Um ein narratives Interview einwandfrei auswerten zu können, muss der Forscher sich stets vor Augen halten, dass es sich bei dieser Art Text um eine Erzählung handelt, die auf den Erinnerungen des Biographen aufgebaut ist. Erinnerungen, und somit auch die Erzählungen, sind immer retrospektiv und unterscheiden somit sich vom eigentlichen Erlebnis. Beachtet werden muss auch, dass man sich nicht alle Erlebnisse merkt. Gründe dafür, dass Ereignisse nicht ins Gedächtnis aufgenommen werden, sind z.B. chaotisches Erleben einer Situation, einem mangelnden Wechsel der Umgebung oder die Routinisierung von Situationen. Auch Situationen, die keinem genauen Ort und keiner genauen Zeit zuzuordnen sind, werden schwerer ins Gedächtnis aufgenommen.
Genauso schwierig, wie das Verhältnis von Erlebnis zu Erinnerung, stellt sich auch das Verhältnis von der Erinnerung zur Erzählung dar. Der Erzählprozess findet auf einer anderen Ebene statt, als die Erinnerung. Bei der Erzählung muss der Erzähler seinem Zuhörer die Gedanken zugänglich machen, indem er sie verbalisiert. Allerdings kann der Erzählprozess auch zu einer weiteren Suche und Rekonstruktion von Erinnerungen führen, wenn er vom Zuhörer stimuliert und nicht blockiert wird. Somit enthält die erzählte Geschichte sowohl mehr, als auch weniger als die Erinnerung.
Gewisse Verzerrungen zwischen dem Erlebnis, der Erinnerung und der Erzählung sind also immer normal und lassen sich zumeist durch die Struktur des Textes erkennen. So werden sie als Faktor auch untersucht und können mit in die Interpretation einfließen.
Inhaltsangabe
1. Erlebnis – Erinnerung – Erzählung
2. Die rekonstruktive Fallanalyse
2.1 Prinzipien
2.2 Vorgehen
2.2.1 Analyse der biographischen Daten
2.2.2 Text- und Thematische Feldanalyse (sequentielle Analyse der Textsegmente des Interviews)
2.2.3 Rekonstruktion der Fallgeschichte (erlebtes Leben)
2.2.4 Feinanalyse einzelner Textstellen
2.2.5 Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte
3. Auswertung der Stegreiferzählung von Frau O.
3.1 Biographische Daten
3.2 Analyse der biographischen Daten
3.3 Segmentierung der erzählten Lebensgeschichte
3.4 Analyse der erzählten Lebensgeschichte
3.5 Feinanalyse einzelner Textstellen und Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte
4. Fazit
5. Literatur
6. Anlage
1. Erlebnis – Erinnerung – Erzählung
Um ein narratives Interview einwandfrei auswerten zu können, muss der Forscher sich stets vor Augen halten, dass es sich bei dieser Art Text um eine Erzählung handelt, die auf den Erinnerungen des Biographen aufgebaut ist. Erinnerungen, und somit auch die Erzählungen, sind immer retrospektiv und unterscheiden somit sich vom eigentlichen Erlebnis. Verzerrungen zwischen den Ebenen können durch Faktoren wie Müdigkeit, bestimmte Gefühlszustände während des Erzählens, aber auch durch „soziale Erwünschtheit“ entstehen.[1] Dieser Vorstellung liegt die „Speicherungskonzeption“ zugrunde, „bei der das Gedächtnis als eine Art defizitäres Tonband […] konzipiert wird. Defizitär ist dieses Tonband, weil es der Idealvorstellung, daß [sic!] alles Erlebte der Reihe nach aufgezeichnet wurde und jederzeit abspielbar sein sollte, nicht entspricht“.[2]
Das Erlebte wird unter dem Einfluss der Gegenwart reproduziert und ist somit starken Schwankungen unterlegen. In der „gestalttheoretischen Konzeption“ des Gedächtnisses geht man davon aus, dass „gegenwärtige Erlebnisse mit vergangenen verknüpft werden“ und dadurch das Erlebte hervorgeholt wird.[3] Damit ähnelt diese Vorstellung der „Netzwerk-Theorie“, in der „gegenwärtige[…] Gefühlszustände[…] mit den damit assoziierten Erinnerungseinheiten“ verbunden sind.[4] Allerdings „erinnert man sich ja nicht an alle Situationen des Lebens, die mit den Gefühlen in der Gegenwart korrespondieren, sondern eben nur an diejenigen, die in ihrer Bedeutung eine thematische Verknüpfung mit der gegenwärtigen Situation aufweisen bzw. mit ihr in einem thematischen Feld stehen.“[5]
Beachtet werden muss auch, dass man sich nicht alle Erlebnisse merkt. Gründe dafür, dass Ereignisse nicht ins Gedächtnis aufgenommen werden, sind z.B. chaotisches Erleben einer Situation, einem mangelnden Wechsel der Umgebung oder die Routinisierung von Situationen. „Empirische Untersuchungen zu Gedächtnisleistungen zeigen […], daß [sic!] in der Erlebenssituation bereits Gestaltetes wesentlich besser memoriert werden kann als die Wahrnehmung und das Erleben von Chaos […]. Chaos geht höchstens als Eindruck von Chaos, und damit ohne Bedeutungszuschreibung ins Gedächtnis ein.“[6] Auch Situationen, die keinem genauen Ort und keiner genauen Zeit zuzuordnen sind, werden schwerer ins Gedächtnis aufgenommen. So verhält es sich z.B. auch bei routinierten Handlungen. Hier merkt man sich nur noch herausragende Situationen.
Genauso schwierig, wie das Verhältnis von Erlebnis zu Erinnerung, stellt sich auch das Verhältnis von der Erinnerung zur Erzählung dar. Der Erzählprozess findet auf einer anderen Ebene statt, als die Erinnerung. Bei der Erzählung muss der Erzähler seinem Zuhörer die Gedanken zugänglich machen, indem er sie verbalisiert. Hier greifen die schon bei Schütze erwähnten Zugzwänge des Erzählens in den Vorgang ein. Der Gestaltschließungs-, Kondensierungs- und der Detaillierungszwang sorgen dafür, dass die Erzählung verständlich wird.[7]
Allerdings kann der Erzählprozess auch zu einer weiteren Suche und Rekonstruktion von Erinnerungen führen, wenn er vom Zuhörer stimuliert und nicht blockiert wird.
Somit enthält die erzählte Geschichte sowohl mehr, als auch weniger als die Erinnerung:
1. Es wird nicht alles erzählt, woran sich der Erzähler oder die Erzählerin im Moment der Erzählung erinnert.
2. Es werden Bestandteile in die Erzählung miteinbezogen, die nicht zum Erinnerungsnoema des Erlebnisses gehören. Neben Bestandteilen von anderen Erinnerungen oder theoretisch-argumentativen Ausführungen, können auch Fremderzählungen in die Geschichte eingeflochten werden, d.h. solche Erzählungen, die nicht auf eigene Erlebnissen, sondern auf Erzählungen anderer beruhen.[8]
Gewisse Verzerrungen zwischen dem Erlebnis, der Erinnerung und der Erzählung sind also immer normal und lassen sich zumeist durch die Struktur des Textes erkennen. So werden sie als Faktor auch untersucht und können mit in die Interpretation einfließen.
2. Die rekonstruktive Fallanalyse
Das Verfahren der rekonstruktiven Fallanalyse ist ein Auswertungsverfahren zur Analyse von transkribierten qualitativen Interviews, insbesondere von Stegreiferzählungen aus narrativen Interviews. Das „Vorgehen basiert auf der von Gabriele Rosenthal […] vorgestellten Verknüpfung des von Fritz Schütze entwickelten textanalytischen Verfahrens mit der thematischen Feldanalyse, […] sowie mit Prinzipien der hermeneutischen Fallrekonstruktion in der objektiven bzw. strukturalen Hermeneutik.“[9]
2.1 Prinzipien
Bevor auf die konkrete Vorgehensweise der Auswertungsmethode eingegangen werden kann, sollen zuerst noch die übergeordneten Prinzipien des Verfahrens erläutert werden.
Das Prinzip der Offenheit, dass auch schon bei der Interviewführung des narrativen Interviews dominierend war, gilt ebenso bei der Auswertung, da es besonders wichtig ist, dem Text ohne vorab entwickelten Hypothesen oder Kategorien zu begegnen.
Bei der Analyse muss die Gestalt der erlebten und erzählten Lebensgeschichte rekonstruiert und nicht in einzelne Teile auseinander genommen werden. Bei der Anwendung dieses Verfahrens sollte man sich also stets die Frage stellen, welche funktionale Bedeutsamkeit die einzelnen Sequenzen für die Gesamtgestalt des Textes, also sowie für die erzählte, als auch für die erlebte Lebensgeschichte haben.[10] Die erzählte und die erlebte Lebensgeschichte müssen außerdem bei der Analyse zunächst auseinander gehalten und getrennt voneinander betrachtet werden. Dazu müssen beide Ebenen am Anfang nach dem dreistufigen Verfahren der Abduktion rekonstruiert werden:
1. Von empirischen Phänomenen ausgehend, wird auf eine allgemeine Regel geschlossen. Dieser Schritt bedeutet das eigentliche abduktive Schließen. Wesentlich dabei ist jedoch, daß [sic!] nicht nur auf eine Regel oder Lesart geschlossen wird, sondern auf alle zum Zeitpunkt der Auslegung möglichen, das Phänomen vielleicht erklärenden Lesarten.
2. Aus den formulierten Lesarten werden Folge-Phänomene deduziert, d.h. es wird von der Regel auf weitere, diese Regel bestätigende empirische Fakten geschlossen.
3. Hier erfolgt der empirische Test im Sinne des induktiven Schließens. Entsprechend der deduzierten Folge-Phänomene wird am konkreten Fall nach entsprechenden Indizien gesucht. Die Lesart, die nicht falsifiziert werden kann, die also beim Hypothesentest in Abgrenzung von den unwahrscheinlichen Lesarten übrig bleibt, gilt dann als die wahrscheinlichste.[11]
Ein weiterer Grundsatz der rekonstruktiven Fallanalyse ist das Prinzip der Sequenzialität. Es dient dazu, die Prozesshaftigkeit der erzählten und die erlebten Lebensgeschichte zu beachten und zu untersuchen. Handlungen im Lebenslauf geschehen immer als Folge verschiedener gegebener Möglichkeiten. Aufgabe des Forschers ist es die Alternativen im Handlungsverlauf der erlebten Lebensgeschichte und deren denkbare Bedeutung für die Gestaltung der Selbstpräsentation herauszustellen und zu durchleuchten.
Da eine Erzählung der Lebensgeschichte immer retrospektiv ist, hat sie immer zwei Bedeutungsebenen. Anhand der erzählten Lebensgeschichte untersucht man die biographische Bedeutung der Erlebnisse in der Gegenwart, also welche Bedeutung das Geschehen zum Zeitpunkt der Erzählung für den Informanten hat. Bei der erlebten Lebensgeschichte untersucht der Forscher hingegen, welche Bedeutung das Erlebte zum Zeitpunkt des Geschehens für den Interviewten hatte. Diese beiden Ebenen müssen zuletzt nach dem Prinzip der Kontrastierung miteinander verglichen werden, damit die Bedeutung der einzelnen Sequenzen thematisch, wie temporal verstanden werden kann.
2.2 Vorgehen
Die von Gabriele Rosenthal und Wolfram Fischer-Rosenthal Methode der rekonstruktiven Fallanalyse oder auch „biographische Fallrekonstruktion“, erfolgt nach fünf festgelegten aufeinander folgenden Schritten, die im Folgenden vorgestellt werden.[12]
2.2.1 Analyse der biographischen Daten
Wie schon erwähnt ist die „prinzipielle Differenz“ der erzählten und erlebten Lebensgeschichte entscheidend für diese Methode.[13] Beim ersten Schritt wird zunächst nur die erlebte Lebensgeschichte analysiert. Aus den biographischen Daten, lässt dich eine zeitliche Abfolge der Erlebnisse bilden. Diese Ereignisse werden dann auf die Bedeutung, die sie damals für den Autobiographen hatten, untersucht. Die Untersuchung „geschieht unter Einklammerung des Wissens über den weiteren biographischen Verlauf und zunächst noch unabhängig vom Wissen, das die Interpreten aus der erzählten Lebensgeschichte haben.“[14] Die Analyse der erlebten Lebensgeschichte dient später als „Kontrastfolie“, die der erzählten Lebensgeschichte gegenübergestellt wird.[15]
2.2.2 Text- und Thematische Feldanalyse (sequentielle Analyse der Textsegmente des Interviews)
Beim zweiten Auswertungsschritt wird die erzählte Lebensgeschichte analysiert. Zuerst wird der Interviewtext nach seiner Chronologie in einem stichwortartigen Überblick sequenziert, also in Analyseeinheiten aufgeteilt. Kriterien für die Segmentierung sind Redewechsel, Textsortenwechsel und thematische Veränderungen. Dabei sollten schon die ersten Themenfelder entwickelt werden und der Forscher sollte vermerken, bei welchem Thema Besonderheiten auftreten.[16] Interpretiert wird bei diesem Analyseschritt allerdings nur „die Art und Funktion der Darstellung im Interview – und nicht die biographische Erfahrung an sich.“[17]
[...]
[1] Gabriele Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte – Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt/New York 1995, S. 71. (Kurztitel: Rosenthal, 1995.)
[2] Ebd.
[3] Ebd., S. 73.
[4] Ebd., S. 74.
[5] Ebd., S. 75.
[6] Rosenthal, 1995, S. 76.
[7] Vgl. Fritz Schütze: Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen thematisch relevanter Geschichten im Rahmen soziologischer Feldforschung. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Kommunikative Sozialforschung. München 1976, S. 159-260.
[8] Rosenthal, 1995, S. 90.
[9] Wolfram Fischer-Rosenthal/Gabriele Rosenthal: Narrationsanalyse biographischer Selbstpräsentation. In: Hitzler, Ronald/Honer, A. (Hg.): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Opladen: Leske + Budrich, 1997, S. 147. (Kurztitel: Fischer-Rosenthal/Rosenthal, 1997.)
[10] Vgl. Rosenthal, 1995, S. 208.
[11] Rosenthal, 1995, S. 213.
[12] Gabriele Rosenthal/Wolfram Fischer-Rosenthal: Analyse narrativ-biographischer Interviews. In: Flick, Uwe/Kardoff, Ernst von/Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung – Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 461. (Kurztitel: Rosenthal/Fischer-Rosenthal, 2000.)
[13] Ebd., S. 462.
[14] Ebd., S. 463.
[15] Ebd., S. 464.
[16] Vgl. Rosenthal, 1995, S. 218f.
[17] Ebd., S. 219.
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