Thema der vorliegenden Arbeit ist es, die Möglichkeiten und Grenzen der Bezugspflege im Alltag einer Station zur qualifizierten Behandlung schwer- und mehrfachabhängiger Menschen zu beleuchten. Ich selber bin seit vier Jahren als examinierter Krankenpfleger auf einer solchen Station tätig. Ein Hauptbestandteil der Entzugsbehandlung von stofflichen Suchtmitteln ist neben der Behandlung der rein körperlichen Entzugssymptomatik, die Beziehungsgestaltung zwischen Behandelndem und Patient. Aufgrund der spezifischen Krankheit und der damit oftmals verbundenen Beziehungsstörung, aber auch aufgrund der erlebten Erfahrungen von Patienten aus dem Drogen- und Gefängnismilieus, fällt es immer wieder außerordentlich schwer, intakte und tragfähige Arbeitsbeziehungen mit dem Patienten aufzunehmen. Während meiner Tätigkeit auf der geschlossenen Aufnahmestation des Suchtbereichs gab die zu leistende Beziehungsarbeit der Pflegekräfte häufig Anlass zu regen Diskussionen. Deutlich wurden dabei die sehr anspruchsvollen und schwierigen Bedingungen der Arbeit mit abhängigkeitserkrankten Menschen. Ein Hilfsmittel zur Gestaltung einer professionellen therapeutischen Beziehung ist das Instrument der Bezugspflege. In der psychiatrischen Krankenpflege ist es während der letzten Jahre in vielen Kliniken fast vollständig gelungen, die psychiatrische Arbeit von der einst praktizierten Funktionspflege auf die Bezugspflege umzustellen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es nun, das Instrument der Bezugspflege mit all seinen Möglichkeiten und Grenzen als Hauptbestandteil der Beziehungsgestaltung im Rahmen einer Station für die qualifizierte Behandlung abhängiger Menschen zu untersuchen. Hierzu werden zuerst einmal grundlegende Aspekte der Sucht und Abhängigkeitserkrankung näher beleuchtet. Erläutert werden sowohl historische und gesellschaftliche Inhalte als auch verschiedene Entstehungsmodelle der Substanzabhängigkeit. Im zweiten Teil werden wichtige Grundlagen wie die Definitionen und Inhalte von Pflege, psychiatrischer Pflege und Bezugspflege erklärt und die Pflegetheorie von Hildegard Peplau vorgestellt. Der anschließende dritte Teil stellt die Verknüpfung der ersten beiden Teile dar und beleuchtet die Möglichkeiten und Grenzen von Bezugspflege im Setting einer geschlossenen Station zur Behandlung substanzabhängiger Menschen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Stoffliche Suchtmittel (Historie, Konsumarten, Wirkungen)
- Kokain
- Hanf
- Heroin
1.1 Definitionen
- Missbrauch
- Sucht
- Abhängigkeit
- Opioidentzugssyndrom nach ICD-10
1.2 Entstehungskonzepte der Substanzabhängigkeit
- Persönlichkeitspsychologische Konzepte
- Psychiatrische Konzepte
- Psychoanalytische Konzepte
- Sozialpsychologische Konzepte
- Modell der Risikofaktoren
- Das Trias Konzept
1.3 Gesellschaftliche Aspekte und psychosoziale Folgen einer Abhängigkeitserkrankung
2 Was ist psychiatrische Pflege
2.1 Was ist Bezugspflege
2.2 Vorrausetzungen für die Bezugspflege
2.3 Die Psychodynamische Krankenpflege nach Hildegard Peplau als Grundstein der Bezugspflege
- Die vier Phasen der Beziehungsgestaltung
- Die sechs Rollen des Pflegenden
3 Möglichkeiten der Bezugspflege im Stationsalltag auf einer Station zur qualifizierten Entzugsbehandlung abhängigkeitserkrankter Menschen
4 Grenzen der Bezugspflege im Stationsalltag auf einer Station zur qualifizierten Entzugsbehandlung abhängigkeitserkrankter Menschen
5 Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Einleitung
Thema der vorliegenden Arbeit ist es, die Möglichkeiten und Grenzen der Bezugspflege im Alltag einer Station zur qualifizierten Behandlung schwer- und mehrfachabhängiger Menschen zu beleuchten. Ich selber bin seit vier Jahren als examinierter Krankenpfleger auf einer solchen Station tätig. Ein Hauptbestandteil der Entzugsbehandlung von stofflichen Suchtmitteln ist neben der Behandlung der rein körperlichen Entzugssymptomatik, die Beziehungsgestaltung zwischen Behandelndem und Patient. Aufgrund der spezifischen Krankheit und der damit oftmals verbundenen Beziehungsstörung, aber auch aufgrund der erlebten Erfahrungen von Patienten aus dem Drogen- und Gefängnismilieus, fällt es immer wieder außerordentlich schwer, intakte und tragfähige Arbeitsbeziehungen mit dem Patienten aufzunehmen. Während meiner Tätigkeit auf der geschlossenen Aufnahmestation des Suchtbereichs gab die zu leistende Beziehungsarbeit der Pflegekräfte häufig Anlass zu regen Diskussionen. Deutlich wurden dabei die sehr anspruchsvollen und schwierigen Bedingungen der Arbeit mit abhängigkeitserkrankten Menschen. Ein Hilfsmittel zur Gestaltung einer professionellen therapeutischen Beziehung ist das Instrument der Bezugspflege. In der psychiatrischen Krankenpflege ist es während der letzten Jahre in vielen Kliniken fast vollständig gelungen, die psychiatrische Arbeit von der einst praktizierten Funktionspflege auf die Bezugspflege umzustellen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es nun, das Instrument der Bezugspflege mit all seinen Möglichkeiten und Grenzen als Hauptbestandteil der Beziehungsgestaltung im Rahmen einer Station für die qualifizierte Behandlung abhängiger Menschen zu untersuchen. Hierzu werden zuerst einmal grundlegende Aspekte der Sucht und Abhängigkeitserkrankung näher beleuchtet. Erläutert werden sowohl historische und gesellschaftliche Inhalte als auch verschiedene Entstehungsmodelle der Substanzabhängigkeit. Im zweiten Teil werden wichtige Grundlagen wie die Definitionen und Inhalte von Pflege, psychiatrischer Pflege und Bezugspflege erklärt und die Pflegetheorie von Hildegard Peplau vorgestellt. Der anschließende dritte Teil stellt die Verknüpfung der ersten beiden Teile dar und beleuchtet die Möglichkeiten und Grenzen von Bezugspflege im Setting einer geschlossenen Station zur Behandlung substanzabhängiger Menschen.
1 Stoffliche Suchtmittel
Um einen ersten Einblick in das Thema zu gewähren, werden im Folgenden verschiedene stoffliche Suchtmittel vorgestellt, die gesellschaftlichen Aspekte des Suchtmittelkonsums erläutert, Definitionen verschiedener Begrifflichkeiten wie Sucht oder Missbrauch vorgestellt, sowie eine Übersicht über die Modelle der Entstehungsursachen einer Suchterkrankung erstellt.
Stoffliche Suchtmittel (Drogen) sind jene psychotrope Substanzen bzw. Stoffe, die durch ihre chemische Zusammensetzung auf das Zentralnervensystem einwirken und dadurch Einfluss auf Denken, Fühlen, Wahrnehmung und Verhalten nehmen. Viele Patienten der Station, auf welcher ich arbeite sind von einem, die meisten aber von mehreren dieser Stoffe abhängig (Polytoxikomanie). Ich empfinde es deshalb als wichtig, vor der Beschreibung der Inhalte der Bezugspflege bei abhängigkeitserkrankten Menschen, die Substanzen zu beschreiben und so ein möglichst exaktes Bild des Suchtmittels und der damit verbundenen Form der Abhängigkeit auf zu zeigen. Obwohl Alkohol und Nikotin die weltweit am weitesten verbreitesten Drogen sind, habe ich mich aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit auf die illegalen Suchtmittel Heroin, Kokain und Cannabis[1] konzentriert, da diese Hauptthema der vorliegenden Arbeit sind.
Kokain: Die ältesten Hinweise, die auf den Gebrauch von Cocablättern deuten, datieren auf ca. 3000 vor Christus. 1855 gelang es Gaedecke, einen Extrakt aus der Cocapflanze herzustellen. 1860 isolierte Albert Niemann das Hauptalkaloid, das Kokain. Auch Sigmund Freud experimentierte um die Jahrhundertwende des 19.-20. Jahrhunderts mit Kokain und entdeckte dabei dessen betäubende Wirkung auf menschliche Schleimhäute. Der Siegeszug des Kokains als damals noch legaler Droge begann in Europa nach dem 1. Weltkrieg und hatte seinen Höhepunkt in den so genannten goldenen Zwanziger Jahren. Damals pflegten die großstädtischen bürgerlichen Kreise Deutschlands den Konsum von Kokain, Morphin und Heroin. Besonders Kokain, dessen Genuss man in heimlichen Zusammenkünften zelebrierte, wurde zur Modedroge in den Metropolen. Chemisch gesehen ist Kokain ein Alkaloid. Unter Alkaloiden versteht man alkalisch reagierende, stickstoffhaltige Naturprodukte pflanzlichen Ursprungs. Ähnlich dem Heroin gilt es als "harte" illegale Droge. Crack, auch Base oder Rocks in der Szene genannt, ist eine rauchbare freie Base des Kokainhydrochlorid. Die Substanz wird gesnieft (in sog. Lines von ca. 25-50 mg), geraucht, gegessen oder intravenös injiziert. Es vermittelt ein Glücksgefühl ("High"), wobei infolge der Suchtentwicklung Kokaingebrauchende ihre "Kicks" in immer rascherer Folge wiederholen müssen. In Folge des Konsums wird die Wahrnehmung beschleunigt, verstärkt und sexualisiert. Es entsteht ein Gefühl besonderer psychischer Klarheit, gedanklichen Einfallsreichtums, der Redseligkeit und Unternehmungslust. Ein regelmäßiger Konsum zieht neben körperlichen Auswirkungen auch Veränderungen der Persönlichkeit nach sich.
Hanf: Die erste Erwähnung von Hanf als Rauschmittel in der Literatur findet sich in einem Arzneimittelbuch des chinesischen Kaisers Sheng-Nung. Er empfahl bereits 2737 v. Chr. die Droge gegen Verstopfung, Rheuma, Malaria und andere Beschwerden. Die aus den Blättern des Hanf gewonnene Droge heißt im Jargon "Gras" oder "Mari" (Marihuana). Das, aus dem Harz der Hanfpflanze gewonnene, Cannabis wird von Konsumenten "Shit" oder "Dope" genannt. Es hat beim Konsum, zumeist mit Tabak vermischt als "Joint" geraucht, einen leicht halluzinogenen-euphorisierenden Effekt. Es ist mittlerweile bekannt, dass der Konsum von Cannabis zum Entstehen einer psychotischen Erkrankung beitragen kann bzw. eine Auslöserfunktion (Trigger) einnehmen kann. Hanf intensiviert das sinnliche Erleben und wird als die Phantasie und Inspiration beflügelnd von Usern beschrieben.
Heroin: Die Eigenschaften des Mohnsaftes waren wohl schon zur Zeit des Mesolithikums (etwa 8000 bis 5000 v. Chr.) bekannt. Heroin wird durch eine chemische Reaktion von Morphin mit Essigsäure-Anhydrid hergestellt und wird auf Grund der chemischen Struktur auch als Diacetylmorphin bezeichnet. Die Konsumarten sind sniefen, rauchen oder injizieren. Heroinkonsum bewirkt eine positiv erlebte Abschirmung von negativen äußeren Einflüssen ("wie in Watte gepackt"). Den Rausch beschreiben User als Zustand der Zufriedenheit, der Angstfreiheit und des Wohlgefühls. Heroin wird vom Gewebe gut aufgenommen und passiert rasch die Blut-Hirn-Schranke. In den Geweben und im Gehirn wird Heroin zu Morphin abgebaut. Die Wirkungen von Heroin bzw. Morphin werden durch die Bindung an Rezeptoren ausgelöst (Rezeptoren sind spezielle Bindungsstellen, die nach dem Schlüssel-Lochprinzip funktionieren). Morphin bindet an so genannte Opioidrezeptoren, die in verschiedene Typen unterteilt werden, und deren Anbindung an den Rezeptoren unterschiedliche Wirkungen im Körper auslöst. Bei der Zufuhr von Heroin werden zentrale und periphere Wirkungen ausgelöst. Zu den zentralen Wirkungen zählen Euphorie, Rausch- und Glücksgefühle. Zusätzlich tritt eine starke Analgesie, also Schmerzlinderung auf.
Des Weiteren kommt es zur Atemdepression (herabgesetzte Atemleistung), antitussiven Wirkung (Dämpfung des Hustenzentrums), Anxiolyse (angstlösend), Miosis (Verengung der Pupillen) und Beruhigung. Zusätzlich tritt eine Blutdrucksenkung und eine Senkung der Herzfrequenz auf. Bei den peripheren Wirkungen handelt es sich um eine verzögerte Magenentleerung, einen gestörten Gallenfluss, Obstipation (Verstopfung), Harnverhalten und eine Histaminfreisetzung. Durch die Freisetzung von Histamin werden allergische Reaktionen, wie beispielsweise Hautjucken, Verengung der Bronchien und Blutdruckabfall ausgelöst (vgl. Comer, 1995; Rahn & Mahnkopf 2000; Katzung, 1994).
1.1 Definitionen von Missbrauch, Sucht und Abhängigkeit
Von Missbrauch spricht man bei übermäßigem und unangemessenem Konsum einer Substanz ohne medizinische Indikation, der kurz oder langfristig zu körperlichen und/oder psychosozialen Schäden führt. Wiederholt sich der Missbrauch, tritt in Körper und Psyche ein Gewohnheitsprozess ein. Der Organismus gewinnt scheinbar die Fähigkeit, immer größere Mengen zu vertragen. Schließlich führt dieser Prozess zu einer Abhängigkeit bzw. in die Sucht. Der Begriff der Sucht war bis zum 16. Jahrhundert die generelle Bezeichnung für Krankheit. So beschrieb man die Epilepsie z. B. als „fallende Sucht” oder aber die Cholera als „schwarze Sucht”. Vom 16. Jahrhundert an wurde die „Sucht” immer mehr von dem Ausdruck „Krankheit” verdrängt und eröffnete der eigentlichen Sucht eine eigene Definition. Sucht bezeichnete von da an eine negative Charaktereigenschaft, ein Laster, stark abhängig von moralischen Grundgedanken. Der Wortstamm „Sucht“ stammt vom mittelhochdeutschen "siech", "krank sein" ab; heute z.B. noch erhalten in "dahinsiechen", im Englischen "sick" oder im Schwedischen "sjuk" (vgl. Möller, Laux & Deister, 2005). Sucht ist ein unwiderstehliches Verlangen nach einem bestimmten veränderten Zustand im Fühlen, im Erleben und im Bewusstsein. Da der Begriff Sucht sehr unspezifisch ist, wurde er 1968 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Bezug auf stoffgebundene Süchte durch den Begriff Abhängigkeit ersetzt. Die Definition der WHO der Abhängigkeit lautet:
Es handelt sich um eine Gruppe körperlicher, verhaltens- und kognitiver Phänomene, bei denen der Konsum einer Substanz oder einer Substanzklasse für die betroffene Person Vorrang hat gegenüber anderen Verhaltensweisen, die von ihr früher höher bewertet wurden. Ein entscheidendes Charakteristikum der Abhängigkeit ist der oft starke, gelegentlich übermächtige Wunsch, psychotrope Substanzen oder Medikamente (ärztlich verordnet oder nicht), Alkohol oder Tabak zu konsumieren (Bundesministeriums für Gesundheit, 2003) .
Abhängigkeit ist ein prozesshaftes Geschehen, das von einem harmlosen, unmerklichen und schleichenden Beginn langsam bis hin zum Tod führen kann. Begleitet ist dieser Prozess vom Aufgeben und vom Verlust der persönlichen Identität, der sozialen Beziehungen, der individuellen Lebensplanung und der körperlichen Gesundheit. Die psychische Abhängigkeit ist durch das starke Verlangen gekennzeichnet, die Substanz einzunehmen und ihre Wirkung zu spüren. Mit der Zeit verliert der Abhängige die willentliche Kontrolle über Menge und Dauer des Konsums. Unter physischer Abhängigkeit versteht man die zelluläre Gewöhnung des Organismus an die Substanz und damit einen Eingriff in den Stoffwechsel des Körpers. Dies bedingt, dass die Droge für das normale Funktionieren des Körpers unerlässlich ist. Wird die Substanz nicht zugeführt, treten typische Entzugssymptome auf. Symptome des Heroinentzuges ähneln einer sehr schweren Grippe. Etliche Stunden nach dem letzten Konsum klagen die Betroffenen über heftige Gliederschmerzen, Zittern, Schwitzen, Muskelkrämpfe und Übelkeit über Stunden und Tage, wobei ein Gefühl der Schwachheit und des Unwohlseins über Monate anhalten kann. Es kommt zu Gänsehaut, Schweißausbrüchen, Tränenfluss, Unruhe und Angst. Weitere Entzugserscheinungen sind Durchfall, Erbrechen, Anstieg der Körpertemperatur und Anstieg der Herzfrequenz. Ferner treten starke Schmerzen im Bauch und den Extremitäten auf, sowie Blutdruckkrisen und Kreislaufversagen (vgl. Katzung, 1994). Es kommt zu ausgeprägten Stimmungsschwankungen, aggressiven Impulsen sowie Schlafstörungen. Nach den Vorgaben der diagnostischen Leitlinien der ICD-10 müssen drei oder mehr der nachfolgenden Kriterien erfüllt sein um von einem Opioidentzugssyndrom zu sprechen (vgl. Möller, Laux & Deister 2005):
1. dysphorische Stimmung
2. Muskelschmerzen
3. Pupillendilatation
4. Schwitzen
5. Gähnen
6. Schlaflosigkeit
7. Übelkeit oder Erbrechen
8. Tränenfluss oder Rhinorrhö
9. Piloarrektion ("Gänsehaut")
10. Diarrhö
11. Fieber
1.2 Entstehungskonzepte der Substanzabhängigkeit
Jede Abhängigkeit trägt eine ihr eigene Geschichte in sich. Erst das Wissen und die Auseinandersetzung über mögliche Ursachen von Sucht ermöglichen einen angemessenen Umgang mit einem suchterkrankten Menschen. Im Laufe der Geschichte wurden viele Ursachen der Sucht genannt und viele Theorien aufgestellt. Sicher ist, dass die Sucht ein multikausales Problem ist. Wahrscheinlich sind bei keiner anderen Störung körperliche Prozesse mit derart weit reichenden seelischen und sozialen Folgen im Spiel. Im Folgenden werden einige Entstehungskonzepte einer Suchterkrankung vorgestellt. Unabhängig von den hier aufgeführten Konzepten gibt es noch weitere sowohl lernpsychologische, soziologische als auch entwicklungspsychologische Konzepte (vgl. Bundesministeriums für Gesundheit, BMfG 2003):
1. Persönlichkeitspsychologische Konzepte
2. Psychiatrische Konzepte
3. Psychoanalytische Konzepte
4. Sozialpsychologische Konzepte
5. Konzept der Risikofaktoren
6. Das Trias-Konzept
1. Persönlichkeitspsychologische Konzepte
Ein Ansatz auf der Suche nach den Ursachen der Abhängigkeit ist der Versuch, Persönlichkeitseigenschaften in Beziehung zum Substanzmissbrauch zu bringen, um in letzter Konsequenz, die "Suchtpersönlichkeit" (addiction prone personality) zu finden (Schenk, 1979 zit. n. BMfG 2003). Ziel des Ansatzes ist es, anhand der Persönlichkeitsstruktur suchtgefährdete Personen frühzeitig ausfindig zu machen, um mit präventiven Maßnahmen der drohenden Abhängigkeit entgegenwirken zu können.
2. Psychiatrische Konzepte
In ihrer Kernaussage wird hier von einer Persönlichkeitsstörung ausgegangen, welche auch genetisch bedingt sein kann, und die als Syndrom zur Ursache für den Drogenkonsum wird. An dieser Stelle lassen sich auch die unter dem Risikofaktorenkonzept erwähnten Ansätze der Prädisposition und Vulnerabilität einer Person einordnen. Drogenkonsum wird als eine Art Selbstheilungsversuch oder als natürliche Folge der anlage- und entwicklungsbedingten Charakterschwäche angesehen (Battegay, 1972 zit. n. BMfG 2003).
3. Psychoanalytische Konzepte
Im psychoanalytischen Erklärungskonzept wird Substanzmissbrauch als Symptom einer neurotischen Persönlichkeitsstörung klassifiziert, wobei zusätzlich eine "Prämorbidität" der Persönlichkeit, das heißt eine besondere Anfälligkeit des Menschen gegenüber Sucht, angenommen wird. Die Prämorbidität wird durch eine Störung in der individuellen Entwicklung bedingt. In der Regel ist damit eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung gemeint. Folge der Beziehungsstörung ist die Verunsicherung des Kindes in seinem Vertrauen zur Mutter, woraus zum einen ein übersteigertes Befriedigungsverlangen und Sicherheitsbedürfnis, zum anderen eine ständige Angst vor neuen Enttäuschungen resultiert (Bäuerle, 1989 zit. n. BMfG 2003). Die Folge davon ist, dass die Belastbarkeit des Individuums stark vermindert ist. Es hat Schwierigkeiten, Spannungen und Frustrationen zu ertragen und neigt deshalb verstärkt dazu, bei Belastungen auf eine frühkindliche Entwicklungsstufe zu regredieren und auf dieser auf entsprechende Bedürfnisbefriedigungen zurückzugreifen, wie zum Beispiel das Verschaffen von schnellem Lustgewinn.
Einen anderen Akzent im psychoanalytischen Konzept der Suchtentstehung setzt der Ansatz des narzisstisch gestörten Suchtkranken. Hier wird eine nicht vollzogene Lösung aus der Symbiose mit der Mutter zugrunde gelegt, die zur Folge hat, dass das Individuum narzisstisch bleibt. Diese Persönlichkeit ist charakterisiert durch geringes Selbstwertgefühl, Furcht vor Enttäuschungen, Schwanken zwischen Größenphantasien und Minderwertigkeitsgefühlen, zu hohen Ansprüchen an die eigene Person, Realitätsverkennung, Schwierigkeiten im Umgang mit Aggression und Angst vor Beziehungen. Der Weg in die Sucht wird als Akt der Selbstverwirklichung und Selbsttherapie interpretiert.
4. Sozialpsychologische Konzepte
Unter dieser Überschrift ist insbesondere die "Theorie des Problemverhaltens" (vgl. Jessor & Jessor, 1977 zit. n. BMfG 2003) zu nennen, die genau genommen eine Kombination aus entwicklungs- und sozialpsychologischen Elementen darstellt. Ihre Komponenten sind die Persönlichkeit, die Umwelt und das Verhalten, aus deren Wechselbeziehung ein dynamischer Zustand resultiert, der als "Anfälligkeit für Problemverhalten" bezeichnet wird. Als Variablen der Persönlichkeit gelten Werte, Erwartungen, Überzeugungen, Einstellungen zu sich selbst und zu anderen. Variablen der Umwelt sind Unterstützungspotentiale, sozialer Einfluss und Kontrolle, Verhaltensmodelle und soziale Erwartungen. Aus der Wechselbeziehung der Persönlichkeits- und Umweltvariablen resultiert das Problemverhalten, wobei keinem der beiden eine ursächliche Priorität zugeschrieben wird.
5. Konzept der Risikofaktoren
Biologische Risikofaktoren
Es bestehen empirische Hinweise (u.a. Zerbin-Rüdin, 1986 zit. n. BMfG 2003), dass zumindest für einige Suchtformen Erbfaktoren eine Rolle spielen und daher bestimmte Personen eine höhere Vulnerabilität besitzen, was aber zumindest derzeit nicht die Schlussfolgerung zulässt, dass es auch "suchtimmune" Personen geben könnte.
Familiäre Risikofaktoren
Kinder von Eltern (vor allem Vätern), die selbst exzessiv Alkohol konsumiert haben, sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, selbst verstärkt Alkohol zu trinken. Jugendliche mit Eltern oder Geschwistern, die antisoziales Verhalten zeigen, unterliegen ebenfalls einem erhöhten Risiko, Drogen zu nehmen. Als Risikofaktor gelten auch Eltern, die selbst Alkohol oder andere Drogen zu sich nehmen und gleichzeitig eine positive Einstellung gegenüber dem Konsum vertreten (vgl. Kandel, 1982 zit. n. BMfG 2003) bzw. Familien, in denen es zu Trennungen der Eltern kam (broken-home).
[...]
[1] Eine ausführliche Übersicht epidemiologischer Daten zum Konsum von illegalen Drogen und Medikamenten findet sich in Simon, Tauscher & Pfeiffer (1999).
- Quote paper
- Sebastian Böttner (Author), 2005, Möglichkeiten und Grenzen der Bezugspflege bei mehrfachabhängigen Menschen in einer stationären Entzugsbehandlung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46017
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