daher sind Handschriften, im Gegensatz zur Druckschrift, in der Regel auch keine Notationen.
Eine weitere syntaktisch notwendige Bedingung sieht Goodman im Prinzip der endlichen Differenzierung. Nach diesem Prinzip muß es theoretisch entscheidbar sein, zu welchem Charakter eine bestimmte Marke gehört.[24] Das Gegenteil von endlicher Differenzierung ist syntaktische Dichte: „Ein Schema ist syntaktisch dicht, wenn es unendlich viele Charaktere bereitstellt, die so geordnet sind, daß es zwischen jeweils zweien immer ein drittes gibt.“[25] In einem dichten Schema läßt sich also nicht eindeutig entscheiden, ob eine Marke nur zu einem oder zu einer beliebigen Zahl von anderen Charakteren gehört.
[...]
[1] Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Fiedrich: Vorlesungen über die Ästhetik. Suhrkamp-Werkausgabe, Bd. 13-15, Frankfurt/M. 1997.
[2] Vgl. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Übersetzt von Bernd Philippi. Frankfurt/M. 1998. In Kapitel III (Kunst und Authentizität) wird von Goodman der Grundstein zu seinem Neuansatz gelegt. Nachdem er in den ersten beiden Kapiteln eine kritische Untersuchung des gebräuchlichen Vokabulars der traditionellen Kunsttheorie vornimmt, leitet er mit der Frage nach der Möglichkeit von Fälschungen in den Künsten eine detailierte Analyse der Identität eines Kunstwerks ein.
[3] Vgl. Vuillemin, Jules: Eine statische Konzeption einer Symboltheorie? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 43 (1995) Heft 4, S. 711-729, hier S. 718. Ursprünglich erschienen in: L’Age de la Science III, 1 (1970) S. 73-88.
[4] Im Fall der nicht-authentischen Platon-Dialoge muß es sich allerdings nicht zwingend um Fälschungen handeln, da einige Texte einfach anonym verfaßt wurden. Dies hängt m.E. damit zusammen, daß in der Antike der Begriff des Autors noch nicht eindeutig bestimmt war. Das Problem der Echtheit der platonischen Dialoge wurde ausführlich im 19. Jahrhundert diskutiert, vgl. dazu Ritter, Constantin: Untersuchungen über Plato: Die Echtheit und Chronologie. Stuttgart 1888; Troost, Karl: Inhalt und Echtheit der platonischen Dialoge auf Grund logischer Analyse. Berlin 1889. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts herrscht unter den Platon-Philologen jedoch allgemeine Übereinstimmung darüber, welche Dialoge echt sind und welche nicht, vgl. dazu Taylor, A. E.: Plato – The man and his work. London 1926.
[5] Vgl. Sprachen der Kunst, S. 107ff. Von besonders hohem Unterhaltungswert und einer immensen politischen Brisanz war die Fälschung der Hitler-Tagebücher von Konrad Kujau. Die Veröffentlichung dieser gefälschten Tagebücher durch das Magazin „Stern“ war einer der größten Medienskandale in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Eine übersichtliche Darstellung dieses Ereignisses liefert Picker, Günter: Der Fall Kujau: Chronik eines Fälschungsskandals. Frankfurt/M. 1992.
[6] Vgl. Sprachen der Kunst, S. 112.
[7] Sprachen der Kunst, S.112f.
[8] Sprachen der Kunst, S. 113.
[9] Sobald ein Kunstwerk einem der beiden Prädikate zugeordnet werden kann, kann man der Kunstgattung, der das Kunstwerk angehört, das gleiche Prädikat zuordnen. Nennt man also ein Bild autographisch, so muß man auch die Malerei so bezeichnen. Vgl. Sprachen der Kunst, S. 113.
[10] Hier denkt Goodman an die Herstellung von Bildern, die nur durch den Akt des Malens vollendet werden, also nur eine Phase der Herstellung benötigen.
[11] So etwa die Musik: Ein musikalisches Werk benötigt zwei verschiedene Schaffensphasen, nämlich das Schreiben der Partitur und ihre Aufführungen.
[12] “Es zählt allein das, was man die Selbigkeit des Buchstabierens nennen könnte: exakte Entsprechung in den Buchstabenfolgen, Abständen und Satzzeichen. Jede Folge – selbst wenn sie eine Fälschung des Manuskripts des Autors oder einer bestimmten Ausgabe ist -, die einer korrekten Kopie in dieser Weise entspricht, ist selbst korrekt, und ein solch korrektes Exemplar ist genauso Original wie das Original selbst.” Sprachen der Kunst, S. 115.
[13] Kulenkampff, Jens: Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. In: Philosophische Rundschau 25 (1978), H. 3-4, S. 161-176, hier S. 170.
[14] Als solche führt Goodman S. 116 etwa Tempo, Timbre, Phrasierung und Ausdruck an.
[15] Die Provokation und Umstrittenheit dieser gewagten These wird später noch ausführlicher von mir diskutiert.
[16] Vgl. Sprachen der Kunst, S. 120.
[17] Sprachen der Kunst, S. 120.
[18] Vgl. Sprachen der Kunst, S. 121.
[19] Sprachen der Kunst, S. 125.
[20] Sprachen der Kunst, S. 125.
[21] Vgl. Vuillemin, S. 715.
[22] Sprachen der Kunst, S. 128.
[23] Vgl. Sprachen der Kunst, S. 130.
[24] „Für jede zwei Charaktere K und K´ und jede Marke m, die nicht tatsächlich zu beiden gehört, ist die Bestimmung, daß entweder m nicht zu K gehört oder m nicht zu K´gehört, theoretisch möglich.“Sprachen der Kunst, S. 132.
[25] Sprachen der Kunst, S. 133.
- Arbeit zitieren
- Elmar Korte (Autor:in), 1999, Nelson Goodmans Notationstheorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46169
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